16

Wenn ich auf all die Jahre nach unserem Treffen im tschechischen Gartenhaus zurückblicke, dann sehe ich bezeichnenderweise nichts als Amerika, Tom, Amerika mit seinen Stränden, die nach den Drangsalen unseres gequälten Europas am Horizont golden glitzern wie die Verheißung der Freiheit und dann im Sommer unserer Vollendung auf uns zuspringen! Pym hat immer noch über ein Vierteljahrhundert vor sich, in dem er seinen beiden Häusern nach den besten Maßstäben seiner unersättlichen Treue dienen konnte. Der durchtrainierte, verheiratete, im Einsatz gehärtete, ältliche Jüngling muß immer noch ein Mann werden, doch wer wird je den genetischen Code knacken, um festzustellen, wann das Jünglingsalter eines Mittelstandsbriten endet und sein Mannesalter beginnt? Ein halbes Dutzend gefährlicher europäischer Städte, von Prag über Berlin und Stockholm bis zur besetzten Hauptstadt seines heimatlichen Englands liegen zwischen den beiden Freunden und ihrem Ziel. Doch mir scheint heute, daß sie nichts weiter als Zwischenstationen waren, wo wir, in Vorbereitung unserer Reise, die Sterne versorgen, aufpolieren und beobachten konnten. Und stell dir einen Augenblick die schreckliche Alternative vor, Tom: die Angst vor dem Mißerfolg, die uns wie ein sibirischer Wind in den ungeschützten Rücken blies. Stell dir vor, was es für zwei Männer wie uns bedeutet hätte, ein Leben als Spion zu beenden, ohne jemals in Amerika spioniert zu haben!

Damit kein Zweifel in deinem Kopf bleibt, muß schnell gesagt werden, daß nach dem Gespräch im Gartenhaus Pyms Weg ein für allemal vorgezeichnet war. Er hatte sein Gelübde erneuert, und nach Onkel Jacks und meinem Lebensverständnis gab es keinen Ausweg mehr, Tom. Pym war in der Schuld und saß am Haken. Ende. Nach der Hütte in Österreich, nun ja, da hatte es noch einen kleinen Spielraum gegeben, wenn auch nie irgendeine Aussicht auf Erlösung. Und du hast gesehen, wie er einen, wenn auch schwachen Versuch machte, aus der geheimen Welt herauszukommen und sich den Gefahren der wirklichen Welt zu stellen. Ohne viel Überzeugung, zugegeben. Aber er probierte es, obgleich er wußte, daß er dort draußen ungefähr so nützlich sein würde wie ein gelandeter Fisch, der an zuviel Sauerstoff stirbt. Doch nach dem Gartenhaus war Gottes Auftrag an Pym klar: kein Hin und Her mehr; bleib auf deinem eigentlichen Platz, in dem Element, für das die Natur dich bestimmt hat. Pym ließ es sich nicht dreimal sagen.

»Bring die Sache ins Reine«, höre ich dich rufen, Tom. »Komm schnell heim nach London, geh zur Personalstelle, bezahl die Strafe, fang von vorne an!« Nun, Pym dachte daran, natürlich dachte er daran. Auf dem Weg nach Wien, im Flugzeug nach Hause, im Bus von Heathrow nach London zermarterte Pym sich energisch das Hirn in dieser Richtung, denn es war eine der Gelegenheiten, bei denen sein ganzes Leben wie ein bewegter Bilderbogen in seinem Schädel aufgespannt war. Wo anfangen, fragte er sich nicht unvernünftig. Bei Lippsie, deren Tod er in seinen trüberen Stunden immer noch entschlossen war, auf sich zu nehmen? Bei Sefton Boyds Initialen? Bei der armen Dorothy, die er in den Wahnsinn getrieben hatte? Bei Peggy Wentworth, die ihren Schmutz über ihn gegossen hatte und sicherlich ein weiteres Opfer war? Oder bei dem Tag, an dem er zum ersten Mal Ricks grünen Aktenschrank oder Memburys Schreibtisch aufgebrochen hatte? Wieviele Systeme seines Lebens soll er denn, deiner Ansicht nach, vor den anklagenden Augen seiner Bewunderer ausbreiten?

»Dann kündige! Braus ab zu Murgo! Nimm die Lehrerstellung bei Willow an!« Auch daran hatte Pym gedacht. Er dachte an ein halbes Dutzend schwarzer Löcher, in denen er sein übriggebliebenes Leben vergraben und seinen schuldhaften Charme verstecken konnte. Nicht eines davon reizte ihn länger als fünf Minuten.

Würden Axels Leute Pym wirklich bloßgestellt haben, wenn er Schluß gemacht und sich verkrümelt hätte? Ich bezweifle es, doch darum geht’s nicht. Es geht darum, daß Pym die Firma ziemlich oft ebenso liebte, wie er Axel liebte. Er mochte das harsche, verständnislose Vertrauen, das sie in ihn setzte, den Mißbrauch, den sie mit ihm trieb, ihre rauhbeinigen Zuneigungsbekundungen, ihre brüchige Romantik und verrückte Integrität. Sooft er eine ihrer Reichskanzleien oder sicheren Paläste betrat, lächelte er vor sich hin und nahm den jeden Lächelns baren Gruß der wachsamen Türhüter entgegen. Die Firma war Zuhause, Schule und Hofstaat für ihn, selbst wenn er sie verriet. Er hatte wirklich das Gefühl, daß er ihr viel zu geben habe, so wie er Axel viel zu geben hatte. In seiner Phantasie sah er sich mit Kellern voller Nylonstrümpfe und Schwarzmarkt-Schokolade, genug, um in Notzeiten jedermann damit zu versorgen – und Nachrichtendienst ist schließlich nichts anderes als institutionalisierter Schwarzhandel mit verderblichen Waren. Kein Membury stand zwischen ihm und der Bruderschaft.

»Angenommen, Sir Magnus, du hältst auf einer einsamen Fahrt nach Pilsen an und nimmst ein paar Leute mit, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Würdest du das tun?« sagte Axel frühmorgens im Gartenhaus, nachdem er Pym wieder aufgerichtet hatte.

Pym gab zu, daß er das tun würde.

»Und angenommen, Sir Magnus, daß sie, als die einfachen Burschen, die sie sind, dir unterwegs ihre Angst anvertrauen, die sie beim Hantieren mit radioaktivem Material ohne ausreichende Schutzkleidung haben. Würdest du da die Ohren spitzen?«

Pym lachte und gab zu, daß er das tun würde.

»Und weiter angenommen, Sir Magnus, daß du dir als großer Stratege und freizügiger Geist ihre Namen und Adressen aufgeschrieben und versprochen hast, ihnen bei deinem nächsten Besuch in der Gegend ein paar Pfund guten englischen Kaffee mitzubringen?«

Pym sagte, daß er das sicherlich getan haben würde.

»Und angenommen«, fuhr Axel fort, »du hättest diese Burschen bis an den Rand der Sperrzone ihres Werks gebracht und genügend Mut, Entschlußkraft und Offiziersqualitäten – was bei dir zweifellos der Fall ist –, um deinen Wagen an einer unauffälligen Stelle zu parken und diesen Hügel hinaufzuklettern.« Axel deutete auf eben diesen Hügel auf einer Generalstabskarte, die er zufällig mitgebracht und auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Und von seiner Spitze aus würdest du die Fabrik fotografieren, im Schutz einiger dicht nebeneinanderstehenden Linden, deren untere Zweige, wie sich dann später herausstellen wird, die Bilder leicht beeinträchtigen. Würden deine Aristos deine Initiative bewundern? Würden sie dem großen Sir Magnus Beifall zollen? Würden sie ihm befehlen, die beiden geschwätzigen Arbeiter anzuwerben und weitere Einzelheiten über Ausstoß und Zweck der Fabrik zu beschaffen?«

»Klar würden sie das tun«, sagte Pym nachdrücklich.

»Gratuliere, Sir Magnus.«

Axel läßt den fraglichen Film in Pyms wartende Hand fallen. Firmenmaterial. In anonymes Grün gewickelt. Pym verbirgt ihn in seiner Schreibmaschine. Pym übergibt ihn seinen Herrn und Meistern. Doch damit nicht genug des Wunders. Als das Produkt zu den Whitehall-Analysten gebracht wird, stellt sich die Fabrik als das Werk heraus, das ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug kürzlich aus der Luft fotografiert hat! Mit gespieltem Widerstreben liefert Pym die Personalien seiner beiden unschuldigen und bis dato fiktiven Informanten. Ihre Namen werden in Akten aufgenommen, in eine Kartei, sie werden gecheckt, datenverarbeitet und an der Direktionsbar herumgetratscht. Bis sie schließlich, nach den göttlichen Gesetzen der Bürokratie, bei einem Sonderausschuß landen.

»Sagen Sie, Pym, wie kommen Sie eigentlich zu der Annahme, daß diese Burschen Sie nicht denunzieren werden, wenn Sie das nächste Mal auf ihrer Türschwelle auftauchen?«

Pym ist in der Stimmung für ein Frage- und-Antwort-Spiel, er hat ein breites Publikum und er ist unschlagbar. »Intuition, Sir, das ist alles.« Langsam bis zwei zählen. »Ich glaube, sie vertrauen mir. Ich glaube, sie halten den Mund und hoffen, daß ich eines Abends wieder auftauchen werde, genau wie ich gesagt habe.«

Und die Ereignisse gaben ihm recht, nicht wahr, Jack?

Mutig kehrt unser Held in die Tschechoslowakei zurück und begibt sich, ungeachtet aller Gefahren, bis auf ihre Türschwelle – wie sollte er scheitern, wo doch Axel ihn dabei begleitet und die Herrschaften miteinander bekanntmacht? Denn diesmal gibt es keinen Gefreiten Pavel. Eine loyale, blauäugige Truppe von Repertoiretheaterspielern wurde geboren, Axel ist ihr Regisseur und sie sind die Gründungsmitglieder. Unter Mühen und Gefahren wird das Netz aufgebaut. Von Pym, dem kaltschnäuzigsten Burschen, den es je gab. Pym, der neueste Held der Whitehall-Korridore, der Bursche, der Conger auf die Beine gestellt hat.

Die Firmensysteme der natürlichen Auslese erweisen sich, dank Jack Brotherhoods Nachhilfe, als unwiderstehlich.

***

»Ins Foreign Office eingetreten?« echot Belindas Vater in tiefer, gespielter Verwirrung. »Nach Prag versetzt? Wie ist das möglich von einer maroden Elektronikfirma aus? Also, ich muß schon sagen.«

»Es ist ein befristeter Vertrag. Sie brauchen dort tschechisch sprechende Leute«, sagt Pym.

»Er fördert den britischen Außenhandel, Daddy. Das verstehst du nicht. Du bist ja nur ein Börsenmakler«, sagt Belinda.

»Sie könnten ihm wenigstens eine anständige Cover-story verpassen, oder nicht?« sagt Belindas Vater und lacht sein aufreizendes Lachen.

In der neuesten und geheimsten sicheren Wohnung der Firma in Prag trinken Pym und Axel auf Pyms Amtsantritt als Zweiter Handelssekretär und Visumbeamter der britischen Botschaft. Axel hat Gewicht zugelegt, wie Pym zufrieden bemerkt. Die Züge des Leidens mildern sich in seinem abgezehrten Gesicht.

»Auf das Land der Freien, Sir Magnus.«

»Auf Amerika«, sagt Pym.

Liebster Vater,

Ich bin sehr froh, daß Du meine Berufung billigst. Leider bin ich nicht in der Lage, Dir zu einer Unterredung mit Pandit Nehru zu verhelfen, damit Du ihm Deinen Fußball-Toto-Plan unterbreiten kannst, obgleich ich mir sehr gut vorstellen kann, welchen Auftrieb er der schwer kämpfenden indischen Wirtschaft geben könnte.

***

Hat es denn überhaupt keine echten Joes mehr gegeben, höre ich dich enttäuscht fragen, Tom. Waren sie alle gespielt? Es hat echte Joes gegeben. Keine Angst! Und noch dazu sehr gute, die besten. Und jeder von ihnen profitierte von Pyms wachsender Berufserfahrung und blickte zu Pym auf, wie Pym zu Axel aufblickte. Und Pym und Axel blickten auch auf ihre Art zu den echten Joes auf, denn sie betrachteten sie als die ahnungslosen Botschafter der Operation, die deren reibungsloses Funktionieren und Integrität bezeugten. Und sie benutzten ihre guten Dienste, um sie zu beschirmen und zu befördern, da sie der Meinung waren, daß jede diesbezügliche Verbesserung auch den Netzen zum Ruhme gereichte. Und sie schmuggelten sie zu geheimer Aus- und Weiterbildung nach Österreich. Die echten Joes waren unsere Maskottchen, Tom. Unsere Stars. Wir sorgten dafür, daß es ihnen nie an etwas fehlen würde, solange Pym und Axel da waren, um sich um sie zu kümmern. Weshalb dann schließlich auch alles schiefging. Doch davon später.

***

Was für ein Vergnügen, wirklich gut geführt zu werden! Ich wünschte, ich könnte es dir nur einigermaßen beschreiben, Jack. Nichts von Eifersucht, nichts von Ideologie. Axel nährte Pyms Liebe zu England und Sehnsucht nach Amerika, und während der ganzen Zeit ihrer Partnerschaft zeigte sich Axels Genie darin, daß er die Freiheiten des Westens pries und dabei durchblicken ließ, Pym habe als freier Mann die Macht, wenn nicht gar die Pflicht, dem Osten ein wenig von dieser Freiheit abzugeben. Oh, lache ruhig, Jack! Und schüttle ruhig dein graues Haupt darüber, wie tief Pyms Naivität war! Aber kannst du dir nicht vorstellen, wie leicht es Pym schien, ein kleines, verarmtes Land unter seine Fittiche zu nehmen, wo doch sein eigenes so begünstigt war, so siegreich, so wohlgeboren? Und war es von seinem Standpunkt aus so absurd? Die arme Tschechoslowakei wie ein reicher Beschützer durch dick und dünn zu lieben um Axels willen? Ihre Ausrutscher im voraus zu vergeben und den vielen Verraten anzulasten, die England an ihr verübt hatte? Wundert es dich wirklich, daß Pym Bande mit dem Verbotenen knüpfte und so dem zu entkommen suchte, was ihn festhielt? Daß er, der sich durch so viele Grenzen hindurchgeliebt hatte, sich nun durch eine weitere hindurchlieben sollte, wobei Axel ihm den Weg und den Übergang wies?

»Tut mir leid, Bel«, sagte Pym immer zu Belinda, wenn er sie wieder einmal in ihrer dunklen Wohnung in Prags Diplomatenghetto dem Scrabblebrett überließ. »Muß wieder über Land. Einen Tag oder zwei. Komm schon, Bel. Küßchen, Küßchen. Du möchtest doch nicht mit einem Büromenschen verheiratet sein, oder?«

»Ich kann die Times nicht finden«, sagte sie und schob ihn weg. »Wahrscheinlich hast du sie wieder in der blöden Botschaft gelassen.«

Doch wie mitgenommen Pyms Nerven auch waren, wenn er zu den Treffs kam, Axel brachte ihn jedesmal wieder in Ordnung. Er war nie eilig, nie aufdringlich. Er zeigte immer nur Verständnis für die Nöte und Gemütsbewegungen seines Agenten. Es bedeutete aber keineswegs Zurückbleiben auf der einen Seite und Vorwärtsstürmen auf der anderen, Tom, weit gefehlt. Axels Ehrgeiz galt sich selbst ebenso wie Pym. War Pym nicht seine Reisschale, sein Vermögen in jedem Sinn des Wortes, sein Schlüssel zu den Privilegien und dem Status eines vollwertigen Partei-Aristos? Oh, wie er Pym studierte! Wie behutsam er ihm zuredete und ihn überredete! Wie bedachtsam er immer die Kleider anlegte, in denen Pym ihn sehen wollte – bald den Umhang des weisen und verläßlichen Vaters, den Pym nie gehabt hatte, bald die blutigen Fetzen des Leidens, die die Uniform seiner Autorität waren, bald die Soutane von Pyms einzigem Beichtvater, seinem absoluten Murgo. Er mußte Pyms Codes und Ausflüchte lernen. Er mußte Pym schneller verstehen, als Pym sich selber je verstehen konnte. Er mußte ihn schelten und ihm vergeben, wie Eltern, die ihren Sohn nie von der Schwelle weisen würden, er mußte lachen, wenn Pym traurig wurde, und die Flamme von Pyms Überzeugungen am Leben halten, wenn Pym niedergedrückt war und sagte, ich kann nicht, ich bin einsam und hab Angst.

Vor allem mußte er den Verstand seines Agenten dauernd dazu anhalten, vor der scheinbar grenzenlosen Toleranz der Firma auf der Hut zu sein, denn wie hätten wir, der eine wie der andere, je zu glauben gewagt, daß das liebe, tote Holz Englands nicht die Fassade war, hinter der ein meisterhaftes Spiel inszeniert wurde. Bei den Bergen von Geheimmaterial, das Pym pausenlos anschleppte, kannst du dir vorstellen, wieviel Mühe es Axel kostete, seine Herrn und Meister zu überzeugen, daß sie nicht Opfer irgendeines großangelegten imperialistischen Täuschungsmanövers waren! Die Tschechen haben dich so bewundert, Jack. Die Alten kannten dich noch vom Krieg. Die Neuen schätzten und respektierten dein Können. Sie wußten, welchen Gefahren sie sich tagtäglich durch die Unterschätzung ihres listigen Gegners aussetzten. Axel mußte mehr als einmal einen heftigen Strauß mit ihnen ausfechten. Er mußte sich mit den Knechten herumstreiten, die ihn gefoltert hatten, um sie daran zu hindern, daß sie Pym aus dem Verkehr zogen und ihm ein wenig von der Medizin gaben, die sie einander in Abständen verpaßten, daß sie Pym auf gut Glück unter Druck setzten, um ihm ein wahres Geständnis zu entreißen: »Ja, ich bin Brotherhoods Mann«, wollten sie ihn schreien hören. »Ja, ich bin hier, um Desinformation unter euch zu verbreiten. Um euren Blick von unseren antisozialistischen Machenschaften abzulenken. Und jawohl, Axel ist mein Komplize. Nehmt mich, hängt mich, alles, nur das nicht.« Doch Axel setzte sich durch. Er bat und belferte und schlug auf den Tisch, und als weitere Säuberungen geplant wurden, um das Chaos zu erklären, das die letzten nach sich gezogen hatten, machte er seine Gegner mit der Drohung mundtot, sie wegen ihrer mangelhaften Einschätzung des historisch unvermeidlichen Niedergangs des Imperialismus bloßzustellen. Und Pym half ihm dabei unverdrossen über die Strecke. Er saß wieder, wenn auch nur bildlich, an Axels Krankenbett und gab ihm Nahrung und Mut, munterte ihn auf. Plünderte die Residenturakten. Versorgte ihn mit haarsträubenden Beispielen von der weltweiten Inkompetenz der Firma. In diesem Kampf um ihr beiderseitiges Überleben schlossen sich Pym und Axel immer enger aneinander an, und jeder legte die irrationalen Lasten seines Landes zu Füßen des anderen nieder.

Und zuweilen, wenn eine große Schlacht geschlagen und gewonnen oder ein großer Coup auf der einen oder anderen Seite gelandet worden war, legte Axel die Spielkleidung des Lebemanns an und organisierte eine Mitternachts-Spritztour zu seinem bescheidenen Pendant zu Sankt Moritz, einem kleinen weißen Schloß im Riesengebirge, das sein Dienst Leuten zur Verfügung stellte, auf die er große Stücke hielt. Das erste Mal fuhren sie in einer Limousine mit getönten Fenstern hin, um ein Jubiläum zu feiern. Pym war seit zwei Jahren in Prag.

»Ich habe beschlossen, dir einen ausgezeichneten neuen Agenten zu schenken, Sir Magnus«, sagte Axel, als sie zufrieden den Kiesweg hinaufkurvten. »Das Watchman-Netz beschafft betrüblich wenig nachrichtendienstliches Material aus der Wirtschaft. Die Amerikaner setzen auf den Zusammenbruch unserer Wirtschaft, doch die Firma liefert nichts, um diesen Optimismus zu stützen. Was hieltest du von einer mittleren Führungskraft unserer großen tschechischen Nationalbank, die über einige unserer flagrantesten Fälle von Mißwirtschaft Auskunft geben könnte?«

»Wo soll ich sie gefunden haben?« konterte Pym vorsichtig, denn das war eine knifflige Entscheidung, die einer langwierigen Korrespondenz mit dem Stammhaus bedurfte, ehe die Annäherung an eine neue potentielle Quelle genehmigt wurde.

Der Tisch war für drei gedeckt, der Leuchter war angezündet. Die beiden Männer hatten einen langsamen, langen Spaziergang durch den Wald gemacht und tranken nun vor dem Kaminfeuer ihren Aperitif in Erwartung ihres Gastes.

»Wie geht’s Belinda?« fragte Axel.

Das war kein Thema, über das sie oft sprachen, denn mit unbefriedigenden Verbindungen hatte Axel nicht viel im Sinn.

»Gut, danke, wie immer.«

»Unsere Mikrophone erzählen da etwas ganz anderes. Sie sagen, daß ihr euch wie Hund und Katze Tag und Nacht streitet. Unsere Lauscher bekommen schon Depressionen mit euch beiden.«

»Sag ihnen, wir werden uns bessern«, antwortete Pym mit einem seltenen Anflug von Bitterkeit.

Ein Wagen fuhr den Berg herauf. Sie hörten Schritte, als der alte Diener durch die Halle ging, und das Klappern der Türriegel.

»Dein neuer Agent«, sagte Axel.

Die Türe flog auf, und Sabina marschierte herein. Um die Hüften vielleicht ein bißchen fülliger, ein paar harte Linien von gehobener Verantwortung um die Wangen; aber trotz allem seine köstliche Sabina. Sie trug ein strenges schwarzes Kleid mit weißem Kragen und schwarze, dicksohlige Pumps, die ihr Stolz gewesen sein mußten, denn sie hatten grüne Diamanten auf den Spangen und den Schimmer von imitiertem Wildleder. Bei Pyms Anblick zog sie die Luft scharf ein und funkelte ihn argwöhnisch an. Einen Augenblick lang spiegelte ihre ganze Haltung schärfste Mißbilligung. Dann brach sie zu seinem Entzücken in ihr verrücktes slawisches Lachen aus und warf sich förmlich auf ihn, wie damals in Graz, als er seine ersten taumeligen Tschechischstunden genommen hatte.

Und so war es, Jack. Sabina stieg und stieg immer höher, bis sie schließlich der Hauptagent des Watchman-Netzes und der Liebling ihrer sukzessiven britischen Fallführer wurde, wenn du sie auch nur als Watchman Eins oder als die unerschrockene Olga Kravitsky gekannt hast, die Sekretärin des Prager Innenausschusses für Wirtschaftsfragen. Wir haben sie, wie du dich vielleicht erinnerst, verabschiedet, als sie ihr drittes Kind von ihrem vierten Mann erwartete, bei einem für sie in West-Berlin veranstalteten Abendessen, während sie an ihrer letzten Konferenz der Comecon-Banker in Potsdam teilnahm. Axel behielt sie noch ein bißchen länger, bevor er sich entschloß, unserem Beispiel zu folgen.

»Ich bin nach Berlin versetzt worden«, erzählte Pym Belinda in der Geborgenheit eines öffentlichen Parks, am Ende seiner zweiten Tour in Prag.

»Warum erzählst du mir das?« sagte Belinda.

»Ich fragte mich, ob du nicht mitkommen möchtest«, antwortete Pym, und Belinda brach wieder in ihren Husten aus, diesen langen, hartnäckigen Husten, den sie sich durch das Klima zugezogen haben mußte.

Belinda ging nach London zurück und belegte an der Universität einen Fernkurs in Journalismus, wenn auch keinen in lautlosem Töten. Schließlich begab sie sich in ihrem siebenunddreißigsten Lebensjahr auf den riskanten Pfad zu modischen liberalen Zielen, begegnete dabei mehreren Pauls, von denen sie einen heiratete, bekam eine ungebärdige Tochter, von der sie in allem, was sie tat, kritisiert wurde, was Belinda das Gefühl gab, wieder mit ihren eigenen Eltern versöhnt zu sein. Pym und Axel machten sich zur nächsten Etappe ihrer Pilgerreise auf. In Berlin erwartete sie eine strahlendere Zukunft und ein reiferer Verrat.

c/o Colonel Evelyn Tremaine, D.S.O.

Pioniertruppe, a. D.

Postfach 9077

MANILA

An seine Exzellenz
Sir Magnus Richard Pym, Träger hoher Auszeichnungen
Britisches Hochkommissariat
BERLIN

Liebster Sohn,

Nur eine kurze Nachricht, die Dir auf dem Weg nach oben hoffentlich nicht ungelegen kommt, da niemand Dankbarkeit erwarten darf, bis er seinerseits vor unser aller Vater steht, was bei mir in allernächster Zeit der Fall sein dürfte. Da die medizinische Wissenschaft hierorts noch in den Kinderschuhen steckt, dürfte dieser grausame Sommer desungeachtet der letzte des Schreibers dieser Zeilen sein, trotz Verzicht auf Alkohol und andere Tröstungen. Solltest Du Geld für Unterhalt oder Bestattung schicken, stelle Umschlag und Scheck auf den Colonel aus, da der Name Pym hier Persona non gratis bei den Eingeborenen ist und ohnehin schon tot sein mag.

Gott stehe mir bei

Rick T. Pym

P. S. Habe erfahren, daß man in Berlin 916ner Gold zu Schleuderpreisen bekommt, wobei hochgestellten Persönlichkeiten, die Gelegenheit für informelle Belohnung suchen, der Diplomatenpostsack offensteht. Perce Loft ist unter alter Adresse zu erreichen und steht gegen zehn Prozent zur Verfügung, aber schau ihm auf die Finger.

***

Berlin. Was für eine Hochburg der Spione, Tom. Was für ein Schrank voller nutzloser, flüssiger Geheimnisse, was für ein Spielplatz für alle die Alchemisten, Wundertäter und Rattenfänger, die in die Bruderschaft eingetreten waren und den widerwärtigen Zwängen der politischen Realität den Rücken gekehrt hatten! Und im Mittelpunkt immer das große amerikanische Herz, das wacker seine ehrenwerten Pulsschläge im Namen der Freiheit, der Demokratie und Selbstbestimmung der Völker hinaushämmerte.

In Berlin hatte die Firma Agenten für Beeinflussung, Zersetzung, Subversion, Sabotage und Desinformation. Wir hatten sogar einige, die uns mit Nachrichten versorgten, doch das war ein unterprivilegierter Haufen, den man sich mehr aus Tradition als wegen des eigentlichen Nutzwertes hielt. Wir hatten Wühler und Schmuggler, Lauscher und Fälscher, Ausbilder und Anwerber, Talentsucher und Kuriere, Observanten und Verführer, Mörder und Ballonflieger, Lippenleser und Verkleidungskünstler. Doch was immer die Briten hatten, die Amerikaner hatten mehr, und was immer die Amerikaner hatten, die Ostdeutschen hatten das Fünffache davon und die Russen das Zehnfache. Pym stand vor diesen Wunderdingen wie ein Kind in einem Süßwarenladen und wußte nicht, wonach er zuerst greifen sollte. Und Axel, der mit jeder Menge falscher Pässe in die Stadt hinein- und wieder hinausflitzte, tappte leise mit seinem Korb hinter ihm her. In sicheren Wohnungen und schummrigen Restaurants, die jedesmal wechselten, nahmen wir ruhige Mahlzeiten ein, tauschten unsere Waren aus und schauten uns mit der ungläubigen Zufriedenheit von zwei Bergsteigern an, die auf dem Gipfel stehen. Doch selbst dann vergaßen wir nie den höheren Gipfel, der vor uns lag, und wenn wir unsere Wodkagläser hoben, um uns zuzutrinken, flüsterten wir immer über die Kerzen hinweg »Nächstes Jahr in Amerika!«.

Und die Ausschüsse, Tom! Berlin war nicht sicher genug, um sie aufzunehmen. Wir trafen uns in London, in goldüberladenen Kaisersuiten, wie sie den Spielern des Weltspiels angemessen sind. Und was für ein kühner, mannigfaltiger, brillant einfallsreicher Querschnitt durch die Führungsschicht unseres Landes das war, denn dies waren die Aufbruchsjahre Englands, in denen die verborgenen Talente aus ihrer Schale gelöst und in den Dienst der Nation gestellt wurden. Spione sind betriebsblind, hallte der Ruf. Zuviel Inzucht. Für Berlin müssen wir die Tore zur wirklichen Welt der Dekane, Anwälte und Journalisten öffnen. Wir brauchen Banker, Gewerkschaftler und Industrielle, Burschen, die ihr Geld dort anlegen, wo etwas zu holen ist, und die wissen, was die Welt in Schwung hält. Wir brauchen Parlamentarier, die einen Schuß Wahlkampf und kräftige Aussprüche über Steuergelder liefern können!

Und was passiert diesen weisen Männern, Tom, diesen gewiegten Unsinn-Außenseitern und Wachhunden des geheimen Kriegs? Sie kamen auf Gedanken, mit denen nicht einmal Spione zu spielen gewagt hätten. Die brillanten, ungebundenen Geister, die zu lange unter den Begrenzungen der einsehbaren Welt gelitten hatten, verliebten sich über Nacht in jede Art von Verschwörung, Schwindel und Gewalt, die du dir vorstellen kannst.

»Weißt du, wovon sie jetzt träumen?« wütete Pym, wobei er auf dem Teppich der Dienstwohnung in Lowndes Square hin und herging, die Axel für die Dauer einer anglo-amerikanischen Konferenz über inoffizielle Aktionen gemietet hatte.

»Beruhige dich, Sir Magnus. Trink noch einen.«

»Mich beruhigen? Wenn diese Irren ernsthaft planen, sich in die sowjetische Bodenkontrolle einzuschalten, eine MIG in den amerikanischen Luftraum zu lotsen, sie vom Himmel zu blasen und den Piloten, sollte er überleben, zwischen einem Prozeß wegen Spionage und einem öffentlichen Bekenntnis seines Frontwechsels vor Mikrophonen wählen zu lassen? Hier spricht der zuständige Redakteur für Verteidigungsfragen des Guardian, verdammt noch mal. Er wird einen Krieg auslösen. Will er auch. Dann hat er wenigstens etwas zu berichten. Unterstützt wurde er von einem Neffen des Erzbischofs von Canterbury und einem stellvertretenden Generaldirektor der BBC.«

Doch Axels Liebe zu England konnte durch Pyms Pingeligkeit nicht geschmälert werden. Durch das Beifahrerfenster eines Selbstfahrer-Fords aus der Fahrbereitschaft der Firma schaute er auf den Buckingham Palast und klatschte leise in die Hände, als er die königliche Flagge in strahlender Beleuchtung flattern sah.

»Geh wieder nach Berlin zurück, Sir Magnus. Der Tag des Sternenbanners wird kommen.«

***

Seine Berliner Wohnung lag Unter den Linden, im obersten Stock eines üppigen Biedermeierhauses, das wunderbarerweise den Bombenkrieg überlebt hatte. Sein Schlafzimmer war an der Gartenseite, so daß er ihren Wagen nicht hatte vorfahren hören, aber er hörte ihre elastischen Schritte auf der Treppe und mußte an die Fremdenpolizei denken, die sich in den frühen, von den Polizisten hochgeschätzten Morgenstunden Herrn Ollingers hölzernes Stiegenhaus hinaufgeschlichen hatte, und Pym wußte, daß dies das Ende war, wenn er es auch nie auf diese Art erwartet hatte. Außendienstler haben diese Dinge im Gefühl und lernen ihnen vertrauen, und Pym war ein doppelter Außendienstler. Er wußte also, daß dies das Ende war, und er nahm diese Erkenntnis auf eine ruhige Art hin, ohne überrascht oder verstört zu sein. Im Nu war er aus dem Bett und in der Küche, denn dort hatte er die Filmrollen für seinen nächsten Treff mit Axel verborgen. Als sie auf die Türklingel drückten, hatte er sechs Filme entrollt und dem Licht ausgesetzt und die Sofortzündung des Codeblocks ausgelöst, den er in eine Ölhaut gewickelt im Wasserbehälter des Klos versteckt hatte. So klarsichtig ergab er sich in sein Schicksal, daß er selbst etwas Drastischeres ins Auge faßte, denn Berlin war nicht Wien, und er hatte einen Revolver in der Nachttischschublade und einen weiteren in der Dielenkommode. Doch etwas an der entschuldigenden Art, wie sie »Herr Pym, wachen Sie bitte auf«, durch den Briefschlitz murmelten, entmutigte ihn, und als er durch den Spion schaute und die liebenswürdige Gestalt von Polizeileutnant Dollendorf und den jungen Wachtmeister an dessen Seite sah, wurde ihm schamvoll bewußt, welchen Schock er den beiden durch die Ausführung seines Vorhabens versezten würde. Sie machen es also auf die sanfte Tour, dachte er, als er die Türe öffnete: zuerst verteilt ihr eure Wolfskinder rund um das Gebäude, dann schickt ihr Herrn Nettermann an die Wohnungstür.

Leutnant Dollendorf war, wie die meisten Leute in Berlin, ein Kunde von Jack Brotherhood, und verschaffte sich ein kleines Zubrot, indem er in die andere Richtung schaute, wenn an dem gewinnbringenden Stück Mauer seines Reviers Agenten hinüber und herüber geschleust wurden. Er war ein gemütlicher Bayer mit einer ausgesprochenen Vorliebe für Weißwürste.

»Bitte um Vergebung, Herr Pym. Verzeihen Sie die Störung, so spät noch«, begann er mit einem zu breiten Lächeln. Er war in Uniform. Sein Revolver steckte noch im Halfter. »Unser Herr Kommandant bittet Sie, in einer persönlichen und dringenden Angelegenheit sofort aufs Präsidium zu kommen«, erklärte er und zog noch immer nicht den Revolver.

Dollendorfs Stimme klang ebenso entschlossen wie verlegen, und sein Wachtmeister lugte scharf das Treppenhaus hinauf und hinunter. »Der Herr Kommandant läßt sagen, daß alles diskret geregelt werden kann. Er möchte in diesem Stadium äußerst behutsam vorgehen. Er hat Ihre Vorgesetzten noch nicht angesprochen«, beharrte er, als Pym immer noch zögerte. »Der Herr Kommandant schätzt Sie sehr hoch, Herr Pym.«

»Ich muß mich anziehen.«

»Aber schnell, wenn Sie so freundlich wären, Herr Pym. Der Herr Kommandant möchte die Angelegenheit erledigen, bevor er sie der Tagesschicht übergeben muß.«

Pym drehte sich um und ging langsam auf das Schlafzimmer zu. Er erwartete, Schritte zu hören, die ihm folgten, oder einen gebellten Befehl, aber sie zogen es vor, in der Diele zu bleiben und die Straßenhändler von London zu betrachten, Stiche, die von der Hausverwaltung der Firma zum Schmuck der Wohnung aufgehängt worden waren.

»Darf ich Ihr Telefon benützen, Herr Pym?«

»Bitte sehr.«

Er zog sich bei offener Tür an, in der Hoffnung, das Gespräch mithören zu können. Doch alles, was er hörte, war: »Alles in Ordnung, Herr Kommandant. Unser Mann kommt sofort.« Sie gingen selbdritt die beiden Treppen hinunter und hinaus zu einem Streifenwagen, der mit rotierendem Blaulicht geparkt war. Hinter dem Auto war nichts zu sehen, keine Nachtschwärmer auf der Straße. Wie typisch für die Deutschen, die ganze Gegend zu säubern, bevor sie ihn verhafteten. Pym saß mit Dollendorf vorne. Der Wachtmeister saß angespannt im Fond. Es war zwei Uhr morgens, und es regnete. Am roten Himmel brodelten schwarze Wolken. Niemand sprach mehr.

Auf dem Polizeirevier erwartet mich Jack, dachte Pym. Oder die Militärpolizei. Oder Gott.

Der Kommandant stand auf, um ihn zu begrüßen. Dollendorf und sein Wachtmeister waren verschwunden. Der Kommandant hielt sich für einen Menschen von übernatürlicher Subtilität. Er war groß und grauhaarig und hohlwangig, mit stechenden Augen und einem schmalen, ratternden Mund, der mit mörderischer Geschwindigkeit funktionierte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. Er sprach in einem schmerzlich singenden Ton zu einem Stich von seinem Geburtsort in Ostpreußen, der über Pyms Kopf an der Wand hing. Er sprach, nach Pyms vorsichtiger Schätzung, ungefähr sechs Stunden ohne Pause und ohne sichtbar Atem zu holen, was für den Kommandanten ein schneller Aufgalopp vor dem Einstieg in eine ernsthafte Unterredung war. Der Kommandant sagte, er sei ein Mann von Welt und ein Familienmensch, was die, wie er es nannte, Intimsphäre angehe. Pym sagte, daß er dies respektiere. Der Kommandant sagte, er sei kein Schulmeister und auch kein Politiker, wenn er auch den Christdemokraten angehöre. Er sei evangelisch, doch Pym könne versichert sein, daß er nichts gegen Katholiken habe. Pym sagte, er habe nichts weniger als das erwartet. Der Kommandant sagte, daß die Skala der Missetaten sich vom verzeihlichen menschlichen Irrtum bis zum vorbedachten Verbrechen erstrecke. Pym stimmte dem zu und hörte das Geräusch von Schritten im Korridor. Der Kommandant bat Pym zu bedenken, daß Ausländer in einem fremden Land sich häufig in einer falschen Sicherheit wiegten, wenn sie etwas ins Auge faßten, was bei genauer Betrachtung als gesetzwidrige Tat angesehen werden könne.

»Darf ich frei heraus sprechen, Herr Pym?«

»Ich bitte darum«, sagte Pym, der nun von der schrecklichen Ahnung ergriffen wurde, daß nicht er sondern Axel verhaftet worden war.

»Als sie ihn zu mir brachten, habe ich ihn mir angesehen. Ich habe ihn mir angehört. Ich sagte, ›Nein, das kann nicht sein. Nicht Herr Pym. Der Mann ist ein Betrüger‹, sagte ich. ›Er spielt eine vornehme Beziehung aus.« Doch als ich ihm weiter zuhörte, entdeckte ich eine, wie soll ich sagen, visionäre Kraft. Da ist eine Energie, eine Intelligenz und, wie ich meine, auch ein Charme. Möglicherweise, dachte ich, ist der Mann wirklich der, für den er sich ausgibt. Nur Herr Pym kann uns das sagen, dachte ich.« Er drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Darf ich Sie ihm gegenüberstellen, Herr Pym?«

Ein alter Gefängniswärter erschien und watschelte vor ihnen einen ausgemalten Backsteinkorridor hinunter, der nach Karbol stank. Er schloß ein Gitter auf und versperrte es wieder hinter ihnen. Er schloß ein zweites auf. Es war das erste Mal, daß ich Rick im Gefängnis sah, und ich habe seitdem dafür gesorgt, daß es auch das letzte Mal war. In Zukunft sandte Pym ihm Lebensmittel, Kleider, Zigarren und in Irland Drambuie. Pym leerte sein Bankkonto für ihn, und wäre er Millionär gewesen, er hätte eher bankrott gemacht, als ihn wieder, und sei es auch nur in der Phantasie, dort zu sehen. Rick saß in der Ecke, und Pym wußte sofort, daß er dies nur tat, damit ihm die Zelle größer erschien, denn seit ich ihn kannte, hat er immer mehr Platz gebraucht, als Gott ihm gegeben hatte. Er saß da, den großen Kopf nach vorne geneigt, mit dem stumpfen Blick eines Knastbruders, und ich schwöre, daß er sein Gehör mit seinem Gehirn abgeschaltet und unser Kommen nicht bemerkt hatte.

»Vater«, sagte Pym. »Ich bin’s.«

Rick kam ans Gitter, legte die Hände auf je einen Stab und schaute zwischen ihnen durch. Er starrte zuerst auf Pym, dann auf den Kommandanten und den Wärter, ohne ganz offensichtlich Pyms Stellung zu begreifen. Sein Ausdruck war schläfrig und übellaunig.

»Haben sie dich also auch erwischt, Sohn?« sagte er – nicht, wie Pym dachte, ohne eine gewisse Genugtuung. »Ich war immer der Meinung, daß du irgendwas ausfrißt. Du hättest Jura studieren sollen, wie ich dir gesagt habe.« Langsam begann ihm die Wahrheit zu dämmern. Der Wärter hatte seine Tür aufgeschlossen, und der gute Kommandant sagte: »Bitte, Herr Pym«, und trat zur Seite, um Pym eintreten zu lassen. Pym ging auf Rick zu und legte die Arme um ihn, behutsam, für den Fall, daß man ihn geschlagen hätte, und er wund wäre. Allmählich bekam Rick wieder Oberwasser.

»Gott im Himmel, Sohn, was zum Teufel treibt man mit mir? Kann ein ehrlicher Mensch nicht ein paar Geschäfte in diesem Land machen? Hast du das Essen gesehen, das sie einem hier geben, diese deutschen Würste? Wofür bezahlen wir unsere Steuern? Wofür haben wir den Krieg geführt? Wozu ist ein Sohn gut, der Chef des Foreign Office ist, wenn er seinem alten Herrn diese deutschen Banditen nicht vom Hals halten kann?« Doch Pym war schon dabei, Rick zu umarmen, ihn auf die Schulter zu schlagen und zu sagen, daß es gut sei, ihn zu sehen, unter welchen Umständen auch immer. Also fing Rick auch an zu weinen, und der Kommandant ging feinfühlig in einen anderen Raum, während jeder der beiden wiedervereinten Kumpel den anderen als seinen Retter feierte.

Ich möchte dich nicht enttäuschen, Tom, aber mir sind ehrlich und vielleicht absichtlich die näheren Umstände von Ricks Berliner Transaktionen entfallen. Pym erwartete damals seine eigene Verurteilung, nicht die Ricks. Ich erinnere mich an zwei Schwestern aus preußischem Adel, die in einem alten Haus in Charlottenburg wohnten, denn Pym besuchte sie, um sie für die wie üblich abgängigen Gemälde zu entschädigen, die Rick für sie verkaufen wollte, für die Diamantenbrosche, die er für sie reinigen ließ, die Pelzmäntel, die ein mit ihm befreundeter Kürschner in London umändern sollte, kostenlos, denn er hielt große Stücke auf Rick. Und ich erinnere mich, daß die Schwestern einen krummen Neffen hatten, der in Waffenschiebungen verwickelt war, und daß Rick irgendwo in dieser Geschichte ein Flugzeug zu verkaufen hatte, den schönsten, besterhaltenen Jagdbomber, den man sich wünschen konnte, prima in Schuß, innen und außen. Und soviel ich weiß, sollte er von Balham, dem lebenslangen Liberalen bemalt werden und unter Garantie jeden in den Himmel fliegen.

In Berlin machte Pym auch deiner Mutter den Hof, Tom, und nahm sie seinem und ihrem Boß, Jack Brotherhood, weg. Ich bin nicht sicher, daß du oder sonstwer ein natürliches Recht darauf habt, zu erfahren, welcher Zufall ihn dazu brachte, aber ich werde versuchen, dir zu helfen, so gut ich kann. Ich kann nicht leugnen, daß bei Pyms Motiven Mutwille mit im Spiel war. Die Liebe kam, soweit überhaupt, später.

»Jack Brotherhood und ich scheinen uns dieselbe Frau zu teilen«, bemerkte Pym eines Tages scherzhaft gegenüber Axel bei einem Telefongespräch von Telefonzelle zu Telefonzelle.

Axel wollte sofort wissen, wer sie war.

»Eine Aristo«, sagte Pym immer noch neckend. »Eine von uns. Kirchen- und Spionage-Uradel, wenn dir das was sagt. Die Verbindungen ihrer Familie mit der Firma gehen auf Wilhelm den Eroberer zurück.«

»Ist sie verheiratet?«

»Du weißt doch, daß ich mit verheirateten Frauen nicht schlafe, sofern sie nicht unbedingt darauf bestehen.«

»Ist sie amüsant?«

»Axel, wir sprechen von einer Dame.«

»Ich meine, ist sie gesellschaftsfähig?« fragte Axel ungeduldig. »Ist sie das, was ihr eine Diplomaten-Geisha nennt? Ist sie bourgeois? Würden Amerikaner sie mögen?«

»Sie ist eine Top-Martha, Axel, sage ich dir. Sie ist schön und reich und beängstigend britisch.«

»Dann ist sie vielleicht das Ticket, das uns nach Washington bringt«, sagte Axel, der erst kürzlich seine Besorgnis über die Anzahl von Zufalls-Betthasen ausgedrückt hatte, die durch Pyms Leben hopsten.

Kurz darauf wurde Pym ein ähnlicher Rat von Seiten deines Onkels Jack zuteil.

»Mary hat mir gesagt, was zwischen euch vorgeht, Magnus«, sagte er, wobei er ihn auf die onkelhafteste Weise beiseite nahm. »Und wenn Sie mich fragen, wäre es nicht das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte. Sie ist das beste Mädchen, das wir haben, und es ist Zeit, daß Sie ein bißchen reputierlicher werden.«

Nachdem seine beiden Mentoren in dieselbe Kerbe schlugen, folgte Pym ihrem Rat und machte Mary, deine Mutter, zu seiner angetrauten Tischgenossin an der Ehrentafel der anglo-amerikanischen Allianz. Und wirklich, nach all dem, was er schon verschenkt hatte, schien das kein übertriebenes Opfer.

***

Halt seine Hand, Jack – schrieb Pym – Er ist das Liebste, was ich hatte.

***

Mabs, verzeih – schrieb Pym – Liebe, liebe Mabs, verzeih. Wenn Liebe ist, was immer wir noch verraten können, dann denk daran, daß ich Dich an vielen Tagen verraten habe.

***

Er begann eine Nachricht an Kate und zerriß sie. Er kritzelte »Liebste Belinda«, und hielt inne, zu Tode erschreckt durch die Ruhe rings um ihn. Er schaute scharf auf die Uhr. Fünf. Warum hat die Glocke nicht geschlagen? Ich bin taub geworden. Ich bin tot. Ich bin in einer Gummizelle. Über den Platz herüber erklang der erste Glockenschlag. Eins. Zwei. Ich kann sie jederzeit anhalten, dachte er. Ich kann sie bei eins anhalten, bei zwei, bei drei. Ich kann jeden Teil jeder Stunde nehmen und ihn schlagartig anhalten. Aber ich kann sie um Mitternacht nicht ein Uhr verkünden lassen. Das ist Gottes Trick, nicht meiner.

***

Eine betroffene Stille hatte sich über Pym gesenkt, buchstäblich die Todesstille. Er stand wieder einmal am Fenster und sah zu, wie die Blätter über den leeren Platz trieben. Alles, was er sah, war von ominöser Untätigkeit gezeichnet. Kein Kopf in einem Fenster, kein offener Eingang. Nicht ein Hund oder eine Katze oder ein Eichhorn oder ein einziges quäkendes Kind. Sie sind in die Hügel geflohen. Sie warten auf die Korsaren. Doch im Geist steht er in der Kellerwohnung eines heruntergekommenen Bürogebäudes in einer billigen Gegend und schaut den beiden verwelkten Lovelies zu, die am Boden knien und Ricks letzte Akten aufreißen, wobei sie ihre langnageligen Fingerspitzen anlecken, um sie bei ihrer Schnitzeljagd auf Touren zu bringen. Papier liegt in wachsenden Wällen um sie herum, es flattert wie wirbelndes Laub durch die Luft, beim Durchstöbern und Ausscheiden dessen, was sie vergeblich gefilzt haben: mit Blut geschriebene Bankauszüge, Rechnungen, wütende Anwaltsbriefe, Beschlagnahmeverfügungen, Zahlungsbefehle, vorwurfsvolle Liebesbriefe. Der Staub, der davon auffliegt, dringt in Pyms Nasenlöcher, das Knallen der Stahlschubladen ist wie das Knallen seiner Gefängnisgitter, doch die Lovelies ficht das nicht an; sie sind gierige Witwen, die Ricks Nachlaß plündern. Inmitten der Trümmer, der Schubladen und schiefen Schränke steht Ricks letzter Reichskanzleischreibtisch, um dessen geschweifte Beine sich Schlangen wie goldene Strumpfbänder winden. An der Wand hängt das letzte Foto des großen TP mit den Bürgermeisterinsignien, und auf dem Kaminsims, über einem Rost, der vollgestopft ist mit falschen Kohlen und Ricks letzten Zigarrenstummeln, steht die Bronzebüste unseres Firmengründers und geschäftsführenden Direktors, die den letzten Rest seiner Integrität ausstrahlt. An der offenen Tür hinter Pyms Rücken hängt die Gedenktafel von Ricks letztem Dutzend Gesellschaften, doch ein Schild neben der Klingel trägt die Aufschrift »Hier drücken«, denn wenn Rick nicht gerade die kränkelnde Wirtschaft der Nation rettete, arbeitete er als Nachtportier für den Block.

»Um welche Zeit ist er gestorben?« sagt Pym, bevor er sich erinnert, daß er es weiß.

»Abends, Schätzchen. Die Pubs ham grade aufgemacht«, sagt eine der Lovelies durch ihre Zigarette hindurch und hievt einen weiteren Papierstapel auf den Abfallhaufen.

»Er kippte grade einen nebenan«, sagt die andere, die wie die erste keine Sekunde ihre Bemühungen unterbrochen hatte.

»Was ist nebenan?« sagte Pym.

»Schlafzimmer«, sagt die erste Lovely und stößt eine weitere erledigte Akte beiseite.

»Wer war also bei ihm?« fragt Pym. »Waren Sie bei ihm? Wer war bei ihm, bitte?«

»Wir beide, Schätzchen«, sagt die erste. »Wir ham grad ein bißchen geschmust, wenn Sie’s genau wissen wollen. Ihr Dad hat gern einen getrunken, und dann war er immer ganz sinnig. Wir ham früh abendgegessen, wegen seiner Verpflichtungen, Zwiebelsteak, und er hat an der Quasselstrippe Krach mit dem Fernsprechamt gehabt wegen einem Scheck, der mit der Post zu ihnen unterwegs war. Er war deprimiert, stimmt’s Vi?«

Die erste Lovely unterbricht, wenn auch widerstrebend, ihre Nachforschungen. Die zweite desgleichen. Plötzlich sind sie brave Londonerinnen mit freundlichen, verquollenen Gesichtern und überarbeiteten Körpern.

»Es war aus für ihn, Schätzchen«, sagt sie und wischt sich mit ihrem molligen Handgelenk eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Was war aus?«

»Er hat gesagt, wenn er nicht mehr telefonieren kann, dann muß er gehn. Er sagt, das Telefon is seine Rettungsleine und wenn er’s nicht mehr haben kann, is es sein Todesurteil, denn wie soll er denn Geschäfte ohne Telefon und ein sauberes Hemd machen?«

Ihre Gefährtin, die Pyms Schweigen für Mißbilligung hält, braust auf. »Schaun Sie uns nicht so an, Darling. Er hat schon lange alles von uns gekriegt, was wir gehabt ham. Wir ham’s Gas bezahlt, den Strom, wir ham sein Essen gekocht, stimmt’s, Vi?«

»Wir ham alles Menschenmögliche für ihn getan«, sagt Vi. »Und ihn auch getröstet.«

»Wir ham für ihn mehr Nummern abgezogen, als wie natürlich is, stimmt’s, Vi? Manchmal drei am Tag für ihn.«

»Mehr«, sagt Vi.

»Es war ein großes Glück für ihn, daß er Sie hatte«, sagte Pym ehrlich. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich so um ihn gekümmert haben.«

Das gefällt ihnen, und sie lächeln schüchtern.

»Sie ham wohl in Ihrer dicken schwarzen Tasche keine nette Flasche, was, Schätzchen?«

»Leider nicht.«

Vi geht ins Schlafzimmer. Durch die offene Türe sieht Pym das Riesenbett aus der Chester Street, mit seiner abgenutzten und fleckigen Polsterung. Ricks Seidenpyjama liegt zerknüllt auf dem Bettüberwurf. Er riecht Ricks Toilettenwasser und Ricks Haaröl. Vi kommt mit einer Flasche Drambuie zurück.

»Hat er in den letzten Tagen von mir gesprochen?« sagt Pym, während sie trinken.

»Er war stolz auf Sie, Schatz«, sagt Vis Freundin. »Sehr stolz.« Doch die Antwort scheint sie nicht zu befriedigen. »Er wollte Sie einholn, wohlgemerkt. Das warn beinahe seine letzten Worte, stimmt’s, Vi?«

»Wir ham ihn gehalten«, sagt Vi schniefend. »Die Luft is ihm immer mehr weggeblieben. ›Sagt denen vom Fernamt, daß ich ihnen verzeih‹, sagt er. ›Und sagt meinem Jungen Magnus, daß wir beide bald Botschafter sein wern.‹«

»Und danach?« sagte Pym.

»›Gib uns noch einen Schluck Napoleon, Vi‹«, sagt Vis Freundin, die jetzt auch weint. »Es war zwar kein Napoleon, es war Drambuie. Dann sagt er: ›Da ist genug in diesen Akten, Mädchen, um euch zu versorgn, bis ihr mir nachfolgt.‹«

»Er ist einfach hinübergenickt«, sagt Vi in ihr Taschentuch.

»Wenn’s nicht wegen seim Herz gewesen wär, hätte er genauso gut nicht tot sein können.«

Es raschelt an der Türe. Klopft dreimal. Vi öffnet einen Spalt, dann ganz und tritt mißbilligend zurück, um Ollie und Mr. Cudlove einzulassen, die mit Eiskübeln bewaffnet sind. Die Jahre sind Ollies Nerven nicht gut bekommen, und die Tränen in den Augenwinkeln sind mit Mascara verschmiert. Mr. Cudlove dagegen ist unverändert, bis hin zu seiner schwarzen Chauffeurskrawatte. Er wechselt den Kübel auf die linke Seite und umklammert Pyms Rechte mit männlichem Druck. Pym folgt ihnen durch einen schmalen Gang, in dem die Fotos der Fernerliefens hängen. Rick liegt im Bad mit einem Handtuch um seine Mitte gebunden, die marmorierten Füße wie nach irgendeinem orientalischen Ritus gekreuzt. Die Hände sind gewölbt, und die Finger gekrümmt, bereit für Ricks Ansprache an seinen Schöpfer.

»Es waren einfach keine Mittel mehr da, Sir«, murmelte Mr. Cudlove, während Ollie das Eis in die Wanne schüttet. »Kein einziges Penny-Stück, um ehrlich zu sein, Sir. Ich nehme an, diese Damen haben sich einige Freiheiten herausgenommen.«

»Warum haben Sie ihm nicht die Augen zugedrückt?« sagte Pym.

»Wir haben sie zugedrückt, um ehrlich zu sein, aber sie sind immer wieder aufgegangen, und es schien nicht respektvoll.«

Pym schreibt auf einem Knie vor seinem Vater einen Scheck über zweihundert Pfund aus und hätte beinahe aus Versehen Dollar eingesetzt.

Pym fährt zur Chester Street. Das Haus ist seit Jahren in anderen Händen, doch heute abend steht es dunkel da, als warte es wieder einmal auf den Gerichtsvollzieher. Pym näherte sich behutsam. Auf der Türstufe brennt trotz des Regens ein Nachtlicht. Daneben liegt wie ein totes Tier eine alte Federboa in Lila, der Farbe der Halbtrauer, wie Tante Nells Boa, die er vor so langer Zeit benutzt hatte, um das Klosett in The Glades zu verstopfen. Gehört sie Dorothy? Oder Peggy Wentworth? Oder zu einem Kinderspiel? Hat Lippsies Geist sie dort hingelegt? An ihre durchweichten Federn ist keine Karte geheftet. Kein Zwangsverwalter hat sie beschlagnahmt. Der einzige Hinweis ist das Wort »Ja«, das in zitternden Kreidestrichen an die Tür gekritzelt ist, wie ein Sicherheitssignal in einer Zielstadt.

***

Pym drehte dem menschenleeren Platz den Rücken zu, ging zornig ins Badezimmer und öffnete das Oberlicht, das er vor Jahren für Miss Dubber der Schicklichkeit halber grün gestrichen hatte. Durch eine Schießluke musterte er die Gärten auf der Seite des Hauses und kam zu dem Schluß, daß sie unnatürlich leer waren. Kein Schäferhund Stanley, der an die Regenröhre von Nummer 8 gebunden ist. Keine Mrs. Aitkens, die Metzgerfrau, die jede wache Stunde bei ihren Rosen verbringt. Er knallte das Oberlicht wieder zu, beugte sich über das Waschbecken und bespritzte sein Gesicht mit Wasser, starrte dann düster auf sein Spiegelbild, bis es ein falsches und strahlendes Lächeln zurückgab. Ricks Lächeln, um ihn zu verhöhnen, das Lächeln, das zu glücklich ist, um auch nur mit einer Wimper zu zucken. Ein Lächeln, das sich an einen schmiegt, sich an einen preßt wie ein glücklich erregtes Kind. Das Lächeln, das Pym am meisten haßte.

»Feuerwerk, Sohn«, sagte Pym und ahmte Ricks Tonfall in seiner unheiligsten Ausprägung nach. »Erinnerst du dich noch an deine Vorliebe für Feuerwerk? Erinnerst du dich noch an die Guy-Fawkes-Gedenknacht und an das große Feuerrad mit den Initialen deines alten Herrn drüber, RTP, das über ganz Ascot strahlte? Na, also.«

Na also, echote Pyms Seele.

***

Pym schreibt wieder. Fröhlich. Keine Feder kann da mithalten. Sorglos freie Briefe rasen übers Papier. Lichtpfade, Raketenschwänze, Sterne und Streifen schwirren über seinem Kopf dahin. Die Musik aus tausend Transistorradios spielt um ihn, die strahlenden Gesichter von Fremden lachen ihn an, und er lacht zurück. Es ist der 4. Juli. Es ist Washingtons Nacht der Nächte. Die Diplomaten-Pyms sind vor einer Woche angekommen, um seinen Posten als stellvertretender Residenturchef anzutreten. Die Insel Berlin ist endlich versunken. Sie haben einen Aufenthalt in Prag hinter sich, in Stockholm und London. Der Weg nach Amerika war nie leicht, doch Pym hat die Strecke durchgestanden, Pym hat es geschafft, er ist angenommen worden und fast in die gerötete Dunkelheit aufgestiegen, die wiederholt von Flutlichtern, Feuerwerkskörpern und Scheinwerfern in Weiß getaucht wird. Die Menge wogt um ihn, und er ist ein Teil davon, die Freien dieser Erde haben ihn unter sich aufgenommen. Er ist eins mit allen diesen glücklichen erwachsenen Kindern, die ihre Unabhängigkeit von Dingen feiern, von denen sie nie festgehalten wurden. Die Marine Band, der Beckenbridge-Knaben-Chor, die Metropolitan-Area-Symposium-Chor-Gruppe haben ihn umworben und widerstandslos erobert. Auf einer Party nach der anderen sind Magnus und Mary von der halben Geheimdienst-Schickeria von Georgetown gefeiert worden, haben in Ziegelhöfen Schwertfisch bei Kerzenschimmer gegessen, unter überhängenden, von Lichtstrahlen durchfluteten Zweigen geplaudert, haben umarmt und sind umarmt worden, haben Hände geschüttelt und ihre Köpfe mit Namen und Klatsch und Champagner gefüllt. Viel von Ihnen gehört, Magnus – Magnus, willkommen an Bord! Oh, là, là, ist das ihre Frau? Das ist kriminell! Bis Mary, in ihrer Sorge um Tom – das Feuerwerk hat ihn stark erregt – beschließt, zusammen mit Bee Lederer nach Hause zu gehen.

»Ich komme bald nach, Darling«, murmelte Pym, als sie aufbricht. »Muß nur noch schnell bei den Wexlers vorbeischauen, damit sie nicht glauben, ich schneide sie.«

Wo bin ich? In der Mall? Auf dem Kapitol? Pym hat keine Ahnung. Die bloßen Arme und Schenkel und unbehinderten Brüste der jungen amerikanischen Weiblichkeit streifen ihn freudig. Freundliche Hände machen ihm Platz, um ihn durchzulassen; Gelächter, Marihuanarauch, Lärm erfüllen die heiße Nacht. »Wie heißen Sie, Mann? Brite? An mein Herz – ein Schluck für Sie.« Pym fügt der eindrucksvollen Mischung, die er bereits zu sich genommen hat, noch einen Mundvoll Bourbon hinzu. Er klettert einen Anhang hinauf, ob aus Gras oder Teer kann er nicht mehr unterscheiden. Das Weiße Haus glitzert unter ihm. Davor schießt, aufrecht und mit Flutlicht bestrahlt, das Washington-Denkmal seinen Lichtpfad bis zu den unerreichbaren Sternen hinauf. Jefferson und Lincoln liegen, jeder in seinem ewigen Flecken Rom, rechts und links von ihm. Pym liebt sie beide. Alle Patriarchen und Gründerväter Amerikas gehören mir. Er ist auf der Spitze des Hügels angelangt. Ein Schwarzer bietet ihm Popcorn an. Es ist salzig und heiß wie sein Schweiß. Weiter oben im Tal liefert ein anderes Feuerwerk mit Krachern und Böllern harmlose Schlachten am Himmel. Die Menge ist hier oben dichter, aber die Menschen lächeln ihn immer noch an und machen ihm Platz, während sie die Feuerwerke be-aahn und be-oohn, einander Freundschaft zurufen und in patriotische Gesänge ausbrechen. Ein hübsches Mädchen neckt ihn. »He, Mann, warum wollen Sie nicht tanzen?«

»Vielen Dank, mit Vergnügen, wenn ich nur meine Jacke ablegen darf«, antwortet Pym. Seine Antwort ist zu hölzern, sie hat einen anderen Partner gefunden. Er ruft. Zuerst hört er sich selbst nicht, aber als er zu einer ruhigeren Stelle kommt, hört er sich mit bestürzender Deutlichkeit. »Poppy! Poppy! Wo bist du?« Hilfreich nimmt das gute Volk rings um ihn den Ruf auf. »Hierher, Poppy, dein Freund ist da!« – »Los, Poppy, du Miststück, wo bleibst du denn?« Hinter und über ihm werden die Raketen zu einer Fontäne, die endlos zu den wirbelnden karmesinroten Wolken hochschießt. Vor ihm öffnet sich ein goldener Schirm, der sich über den ganzen weißen Hügel spannt und die sich leerenden Straßen beleuchtet. Instruktionen ertönen entfernt in Pyms Kopf. Er liest Straßen- und Hausnummern. Er findet das Haus, und in einer letzten freudigen Aufwallung spürt er, wie die vertraute knochige Hand sich um sein Gelenk schließt, und hört, wie die vertraute Stimme ihn ermahnt:

»Deine Freundin Poppy kann heute abend nicht kommen, Sir Magnus«, sagt Axel leise. »Würdest du also bitte aufhören, ihren Namen zu rufen?«

Schulter an Schulter sitzen die beiden Männer auf den Stufen des Kapitols und schauen in die Mall hinunter auf die unzähligen Tausende, die sie unter ihre Fittiche genommen haben. Axel hat einen Korb mit einer Thermosflasche eiskalten Wodkas und den besten Gürkchen und dem besten Schwarzbrot, die Amerika liefern kann.

»Wir haben’s geschafft, Sir Magnus«, flüstert er. »Endlich sind wir zu Hause.«

***

Liebster Vater,

Ich freue mich, Dir von meiner neuen Bestallung berichten zu können. Kulturattaché mag vielleicht nicht sehr imponierend in Deinen Ohren klingen, aber es ist ein Posten, der hier in den höchsten Kreisen eine Menge Ansehen genießt und mir sogar Zugang ins Weiße Haus verschafft. Ich bin auch der stolze Inhaber eines sogenannten Cosmic-Ausweises, was buchstäblich bedeutet, daß mir keinerlei Türen mehr verschlossen sind.