3
Mary hatte sich auf alles vorbereitet, nur darauf nicht. Nicht auf das Tempo und die Gründlichkeit des Eindringens und die Zahl der Eindringlinge. Nicht auf den vollen Umfang und Tiefgang von Jack Brotherhoods Zorn, seine Bestürzung, die noch größer schien als die ihre. Und nicht auf das erschreckend Tröstliche seiner Anwesenheit.
Er hatte sie kaum angesehen, als er die Diele betrat. »Hast du von der Sache irgendwas geahnt?«
»Wenn ja, dann hätte ich es dir gesagt«, sagte sie, und das war Krieg, ehe sie überhaupt angefangen hatten.
»Hat er angerufen?«
»Nein.«
»Sonst jemand?«
»Nein.«
»Von niemandem was gehört? Nichts Neues?«
»Nein!«
»Hab ein paar Hausgäste mitgebracht.« Er wies mit dem Daumen auf zwei Schatten, die hinter ihm standen. »Verwandte aus London, wollen dich auf andere Gedanken bringen. Weitere folgen.« Dann fegte er an ihr vorbei wie ein großer zerzauster Falke auf der Jagd nach anderer Beute, ließ ihr nur das erstarrte Bild seines zerfurchten und narbigen Gesichts und der zottigen weißen Stirnlocke, als er zum Salon stürmte.
»Ich bin Georgie vom Stammhaus«, sagte das Mädchen auf der Türschwelle. »Das ist Fergus. Es tut uns so leid, Mary.«
Beide hatten Gepäck, und Mary führte sie zur Treppe. Sie schienen sich auszukennen. Georgie war groß und kantig und hatte glattes Haar mit praktischem Schnitt. Fergus war nicht ganz Georgies Klasse, aber so ging die Zentrale heutzutage immer vor.
»Tut mir leid, Mary«, echote Fergus, als er Georgie treppauf folgte. »Wir dürfen uns mal umsehen, wie?«
Im Salon hatte Jack Brotherhood die Lampen ausgeknipst und die Vorhänge an den Fenstertüren auseinandergezerrt. »Ich brauch den Schlüssel für das Ding da. Den Safe.«
Mary stürzte zum Kaminsims und tastete nach der silbernen Rosenschale, wo sie den Safeschlüssel verwahrte. »Wo ist Magnus?«
»Irgendwo auf der Welt oder aus der Welt. Er benutzt Tricks. Unsere. Wen kennt er in Edinburgh?«
»Niemand.« Die Rosenschale war voll getrockneter Blumen, die Mary mit Tom gesammelt hatte. Aber kein Schlüssel.
»Sie glauben, daß sie seine Spur bis dorthin haben«, sagte Brotherhood. »Sie glauben, er hat den Fünf-Uhr-Flug von Heathrow benutzt. Großer Mann mit schwerer Aktentasche. Andererseits, so wie wir Magnus kennen, könnte er ebenso gut in Timbuktu sein.«
Den Schlüssel suchen, hieß Magnus suchen. Mary wußte nicht, wo sie beginnen sollte. Sie nahm den Teewärmer und schüttelte ihn aus. Vor Panik wurde ihr übel. Sie griff nach dem Silberbecher, den Tom für gute Leistung in der Schule gewonnen hatte, und hörte Metall darin klimpern. Als sie Jack den Schlüssel brachte, stieß sie sich das Schienbein so heftig, daß ihr Tränen den Blick trübten. Dieser blöde Klavierhocker.
»Haben die Lederers angerufen?«
»Nein. Hab ich doch gesagt. Niemand. Ich kam erst um elf vom Flugplatz heim.«
»Wo sind die Löcher?«
Sie spürte das obere Schlüsselloch für ihn auf und führte ihm die Hand. Ich hätte es selber machen sollen, dann müßte ich ihn nicht berühren. Sie kniete nieder und suchte nach dem anderen Schlüsselloch. Ich küsse ihm praktisch die Füße.
»Ist er schon einmal verschwunden und du hast mir nichts gesagt?« fragte Brotherhood, während sie noch herumtastete.
»Nein.«
»Raus mit der Wahrheit, Mary. Ich hab ganz London am Hals. Bo hat Zustände, und Nigel sitzt jetzt mit dem Botschafter in Klausur. Die R.A.F. fliegt uns nicht zum Spaß mitten in der Nacht hier rüber.«
Nigel ist Bo Brammels Scharfrichter, hatte Magnus gesagt. Bo sagt zu allen, aber gewiß doch, was immer Sie wünschen, und Nigel tappt hinter ihm her und hackt ihnen die Köpfe ab.
»Noch nie. Nein. Ich schwör’s«, sagte sie.
»Hat er irgendwo einen Lieblingsort? Hat er einmal davon gesprochen, wo er sich verstecken würde?«
»Er sagte einmal: Irland. Er würde eine Klitsche überm Meer kaufen und schreiben.«
»Nord oder Süd?«
»Ich weiß nicht. Vermutlich Süd. Hauptsache am Meer. Dann plötzlich die Bahamas. Das war später.«
»Wen hat er dort?«
»Niemanden. Nicht, soviel ich weiß.«
»Hat er je davon gesprochen, die Seite zu wechseln, kleine Datscha am Schwarzen Meer?«
»Red keinen Unsinn.«
»Also Irland und die Bahamas. Wann hat er gesagt, die Bahamas?«
»Überhaupt nicht. Er hat nur die Immobilienangebote in der Times angekreuzt und liegengelassen, damit ich sie sehe.«
»Als Zeichen?«
»Als Vorwurf, als Ermunterung, als Signal, daß er anderswo sein möchte. Magnus kann auf vielerlei Art sprechen.«
»Hat er jemals von Selbstmord gesprochen? – Sie werden dich fragen, Mary. Ich tue es lieber zuerst.«
»Nein. Nein, hat er nicht.«
»Du klingst nicht sicher.«
»Bin ich auch nicht. Ich muß überlegen.«
»Hat er sich physisch bedroht gefühlt?«
»Ich kann nicht alles auf einmal beantworten, Jack! Er ist ein komplizierter Mensch, ich muß überlegen!« Sie faßte sich. »Im Prinzip, nein. Nein auf alle Fragen. Das Ganze ist ein totaler Schock.«
»Trotzdem hast du sofort vom Flugplatz aus angerufen. Als er nicht mit der Maschine eintraf, warst du auch schon am Telefon: ›Jack, Jack, wo ist Magnus?‹ Du hattest recht, er ist verschwunden.«
»Ich sah schließlich seinen Koffer auf dem Gepäckkarussel rundumfahren. Also hat er ihn aufgegeben. Warum war er nicht im Flugzeug?«
»Wie steht’s mit dem Trinken?«
»Weniger als früher.«
»Weniger als auf Lesbos?«
»Viel weniger.«
»Und seine Kopfschmerzen?«
»Keine mehr.«
»Andere Frauen?«
»Weiß ich nicht. Würde es nicht wissen. Wie denn? Wenn er sagt, er bleibt über Nacht weg, dann bleibt er über Nacht weg. Es könnte eine Frau sein, es könnte ein Joe sein. Es könnte Bee Lederer sein. Sie ist dauernd hinter ihm her. Frag sie.«
»Ich dachte, Ehefrauen wüßten so was immer«, sagte Brotherhood.
Nicht bei Magnus, unmöglich, dachte sie und fing an, sich seiner Gangart anzupassen.
»Bringt er abends immer noch Akten zum Durcharbeiten mit?« fragte Brotherhood und spähte in den verschneiten Garten.
»Dann und wann.«
»Sind jetzt welche im Haus?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Amerikanische Akten? Von gemeinsamem Interesse?«
»Ich lese sie nicht, Jack, ja? Also weiß ich es nicht.«
»Wo bewahrt er sie auf?«
»Er bringt sie abends und nimmt sie morgens wieder mit. Wie alle.«
»Und wo bewahrt er sie auf, Mary?«
»Neben dem Bett. Im Schreibtisch. Wo er eben daran arbeitet.«
»Und Lederer hat nicht angerufen?«
»Hab ich doch gesagt. Nein!« Brotherhood trat von der Fenstertür zurück. Zwei Männer, warm vermummt, stolperten ins Zimmer. Mary erkannte Lumsden, den Privatsekretär des Botschafters. Unlängst war sie mit seiner Frau Caroline aneinandergeraten, weil sie im Hof der Gesandtschaft einen Altglas-Container aufstellen wollte, als gutes Beispiel für die Wiener. Mary fand das wichtig. Caroline Lumsden war dagegen und erklärte dem harten Kern vom Club der Diplomatenfrauen in einer zornigen Aufwallung warum: Mary sei keine richtige Diplomatengattin, sagte Caroline. Mary gehöre nicht dazu und werde einzig mit Rücksicht auf die fadenscheinige Legende ihres Mannes geduldet.
Die beiden müssen am Reitweg bei der Schule auf Posten gestanden haben, dachte sie. Durch halbmeterhohen Schnee gewatet sein, um kein Aufsehen zu erregen.
»Ave, Maria«, sagte Lumsden munter mit seiner schönsten Pfadfinderstimme. Er war katholisch, und er begrüßte sie immer so, also auch jetzt. Um normal zu sein.
»Hat er am Abend der Party Papiere mitgebracht?« fragte Brotherhood und zog die Vorhänge wieder zu.
»Nein.« Sie machte Licht.
»Weißt du, was in der schwarzen Aktentasche ist, die er bei sich hat?«
»Er hat sie nicht von hier mitgenommen, also muß er sie sich in der Botschaft geholt haben. Von hier hat er nur den Koffer mitgenommen, der in Schwechat ist.«
»War«, sagte Brotherhood.
Der zweite Mann war groß und sah kränklich aus. Er trug in jeder behandschuhten Hand eine bauchige Tasche. Auftritt der Abtreiber. Es war also praktisch eine ganze Flugzeugladung, dachte sie benommen: die Londoner Zentrale muß ein permanentes Verräter-Fahndungs-Team rund um die Uhr in Bereitschaft haben.
»Das ist Harry«, sagte Brotherhood. »Er wird ein paar schlaue Boxen an deinen Telefonen anbringen. Benütz sie wie immer. Denk nicht an uns. Was dagegen?«
»Wie könnte ich?«
»Kannst du nicht, stimmt. Ich bin nur höflich, warum bist du’s nicht auch? Ihr habt zwei Autos. Wo sind sie?«
»Der Rover steht draußen. Den Metro hat er bis zu seiner Rückkehr auf dem Parkplatz in Schwechat abgestellt.«
»Warum bist du zum Flughafen gefahren, wenn er einen Wagen dort hatte?«
»Ich dachte eben, es könne ihn freuen, also bin ich mit dem Taxi rausgefahren.«
»Warum nicht mit dem Rover?«
»Ich wollte in seinem Wagen mit zurückfahren, nicht im Geleitzug.«
»Wo sind die Schlüssel für den Metro?«
»Vermutlich in seiner Tasche.«
»Zweitschlüssel?«
Sie durchsuchte ihre Handtasche und fand die Schlüssel. Er steckte sie ein.
»Ich laß ihn verschwinden«, sagte er. »Falls jemand fragt, er ist in der Reparatur. Ich will nicht, daß er am Flughafen rumsteht.«
Sie hörte von oben einen dumpfen Schlag.
Sie sah zu, wie Harry seine Gummistiefel auszog und säuberlich auf die Matte neben den Fenstertüren stellte.
»Sein Vater starb am Mittwoch. Was hat er in London abgesehen vom Begräbnis zu erledigen gehabt?« fuhr Brotherhood fort.
»Ich nahm an, er würde im Stammhaus vorsprechen.«
»Hat er nicht. Nicht angerufen, nicht hingegangen.«
»Dann war er wohl sehr beschäftigt.«
»Hat er irgend etwas in London vorgehabt – irgendwas mit dir besprochen?«
»Er wollte Tom im Internat besuchen.«
»Ja, das hat er getan. Hat ihn besucht. Noch was, Freunde – Termine – Frauen?«
Sie hatte plötzlich genug von ihm. »Er mußte seinen Vater begraben und alles regeln, Jack. Der ganze Aufenthalt war ein einziger Termin. Wenn dein Vater gestorben wäre, würdest du wissen, wie das ist.«
»Hat er dich aus London angerufen?«
»Nein.«
»Langsam, Mary. Denk nach. Es sind schon fünf Tage.«
»Nein. Er hat nicht angerufen. Bestimmt nicht.«
»Tut er es normalerweise?«
»Wenn er den Apparat im Büro benutzen kann, ja.«
»Und wenn nicht?«
Sie dachte gehorsam nach. Sie bemühte sich wirklich. Sie dachte schon so lange nach. »Ja«, gab sie zu. »Er würde anrufen. Er möchte immer wissen, daß hier alles in Ordnung ist. Er ist ein Kümmerer. Wahrscheinlich hab ich deshalb so durchgedreht, als er nicht auftauchte. Ich glaube, ich war bereits beunruhigt.«
Lumsden stakte auf Socken im Salon umher und tat, als bewundere er Marys Griechenland-Aquarelle.
»Sie sind so, so talentiert«, staunte er, das Gesicht dicht an einer Ansicht von Plomari. »Haben Sie die Akademie besucht oder können Sie es einfach so?«
Sie achtete nicht auf ihn. Brotherhood auch nicht. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen. Der einzige gute Diplomat ist ein tauber Trappist, sagte Jack immer. Mary fand das langsam auch.
»Wo ist das Dienstmädchen?« sagte Brotherhood.
»Du hast gesagt, ich soll sie wegschicken. Am Telefon. Als ich anrief.«
»Hat sie Lunte gerochen?«
»Ich glaube nicht.«
»Es darf nicht rauskommen, Mary. Wir müssen auf dem Deckel sitzenbleiben, so lang es irgend geht. Das weißt du doch, oder?«
»Ich hab mir’s gedacht.«
»Wir müssen an seine Joes denken, wir müssen an alles denken. An weit mehr, als du wissen kannst. London strotzt von Theorien und bittet um Zeit. Weißt du genau, daß Lederer nicht angerufen hat?«
»Jesus«, sagte sie.
Sein Blick wanderte zu Harry, der seine schlauen Boxen auspackte. Sie waren graugrün, und man sah keine Schalter oder Knöpfe. »Du kannst dem Mädchen sagen, es sind Transformatoren«, sagte er.
»Umformer«, piepste Lumsden auf deutsch aus den Kulissen. »Die kleinen Büchsen sind Umformer.«
Wiederum ignorierten sie ihn. Jack konnte fast ebensogut deutsch wie Magnus und ungefähr dreihundertmal besser als Lumsden.
»Wann soll sie wiederkommen?« fragte Brotherhood.
»Wer?«
»Deine Perle, Herrgottnochmal.«
»Morgen mittag.«
»Dann sei so nett und sieh zu, daß sie noch ein paar Tage länger wegbleibt.«
»Jetzt, um diese Zeit?«
»Ich pfeif auf die Zeit. Los.«
Mary ging in die Küche und rief bei Frau Bauers Mutter in Salzburg an. »Es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit stören muß, aber bei einem Todesfall geht alles durcheinander. Herr Pym bleibt noch ein paar Tage in London«, sagte sie. »Ruhen Sie sich doch noch eine Weile aus, solange Herr Pym nicht da ist«, sagte sie.
Als sie wieder ins Zimmer kam, war Lumsden mit seinem Part an der Reihe. Sie begriff sofort, worauf er hinauswollte, und hörte entschlossen nicht mehr hin. »Nur, um eventuelle peinliche Lücken zu füllen, Mary … Damit wir alle dieselbe Sprache sprechen, Mary … Während Nigel noch beim Botsch sitzt … für den Fall, daß die verdammte Presse, was Gott verhüten wolle, Wind kriegt, ehe alles geklärt ist, Mary …« Lumsden hatte Klischees für jede Gelegenheit und den Ruf eines Schwachkopfs. »Also, das ist die Richtung, die der Botsch von uns erwartet«, schloß er im allerneuesten flapsigen Jargon. »Natürlich, nur, wenn wir gefragt werden. Im Falle des Falles. Und er läßt Sie wärmstens grüßen, Mary. Sie können auf ihn zählen. Magnus natürlich auch. Und sein wärmstes Beileid.«
»Kein Wort zu Lederers Bande«, sagte Brotherhood. »Zu niemand ein Wort, aber um Gottes willen keins zu Lederer. Es gibt kein Verschwinden, nichts Anormales. Er ist heim nach London, begräbt seinen Vater und bleibt noch zu Unterredungen im Stammhaus. Ende der Durchsage.«
»Genau diese Richtung habe ich schon eingeschlagen«, sagte Mary, zu Brotherhood gewandt, als sei Lumsden gar nicht vorhanden. »Nur, Magnus hat nicht um Trauerurlaub nachgesucht, ehe er ihn nahm.«
»Ja, also ich glaube, das will der Botsch nicht, daß wir es sagen«, sagte Lumsden und zeigte die harte Seite. »Also tun wir’s bitte lieber nicht.«
Brotherhood machte gegen ihn Front. Mary gehörte zur Familie. Niemand sprang in Gegenwart von Brotherhood so mit ihr um, am wenigsten ein eierköpfiger Lakai aus dem Foreign Office.
»Sie sind hier fertig«, sagte Brotherhood. »Verduften Sie, ja? Sofort.«
Lumsden entfernte sich auf dem Weg, den er gekommen war, nur schneller.
Brotherhood wandte sich wieder Mary zu. Sie waren allein. Er war klobig wie ein alter Bunker und, wenn er wollte, ebenso grob. Die weiße Strähne war ihm in die Stirn gefallen. Er legte beide Hände auf Marys Hüften, so, wie er sie früher an sich gezogen hatte. »Verdammt noch mal, Mary«, sagte er und hielt sie fest. »Magnus ist mein bestes Pferd. Was hast du mit ihm angestellt?«
Von oben hörte sie das Quietschen von Möbelrollen und einen weiteren lauten Plumps. Es ist die bauchige Kommode. Nein es ist unser Bett. Georgie und Fergus sahen sich schon mal kurz um.
***
Der Schreibtisch war im ehemaligen Mädchenzimmer neben der Küche, ein langgestreckter Raum im Souterrain, voller Spinnweben, in den seit vierzig Jahren keine Dienstmädchen mehr verbannt worden waren. Am Fenster standen zwischen Marys Pflanztöpfen ihre Staffelei und Aquarellfarben. An der Wand das alte Schwarz-Weiß-Gerät und das durchgesessene Sofa für die Zuschauer. »Nichts geht über ein bißchen Unbequemlichkeit«, sagte Magnus gern, »wenn sich herausstellen soll, ob ein Programm etwas taugt.« Im Alkoven unter Strängen von Leitungsrohren der Pingpong-Tisch, den Mary für ihre Buchbindearbeiten benutzte, und darauf lagen Leder und Steifleinen und Kleber und Pressen und Garne und marmoriertes Vorsatzpapier, Kartonschneider und die in Magnus’ alte Socken eingenähten Ziegelsteine, die sie anstelle von Bleigewichten benutzte, und die schadhaften Bücher, die sie für ein paar Schilling auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Daneben, beim ehemaligen Heizungsboiler, stand der Schreibtisch, das gewaltige irre Wiener Barock-Möbel, in Graz für ein Butterbrot ersteigert und vom tüchtigen Magnus auseinandergesägt, damit es durch die Tür ging, und danach wieder zusammengeleimt. Brotherhood zog an den Schubladen.
»Schlüssel?«
»Magnus muß ihn mitgenommen haben.«
Brotherhood hob den Kopf. »Harry!«
Harry trug seine Dietriche an einem Kettchen, wie andere Männer ihre Schlüssel, und er hielt den Atem an, um besser zu hören, während er probierte.
»Arbeitet er zu Hause immer hier, oder gibt es noch einen Platz?«
»Daddy hat ihm seinen alten Feldschreibtisch vermacht. Den benutzt er manchmal.«
»Wo ist er?«
»Droben.«
»Wo droben?«
»In Toms Zimmer.«
»Bewahrt auch seine Papiere dort auf, wie? Firmenpapiere?«
»Das glaub ich nicht. Ich weiß nicht, wo.«
Harry marschierte lächelnd mit gesenktem Kopf aus dem Zimmer. Brotherhood zog eine Schublade auf.
»Das ist für das Buch, an dem er schrieb«, sagte sie, als er einen schmalen Ordner herausnahm. »Magnus legt alles irgendwo hinein. Alles muß eine Verkleidung tragen, damit es echt ist.«
»Tatsächlich?« Er hakte seine Brille fest, über dem einen roten Ohr, dann über dem anderen. Er weiß auch von dem Roman, dachte sie und ließ ihn nicht aus den Augen. Er tut nicht mal überrascht.
»Ja.« Und du kannst seine blöden Papiere wieder dorthin legen, wo du sie hergenommen hast, dachte sie. Es gefiel ihr nicht, wie kalt er nun war, wie hart.
»Hat das Zeichnen aufgegeben, wie? Ich dachte, ihr würdet es gemeinsam betreiben.«
»Es war nicht das Richtige für ihn. Er fand, das geschriebene Wort sei vorzuziehen.«
»Scheint hier nicht viel geschrieben zu haben. Wann ist er umgestiegen?«
»Auf Lesbos. Im Urlaub. Er schreibt noch nicht. Er entwirft erst.«
»Oh.« Er nahm eine neue Seite vor.
»Er nennt es die Matrix.«
»Aha« – er las weiter. »Ich muß Bo einen Blick hineinwerfen lassen. Er versteht was von Literatur.«
»Und wenn wir aufhören – wenn er aufhört –, wenn er frühzeitig in den Ruhestand geht, dann wird er schreiben, und ich werde malen und buchbinden. So ist es gedacht.«
Brotherhood wandte eine Seite um. »In Dorset?«
»Auf Plush. Ja.«
»Nun, er hat ja wirklich frühzeitig aufgehört«, bemerkte er nicht sehr liebenswürdig und nahm seine Lektüre wieder auf. »War nicht auch irgendwann von Bildhauerei die Rede?«
»Es war zu unpraktisch.«
»Das kann ich mir denken.«
»Ihr fördert doch solche Sachen, Jack. Ich meine, die Firma. Es heißt immer, wir sollten Hobbies und Freizeitbeschäftigungen haben.«
»Worum geht’s denn in dem Buch? Ein besonderes Thema?«
»Er sucht noch seine Linie. Will es noch für sich behalten.«
»Hör dir das an: ›Als die fürchterliche Düsternis über dem Hause lag, während Edward selber Qualen litt und sich so gut hielt, wie er irgend konnte …‹«
»Das hat er nicht geschrieben.«
»Es ist seine Handschrift, Mary.«
»Er hat es irgendwo gelesen. Wenn er ein Buch liest, unterstreicht er einzelne Stellen mit Bleistift. Wenn er fertig ist, schreibt er sich seine Lieblingspassagen heraus.«
Von oben hörte sie ein scharfes Knacken, wie das Splittern von Holz oder das Abfeuern einer Pistole, ein Geräusch, das sie von ihrer Ausbildungszeit her kannte.
»Das ist Toms Zimmer«, sagte sie. »Dort haben sie nichts zu suchen.«
»Ich brauch einen Beutel, Mary«, sagte Brotherhood. »Ein Müllbeutel genügt. Würdest du mir einen holen?«
Sie ging in die Küche. Warum lasse ich mir das von ihm gefallen? Warum lasse ich ihn in mein Haus eindringen, in meine Ehe und in meine Gedanken und ihn alles wegnehmen, was ihm nicht paßt? Mary war im allgemeinen nicht wehrlos. Kein Geschäftsmann übervorteilte sie ein zweites Mal. In der Englischen Schule, der Englischen Kirche, im Club der Diplomatenfrauen, galt sie als Kratzbürste. Aber ein harter Blick aus Jack Brotherhoods blassen Augen, ein Grollen seiner lauten lieblosen Stimme genügte, daß sie spurte.
Es kommt daher, daß er Daddy so sehr gleicht, entschied sie. Er liebt unser England, und den Rest soll der Teufel holen.
Es kommt daher, daß ich als dummes Schulmädchen mit einem einzigen kleinen Talent in Berlin für Jack gearbeitet habe. Jack war mein älterer Liebhaber zu einer Zeit, als ich glaubte, einen haben zu müssen.
Es kommt daher, daß er mir zuliebe den zaudernden Magnus durch die Scheidung bugsierte und ihn mir gab, »für danach«, wie er sich ausdrückte.
Es kommt daher, daß auch er Magnus liebt.
Brotherhood blätterte in ihrem Terminkalender.
»Wer ist P.?« fragte er und tippte auf eine Seite. »Fünfundzwanzigster September, sechs Uhr dreißig, P. Auch am sechzehnten steht P., Mary. Das kann doch nicht P. für Pym sein, oder rede ich wieder Unsinn. Wer ist dieses P., das er da trifft?«
Sie hörte den Schrei in sich aufsteigen und hatte keinen Whisky mehr, um ihn zu ersticken. Aus den Dutzenden und Aberdutzenden von Einträgen mußte er den einen herausfischen. »Ich weiß nicht. Ein Joe. Ich weiß nicht.«
»Das hast du doch geschrieben, oder?«
»Magnus hat mich darum gebeten. ›Schreib auf, daß ich P. treffen muß.‹ Er hat keinen eigenen Terminkalender geführt. Er sagte, es sei gefährlich.«
»Und er hat dich die Termine eintragen lassen.«
»Er sagte, wenn jemand nachsieht, dann würde der nicht wissen, was seine Verabredungen seien und was meine. Es war eine Art Teilhabe.« Sie fühlte Brotherhoods starren Blick. Er will, daß ich spreche, dachte sie. Er will das Zittern in meiner Stimme hören.
»Teilhabe woran?«
»An seiner Arbeit.«
»Erklär das.«
»Er konnte mir nicht sagen, was er tat, aber er konnte mir zeigen, daß er etwas tat und wann.«
»Hat er das gesagt?«
»Ich habe es gefühlt.«
»Was hast du gefühlt?«
»Daß er stolz darauf war! Ich sollte es wissen!«
»Was wissen?«
Brotherhood konnte sie wütend machen, auch dann, wenn sie wußte, daß er darauf abzielte.
»Wissen, daß er noch ein zweites Leben hatte! – ein wichtiges. Daß man ihn brauchte.«
»Wer brauchte ihn?«
»Du, Jack. Die Firma! – wer denn sonst? Die Amerikaner?«
»Warum sagst du das? – ›Die Amerikaner.‹ Hatte er etwas gegen sie?«
»Warum sollte er? Er hat in Washington gearbeitet.«
»Muß nicht dagegen sprechen. Könnte sogar dazu beigetragen haben. Habt ihr die Lederers schon in Washington gekannt?«
»Ja, natürlich.«
»Hier aber erst besser, wie? An ihr soll alles dran sein, wie ich höre.«
Er wandte sich den kommenden Tagen zu, die es durchzustehen galt. Morgen und übermorgen. Dem Wochenende, das ihr bereits entgegenklaffte wie ein Loch in ihrem angeschlagenen Universum.
»Was dagegen, wenn ich den Kalender behalte?« fragte er.
Mary hatte verdammt viel dagegen. Sie besaß keinen zweiten Terminkalender und auch kein zweites Leben. Sie riß ihm das Buch aus der Hand und ließ ihn warten, während sie ihre Zukunft auf ein Blatt Papier abschrieb: »Drinks Lederers … Dinner Dinkels … Tom Ferien …« Sie kam zu »Sechs Uhr dreißig abends P.« und ließ es aus.
»Warum ist diese Schublade leer?« fragte er.
»Ich wußte nicht, daß sie leer ist.«
»Was war darin?«
»Alte Fotos, Andenken, nichts.«
»Seit wann ist sie leer?«
»Ich weiß nicht, Jack. Ich weiß nicht! Hör auf, mich zu quälen, ja?«
»Hat er Papiere in seinem Koffer mitgenommen?«
»Ich hab ihm nicht beim Packen zugesehen.«
»Hast du ihn hier unten gehört, als er packte?«
»Ja.«
Das Telefon klingelte. Marys Hand schoß vor, um abzuheben, aber Brotherhood hatte schon ihr Handgelenk. Er hielt es fest, wandte sich zur Tür und brüllte nach Harry, während das Telefon weiterklingelte. Es ging schon auf vier Uhr morgens zu. Wer zum Kuckuck ruft um vier in der Frühe an, außer Magnus? Mary betete innerlich so laut, daß sie Brotherhoods Brüllen kaum hörte. Das Telefon rief weiter nach ihr, und jetzt wußte sie, daß nichts zählte, nur Magnus und die Ihren.
»Es könnte Tom sein!« rief sie und wollte sich losreißen. »Laß mich los, verdammt noch mal!«
»Es könnte auch Lederer sein.«
Harry mußte treppab geflogen sein. Sie zählte noch zwei Klingelzeichen, dann stand er in der Tür.
»Feststellen, wo der Ruf herkommt«, befahl Brotherhood laut und langsam. Harry verschwand, Brotherhood gab Marys Hand frei. »Mach es sehr, sehr lang, Mary. Richtig auswalzen. Du weißt, wie solche Spielchen gehen. Los.«
Sie nahm den Hörer ab und sagte: »Hier bei Pym.«
Niemand antwortete. Brotherhood dirigierte sie mit seinen mächtigen Händen, drängte sie, zwang sie zum Sprechen. Sie hörte ein metallisches Ping und preßte die Hand auf die Sprechmuschel. »Es könnte ein Telefon-Code sein«, flüsterte sie. Sie hielt einen Finger hoch für das erste Ping. Dann einen zweiten. Dann einen dritten. Es war ein Telefon-Code. Sie hatten ihn in Berlin benutzt: zwei für dieses, drei für jenes. Geheim und vorab besprochen zwischen dem Joe und der Basis. Sie riß die Augen weit auf, eine Frage an Brotherhood, was soll ich tun? Er schüttelte den Kopf, um zu sagen, ich weiß es auch nicht.
»Sprich«, eine lautlose Mundbewegung.
Mary holte tief Atem. »Hallo? Bitte melden Sie sich.« Sie nahm Zuflucht zum Deutschen. »Hier ist die Wohnung des Botschaftsrats Magnus Pym von der Britischen Botschaft. Wer ist dort? Bitte sprechen Sie. Mr. Pym ist im Moment nicht da. Aber Sie können eine Nachricht hinterlassen, wenn Sie wünschen. Andernfalls rufen Sie bitte später an. Hallo?«
Weiter, drängte Brotherhood. Ich brauche mehr. Sie sagte ihre Telefonnummer auf, zuerst auf Deutsch, dann nochmals auf Englisch. Die Leitung war nicht tot, sie konnte ein Geräusch hören wie Straßenverkehr und ein Geräusch wie kratzige Musik, bei halber Umdrehungszahl abgespielt, aber keine Pings mehr. Sie wiederholte die Nummer auf Englisch. »Bitte melden Sie sich. Die Verbindung ist miserabel. Hallo, können Sie mich hören? Wer ist bitte am Apparat? Bitte – melden – Sie – sich.« Dann konnte sie nicht mehr an sich halten, und sie schrie: »Magnus, um Gottes willen, sag, wo du bist!« Aber Brotherhood war ihr längst zuvorgekommen. Mit der Erfahrung eines Liebhabers hatte er ihren Ausbruch kommen gefühlt und mit der Hand die Gabel niedergedrückt.
»Zu kurz, Sir«, jammerte Harry von der Tür her. »Ich hätte mindestes noch eine Minute gebraucht.«
»Auslandsgespräch?« fragte Brotherhood.
»Vielleicht, vielleicht auch nur von nebenan, Sir.«
»Das war nicht nett, Mary. Mach so was nicht nochmal. Wir stehen in dieser Sache auf derselben Seite, und ich bin der Boß.«
»Er ist entführt worden«, sagte sie. »Ich weiß, sie haben ihn entführt.«
Alles erstarrte: sie selber, seine blassen Augen, sogar Harry an der Tür. »Schön, schön«, sagte Brotherhood schließlich. »Dir würde ein Stein vom Herzen fallen, wie? Eine Entführung? Warum sagst du das denn, Mary? Ich frag mich, was ist denn schlimmer als eine Entführung?«
***
Während Mary versuchte, seinem Blick standzuhalten, erlebte sie einen jähen Zeitsprung. Ich weiß gar nichts. Ich will nach Plush. Gebt mir das Land zurück, für das Sam und Daddy starben. Sie sah sich als Schulabgängerin im letzten Quartal vor der Lehrerin sitzen, der die Berufsberatung oblag. Es ist noch eine zweite Frau dabei, aus London und robust aussehend. »Diese Dame ist Anwerberin für den Auswärtigen Dienst, liebes Kind«, sagt die Lehrerin. »Für eine Spezialabteilung«, sagt die robuste Frau. »Sie ist sehr beeindruckt, wie gut du zeichnest, Kind«, sagt die Lehrerin. »Sie bewundert dein Können, wie wir alle. Sie meint, ob sie deine Akte für einige Tage nach London mitnehmen soll, damit ein paar Leute Einsicht nehmen können.« »Es ist für Ihr Land, liebes Kind«, sagt die robuste Frau bedeutungsvoll zu der Nachfahrin englischer Patrioten.
Sie erinnerte sich an das Schulungshaus in East Anglia, Mädchen wie sie selber, unsere Klasse. Sie erinnerte sich an den vergnüglichen Unterricht im Kopieren und Gravieren und Kolorieren, im Umgang mit Papiersorten und Pappe und Geweben und Garnen, wie man Wasserzeichen anfertigt und wie man sie verändert, wie man Gummistempel schneidet, wie man Papier bearbeitet, damit es älter oder jünger aussieht, und sie versuchte, sich zu erinnern, wann genau sie begriffen hatte, daß sie lernten, falsche Papiere für britische Spione herzustellen. Und sie sah sich vor Jack Brotherhood in seinem schäbigen hochgelegenen Büro in Berlin stehen, keinen Steinwurf weit von der Mauer entfernt, Jack der Stripper, Jack der Macho, Black Jack und alle die anderen Jacks, als die er bekannt war. Jack, der die Berliner Residentur leitete und alle Neuen persönlich kennenzulernen wünschte, besonders dann, wenn sie hübsche zwanzigjährige Mädchen waren. Sie erinnerte sich an seinen verwaschenen Blick, der langsam über ihren Körper glitt und ihre Figur und sexuellen Qualitäten abschätzte, und sie erinnerte sich, daß sie ihn auf den ersten Blick gehaßt hatte, wie sie ihn jetzt zu hassen versuchte, als sie ihn einen Ordner mit Familienbriefen durchblättern sah, den er aus dem Schreibtisch genommen hatte.
»Du siehst doch, daß es zur Hälfte Toms Briefe aus dem Internat sind«, sagte sie.
»Warum schreibt er nicht an euch beide?«
»Tom schreibt an uns beide, Jack. Er schreibt an mich, und er schreibt an Magnus. Aber getrennt.«
»Kein vorbewußtes Handeln?« Ein Ausdruck aus dem Fachjargon, den er ihr in Berlin beigebracht hatte. Er zündete sich eine seiner dicken gelben Zigaretten an und beobachtete sie theatralisch durch die Flamme. In jedem von ihnen steckt ein Poseur, dachte sie. Magnus und Grant nicht ausgenommen.
»Absurd«, sagte sie in nervöser Gereiztheit.
»Es ist eine absurde Situation, und Nigel wird jeden Moment hier sein und sie noch absurder machen. Wie ist es dazu gekommen?« Er zog eine weitere Schublade auf.
»Durch seinen Vater. Wenn es überhaupt eine Situation ist.«
»Wem gehört dieser Fotoapparat?«
»Tom. Aber wir benutzten ihn alle.«
»Noch mehr Fotoapparate im Haus?«
»Nein. Wenn Magnus einen für seine Arbeit braucht, bringt er ihn aus der Botschaft mit.«
»Ist jetzt ein Apparat aus der Botschaft hier?«
»Nein.«
»Vielleicht hat sein Vater sie ausgelöst oder vielleicht eine Menge Dinge. Vielleicht hat ein Ehestreit, von dem ich nichts weiß, sie ausgelöst.«
Er prüfte die Einstellungen, drehte den Apparat in seinen großen Händen, als überlege er, ob er ihn kaufen solle.
»Wir streiten nicht.«
Seine wissenden Augen blickten zu ihr auf. »Wie macht ihr das?«
»Er ist keine Kämpfernatur.«
»Aber du, Mary. Du bist ein richtiger kleiner Teufel, wenn du in Fahrt kommst.«
»Nicht mehr«, sagte sie, mißtrauisch gegen seinen Charme.
»Du hast seinen Vater nie kennengelernt, wie?« sagte Brotherhood, während er den Film durch die Kamera drehte. »Da war irgend etwas mit ihm, wenn ich mich recht erinnere.«
»Die beiden waren einander entfremdet.«
»Ah.«
»Nichts Dramatisches. Sie hatten sich auseinandergelebt. Typisch für diese Art Familie.«
»Was für eine Art?«
»In alle Winde. Geschäftsleute. Er sagte, er habe sie bei seiner ersten Heirat dabeigehabt, und einmal sei genug. Wir sprachen fast nie darüber.«
»Ist Tom damit einverstanden?«
»Tom ist ein Kind.«
»Tom war der letzte Mensch, den Magnus gesehen hat, ehe er verschwand, Mary. Abgesehen vom Portier seines Clubs.«
»Dann verhafte ihn doch«, schlug Mary patzig vor.
Brotherhood ließ den Film in die Mülltüte fallen und nahm sich Magnus’ kleines Transistorradio vor.
»Eines von den neuen, mit Kurzwellen und so?«
»Ich glaube, ja.«
»Hat es im Urlaub dabeigehabt, wie?«
»Ja.«
»Regelmäßig abgehört?«
»Da er, wie du selber mir gesagt hast, hier draußen ganz allein für die Tschechoslowakei zuständig ist, wäre es ziemlich schockierend, wenn er es nicht getan hätte.«
Er schaltete das Radio ein. Eine Männerstimme verlas auf Tschechisch Nachrichten. Brotherhood starrte ausdruckslos die Wand an, während er das Radio weiterlaufen ließ, stundenlang, wie es schien. Er schaltete es ab und legte es in die Tüte. Sein Blick glitt zum vorhanglosen Fenster, aber es dauerte noch lange, ehe er sprach. »Nicht zu viele Lichter im Haus für diese frühe Zeit, Mary?« fragte er zerstreut. »Wir möchten den Nachbarn keinen Stoff zum Klatschen geben, oder?«
»Sie wissen, daß Rick gestorben ist. Sie wissen, daß nicht alles normal läuft.«
»Das kann man wohl sagen.«
Ich hasse ihn. Habe ihn immer gehaßt. Sogar, als ich in ihn verliebt war und er mich die Gefühlsleiter rauf und runter jagte und ich geweint und ihm gedankt habe – ich haßte ihn dennoch. Erzähl mir von dem betreffenden Abend, sagte er jetzt. Er meinte den Abend, an dem sie von Ricks Tod erfahren hatten. Sie erzählte ihm alles, so, wie sie es geprobt hatte.
***
Er hatte die Garderobe gefunden und stand vor dem abgetragenen Dufflecoat, der zwischen Toms Loden und Marys Schaffellmantel hing. Er griff in die Taschen. Von oben kam ein monotoner Lärm. Er zog ein schmuddeliges Taschentuch heraus, dann eine halb aufgegessene Rolle Pfefferminz.
»Du hältst mich zum Narren«, sagte er.
»Schön, ich halte dich zum Narren.«
»Zwei Stunden im eisigen Schnee in Abendschuhen, Mary? Mitten in der Nacht? Bruder Nigel wird denken, ich mach ihm was vor. Was hat er getan?«
»Spazierengegangen.«
»Wohin?«
»Hat er nicht gesagt.«
»Hast du ihn gefragt?«
»Nein.«
»Wieso weißt du dann, daß er kein Taxi genommen hat?«
»Er hatte kein Geld. Brieftasche und Münzen waren oben im Ankleidezimmer, zusammen mit seinen Schlüsseln.« Brotherhood steckte Taschentuch und Pfefferminzdrops wieder in den Dufflecoat.
»Und nichts hier in den Taschen?«
»Nein.«
»Woher weißt du das?«
»Er ist in solchen Dingen methodisch.«
»Vielleicht hat er am Ziel gezahlt?«
»Nein.«
»Oder jemand hat ihn unterwegs mitgenommen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Er geht gern zu Fuß, und er stand unter Schock. Darum. Sein Vater war gestorben, auch wenn er nicht besonders an ihm hing. Es staut sich in ihm. Die Spannung oder was es sonst ist. Also läuft er rum.« Und ich fiel ihm um den Hals, als er zurückkam, dachte sie. Ich fühlte die Kälte seiner Wangen und das Beben seiner Brust und durch seinen Mantel den heißen Schweiß vom stundenlangen Marsch. Und ich werde ihm wieder um den Hals fallen, sobald er durch diese Tür tritt. »Ich sagte zu ihm: ›Geh nicht. Nicht heute nacht. Betrink dich. Komm, wir betrinken uns zusammen!‹ Aber er ging. Er hatte seinen Ausdruck.« Sie wünschte, daß sie das nicht gesagt hätte, aber sekundenlang war sie auf Magnus ebenso ärgerlich wie auf Brotherhood.
»Was ist das für ein Ausdruck, Mary? ›Hatte seinen Ausdruck!‹ Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Leer. Wie ein Schauspieler ohne Rolle.«
»Eine Rolle? Sein Vater tritt auf und stirbt, und Magnus hat keine Rolle mehr? Was zum Kuckuck soll das heißen?«
Er rückt mir zuleibe, dachte sie, und verweigerte entschlossen die Antwort. Im nächsten Moment werde ich seine sicheren Hände auf mir fühlen, und ich lege mich hin und lasse es geschehen, weil ich keine Ausreden mehr erfinden kann.
»Frag doch Grant«, sagte sie in der Absicht, ihn zu kränken. »Er ist unser zahmer Psychologe. Er wird es wissen.«
***
Sie waren in den Salon gegangen. Er wartete auf irgend etwas. Mary auch. Auf Nigel, auf Pym, auf das Telefon. Auf Georgie und Fergus oben.
»Du trinkst hoffentlich nicht zu viel, oder?« fragte Brotherhood und goß ihr noch einen Whisky ein.
»Natürlich nicht. Wenn ich allein bin fast nie.«
»Ist auch besser so. Es ist zu verdammt leicht. Und wenn Bruder Nigel da ist, überhaupt nichts. Verkneif es dir völlig. Ja, Jack?«
»Ja, Jack.« Du bist ein geiler Pfaffe, der den letzten Tropfen aus Gottes Gnaden nuckelt, sagte sie zu ihm und sah zu, wie er mit seinen langsamen gezielten Bewegungen das eigene Glas füllte. Erst den Wein, dann das Wasser. Jetzt schlag die Augen nieder und erheb den Kelch zu einem scheinheiligen Wort mit Ihm, der dich gesandt hat.
»Und er ist frei«, bemerkte er. »›Ich bin frei‹, Rick ist tot, also ist Magnus frei. Er ist einer von den Freudschen Typen, die nicht ›Vater‹ sagen können.«
»Das ist in seinem Alter völlig normal. Einen Vater beim Vornamen nennen. Noch normaler, wenn sie einander seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen haben.«
»Ich hab’s so gern, wenn du ihn verteidigst«, sagte Brotherhood. »Ich bewundere deine Loyalität. Die anderen werden sie auch bewundern. Und du hast mich nie enttäuscht, das weiß ich.«
Loyalität, dachte sie. In der Dienststelle meine dumme Klappe halten, damit deine Frau nichts erfährt.
»Und du hast geweint. Immer noch nah am Wasser gebaut, Mary, hab ich nicht gewußt. Mary weint, Magnus tröstet sie. Komisch für den zufälligen Beobachter, schließlich war Rick sein Daddy, nicht deiner. Rollentausch par excellence ist das: du trauerst an seiner Stelle. Um wen genau hast du geweint? Hast du eine Ahnung?«
»Sein Vater war gestorben, Jack. Ich hab mich nicht hingesetzt und gesagt: ›Jetzt weine ich um Rick, jetzt weine ich um Magnus.‹ Ich hab einfach geweint.«
»Ich dachte, du hättest vielleicht um dich selber geweint.«
»Was soll das denn heißen?«
»Du bist der einzige Mensch, den du nicht erwähnt hast. Sonst nichts. In der Defensive, so hörst du dich an.«
»Ich bin nicht in der Defensive.«
Sie war zu laut. Sie wußte es, und Brotherhood merkte es erst recht, und es interessierte ihn sehr.
»Und als Magnus seine Mary getröstet hat«, fuhr er fort, nahm ein Buch vom Tisch und blätterte es durch, »zieht er seinen Dufflecoat an und geht in seinen Abendschuhen spazieren. Du versuchst, ihn zurückzuhalten – du flehst ihn an, was ich mir nur schwer vorstellen kann, aber ich will’s versuchen –, aber nein, er will gehen. Irgendwelche Anrufe, bevor er wegging?«
»Nein.«
»Keine ankommenden, keine abgehenden?«
»Ich sagte schon, nein!«
»Durchwahl, man würde meinen, ein tieftrauernder Hinterbliebener würde die schlimme Nachricht anderen Familienmitgliedern mitteilen wollen.«
»Sie sind nicht diese Art Familie. Sagte ich doch.«
»Erstens mal Tom. Was ist mit ihm?«
»Es war viel zu spät, um Tom anzurufen, und Magnus fand es ohnehin richtiger, es ihm persönlich zu sagen.«
Er blickte in das Buch. »Wieder ein goldenes Wort, das er unterstrichen hat. ›Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich; und wer bin ich, wenn ich selbst für mich bin? Wenn nicht jetzt, wann dann?‹ Sehr schön. Ich bin erleuchtet. Du auch?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Er ist frei.« Er klappte das Buch zu und legte es wieder auf den Tisch. »Er hat nicht zufällig irgend etwas auf seinen Spaziergang mitgenommen? Eine Aktentasche oder ähnliches?«
»Eine Zeitung.«
Du wirst langsam taub, gib’s zu. Du hast nur Angst, ein Hörapparat könne dem Bild schaden, das du von dir selber hast. Sprich, verdammt noch mal.
Sie hatte es gesagt. Sie wußte, daß sie es gesagt hatte. Sie hatte den ganzen Abend darauf gewartet, es zu sagen, sich aus jeder möglichen Perspektive darauf vorbereitet, es einstudiert, geleugnet, vergessen und wieder hervorgeholt. Und jetzt hallte es in ihrem Kopf wieder, wie eine Detonation, und sie trank einen entsetzlich unvorsichtigen Schluck von ihrem Whisky. Doch seine Augen, die sie unverwandt anblickten, warteten noch immer.
»Eine Zeitung«, wiederholte sie. »Nur eine Zeitung. Was ist damit?«
»Welche Zeitung?«
»Die Presse.«
»Das ist eine Tageszeitung.«
»Richtig. Die Presse ist eine Tageszeitung.«
»Eine Wiener Tageszeitung. Und Magnus hat sie mitgenommen. Um sie im Dunkeln zu lesen. Und er trug Abendschuhe. Sag mir was darüber.«
»Das hab ich doch gerade, Jack.«
»Nein, hast du nicht. Du wirst aber müssen, Mary, denn wenn die Chefetage hier anrückt, dann wirst du alle Hilfe nötig haben, die du kriegen kannst.«
Sie sah es wieder genau vor sich. Magnus stand an der Tür, fast dort, wo Brotherhood jetzt stand. Er war blaß und unnahbar, den Dufflecoat hatte er nachlässig umgehängt, während er in Etappen um sich blickte: Kamin, Frau, Uhr, Bücher. Sie hörte sich, wie sie ihm all das sagte, was sie Brotherhood schon berichtet hatte, aber noch mehr: um Gottes willen, Magnus, bleib hier. Krieg nicht das arme Tier. Bleib. Laß dich nicht in eine deiner Depressionen fallen. Bleib. Geh mit mir ins Bett. Betrink dich. Wenn du Gesellschaft willst, hole ich Grant und Bee zurück oder wir gehen zu ihnen. Sie sah ihn sein starres strahlendes Lächeln aufsetzen. Sie hörte ihn seine erschreckend ungezwungene Stimme einschalten. Seine Lesbos-Stimme. Und sie hörte sich jetzt seine Worte genau für Brotherhood wiedergeben.
»Er sagte: ›Mabs, wo ist die blöde Zeitung, Darling?‹ Ich dachte, er meinte die Times, damit er den schottischen Immobilienmarkt studieren könne, und ich sagte: ›Dort, wo du sie hingetan hast, als du sie aus der Botschaft mitgebracht hast.‹«
»Aber er meinte nicht die Times«, sagte Brotherhood.
»Er ging zum Zeitungsständer – dort –« Sie schaute hinüber, deutete aber nicht hin, denn sie hatte furchtbare Angst, der Bewegung allzuviel Nachdruck zu verleihen. »Und nahm sich Die Presse. Vom Zeitungsständer, wo wir Die Presse aufheben. Jeweils bis zum Ende der Woche. Er will, daß ich die alten Nummern aufhebe. Dann ist er gegangen«, schloß sie und ließ alles völlig normal klingen, was es natürlich auch war.
»Hat er sie überhaupt angesehen, als er sie herausnahm?«
»Nur das Datum. Um sicherzugehen.«
»Was wollte er deiner Meinung nach damit?«
»Vielleicht war im Kino eine Nachtvorstellung.« Magnus hatte in seinem ganzen Leben keine Nachtvorstellung im Kino besucht. »Vielleicht wollte er im Café etwas zu lesen haben.« Ohne Geld, dachte sie, als sie Brotherhoods hohles Schweigen füllte. »Vielleicht wollte er sich ablenken. Was wir alle wollen. Immer. Vielleicht will das jeder, wenn er jemanden verloren hat.«
»Oder wenn er frei ist«, warf Brotherhood ein. Aber weiter half er ihr nicht.
»Auf jeden Fall war er so durcheinander, daß er die falsche Nummer erwischte«, sagte sie munter, und wie sie glaubte abschließend.
»Du hast nachgesehen, Mary, nicht wahr?«
»Erst, als ich die alten Zeitungen wegwarf.«
»Wann hast du das getan?«
»Gestern.«
»Welche hat er mitgenommen?«
»Die vom Montag. Sie war drei Tage alt. Ich würde also sagen, er stand eindeutig unter beträchtlichem Schock.«
»Eindeutig.«
»Schön, sein Vater war nicht die große Liebe seines Lebens. Aber er war immerhin gestorben. Niemand ist in einem solchen Fall ganz bei Vernunft. Nicht einmal Magnus.«
»Was hat er also als nächstes getan? Nachdem er die Zeitung angesehen und eine alte Nummer mitgenommen hat?«
»Er ist weggegangen. Wie ich dir schon sagte. Spazieren. Du hörst nicht zu. Du hast nie zugehört.«
»Hat er sie gefaltet?«
»Ich bitte dich, Jack! Was machst es schon aus, wie jemand eine Zeitung trägt?«
»Jetzt steck einmal dein Ego weg und antworte. Was hat er mit der Zeitung gemacht?«
»Zusammengerollt.«
»Und dann?«
»Nichts. Er hat sie getragen. In der Hand.«
»Und wieder zurückgebracht?«
»Hierher, ins Haus? Nein.«
»Wieso weißt du das?«
»Ich habe in der Diele auf ihn gewartet.«
»Und du hast festgestellt: keine Zeitung. Keine zusammengerollte Zeitung, hast du dir gesagt.«
»Rein zufällig, ja.«
»Nicht zufällig, Mary. Du hast vorgehabt, darauf zu achten. Du hast gewußt, er hat sie mitgenommen, und sofort registriert, daß er sie nicht wieder mitgebracht hat. Das nenn ich nicht zufällig. Das nenn ich, ihm nachspionieren.«
»Wenn’s dich beruhigt.«
Er wurde zornig. »Du bist diejenige, die für Beruhigung sorgen muß, Mary«, sagte er laut und langsam. »In ungefähr einer Viertelstunde wirst du Bruder Nigel beruhigen müssen. Sie winden sich in Krämpfen. Sie sehen wieder einmal die Erde zu ihren Füßen bersten, und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen buchstäblich nicht, was sie tun sollen.« Sein Zorn schwand wieder. Jack konnte das. »Und später – sobald du Gelegenheit hattest – hast du zufällig seine Taschen durchsucht. Und da war sie auch nicht.«
»Ich habe sie nicht gesucht, ich habe nur bemerkt, daß sie fehlte. Und, ja, sie war nicht da.«
»Geht er oft mit alten Zeitungen spazieren?«
»Wenn er auf dem laufenden sein muß – für seine Arbeit – er ist ein gewissenhafter Beamter –, nimmt er eine Zeitung mit.«
»Zusammengerollt?«
»Manchmal.«
»Bringt er sie manchmal wieder mit?«
»Soviel ich mich erinnern kann, nein.«
»Ihn jemals darauf angesprochen?«
»Nein.«
»Er dich?«
»Jack. Es ist einfach eine seiner Gewohnheiten. Ich habe nicht vor, mit dir einen Ehekrach anzufangen.«
»Wir sind kein Ehepaar.«
»Er rollt eine Zeitung zusammen und geht damit spazieren. So, wie ein Kind einen Stock oder irgend etwas herumträgt. Als eine Art Tröster. Wie seine Pfefferminzbonbons. Da. Er hatte Pfefferminz in der Tasche. Derselbe Grund.«
»Immer das falsche Datum?«
»Nicht immer – mach doch nicht von allem so viel her!«
»Und verliert sie jedesmal?«
»Jack, hör auf. Hör endlich auf. Okay?«
»Nur zu besonderen Zeiten? – Vollmond? – Letzter Mittwoch des Monats? Oder nur, wenn sein Vater stirbt? Hast du ein Muster festgestellt? – Los, Mary, du weißt es!«
Schlag mich, dachte sie. Pack mich. Alles ist besser als dieses eiskalte Glotzen.
»Zum Beispiel dann, wenn er P. trifft«, sagte sie und zwang sich zu einem Tonfall, als beschwichtige sie ein verzogenes Kind. »Jack, um Gottes willen, er führt seine Joes, er führt dieses Leben, du selber hast ihn ausgebildet! – Ich frage ihn nicht nach seinen Tricks, was er mit wem tut. Ich bin auch vom Fach.«
»Und als er zurückkam – wie war er?«
»Durchaus in Ordnung. Ruhig, völlig ruhig. Er hatte es aus sich herausgelaufen, das fühlte ich. Er war in jeder Hinsicht völlig in Ordnung.«
»Kein Anruf gekommen, solange er weg war?«
»Nein.«
»Danach auch nicht?«
»Einer. Sehr spät. Aber wir haben nicht abgehoben.«
Sie hatte Jack nicht oft überrascht gesehen. Jetzt war er es beinahe. »Ihr habt nicht abgehoben?«
»Warum hätten wir’s tun sollen?«
»Warum? Es ist sein Job, wie du sagtest. Sein Vater war ein paar Stunden zuvor gestorben. Warum hättet ihr nicht abheben sollen?«
»Magnus hat gesagt, laß es klingeln!«
»Warum hat er das gesagt?«
»Weil wir zusammen im Bett waren!« sagte sie und kam sich wie die letzte Hure vor.
Harry tauchte wieder an der Tür auf. Er trug jetzt einen blauen Overall und sein Gesicht war rot von der Plackerei. Er hielt einen langen Schraubenschlüssel in der Hand, und er sah unverschämt vergnügt aus.
»Möchten Sie mal auf’n Sprung raufkommen, Mr. Brotherhood«, sagte er.
***
Unser Schlafzimmer sieht aus wie vor dem Ramschbazar der Diplomatenfrauen, wenn unsere ausrangierten Kleidungsstücke über das ganze Bett verstreut sind, dachte sie. »Magnus, Darling, brauchst du wirklich drei alte Strickwesten?« Kleider auf den Stühlen, auf dem Toilettentisch und dem Handtuchständer. Mein Sommerblazer, den ich seit Berlin nicht mehr getragen habe. Magnus’ Smokingjacke über dem Drehspiegel, wie ein Tierfell zum Trocknen. Auf dem Fußboden lag nichts, weil kein Fußboden mehr da war. Fergus und Georgie hatten den Teppich und dann die meisten Bodenbretter entfernt und sie wie Sandwiches unter dem Fenster gestapelt. Nur die Querbalken waren noch da und in Abständen einzelne Planken als Laufstege. Sie hatten die Nachttischlampen zerlegt und die Nachttische und das Telefon und den Radiowecker. Im Bad war ebenfalls der Boden weg, die Wannenverkleidung und der Medizinschrank und die schräge Deckenklappe, die in den schrägen Dachboden führte, wo Tom sich letztes Weihnachten eine volle halbe Stunde lang versteckt hatte, weil er »Mord« spielte und sich aus schierer Tapferkeit fast zu Tode fürchtete. Georgie stand am Waschbecken und wühlte sich durch Marys Sachen. Ihre Hautcreme. Ihr Pessar.
»Was dir gehört meine Liebe, gehört für sie auch ihm und umgekehrt«, sagte Brotherhood, als sie auf der türlosen Türschwelle standen und hineinstarrten. »Es gibt kein SIE und ER, nicht für sie, geht nicht.«
»Für dich auch nicht«, sagte sie.
Toms Schlafzimmer lag dem ihren gegenüber. Sein phosphoreszierender Superman lag quer über dem Bett, zusammen mit seinen einunddreißig Schlümpfen und drei Tiggers. Der Feldschreibtisch ihres Vaters lehnte zusammengeklappt an der Wand. Die Spielzeugkommode war in die Zimmermitte gezerrt worden, so daß der Marmorkamin dahinter sichtbar war. Es war ein schöner Kamin. Die Häuserverwaltung der Botschaft hatte ihn mit Brettern verschalen wollen, damit es weniger zog, aber Magnus hatte es nicht zugelassen. Er hatte statt dessen diese alte Kommode gekauft und vor die Öffnung gestellt. Der Kaminsims blieb sichtbar, so daß Tom ein Stück Alt-Wien ganz für sich haben konnte. Jetzt stand der Kamin offen, und das Mädchen Georgie kniete in der sündteuren Friedenskämpfer-Montur andächtig davor. Und vor Georgie stand ein weißer Schuhkarton, der Deckel war abgehoben, und im Schuhkarton lag ein Stoffbündel, umgeben von mehreren kleineren Bündeln.
»Wir haben ihn auf dem Mauervorsprung über dem Rost gefunden, Sir«, sagte Fergus. »Wo der Rauchfang ansetzt.«
»Kein Stäubchen drauf«, sagte Georgie.
»Fassen hin, und da ist er«, sagte Fergus. »Griffbereit.«
»Man muß nicht einmal die Kommode ganz wegrücken, wenn man den Kniff raushat«, sagte Georgie.
»Schon mal gesehen?« fragte Brotherhood.
»Er gehört offensichtlich Tom«, sagte Mary. »Kinder verstecken alles.«
»Schon mal gesehen?« wiederholte Brotherhood.
»Nein.«
»Weißt du, was drin ist?«
»Wie kann ich das wissen, wenn ich ihn noch nie gesehen habe?«
»Unschwer.«
Brotherhood bückte sich nicht, sondern streckte nur die Arme aus. Georgie reichte ihm den Karton hinauf, und Brotherhood trug ihn zu dem Tisch, den Tom für seinen Spirografen und sein Lego benutzte und für seine zahllosen Zeichnungen, auf denen deutsche Flugzeuge vor einem Sonnenuntergang in Plush abgeschossen wurden, im Hintergrund die ganze Familie, alle winkend, alle wohlauf. Brotherhood nahm zuerst das große Bündel heraus, und sie sahen zu, wie er anfing, es aufzuknoten, und es sich dann anders überlegte.
»Da«, sagte er und reichte es Georgie. »Frauenfinger.«
Sie ist eine seiner Geliebten, ging Mary plötzlich auf. Sie fragte sich, warum ihr das nicht schon früher gedämmert hatte.
Georgie richtete sich graziös zu voller Höhe auf, ein Bein, noch ein Bein, und nachdem sie sich das glatte Haar hinter die Ohren gestrichen hatte, benutzte sie ihre Frauenfinger, um die Streifen aus alten Bettlaken, die Magnus angeblich für den Wagen benötigt hatte, abzuwickeln, bis schließlich eine kleine raffiniert aussehende Kamera mit raffiniertem Stahlgehäuse zum Vorschein kam. Und nach der Kamera ein teleskopartiger Gegenstand mit einer Halteklammer daran, der, zu voller Länge ausgezogen, ein Gestell bildete, dem man die Kamera aufschrauben konnte, Objektiv nach unten und in einer bestimmten Entfernung zum Fotografieren von Dokumenten auf dem schwiegerväterlichen Feldschreibtisch. Nach dem Teleskop kam ein Sortiment von Filmen, Objektiven, Filtern, Ringen und weitere Zubehörteile, die Mary nicht aus dem Stegreif identifizieren konnte. Und unter dem Ganzen ein Block aus dünnem Lumpenpapier mit Zahlenreihen auf dem obersten Blatt und dick gummierten Kanten, so daß man nur das erste Blatt sehen konnte. Mary kannte diese Papiersorte. Sie hatte in Berlin damit gearbeitet. Es schrumpelte zu Krümeln, sobald man ein Zündholz daranhielt. Der Block war zur Hälfte verbraucht. Und unter dem Block ein betagter Notizblock aus Heeresbeständen, mit Pappunterlage und dem Stempel des Kriegsministeriums, bestehend aus unbeschriebenem liniertem Papier von fleckiger Kriegsqualität und darin fanden sich, als Brotherhood weitersuchte, zwei getrocknete rote Blüten, sehr alt, Mohn vielleicht, aber möglicherweise auch Rosen, sie war nicht völlig sicher, und ohnehin schrie sie da bereits:
»Es ist für die Firma! Es ist für die Arbeit, die er für dich erledigt!«
»Selbstverständlich. Ich werd’s Nigel sagen. Kein Problem.«
»Nur weil er mir nichts davon gesagt hat, heißt das noch nicht, daß es unrecht ist. Es ist für den Fall, daß Dokumente ins Haus schneien. An Wochenenden!« Und dann, als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte: »Es ist für seine Joes – wenn sie ihm Dokumente bringen, du Narr! Wenn Grant welche bringt, und er muß sie kurzfristig wieder zurückgeben! Was ist daran so schlimm?«
Fergus hantierte mit dem halb verbrauchten Block, drehte ihn um und um, hielt ihn in den Strahl von Toms verstellbarer Lampe.
»Sieht eher nach Ihren Tschechen aus, Sir, ehrlich«, sagte Fergus und hielt den Block schräg ins Licht. »Könnte auch russisch sein, aber ich glaube eher, tschechisch, ehrlich. Ja«, sagte er erfreut, als sein Blick irgendeine nicht näher erklärte Eigenheit der gummierten Kante erspähte. »Stimmt. Tschechisch. Das heißt, nur dort werden sie hergestellt. Wer sie unter die Leute bringt, ist eine andere Frage. Besonders heutzutage.« Brotherhood interessierte sich mehr für die getrockneten Blumen. Er hielt sie auf der flachen Hand und starrte sie an, als könne er seine Zukunft aus ihnen lesen.
»Ich glaube, du bist ein schlimmes Mädchen, Mary«, sagte er bedächtig. »Ich glaube, du weißt sehr viel mehr, als du mir erzählt hast. Ich glaube nicht, daß er in Irland ist oder auf den blöden Bahamas. Ich glaube, das war alles blauer Dunst. Ich glaube, er ist ein schlimmer Mann, und ich frag mich, ob ihr nicht gemeinsam etwas Schlimmes tut.«
Alle Beherrschung verließ sie. Sie kreischte: »Du Scheißkerl!« und holte mit der flachen Hand nach ihm aus, aber er stoppte sie. Er schlang einen Arm um sie und schwang sie hoch in die Luft. Er schleppte sie über den Korridor in Frau Bauers Schlafzimmer, den einzigen Raum, der bisher nicht auseinandergenommen war. Er warf sie aufs Bett und streifte ihr die Schuhe ab, genau wie er es in der schmutzigen sicheren Wohnung tat, wo er seine Weiber vögelte. Er wickelte die Steppdecke um sie wie eine Zwangsjacke. Dann legte er sich auf sie und rang sie nieder, während Georgie und Fergus zusahen. Aber auf wunderbare Weise war es Jack Brotherhood gelungen, nach all den grotesken und dramatischen Szenen, die zwei getrockneten Mohnblumen immer noch in der linken Faust festzuhalten, und er hielt sie immer noch fest, als die Türklingel wieder anschlug, ein lang anhaltender Ton, ein Befehl.