13
Der grüne Kasten stand mitten in Pyms Zimmer wie ein ausrangiertes Geschütz, das einst der Stolz des Regiments gewesen war. Das Chrom blätterte von den Griffen, ein heftiger Fußtritt oder Fall hatte eine Ecke eingedrückt, so daß er bei der geringsten Berührung zitterte und schwankte. Die Metallschuppen waren zu offenen Wunden verrostet, der Rost hatte sich bis zu den Schraubenlöchern ausgebreitet und die Farbe zu würdelosen Pusteln angehoben. Pym ging mit der Scheu und dem Abscheu eines Primitiven um den Kasten herum. Vom Himmel ist er gekommen. In den Himmel muß er zurückkehren. Ich hätte ihn zusammen mit Rick einäschern lassen sollen, damit er ihn, wie beabsichtigt, seinem Schöpfer zeigen kann. Vier Schubladen voller Unschuld, das Evangelium nach Sankt Rick. Du gehörst mir. Du bist geschlagen. Die Bilanz ist an mich übergegangen. Der Schlüssel an meiner Kette ist der Beweis dafür.
Er gab dem Kasten einen Stoß und hörte, wie darin die Aktenordner auf sein Geheiß gehorsam auf eine Seite rutschten.
***
Ich sollte dir Hexen an seinen Weg schreiben, Tom. Der Vollmond sollte sich rot färben und die Eule das tun, was immer sie Unnatürliches tat, wenn Meuchelmord im Gange war. Doch Pym ist taub und blind dagegen. Er ist Leutnant Magnus Pym und fährt in seinem Privatzug durch das besetzte Österreich zu der Grenzstadt, wo vor langer Zeit, in dem unreiferen Leben eines anderen Pym, E. Webers Phantasie-Goldschatz angeblich auf Aufnahme in Herrn Lapadis Sammlung gewartet hatte. Er ist ein römischer Eroberer auf dem Weg zu seinem ersten Amt. Er ist gestählt gegen menschliche Schwäche und sein eigenes Geschick, wie man aus den finsteren Blicken voll militärischer Zucht schließen kann, mit denen er die bloßen Brüste der barbarischen Bäuerinnen bedenkt«, die auf sonnenüberfluteten Feldern das Getreide ernten. Seine Vorbereitung war behaglich wie ein englischer Sonntag verlaufen; nicht daß es Pym je nach Behaglichkeit verlangt hätte. Die vornehmlich englischen Aktivposten, will heißen gute Manieren und schlechte Bildung, waren ihm nie besser zustatten gekommen. Selbst seine trüben politischen Verbindungen in Oxford hatten sich als Segen erwiesen. »Wenn die Pongos Sie fragen, ob Sie ein Mitglied des Clans gewesen sind oder nicht, schauen Sie ihnen frei ins Auge und sagen Sie ihnen ›nie‹, hatte ihm der letzte der Michaels bei einem sportlichen Mittagessen am Swimmingpool des Lansdowne geraten, als sie zusahen, wie sich die reinen Körper der Vorstadtmädchen im desinfizierten Wasser tummelten.
»Pongos?« sagte Pym verwirrt.
»Zügellose Soldateska, alter Junge. Das Kriegsministerium. Ausgemachte Holzköpfe. Die Firma besorgt Ihre Sicherheitsüberprüfung direkt. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich um ihren eigenen Mist kümmern.«
»Vielen Dank«, sagte Pym.
Noch am selben Abend wurde Pym von seinem neunten und besten Squash-Spiel weggeholt und zu einem sehr hochrangigen Mitglied des Dienstes geführt, der in einem schlichten und vergessenswerten Büro unweit von Ricks Reichskanzlei residierte. War das Colonel Gaunt, der ihm zuerst geschrieben hatte? Höher, wurde Pym gesagt. Fragen Sie nicht.
»Wir möchten Ihnen danken«, sagte der Hochrangige.
»Es war mir wirklich ein Vergnügen«, sagte Pym.
»Miese Sache, sich mit diesen Leuten abzugeben. Aber irgend jemand muß die Drecksarbeit tun.«
»Oh, so schlimm ist es nicht, Sir.«
»Hören Sie. Wir lassen Ihren Namen auf der Liste stehen. Ich kann Ihnen nichts versprechen, wir haben in diesen Tagen eine Auswahl-Sitzung. Außerdem gehören Sie zu diesen Burschen von jenseits des Parks, und wir haben es uns zur Regel gemacht, nicht in fremden Revieren zu jagen. Trotzdem, sollten Sie je zu der Ansicht kommen, daß es besser sei, Ihr Land zu Hause zu schützen als draußen Mata Hari zu spielen, lassen Sie es uns wissen.«
»Ganz bestimmt, Sir. Danke«, sagte Pym.
Das sehr hochrangige Mitglied war drahtig und braun und so betont nichtssagend wie einer seiner braunen Briefumschläge. Er hatte die unwirschen Manieren eines Landnotars, der er auch gewesen war, bevor er dem großen Ruf folgte. Er beugte sich über den Schreibtisch und setzte ein perplexes Lächeln auf. »Sagen Sie es mir nicht, wenn Sie nicht wollen. Aber wie sind Sie denn überhaupt mit diesem Haufen zusammengekommen?
»Mit den Kommunisten?«
»Nein, mit unserer Schwester-Firma.«
»In Bern, Sir. Ich habe dort studiert.«
»In der Schweiz«, sagte der große Mann, nach Befragung seiner geistigen Landkarte.
»Jawohl, Sir.«
»Meine Frau und ich waren einmal in der Nähe von Bern zum Skifahren. Kleiner Ort namens Murren. Hauptsächlich Briten, also keine Autos. Hat uns gut gefallen. Was haben Sie für sie getan?«
»So ziemlich das Gleiche wie für Sie, Sir, wirklich. Es war nur ein bißchen gefährlicher.«
»Inwiefern?«
»Da draußen fühlt man sich schutzlos. Immer Auge in Auge, könnte man sagen.«
»Schien mir so ein friedlicher Fleck zu sein. Nun, viel Glück für Sie, Pym. Vorsicht mit diesen Burschen. Sie sind gut, aber aalglatt. Wir sind gut, aber wir haben noch ein bißchen Ehre im Leib. Das ist der Unterschied.«
»Er ist brillant«, erzählte Pym seinem Führer. »Er gibt sich vollkommen gewöhnlich, aber er weiß genau, wie’s in einem aussieht.«
Seine hochgemute Stimmung verließ ihn auch nicht ein paar Tage später, als er sich, Koffer in der Hand, zur Grundausbildung in der Wachstube seines Regiments meldete, bei dem er zwei Monate lang die reichen Früchte seiner Erziehung erntete. Während walisische Kumpel und Glasgower Rabauken hemmungslos nach ihrer Mutter weinten, sich ohne Urlaub von der Truppe entfernten und dafür zu einem Straflager gekarrt wurden, schlief Pym traumlos und weinte nach niemandem. Lange bevor das Wecken seine rauchenden und fluchenden Kameraden aus den Betten scheuchte, hatte er Stiefel, Koppel und Mützenschild geputzt, sein Bett gemacht und seinen Spind geordnet und war, sollte irgend jemand dies von ihm verlangen, bereit, sich kalt zu duschen, wieder anzuziehen und Mr. Willow bei der ersten der Gebetsstunden zu assistierten, vor der Einnahme des widerlichen Frühstücks. Er glänzte auf dem Exerzier- und auf dem Fußballplatz. Er fand es normal, daß man ihn anbrüllte, und erwartete keine Logik von den Befehlsgebern.
»Wo ist Schütze Pym?« bellte der Colonel eines Tages, mitten in einem Vortrag über die Schlacht von Coruña, und schaute ärgerlich auf, als habe jemand gesprochen. Jeder Gefreite auf dem Ausbildungsgelände kreischte Pyms Namen, bis Pym zur Stelle war.
»Sind Sie Pym?«
»Sir.«
»Kommen Sie nach dem Vortrag zu mir.«
»Sir.«
Der Kompaniestab lag auf der anderen Seite des Exerzierplatzes. Pym marschierte hinüber und salutierte. Der Adjutant des Colonel verließ den Raum.
»Rühren, Pym. Setzen Sie sich.«
Der Colonel sprach bedachtsam, mit dem Mißtrauen des Soldaten gegenüber Wörtern. Er hatte einen weichen, honigfarbenen Schnurrbart und den offenen Blick eines kreuzdummen Menschen.
»Gewisse Leute gaben mir zu verstehen, daß Sie, Ihre Ernennung zum Offizier vorausgesetzt, gut daran täten, einen gewissen Lehrgang an einer gewissen Anstalt zu absolvieren, Pym.« »Jawohl, Sir.«
»Ich muß daher eine persönliche Beurteilung über Sie abgeben.«
»Jawohl, Sir.«
»Sie wird günstig ausfallen, um die Wahrheit zu sagen.«
»Danke, Sir.«
»Sie sind intelligent. Sie sind nicht zynisch. Sie sind nicht von den Auswüchsen des Friedens verdorben. Sie sind jemand, den dieses Land braucht.«
»Danke, Sir.«
»Pym.«
»Sir?«
»Sollten diese Leute, mit denen Sie da zu tun haben, zufällig einen Colonel a.D. suchen, der noch recht gut im Schuß ist und über eine ziemliche Portion von je-ne-sais-quoi verfügt, dann hoffe ich, daß Sie sich an mich erinnern. Ich spreche ganz gut französisch. Ich reite nicht schlecht. Ich bin Weinkenner. Sagen Sie ihnen das.«
»Tu ich, Sir. Danke, Sir.«
Da sein Gedächtnis wenig entwickelt war, hatte der Colonel die Gewohnheit, Gesprächsthemen wieder aufzunehmen, als seien sie neu für ihn.
»Pym.«
»Sir?«
»Warten Sie einen günstigen Augenblick ab. Keine Überstürzung. Das mögen sie nicht. Zeigen Sie Fingerspitzengefühl. Das ist ein Befehl.«
»Tu ich, Sir.«
»Kennen Sie meinen Namen?«
»Jawohl, Sir.«
»Buchstabieren Sie ihn.«
Pym buchstabierte.
»Ich wechsle ihn, wenn sie es wollen; sie brauchen es nur zu sagen. Höre, Sie haben in Oxford mit Eins abgeschnitten.«
»Ja, Sir.«
»Machen Sie so weiter.«
Abends stand Pym, der allzeit Gefällige, einsamen Männern zu Diensten, indem er Liebesbriefe an ihre Freundinnen diktierte. Wenn der physische Akt des Schreibens ihre Kräfte überforderte, betätigte er sich als ihr Amanuensis, wobei er nach ihren detaillierten Angaben persönlich gefärbte Koseworte mit einfließen ließ. Manchmal riß ihn seine Rhetorik zu einem Erguß in eigener Sache hin, im lyrischen Stil eines Blunden oder Sassoon:
Liebste Belinda,
ich kann Dir gar nicht sagen, welchen Spaß und einfache menschliche Größe man bei seinen Kameraden aus der Arbeiterklasse findet. Gestern – große Aufregung – fuhren wir unsere Fünfundzwanzigpfünder zu einem weit entfernten Schießplatz irgendwo in England für unseren ersten Schuß. Aufbruch vor Morgengrauen und Ankunft am Zielort erst um elf Uhr. Die Lattensitze eines Militärfahrzeugs sind so konstruiert, daß sie das Rückgrat an mehreren Stellen brechen. Wir hatten keine Kissen und nur eiserne Rationen zum Mampfen. Aber die Burschen pfiffen und sangen unentwegt in bester Stimmung, entledigten sich glanzvoll ihrer Aufgabe und ertrugen die Rückfahrt unter höchst vergnügtem Gebrumme. Ich war stolz darauf, einer der ihren zu sein, und erwäge ernstlich, eine Ernennung zum Offizier abzulehnen …
Als dann eine Ernennung für ihn anstand, brachte er es jedoch ohne große Mühe über sich, sie anzunehmen, wie die erogenen Kuppen der khakifarbenen Schulterklappen auf seinem grünen Kampfanzug bezeugen, von deren Vorhandensein er sich heimlich überzeugt, sooft der Zug in einen Tunnel fährt. Die bloßen Brüste der Bauernmädchen sind seine ersten seit der Wahl. Bei jedem neuen Tal zwingt er seinen mißbilligenden Blick, mehr davon zu sehen, und wird selten enttäuscht. »Wir schicken Sie zuerst nach Wien«, hatte sein vorgesetzter Offizier im Ausbildungslager zu ihm gesagt. »Gelegenheit, reinzuschnuppern, bevor Sie ins Feld ziehen.«
»Klingt ideal, Sir«, sagte Pym.
***
Österreich hatte damals nichts mit dem Land zu tun, das wir heute lieben, Tom, und Wien war geteilt wie Berlin und dein Vater. Einige Jahre später kamen die Diplomaten zu jedermanns nachhaltigem Erstaunen überein, daß es witzlos sei, auf einer Kleinbühne zu agieren, wo man sich doch um Deutschland balgen konnte. Die Besatzungsmächte schlossen also einen Vertrag und traten ab und verhalfen so dem britischen Foreign Office zu seiner einzigen positiven Leistung, seit ich denken kann. Doch in Pyms Tagen war die Kleinbühne ganz groß angeschrieben. Die Amerikaner hatten Salzburg und Linz als Hauptstädte, die Franzosen Innsbruck und die Briten Graz und Klagenfurt, und jeder hatte ein Stück von Wien zum Spielen, die Wiener Innenstadt erhielt Vier-Mächte-Status. Zur Weihnachtszeit schenkten die Russen uns Holzeimer voller Kaviar, und wir schenkten den Russen Plumpuddings, und als Pym ankam, kursierte noch immer die Geschichte von einem Gefreiten aus Argyll, der sich, als vor dem Weihnachtsdinner Kaviar serviert wurde, beim U.v.D. beschwerte, daß die Marmelade nach Fisch schmecke. Die Schaltstelle des britischen Wien war eine üppige, Div Int genannte Villa, und dort wurde Leutnant Pym in seine Pflichten eingeführt, die darin bestanden, Berichte über die Bewegungen von allem und jedem zu lesen, von sowjetischen fahrbaren Wäschereien bis zur ungarischen Kavallerie, und farbige Nadeln in Landkarten zu stecken. Seine aufregendste Karte zeigte die sowjetische Zone Österreichs, die man im Auto in nur zwanzig Minuten von seinem Arbeitsplatz aus erreichen konnte. Pym brauchte nur einen Blick auf ihre Grenzen zu werfen, und schon fühlte er Intrige und Gefahr auf der Haut prickeln. Zu anderen Zeiten, wenn er müde oder unachtsam war, hob sein Auge sich zum westlichen Zipfel der Tschechoslowakei, zu Karlovy Vary, ehemals Karlsbad, dem charmanten Badeort aus dem achtzehnten Jahrhundert, der einst Brahms und Beethoven so teuer gewesen war. Mit diesem Ort verband ihn jedoch seines Wissens nichts Persönliches, und sein Interesse war rein historisch.
Sein Leben in jenen ersten Monaten war sonderbar ziellos, denn sein Schicksal war nicht in Wien, und heute, wenn meine Phantasie mit mir durchgeht, scheint es mir, als habe die Hauptstadt selber nur darauf gewartet, Pym in die härtere Freiheit der Natur zu entlassen. Da sein Rang zu niedrig war, als daß ihn seine Offizierskollegen ernst genommen hätten, das Protokoll ihm keinerlei Umgang mit den Mannschaftsdienstgraden erlaubte und seine Armut ihn von den piekfeinen Restaurants und Nachtklubs ausschloß, schwebte Pym zwischen seinen requirierten Hotelzimmern und seinen Landkarten hin und her, so wie er damals in den Tagen seiner Illegalität in Bern herumgeschwebt war. Und während er bei seinen Streifzügen durch die Stadt auf das possenhafte Deutsch der Wiener lauschte oder in eines der kleinen Kellertheater ging, die in den Hausruinen sprossen, kam ihn oft das nostalgische Verlangen an, den Kopf zu wenden und einen guten Freund zu entdecken, der an seiner Seite hinkte. Aber er kannte keinen: meine deutsche Seele lebt wieder auf; es liegt in der deutschen Natur, sich unvollständig zu fühlen. An anderen Abenden unternahm der große Geheimagent Erkundungsgänge durch den Sowjetsektor, angetan mit einem eigens zu Tarnzwecken gekauften grünen Tirolerhut, unter dessen Krempe hervor er die stämmigen russischen Wachposten musterte, die mit ihren Maschinenpistolen vor dem sowjetischen Hauptquartier im Zehnmeterabstand die Straße entlang postiert waren. Wenn sie Pym anriefen, brauchte er nur seinen Militärpaß zu zeigen, und schon erschien auf ihren Tatarengesichtern ein anerkennendes Lächeln, während sie in ihren weichen Lederstiefeln einen Schritt zurücktraten und eine grau behandschuhte Hand salutierend hochrissen:
»Englisch gutt.«
»Aber Russe auch gut«, beteuerte dann Pym und lächelte ebenfalls. »Russe sehr gut, ehrlich.«
»Kamerad.«
»Towaritsch. Kamerad«, antwortete der große Internationalist. Er bot dann eine Zigrette an und nahm eine entgegen. Er zündete sie mit seinem großflammigen amerikanischen Zippo-Feuerzeug an, das von einem der vielen in der Div Int tätigen Schwarzhändler stammte. Er ließ es auf dem Gesicht des Postens und seinem eigenen aufleuchten. Dann hatte Pym in seiner Gutherzigkeit den Drang, wenn auch glücklicherweise nicht die Sprachkenntnisse, zu erklären, daß er zwar die Kommunisten in Oxford ausspioniert habe, so wie er dies jetzt auch in Wien tue, jedoch im Herzen immer noch Kommunist sei, und daß der Schnee und die Getreidefelder Rußlands ihm jederzeit sehr viel mehr bedeutet hätten als die Hausbars mit Musik und Roulettescheiben von Ascot.
Und manchmal, wenn er sehr spät über menschenleere Plätze zu seinem spartanischen Zimmer zurückging, wo ihn ein Army-Feuerlöscher und ein Zivilfoto von Rick erwarteten, blieb er stehen, sog die reine Nachtluft in vollen Zügen ein, bis er trunken war, spähte durch die vernebelten Gassen und gab vor, Lippsie zu sehen, die durch den Schein der Straßenlaternen in ihrem Flüchtlingskopftuch und mit ihrem Pappkoffer in der Hand auf ihn zukam. Und er lächelte sie dann an und war froh darüber, daß er bei all seinen auf die Außenwelt gerichteten Sehnsüchten immer noch in der Innenwelt seines Kopfes lebte. Er war seit drei Monaten in Wien, als Marlene ihn um Schutz bat. Marlene war eine tschechische Dolmetscherin und gefeierte Schönheit.
»Sind Sie Mr. Pym?« fragte sie eines Abends mit der reizenden Schüchternheit einer Zivilistin, als Pym gerade hinter einer Schar hochrangiger Offiziere die große Treppe herunterkam. Sie trug einen formlosen Regenmantel, der in der Taille zusammengezurrt war, und einen Hut mit kleinen Federbuschen.
Pym gestand, daß er Pym sei.
»Gehen Sie zum Hotel Weichsel?«
Pym sagte, das tue er allabendlich.
»Darf ich mich Ihnen anschließen, bitte, ausnahmsweise? Gestern hat ein Mann versucht, mich zu vergewaltigen. Bringen Sie mich bis zu meiner Tür? Fall ich nicht lästig?«
Bald brachte der furchtlose Pym Marlene jeden Abend bis zu ihrer Tür und holte sie am Morgen dort wieder ab. Sein Tag entfaltete sich zwischen diesen strahlenden Höhepunkten. Doch als er sie nach dem Zahltag zum Abendessen einlud, wurde er zu einem wütenden Hauptmann der Füsiliere befohlen, der die Neuankömmlinge betreute.
»Sie sind ein geiles kleines Schwein, verstanden?«
»Jawohl, Sir.«
»Subalternoffiziere von Div Int fraternisieren in der Öffentlichkeit nicht, wiederhole, nicht, mit dem Zivilpersonal. Dazu muß man schon eine ganze Menge Dienstjahre mehr auf dem Buckel haben als Sie. Verstanden?«
»Jawohl, Sir.«
»Wissen Sie, was Scheiße ist?«
»Jawohl, Sir.«
»Nein, wissen Sie nicht. Scheiße, Pym, ist ein Offizier, dessen Krawatte von hellerem Khaki ist als sein Hemd. Haben Sie kürzlich Ihre Krawatte gesehen?«
»Jawohl, Sir.«
»Haben Sie Ihr Hemd gesehen?«
»Jawohl, Sir.«
»Vergleichen Sie die beiden, Pym. Und fragen Sie sich dann, was für eine Art von jungem Offizier Sie sind. Dieses Weib ist höchstens für die unterste Stufe überprüft.«
Gehört alles zur Ausbildung, dachte Pym, als er die Krawatte wechselte. Ich werde abgehärtet für den Einsatz. Trotzdem machte er sich Sorgen wegen der vielen Dinge, die Marlene von ihm hatte wissen wollen, und er wünschte, er wäre in seinen Antworten nicht ganz so freimütig gewesen.
Kurz darauf gestand man Pym barmherzigerweise zu, daß er genügend reingeschnuppert habe. Vor seinem Weggang wurde er wieder zum Hauptmann befohlen, der ihm zwei Fotos zeigte. Eines stellte einen gutaussehenden jungen Mann mit weichen Lippen dar, das andere einen höhnisch feixenden Säufer mit Pausbacken.
»Wenn Sie einen der beiden Männer sehen, melden Sie das unverzüglich einem höheren Offizier, verstanden?«
»Wer sind sie?«
»Hat man Ihnen nicht beigebracht, keine Fragen zu stellen? Wenn Sie keinen höheren Offizier finden können, verhaften Sie die beiden selber.«
»Wie?«
»Machen Sie von Ihrer Autorität Gebrauch. Seien Sie höflich aber bestimmt. ›Männer, Ihr seid verhaftet.‹ Dann bringen Sie die beiden zum nächsten höheren Offizier.«
Sie hießen, wie Pym einige Tage später aus dem Daily Express erfuhr, Guy Burgess und Donald Maclean, und sie gehörten zum britischen Foreign Office. Einige Wochen lang spähte er überall unentwegt nach ihnen aus, vergebens, denn sie hatten sich bereits nach Moskau abgesetzt.
***
Wer von uns ist also schuld, Tom, sag? Wenn Pym vor jedem Sündenfall ein Stückchen Paradies zuteil wird, ist das Pyms heller Seele oder Gottes schwarzem Humor zu verdanken? Von den Berner Ollingers sagte ich dir, daß es uns nur einmal im Leben gegeben sei, eine wirklich glückliche Familie kennen zu lernen, doch ich hatte Major Harrison Membury vergessen, einst Bibliothekar der English Library in Nairobi und ehemals Offizier im Education Corps, der durch eine köstliche Laune der militärischen Logik zum Pöbel des Feldsicherheitsdienstes verschlagen worden war. Ich hatte seine schöne Frau und die zahlreichen schmuddeligen Töchter vergessen, alle künftige Fräulein Ollingers, nur daß sie sich, statt zu musizieren, Ziegen und ein turbulentes Schweinchen hielten, die sich an Militäranlagen vergingen, zur Erbitterung der Standortverwaltung, einer ohnmächtigen Erbitterung, da die Memburys als Nachrichtendienstler immun waren. Ich hatte die Feld-Vernehmungs-Einheit Nummer Sechs, Graz, vergessen, eine rosa Barockvilla in einer bewaldeten Kluft, eine Meile vom Stadtrand entfernt. Bündel von Telefonkabeln führten ins Innere des Gebäudes, Antennen entstellten das Spitzdach. Die Villa hatte eine Auffahrt mit einem Pförtnerhaus und einen wildblickenden blonden Kasinokellner namens Wolfgang, der in einer gut gebügelten weißen Jacke die Treppe heruntergestürzt kam und einem aus dem Jeep half. Doch was Membury betraf, so war das Beste an der ganzen Sache der See, dessen Fischbestand er aufstockte, denn er war ein Fischnarr und verwendete seine Tage und einen beträchtlichen Teil unseres Reptilienfonds auf die Zucht seltener Forellenarten. Du mußt dir einen großen, jovialen und völlig kraftlosen Mann mit den Bewegungen eines Invaliden vorstellen. Und mit Augen, aus denen der Glaube an das Gute im Menschen sprach. Er war Zivilist bis in seine weichen Fingerspitzen, doch wenn ich heute an ihn denke, sehe ich ihn immer im Kampfanzug, mit abgetragenen Wildlederstiefeln und einem geflochtenen Gürtel entweder über oder unter dem Bauch, an einem sengend heißen Nachmittag von Libellen umschwirrt am Rand seines geliebten Sees stehen und unter schüchternen Schmähungen gegen einen marodierenden Hecht so etwas wie eine Garnelenreuse ins Wasser werfen, genau wie damals, als Pym sich bei ihm meldete:
»Du meine Güte. Sie sind Pym. Na ja, schön, daß Sie da sind. Hören Sie, ich mache das Schilf weg und suche den ganzen Grund ab, um genau zu sehen, was wir da alles haben. Was halten Sie davon?«
»Klingt großartig, Sir.«
»Freut mich. Sind Sie verheiratet?«
»Nein, Sir,«
»Wunderbar. Dann sind Sie an den Wochenenden frei.«
Und ich weiß nicht, warum ich an ihn immer als an einen von zwei Brüdern denke, obwohl ich mich nicht erinnern kann, daß je von einem Bruder die Rede war. Seine Hausmannschaft bestand aus einem Gefreiten, an den ich mich kaum erinnere, und einem Cockney-Fahrer namens Kaufmann, der in Cambridge Volkswirtschaft studiert hatte. Sein Stellvertreter war ein rotwangiger junger Banker, Oberleutnant McLaird, der kurz vor seiner Rückkehr in die City stand. In den Kellerräumen zapften pflichtbewußte junge Österreicher Telefonleitungen an, dampften Briefe auf und stopften ihre ungelesenen Berichte in eine Reihe von Army-Mülltonnen, die pünktlich einmal in der Woche von den Grazer Behörden geleert wurden, denn der Gedanke, daß irgendein fischhassender Vandale den Müll in den See kippen könnte, war für Membury ein Alptraum. Im Erdgeschoß hielt der Major sich einen Stall von ortsansässigen Dolmetscherinnen, deren Palette von der Matrone bis zum Backfisch reichte, und sollte Membury sich ihrer erinnern, dann bewunderte er sie alle. Und schließlich hatte er noch seine Frau Hannah, eine Baum-Malerin, die wie so viele Frauen von sehr großen Männern grazil und winzig war. Hannah brachte mir die Malerei näher, und ich sehe sie heute noch in ihrem weißen, weit ausgeschnittenen Kleid vor der Staffelei sitzen, während die Mädchen kreischend eine Rasenbank herunterrollen und Membury und ich in Badehosen im braunen Wasser werken. Selbst jetzt kann ich sie mir nicht als Mutter all dieser Töchter vorstellen.
Auch der Rest von Pyms Leben hätte schwerlich mehr nach seinem Geschmack sein können. Aus dem P.X., der Marketenderei, konnte er Whisky zu sieben Shilling pro Flasche und Zigaretten zu zwölf Shilling pro Stange beziehen. Er konnte damit Tauschhandel treiben oder die Ware mühelos in Landeswährung umwechseln, obwohl man am besten fuhr, wenn man dafür die Dienste eines ältlichen ungarischen Rittmeisters in Anspruch nahm, der in der Registratur Geheimberichte las und Wolfgang verliebt anschaute, ganz so wie Mr. Cudlove immer Ollie angeschaut hatte. Das alles war Pym vertraut, das alles brauchte Pym, um seine ungelebte orthodoxe Kindheit fortzusetzen. Sonntags begleitete Pym die Memburys zur Messe, und beim Mittagessen linste er in den Ausschnitt von Hannahs Kleid. Membury ist ein Genie, jubelte Pym, als er seinen Schreibtisch in das Vorzimmer des großen Mannes schaffte. Membury ist der spiongewordene Renaissancemensch. Innerhalb weniger Wochen hatte er sein eigenes Spesenkonto. Und wieder ein paar Wochen darauf einen zweiten Stern, den Wolfgang ihm an die Achselklappen nähte, denn Membury war der Ansicht, er sehe dumm aus mit einem einzigen Stern.
Und er hatte seine Joes.
»Das ist Peppi«, erklärte McLaird mit einem merkwürdigen Lächeln bei einem diskreten Abendessen außerhalb der Stadt. »Peppi hat für die Deutschen gegen die Roten gekämpft, und jetzt kämpft er für uns gegen sie. Sie sind doch ein fanatischer Antikommunist, stimmt’s Peppi? Darum fährt er mit seinem Motorrad in die Zone und verkauft pornographische Fotos an die Iwans. Vierhundert Players Medium pro Monat. Im Nachhinein.«
»Das ist Elsa«, sagte McLaird und stellte im Grillroom der Blauen Rose eine pummelige Kärntner Hausfrau, Mutter von vier Kindern, vor. »Ihr Freund betreibt ein Café in St. Pölten. Er schickt ihr die Autonummern und Kennzeichen der russischen Lastwagen, die bei ihm vorbeifahren, stimmt’s, Elsa? Alles in Geheimschrift auf der Rückseite seiner Liebesbriefe. Drei Kilo Röstkaffee pro Monat. Im Nachhinein.«
Es gab ein Dutzend davon, und Pym machte sich sofort daran, sie in jeder nur erdenklichen Art zu fördern und zu betreuen. Heute, wenn ich sie so in Gedanken durchspiele, erscheinen sie mir als ein Stall von Fernerliefens, wie sie kaum je einem angehenden Meisterspion über den Weg galoppiert waren. Doch für Pym waren es ganz einfach die besten Ausspäher, die es je gab, und er würde sich für sie bis zum Gehtnichtmehr einsetzen.
Und zu guter Letzt, Jack, gab es da noch Sabina, die wie ihre Freundin Marlene in Wien Dolmetscherin und wie Marlene das schönste Mädchen der Welt war, direkt den Seiten von Amor und das Weib im Rokoko entstiegen. Sie war klein wie E. Weber, mit breiten fließenden Hüften und lebhaften fordernden Augen. Ihre Brüste waren sommers wie winters hoch und fest und brachten sich wie ihre Hinterbacken auch in den gewöhnlichsten Werktagskleidern zur Geltung, sowie bei Pym nachdrücklich in Erinnerung. Ihr Gesicht zeigte die von Traurigkeit und Aberglauben geprägten Züge einer schwermütigen slawischen Elfe, war aber zu erstaunlichen Ausbrüchen von Fröhlichkeit fähig, und wäre Lippsie wieder auferstanden und in das Alter von 23 Jahren zurückversetzt worden, hätte sie Schlechteres tun können als Sabinas Form anzunehmen.
»Marlene sagt, Sie sind anständig«, informierte sie Pym verächtlich, als sie in den Jeep des Gefreiten Kaufmann stieg, ohne sich die Mühe zu geben, ihre Rokokobeine zu verbergen.
»Ist das ein Verbrechen?« fragte Pym.
»Keine Angst«, war die ominöse Antwort, und weg fuhren sie zu den Lagern. Sabina sprach tschechisch, serbo-kroatisch und deutsch. In ihrer Freizeit studierte sie Volkswirtschaft an der Universität Graz, was ihr einen Vorwand gab, mit dem Gefreiten Kaufmann zu sprechen.
»Glauben Sie an ein gemischtwirtschaftliches Agrarsystem, Kaufmann?«
»Ich glaube an gar keines.«
»Sind Sie Keynesianer?«
»Mit meinem eigenen Geld würde ich keiner sein, soviel kann ich Ihnen sagen«, sagte Kaufmann.
So ging es hin und her, während Pym Mittel und Wege suchte, um absichtslos ihre weiße Schulter zu streifen oder ihren Rock zu bewegen, einen Bruchteil weiter nach Norden aufzuklaffen. Ihr Ziel bei diesen Fahrten waren die Lager. Seit fünf Jahren strömten die osteuropäischen Flüchtlinge durch jede schnell sich schließende Lücke im Stacheldraht nach Österreich: sie durchbrachen in gestohlenen Last- und Personenwagen Grenzschranken, kamen über Minenfelder oder unten an Züge geklammert. Sie brachten ihre ausgemergelten Gesichter und ihre kahlgeschorenen Kinder und ihre ratlosen Alten und ihre munteren Hunde und ihre künftigen Lippsies mit, auf daß man sie zu Tausenden einpferche und ausquetsche und über sie entscheide, während sie auf ihren Holzkisten Schach spielten und einander Fotos von Leuten zeigten, die sie nie wieder sehen würden. Sie kamen aus Ungarn und Rumänien und Polen und der Tschechoslowakei und Jugoslawien und manchmal aus Rußland und hofften, auf dem Weg nach Kanada, Australien und Palästina zu sein. Sie kamen auf undurchsichtigen Pfaden und oft auch aus undurchsichtigen Gründen. Sie waren Ärzte und Wissenschaftler und Maurer. Sie waren Lastfahrer, Diebe, Akrobaten, Verleger, Sittenstrolche und Architekten. Alle zogen sie an Pyms Seherblick vorbei, wenn er mit dem Gefreiten Kaufmann und Sabina von Lager zu Lager fuhr, Fragen stellte, einstufte und niederschrieb und dann mit seiner Beute heim zu Membury eilte.
Zuerst litt seine Sensibilität unter soviel Elend, und er hatte Mühe, die Teilnahme zu verbergen, die er für jeden empfand, mit dem er sprach: Ja, ich werde mit allen Mitteln dafür sorgen, daß Sie nach Montreal kommen. Ja, ich werde Ihrer Mutter in Canberra mitteilen, daß Sie sicher hier gelandet sind. Zuerst war Pym auch peinlich berührt wegen seines eigenen Leidensdefizits. Jeder von ihm Ausgefragte hatte an einem Tag mehr durchgemacht als er in seinem ganzen jungen Leben, und er war ihnen deswegen böse. Manche hatten seit ihrer Kindheit nichts anderes getan, als Grenzen überschritten. Andere sprachen von Tod und Folter so leichthin, daß er sich zunehmend über ihre Gefühllosigkeit empörte, bis seine Mißbilligung ihren Zorn entfachte und sie spöttisch zurückschlugen. Doch Pym, der gute Ackersmann, mußte seine Arbeit tun und einem vorgesetzten Offizier gefallen, und er besaß dazu, wenn er sich wappnete, einen schnellen und wendigen Geist. Er brauchte nur seine eigene Natur zu befragen, um herauszufinden, wann jemand Nebensächliches in sein Gedächtnis schrieb und den Haupttext ausließ. Er verstand es, unverbindlich zu plaudern, während er beobachtete, und die Signale zu entziffern, die zu ihm zurückkamen. Wenn sie beschrieben, wie sie nachts die Grenze in den Bergen überschritten hatten, dann überschritt Pym sie mit ihnen, schleppte ihre Lippsie-Koffer und spürte den eisigen Gebirgswind durch ihre alten Mäntel dringen. Wenn einer von ihnen rundheraus log, dann machte Pym, mit Hilfe seines geistigen Radars, schnell Rückpeilungen auf plausible Versionen der Wahrheit. Fragen drängten sich ihm auf, und als der angehende Jurist, der er war, lernte er rasch, daraus ein Anklagemuster zu formen. »Woher kommen Sie? Was für Truppen haben Sie dort gesehen? Welche Farbe hatten die Achselklappen? Worin sind sie herumgefahren, welche Waffen hatten sie? Welchen Weg haben Sie benutzt, welchen Posten, Hindernissen, Hunden, Stacheldrahtbarrieren, Minenfeldern sind Sie auf Ihrem Weg begegnet? Welche Schuhe trugen Sie? Wie hat es Ihre Mutter, Großmutter geschafft, wo doch der Paß so steil war? Wie haben Sie das mit zwei Koffern, zwei Kleinkindern und einer hochschwangeren Frau angestellt? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß Ihre Auftraggeber bei der ungarischen Geheimpolizei Sie zur Grenze gefahren und Ihnen viel Glück gewünscht haben, als sie Ihnen den Weg auf die andere Seite wiesen? Sind Sie ein Spion, und wenn ja, würden Sie dann nicht lieber für uns spionieren? Oder sind Sie nur ein Verbrecher, in welchem Falle es Ihnen sicher lieber wäre, in die Spionage einzusteigen, als von der österreichischen Polizei über die Grenze abgeschoben zu werden?« – So griff Pym auf seine eigenen kreuz und quer verlaufenden Leben zurück, um die ihren zu entwirren, und Sabina mit ihren finsteren Blicken und Stimmungen und ihrem gelegentlich aufblitzenden Lächeln wurde zu der schwülen Stimme, in der er das tat. Manchmal ließ er sie ins Deutsche übersetzen und verschaffte sich so den geheimen Vorteil, alles zweimal zu hören.
»Wo lernen Sie diese dummen Spiele?« fragte sie ihn eines Abends streng, als sie zur herben Mißbilligung der Army-Damen im Hotel Wiesler miteinander tanzten.
Pym lachte. Auf der Kippe zum Mannesalter und Sabinas Schenkel eng gegen den seinen gepreßt, warum sollte er da irgendwem irgend etwas verdanken? Er erfand also für sie eine Geschichte von einem schlauen Deutschen, den er in Oxford kennengelernt und der sich dann als Spion entpuppt hatte.
»Es war eine Art geistiges Duell«, gestand er, im Rückgriff auf hastig geschaffene Erinnerungen. »Er verwendete alle erdenklichen Tricks, und am Anfang war ich so unschuldig wie ein neugeborenes Kind und glaubte alles, was er sagte. Allmählich wurde der Kampf dann ausgeglichener.«
»Er war Kommunist?«
»Ja, wie sich dann herausstellte. Er wollte es mit allen Mitteln verbergen, aber wenn man ihm richtig zusetzte, kam’s doch heraus.«
»Er war hommsexuell?« fragte Sabina und gab damit einem stets lauernden Verdacht Ausdruck, während sie sich tiefer in ihn wand.
»Nicht, soweit ich sehen konnte. Er hatte Frauen in rauhen Mengen.«
»Rauh?«
»Das ist nur eine Metapher.«
»Ich glaube, er wollte seine Hommsexualität tarnen. Das ist normal.«
Sabina sprach von ihrem eigenen Leben, als gehöre es jemandem, den sie haßte. Ihr blöder ungarischer Vater war an der Grenze erschossen worden. Ihre verrückte Mutter war in Prag bei dem Versuch gestorben, ein Kind für einen nichtsnutzigen Liebhaber in die Welt zu setzen. Ihr älterer Bruder war ein Idiot und studierte Medizin in Stuttgart. Ihre Onkel waren Trunkenbolde und hatten sich von den Nazis und den Kommunisten erschießen lassen.
»Möchten Sie, daß ich Ihnen am Samstag Tschechischunterricht gebe?« fragte sie ihn eines Abends noch strenger als gewöhnlich, während sie selbdritt nach Hause fuhren.
»Möchte ich sehr gerne«, antwortete Pym, der ihre Hand hielt. »Es macht mir allmählich wirklich Spaß.«
»Ich denke, wir schlafen diesmal miteinander. Mal sehen«, sagte sie finster, worauf Kaufmann beinahe in den Straßengraben gefahren wäre.
Der Samstag kam, und weder Ricks Schatten noch Pyms Angst konnten ihn davon abhalten, auf Sabinas Türklingel zu drücken. Er hörte Schritte, die weicher klangen als ihr sonstiger, zweckmäßiger Gang. Er sah die Lichttupfen ihrer Augen, die ihn durch das Guckloch betrachteten, und tat sein bestes, um ein kantiges, beruhigendes Lächeln zustande zu bringen. Er hatte genug P. X. Whisky mitgebracht, um die Schuld ganzer Zeitalter zu tilgen, doch Sabina war frei von Schuld, und als sie ihm die Tür öffnete, war sie nackt. Sprachlos stand er vor ihr und klammerte sich an seine Tragtasche. Betäubt sah er zu, wie sie die Sperrkette wieder einhakte, ihm die Tasche aus den leblosen Händen nahm, damit zur Anrichte ging und sie auspackte. Der Tag war warm, aber sie hatte ein Feuer angemacht und die Bettdecken zurückgeschlagen.
»Du hast viele Frauen gehabt, Magnus?« fragte sie. »Rauhe Mengen, wie dein böser Freund?«
»Ich glaube nicht«, sagte Pym.
»Du bist hommsexuell wie alle Engländer?«
»Bestimmt nicht.«
Sie führte ihn zum Bett. Sie setzte ihn nieder und knöpfte sein Hemd auf. Streng, wie Lippsie, wenn sie etwas für den draußen wartenden Wäschereiwagen brauchte. Sie knöpfte den Rest auf und legte seine Kleider sorgfältig über einen Stuhl. Sie drückte ihn sanft auf den Rücken nieder und breitete sich über ihm aus.
»Ich wußte nicht«, sagte Pym laut.
»Wie bitte?«
Er setzte zum Sprechen an, aber er hätte zu viel erklären müssen, und seine Dolmetscherin war bereits beschäftigt. Er wollte sagen: ich wußte bei all meiner Sehnsucht nicht, wonach ich mich bis jetzt gesehnt hatte. Er wollte sagen: ich kann fliegen und schwimmen, auf der Brust, auf der Seite, auf dem Rücken und auf dem Kopf. Er wollte sagen: ich bin ganz, ich bin endlich unter die Männer eingegangen.
***
Es war an einem balsamischen Freitagnachmittag in der Villa, sechs Tage später. Im Garten, unter den Fenstern von Memburys riesigem Büro, saß der Rittmeister in Lederhosen und schälte Erbsen für Wolfgang. Membury saß in seinem bis zum Bauch aufgeknöpften Kampfanzug am Schreibtisch und entwarf einen Fragebogen für Trawler-Kapitäne, den er zu Hunderten an die größeren Fischereiflotten verschicken wollte. Seit Wochen war er mit Leib und Seele dabei, den Winterzügen der Meerforelle nachzuspüren, was die Finanzmittel der Dienststelle bis an den Rand der Erschöpfung in Anspruch genommen hatte.
»Ich bin auf ziemlich komische Weise angegangen worden, Sir«, begann Pym vorsichtig. »Von jemand, der angeblich ein potentieller Überläufer ist.«
»Oh, wie interessant für Sie, Magnus«, sagte Membury höflich und riß sich mühsam von seinen Forellen los. »Hoffentlich nicht wieder ein ungarischer Grenzsoldat. Davon hab ich mehr als genug. Wien sicher auch.« Wien war für Membury ein Quell wachsenden Verdrusses und umgekehrt. Pym hatte die unerquickliche Korrespondenz gelesen, die Membury zu allen Zeiten sicher verschlossen in der linken oberen Schublade seines schäbigen Schreibtisches verwahrt hielt. Es war vielleicht nur mehr eine Frage von Tagen, bis der Hauptmann der Füsiliere in Person kam, um Ordnung zu schaffen.
»Er ist kein Ungar, Sir«, sagte Pym. »Er ist Tscheche. Dient beim Oberkommando Süd, das außerhalb von Prag stationiert ist.«
Membury legte den großen Kopf zur Seite, als wolle er Wasser aus dem Ohr schütteln. »Das ist ja großartig«, bemerkte er zweifelnd. »Div Int würde das letzte Hemd für gutes Material über den tschechischen Südabschnitt geben. Oder sonstwo in der Tschechei. Die Amerikaner glauben anscheinend, eine Art Monopol auf das Land zu haben. Hat mir neulich erst jemand am Telefon gesagt, ich weiß nicht mehr, wer.«
Die Telefonverbindung nach Graz ging durch die Sowjetzone. Nachts konnte man in der Leitung russische Wartungstechniker wie besoffen ihre Kosakenlieder singen hören.
»Nach meiner Quelle ist es ein verärgerter Gefreiter, der in ihrem Tresorraum arbeitet«, beharrte Pym. »Er soll morgen nacht durch die Sowjetzone rüberkommen. Wenn wir ihn nicht in Empfang nehmen, spart er sich den Umweg und geht direkt zu den Amerikanern.«
»Sie haben das Ganze doch nicht vom Rittmeister, oder?« sagte Membury nervös.
Mit der Gewandtheit, die aus langer Gewöhnung erwächst, betrat Pym den schwankenden Grund. Nein, nicht vom Rittmeister, versicherte er Membury. Zumindest habe er nicht wie der Rittmeister geklungen. Eine jüngere, selbstbewußtere Stimme.
Membury war verwirrt. »Könnten Sie das näher erklären?« sagte er.
Pym erklärte.
Es sei ein ganz gewöhnlicher Donnerstagabend gewesen, sagte er. Er habe sich im Kino Liebe 47 angesehen und sei auf dem Heimweg auf ein Bier ins Weiße Roß gegangen.
»Ich glaube nicht, daß ich das Weiße Roß kenne.«
»Ein ganz gewöhnliches Wirtshaus, Sir, wirklich, aber die Emigranten verkehren dort und sitzen an langen Tischen zusammen. Buchstäblich zwei Minuten nach meiner Ankunft hat der Kellner mich ans Telefon gerufen. ›Herr Leutnant, für Sie.‹ Ich bin dort einigermaßen bekannt, also war ich nicht überrascht.«
»Sehr gut«, sagte Membury beeindruckt.
»Es war die Stimme eines Mannes, der Hochdeutsch sprach. ›Herr Pym. Ich habe eine wichtige Botschaft für Sie. Wenn Sie genau tun, was ich Ihnen sage, werden Sie nicht enttäuscht sein. Haben Sie Schreibzeug und Papier?‹ Ich hatte, also fing er an, in Diktiergeschwindigkeit zu lesen. Er ließ es sich wiederholen und legte auf, bevor ich fragen konnte, wer er sei.«
Pym zog das fragliche Papier aus der Tasche. Es war ein Blatt, das aus einem Taschenkalender gerissen worden war.
»Aber wenn das gestern abend passiert ist, warum um Himmels willen haben Sie es mir nicht früher gesagt?« bemerkte Membury, als er den Zettel entgegennahm.
»Sie waren bei der Besprechung des Joint Intelligence Committee.«
»Heiliger Bimbam, stimmt. Er hat namentlich nach Ihnen gefragt«, sagte Membury stolz, während er immer noch auf das Papier sah. »›Es muß Leutnant Pym sein.‹ Das ist schmeichelhaft, kann man nicht anders sagen.« Er zupfte an einem abstehenden Ohr. »Schön, aber passen Sie gut auf«, warnte er mit der Strenge eines Mannes, der Pym nichts verweigern konnte. »Und gehen Sie nicht zu nah an die Grenze, damit Sie nicht hinübergezogen werden.«
***
Das war keineswegs der erste Hinweis auf die Ankunft eines Überläufers, den Pym in den letzten Monaten erhalten hatte, nicht einmal der sechste, aber es war der erste gewesen, der ihm von einer nackten tschechischen Dolmetscherin in einem mondhellen Obstgarten zugeflüstert worden war. Erst eine Woche zuvor hatten Pym und Membury in Unterkärnten eine ganze Nacht auf einen Hauptmann der rumänischen Abwehr und dessen Geliebte gewartet, die in einem gestohlenen Flugzeug, vollgepropft mit unbezahlbaren Geheimnissen, kommen sollten. Membury hatte das Gebiet von der österreichischen Polizei absperren lassen und Pym schoß, wie sie in Geheimbotschaften instruiert worden waren, bunte Leuchtraketen in die leere Luft. Doch der Morgen dämmerte, und kein Flugzeug war gekommen.
»Was sollen wir denn noch tun?« hatte Membury mit verzeihlichem Groll geklagt, als sie fröstelnd im Jeep saßen. »Eine Ziege opfern? Der Rittmeister dürfte wirklich etwas präziser sein. Wir stehen ja schön dumm da.«
Eine weitere Woche davor waren sie, in grüne Loden getarnt, zu einem entfernten Gasthof an der Zonengrenze gefahren, auf der Suche nach einem Heimkehrer aus den sowjetischen Uranminen, der jeden Augenblick kommen sollte. Als sie in die Gaststube traten, verstummte das Gespräch jäh, und eine Schar Bauern glotzte sie an.
»Billard«, befahl Membury mit seltener Entschlußkraft hinter vorgehaltener Hand. »Da drüben ist ein Tisch. Wir machen ein Spiel. Los.«
Immer noch in seinem grünen Lodenmantel beugte Membury sich zu einem Stoß vor, als ihn der klirrende Aufschlag von schwerem Metall auf dem Fliesenboden innehalten ließ. Pym blickte hinab und sah den Dienstrevolver seines Vorgesetzten am Boden liegen. Er bückte sich blitzschnell, um ihn aufzuheben. Aber doch nicht schnell genug, um das wilde Getrampel zu verhindern, unter dem die zu Tode erschreckten Bauern durch die Tür in die Dunkelheit davonstürzten und der Wirt sich im Keller einschloß.
***
»Kann ich jetzt zurückfahren, Sir?« sagte Kaufmann. »Ich bin nämlich überhaupt kein Soldat. Ich bin ein Feigling.«
»Nein, Sie können nicht«, sagte Pym. »Ruhe jetzt.«
Wie Sabina gesagt hatte, stand die Hütte frei mitten auf einem von Lärchen gesäumten Feld. Ein gelber Pfad führte zu ihr hin und hinter ihr lag ein See. Hinter dem See ein Hügel, und auf dem Hügel hielt ein einsamer Wachturm in der hereinbrechenden Dämmerung Ausschau ins Tal.
»Ihr tragt Zivil und parkt euren Wagen an der Kreuzung nach Klein-Brandorf«, hatte Sabina seinen Schenkeln zugeflüstert, als sie ihn küßte und liebkoste und wiederbelebte. Der Obstgarten lag hinter einer Ziegelmauer und wurde von einer Familie großer Feldhasen bewohnt. »Ihr laßt die Seitenlichter brennen. Wenn ihr schwindelt und Schutz mitbringt, dann erscheint er nicht. Er bleibt im Wald und ist böse.«
»Ich liebe dich.«
»Da ist ein weiß bemalter Stein. Dort muß Kaufmann stehen bleiben. Wenn Kaufmann über den weißen Stein hinausgeht, bleibt er im Wald.«
»Warum kannst du nicht mitkommen?«
»Er will nicht. Er will nur Pym. Vielleicht ist er hommsexuell.«
»Danke sehr«, sagte Pym.
Der weiße Stein glänzte vor ihnen.
»Bleiben Sie hier«, befahl Pym.
»Warum?« sagte Kaufmann.
Der Abendnebel lag in Streifen über dem Feld. Im See schnellten die Fische aus dem Wasser. In der untergehenden Sonne warfen die Lärchen meilenlange Schatten über die goldene Wiese. Holzscheite waren neben der Hüttentüre aufgestapelt, Blumenkästen mit Geranien zierten die Fenster. Pym dachte wieder an Sabina. Ihre sich entfaltenden Schenkel, ihren breitflächigen Rücken. »Was ich dir erzähle, hab ich noch keinem Engländer erzählt. Ich hab in Prag einen jüngeren Bruder, der Jan heißt. Wenn du das Membury erzählst, wird er mich gleich sofort entlassen. Die Briten wollen nicht, daß wir einen engen Verwandten in einem kommunistischen Land haben. Verstehst du?« Ja, Sabina, ich verstehe. Ich hab den Mondschein auf deinen Brüsten gesehen, deine Feuchtigkeit ist auf meinen Lippen, klebt an meinen Lidern. Ich verstehe. »Paß auf. Mein Bruder schickt mir diese Nachricht für dich. Nur für Pym. Er vertraut dir meinetwegen, und weil ich ihm nur Gutes über dich berichtet habe. Er hat einen Freund, der raus will. Dieser Freund ist sehr begabt, sehr brillant, mit Zugang zu Topmaterial. Er wird dir viele Geheimnisse über die Russen bringen. Doch zuerst mußt du eine Geschichte für Membury erfinden, um zu erklären, wie du zu dieser Information gekommen bist. Du bist intelligent. Du kannst viele Geschichten erfinden. Jetzt mußt du eine für meinen Bruder und seinen Freund erfinden.« Ja, Sabina, ich kann erfinden. Für dich und deinen geliebten Bruder kann ich eine Million Geschichten erfinden. Hol mir meinen Stift, Sabina. Wo hast du meine Kleider hingetan? Jetzt reiß mir ein Blatt Papier aus deinem Taschenkalender, und ich werde die Geschichte von einem Fremden erfinden, der mich im Weißen Roß angerufen und mir einen unwiderstehlichen Vorschlag gemacht hat.
Pym knöpfte seinen Lodenmantel auf. »Immer über die Brust ziehen«, hatte sein Ausbilder in dem trübseligen Lager in Sussex geraten, wo er in Kommunismusbekämpfung geschult worden war. Schützt Sie besser für den Fall, daß der andere Bursche zuerst schießt.« Pym bezweifelte, daß dies ein guter Rat war. Er kam zur Tür und fand sie verschlossen. Er ging um die Hütte und versuchte, eine Stelle zu finden, wo er hineinspähen konnte. »Seine Informationen werden gut für dich sein«, hatte Sabina gesagt. »Sie werden dich in Wien sehr berühmt machen, und Membury auch. Gutes Material aus der Tschechoslowakei ist bei Div Int außerordentlich selten. Das meiste kommt von den Amerikanern und taugt folglich nichts.«
Die Sonne war untergegangen, und die Dämmerung brach schnell herein. Das Bellen eines Fuchses klang über den See herüber. Reihen von Hühnerkäfigen standen an der Rückseite der Hütte, und das Stroh darin war sauber. Hühner im Niemandsland, dachte er leichthin. Staatenlose Eier. Die Hühner streckten ihre Hälse nach ihm und plusterten sich auf. Ein grauer Fischreiher stieg vom See hoch und nahm Kurs auf die Berge. Pym ging wieder zur Eingangstüre der Hütte zurück.
»Kaufmann?«
»Sir?«
Hundert Meter lagen zwischen ihnen, doch in der abendlichen Stille waren ihre Stimmen sich so nah wie beim Liebesgeflüster.
»Haben Sie gehustet?«
»Nein, Sir.«
»Nun, tun Sie’s nicht.«
»Ich dürfte geschluchzt haben, Sir.«
»Seien Sie wachsam, aber was Sie auch sehen, kommen Sie nicht näher, bevor ich es Ihnen befehle.«
»Ich möchte desertieren, wenn Sie gestatten, Sir. Lieber bin ich ein Überläufer als das hier, ehrlich. Ich bin ein sitzendes Ziel. Ich bin kein menschliches Wesen mehr.«
»Machen Sie ein bißchen Kopfrechnen oder so.«
»Ich kann nicht. Hab’s versucht. Mein Kopf streikt.«
Pym hob den Riegel, trat ein und roch Zigarrenrauch und Pferde. St. Moritz, dachte er benommen vor Furcht. Die Hütte war höhlenartig und schön und stieg an einem Ende an wie ein altes Schiff. Auf dem erhöhten Boden stand ein Tisch und auf dem Tisch, zu Pyms Überraschung, eine Öllampe. In ihrem Schein bewunderte er die alten Balken und das Dach. »Warte drin, dann kommt er«, hatte Sabina gesagt. »Er will zuerst sehen, ob du hineingehst. Der Freund meines Bruders ist sehr vorsichtig. Wie viele Tschechen ist er ein überragender Kopf und vorsichtiger Mensch.« Zwei hochlehnige Stühle waren an den Tisch gezogen, auf dem Illustrierte lagen, wie im Wartezimmer eines Zahnarzts. Hier erledigt der Bauer wahrscheinlich seinen Papierkram. Im Hintergrund bemerkte Pym eine rustikale Leiter, die nach oben führte. Am Wochenende bring ich dich hierher. Ich nehme Käse und Wein mit und eine Decke, für den Fall, daß es kratzt, und du kannst deinen Rüschenrock tragen mit nichts darunter. Er kletterte die Leiter halb hinauf und lugte über den Bodenrand. Solide Bretter, trockenes Heu, kein Zeichen von Ratten. Ein Traumplatz für ländliches Rokoko. Er stieg wieder hinunter und ging auf das Licht zu, um sich auf einen der Stühle zu setzen. »Du mußt Geduld haben, notfalls die ganze Nacht«, hatte Sabina gesagt. »Es ist jetzt äußerst gefährlich, über die Grenze zu gehen. Es ist Spätsommer, und die Zweifler kommen rüber, bevor die Pässe zugeschneit sind. Also haben sie überall ihre Posten und Spione.« Ein gepflasterter Gang lief zwischen zwei Abflußrinnen dahin. Seine Schritte erweckten im Dach einen dumpfen Widerhall. Der Widerhall hörte auf, als seine Füße versagten. Am Kopfende des Tisches saß eine schlanke Gestalt. Sie neigte sich gespannt vor, posierte für irgend etwas. Sie hielt in der einen Hand eine Zigarre und eine automatische Pistole in der anderen. Ihr Blick war wie der Lauf der Pistole auf Pym gerichtet.
»Geh auf mich zu, Sir Magnus«, drängte Axel im Ton äußerster Besorgnis. »Nimm die Hände hoch und bilde dir um Gottes willen nicht ein, daß du ein großer Cowboy oder ein Kriegsheld bist. Keiner von uns beiden gehört zur Klasse der Schießwütigen. Wir legen schön brav unseren Revolver ab und unterhalten uns gemütlich. Sei vernünftig. Bitte.«
***
Es bedürfte unseres Schöpfers höchstpersönlich, Tom, und unserer aller Mithilfe, um die Gedanken zu beschreiben, die Pym in diesem Augenblick durch den armen Kopf schwirrten. Seine erste Reaktion war sicherlich Unglauben. Er war Axel in den letzten vier Jahren sooft begegnet, daß dies nur eine weitere Erscheinung sein konnte. Axel, der ihn im Schlaf beobachtete – Axel, der mit der Baskenmütze auf dem Kopf an seinem Bett stand – »schauen wir uns nochmals Thomas Mann an«. Axel, der ihn wegen seines Hanges zum Althochdeutschen auslachte und ihn wegen seiner schlechten Gewohnheit schalt, es allen recht machen zu wollen: den Oxforder Kommunisten, allen Frauen, den Jacks und Michaels und Rick. »Du bist ein hirnrissiger Narr, Sir Magnus«, hatte er einst gewarnt, als Pym nach einer besonders gelungenen Nacht, in der er mit Mädchen und sozialen Aussteigern sein Spiel getrieben hatte, in seine Dachstube zurückkam. »Du glaubst, wenn du alles teilst, kommst du dazwischen durch.« Axel war neben ihm den Treidelpfad an der Isis entlanggehinkt und hatte zugesehen, wie er sich die Fingerknöchel an der Mauer wundriß, um Jemima zu imponieren. Pym hätte nicht sagen können, wie oft während der Wahlkampagne Axels glänzende weiße Stirn unter den Zuhörern hochgefahren war oder seine langen, nervösen Hände sarkastischen Applaus gespendet hatten. Da Axel so sehr in Pyms Bewußtsein lebte, war Pym absolut sicher, daß es Axel nicht gab. Und bei dieser Sicherheit in seinem Kopf konnte seine nächste Reaktion vernünftigerweise nur unverblümte Empörung darüber sein, daß jemand, der so absolut verboten war, jemand, der buchstäblich, aus welchen Gründen auch immer, außer Sicht- und Hörweite über die Grenzen von Pyms Reich verbannt worden war, sich erdreisten sollte, hier zu sitzen, zu rauchen, zu lächeln und mit der Pistole auf ihn zu zielen – auf mich, Pym, ein kugelsicheres, koitierendes, mit übernatürlichen Kräften begabtes Mitglied der britischen Besatzungskräfte. Und danach war Pym natürlich, paradox wie immer, hingerissener, begeisterter und glücklicher, Axel zu sehen, als sonst jemanden seit dem Tag, an dem Rick mit dem Fahrrad um die Ecke bog und Underneath the Arches sang.
Pym ging und rannte dann auf Axel zu. Er hielt die Hände über den Kopf, wie Axel es ihm befohlen hatte. Er wartete ungeduldig, während Axel ihm den Army-Revolver aus dem Hosenbund fischte und ihn zusammen mit seinem eigenen respektvoll an das entferntere Ende des Tisches legte. Dann ließ er endlich seine Arme weit genug sinken, um sie Axel um den Nacken schlingen zu können. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie sich jemals zuvor umarmt hatten oder es später wieder taten. Doch ich erinnere mich an diesen Abend als an das letzte kindliche Gefühl zwischen ihnen, den letzten Tag von Bern, denn ich sehe sie in slawischer Manier Brust an Brust lachen und sich aneinander drücken, bevor sie sich auf Armlänge halten, um festzustellen, was die Jahre der Trennung ihnen jeweils angetan haben. Und Fotos aus jener Zeit sowie meine eigenen Erinnerungen an mein Bild im Spiegel, der bei den Selbstbetrachtungen des jungen Offiziers immer noch eine große Rolle spielte, lassen vermuten, daß Axel die typischen, glatten angelsächsischen Züge eines gutaussehenden blonden Jungen sah, der sich nach Kräften bemüht, die Rüstung der Erfahrung anzulegen, während Pym in Axels Gesicht sofort eine Verhärtung, eine Aushöhlung feststellte, eine Prägung, die endgültig war. Axel würde für den Rest seiner Tage so aussehen. Das Leben hatte ihn gezeichnet. Er besaß nun das männliche, menschliche Gesicht, das er verdiente. Alle weichen Konturen waren verschwunden und hatten einer scharf profilierten Ungezwungenheit und Sicherheit Platz gemacht. Sein Haaransatz war zurückgewichen, aber auch fester geworden. Streifen von Grau mischten sich unter das Schwarz und verliehen ihm ein erfahrenes und militärisches Aussehen. Der clownartige Schnurrbart, die clownartigen, hochgewölbten Brauen schienen trauriger gestimmt. Doch seine glänzenden schwarzen Augen schauten unter den matten Lidern so fröhlich wie immer hervor, während die zunehmende Tiefe der Höhlen auch die Tiefe ihrer Wahrnehmung geschärft zu haben schien.
»Du siehst gut aus, Sir Magnus«, erklärte Axel überschwenglich, ohne ihn loszulassen. »Mein Gott, was für ein hübscher Bursche. Wir sollten dir einen Schimmel kaufen und Indien schenken.«
»Aber wer bist du?« rief Pym gleichfalls jubelnd. »Wo bist du? – Was tust du hier? – Soll ich dich verhaften?«
»Vielleicht verhafte ich dich. Vielleicht habe ich dich schon verhaftet. Du hast die Hände hochgehalten oder nicht? Schau. Wir sind hier im Niemandsland. Wir können uns gegenseitig verhaften.«
»Du bist verhaftet«, sagte Pym.
»Du auch«, sagte Axel. »Wie geht’s Sabina?«
»Gut«, sagte Pym grinsend.
»Sie weiß von nichts, kapiert? Nur was ihr Bruder ihr gesagt hat. Wirst du sie schützen?«
»Ich verspreche es dir«, sagte Pym.
Eine kleine Pause folgte, während Axel so tat, als halte er sich die Ohren zu. »Versprich nichts, Sir Magnus. Nur nichts versprechen.«
Für jemand, der über die Grenze gekommen war, sah Axel nicht schlecht aus, bemerkte Pym: keine Spur von Schmutz an seinen Stiefeln, seine Kleider waren gebügelt und geschniegelt. Axel ließ Pym los, griff nach einer Tasche, ließ sie auf den Tisch fallen und nahm ein Paar Gläser und eine Flasche Wodka heraus. Dann Essiggurken, eine Wurst und einen Laib von dem Schwarzbrot, das Pym in Bern immer für ihn hatte holen müssen. Sie tranken einander feierlich zu, so wie Axel es ihn gelehrt hatte. Dann füllten sie ihre Gläser nach, ließen sich gegenseitig immer wieder hochleben. Und als sie sich trennten, war die Flasche leer, denn ich erinnere mich, daß Axel sie zur großen Entrüstung von ungefähr tausend Teichhühnern in den See warf. Doch in seiner Erregung hätte Pym eine Kiste von diesem Zeug trinken können, ohne etwas zu spüren. Selbst als sie zu sprechen begannen, ließ Pym immer wieder heimlich die Augen schweifen, um sicherzugehen, daß alles so war, wie er es zuletzt gesehen hatte, auf so märchenhafte Weise glich die Hütte zuweilen dem Berner Dachgeschoß, bis hin zu dem weichen Wind, der immer durch die Luken gestrichen war. Und als er in der Ferne den Fuchs wieder hörte, da war es Bastl, der nach dem Verschwinden des nächtlichen Spuks auf der Holztreppe bellte. Nur daß, wie gesagt, diese sentimentalen Tage vorbei waren, Magnus hatte ihnen den Garaus gemacht; ihre Freundschaft war erwachsen geworden.
***
Wenn zwei alte Freunde sich wiedertreffen, Tom, dann ist vom eigentlichen Grund ihres Wiedersehens erst als letztes die Rede. Als Einleitung geben sie über die inzwischen vergangenen Jahre einen Rechenschaftsbericht, der das, worüber immer sie nun sprechen wollen, in gewisser Weise begründet. Und genau das taten Pym und Axel. Doch jetzt, wo du damit vertraut bist, wie Pyms Verstand arbeitet, wird es dich nicht wundern, daß Pym dabei das Wort führte und nicht Axel, und sei es auch nur, weil er sich selbst sowie Axel seine völlige Schuldlosigkeit an dem heiklen Problem von Axels Verschwinden beweisen wollte. Er machte seine Sache gut. Er war damals ein glänzender Darsteller.
»Ehrlich, Axel, niemand ist je so abrupt aus meinem Leben verschwunden«, beklagte er sich in scherzhaft vorwurfsvollem Ton, als er die Wurst aufschnitt, Butter aufs Brot strich und sich ganz allgemein mit dem beschäftigte, was die Schauspieler Bühnenspiel nennen. »Du warst am Abend sicher in deinem Bett verpackt. Wir haben uns ein bißchen betrunken, einander gute Nacht gesagt. Am nächsten Morgen hab ich an unsere Wand gehämmert, keine Antwort. Ich geh die Treppe hinunter und treffe auf die arme Frau O, die sich die Seele aus dem Leib heult. ›Wo ist Axel? Sie haben unseren Axel weggeholt! Die Fremdenpolizei hat ihn die Treppe heruntergeführt und einer hat Herrn Bastl einen Tritt gegeben.‹ Nach allem, was sie sagten, muß ich wie ein Toter geschlafen haben.«
Axel lächelte sein altes warmes Lächeln. »Wenn wir nur wüßten, wie die Toten schlafen«, sagte er.
»Wir hielten eine Art Totenwache, blieben zu Hause, in der vagen Hoffnung, daß du zurückkommen würdest. Herr Ollinger machte ein paar Anrufe, die natürlich zu nichts führten. Frau O erinnerte sich, daß sie in einem der Ministerien einen Bruder hatte, aber der erwies sich als Niete. Schließlich dachte ich, ›zum Teufel, was haben wir schon zu verlieren‹? Ich bin also selber zur Fremdenpolizei gegangen. Mit dem Paß in der Hand. ›Mein Freund wird vermißt. Ein paar Männer haben ihn heute früh am Morgen aus dem Haus verschleppt, sagten, sie kämen von Ihnen. Wo ist er?‹ Ich hab auf den Tisch geschlagen und nichts erreicht. Zwei ziemlich schaurige Gentlemen in Regenmänteln haben mich in ein anderes Zimmer geführt und gesagt, wenn ich weiter so Krach machte, würde mir das gleiche passieren.«
»Das war tapfer von dir, Sir Magnus«, sagte Axel. Mit einer bleichen Hand schlug er Pym leicht auf die Schulter, um ihm zu danken.
»Nein, war es nicht. Nicht wirklich. Schließlich hatte ich ja eine Stelle, wo ich hingehen konnte. Ich war Brite und besaß Rechte.«
»Sicher. Und du kanntest Leute an der Botschaft. Das stimmt auch.«
»Und die hätten mir auch geholfen. Das heißt, sie haben’s versucht. Als ich zu ihnen ging.«
»Das hast du getan?«
»Klar. Später natürlich. Nicht gleich. Als letzten Ausweg. Sie haben’s probiert. – Wie dem auch sei, ich bin in die Länggasse zurückgekehrt und, ehrlich gesagt, wir haben dich begraben. Es war schrecklich. Frau O war oben in deinem Zimmer und versuchte, immer noch heulend und ohne richtig hinzusehen, alles auszusortieren, was du zurückgelassen hattest. Was nicht viel war. Die Fremdenpolizei hatte anscheinend die meisten deiner Papiere mitgehen lassen. Ich hab deine Bibliotheksbücher zurückgebracht. Deine Schallplatten. Wir haben deine Kleider in den Keller gehängt. Dann sind wir ums Haus gezogen, wie nach einem Luftangriff. ›Daß so etwas in der Schweiz passieren kann‹, haben wir immer wieder gesagt. Wirklich, wie bei einer Beerdigung.«
Axel lachte. »Wie nett von euch, wenigstens um mich zu trauern. Danke, Sir Magnus. Habt ihr auch eine Totenmesse abgehalten?«
»Ohne Leiche und Nachsendeadresse? Frau O wollte nur eines, nämlich den Schuldigen finden. Sie war überzeugt, daß man dich denunziert hatte.«
»Wen hatte sie im Verdacht?«
»Abwechselnd wirklich jeden. Die Nachbarn. Die Geschäftsleute. Vielleicht irgend jemand aus dem Cosmo. Eine der Marthas.«
»Für welche hat sie sich entschieden?«
Pym wählte die Hübscheste und zog die Stirne kraus. »Da war doch eine langbeinige Blonde, die Englisch studierte.«
»Isabella? Isabella und mich denunzieren?« sagte Axel ungläubig. »Aber sie war in mich verliebt, Sir Magnus. Warum sollte sie es tun?«
»Vielleicht gerade darum«, sagte Pym kühn. »Sie ist ein paar Tage nach deinem Verschwinden vorbeigekommen, verstehst du. Hat nach dir gefragt. Ich hab ihr berichtet, was passiert war. Sie schrie und weinte und sagte, sie würde sich umbringen. Als ich Frau O davon erzählte, sagte sie sofort: ›Isabella war’s. Sie ist eifersüchtig auf seine anderen Frauen gewesen, also hat sie ihn hingehängt.‹«
»Was hast du davon gehalten?«
»Schien mir ein bißchen weit hergeholt, aber das war alles andere auch. Doch, Isabella kann es getan haben. Sie ist mir ehrlich gesagt manchmal ein bißchen verrückt vorgekommen. Ich könnte mir ganz gut vorstellen, daß sie irgend etwas Schreckliches aus Eifersucht tun würde – impulsiv, verstehst du – und sich dann einreden, daß sie es eigentlich nicht getan hatte. Eine Art Syndrom, nicht wahr, bei Eifersüchtigen.«
Axel ließ sich Zeit mit der Antwort. Für einen Überläufer, der unter heftigen Seelenqualen seine Bedingungen aushandelt, schien er Pym bemerkenswert entspannt. »Ich weiß nicht, Sir Magnus. Manchmal bin ich nicht so phantasiebegabt wie du. Hast du noch irgendwelche anderen Theorien?«
»Eigentlich nicht. Es gab so viele Möglichkeiten.«
In der Stille der Nacht füllte Axel breit lächelnd ihre Gläser. »Ihr habt euch anscheinend mehr Gedanken drüber gemacht als ich«, gestand er. »Ich bin sehr gerührt.« Er drehte lässig auf slawische Art die Handflächen nach oben. »Hör zu. Ich war illegal. Ich war ein Stromer. Kein Geld. Keine Papiere. Auf der Flucht. Also haben sie mich geschnappt und rausgeworfen. Das tut man mit Illegalen. Ein Fisch kriegt einen Haken ins Maul. Ein Verräter eine Kugel in den Kopf. Ein Illegaler wird über die Grenze abgeschoben. Zieh die Stirn nicht so kraus. Es ist vorbei. Was macht es schon aus, wer es war? Auf das Morgen!«
»Morgen«, sagte Pym, und sie tranken. »Sag mal, was ist übrigens aus dem großen Buch geworden?« fragte er in der heimlichen Euphorie seiner Absolution.
Axel lachte lauter. »Geworden? Mein Gott, es ist futsch. Vierhundert Seiten unsterblichen Philosophierens, Sir Magnus. Stell dir vor, wie die Fremdenpolizei da durchgewatet ist.«
»Du willst sagen, sie haben es behalten – gestohlen? – das ist unerhört.«
»Vielleicht war es nicht höflich genug gegenüber den guten Schweizer Bürgern.«
»Aber du hast es seitdem neu geschrieben?«
Nichts konnte sein Lachen unterdrücken: »Neu geschrieben? Es wäre beim nächsten Mal doppelt so schlecht geworden. Wir begraben es besser zusammen mit Axel H. Hast du noch den Simplicissimus? Du hast ihn doch nicht verkauft?«
»Natürlich nicht.«
Eine Pause trat ein. Axel lächelte Pym zu. Pym lächelte seine Hände an, dann blickte er zu Axel auf.
»Hier sind wir also nun, wir beide«, sagte Pym.
»Du sagst es.«
»Ich bin Oberleutnant Pym, und du bist Jans intelligenter Freund.«
»Du sagst es«, pflichtete Axel immer noch lächelnd bei.
***
Nachdem er so, nach eigener Einschätzung, kunstvoll um die eine Mißlichkeit herumgekommen war, die zwischen ihnen hätte stehen können, pirschte das nachrichtendienstliche Raubtier in Pym sich nun geschmeidig an die entscheidende Frage heran, was denn aus Axel seit seinem Hinauswurf geworden war und in welchen Kreisen er sich bewegt hatte, um, so hoffte Pym, allmählich herauszubekommen, welche Trümpfe er besaß und welcher Preis als Belohnung dafür zu bezahlen war, wenn er sie eher den Briten anbot als den Amerikanern, oder gar – schrecklicher Gedanke – den Franzosen. Dabei stieß er zunächst auf eine nicht unerfreuliche Hemmung bei Axel, denn Axel schien, wohl aus Achtung vor Pyms Rang, sich mit der passiven Rolle abzufinden. Auch konnte es Pym nicht entgehen, daß sein alter Freund bei der Berichterstattung über sich selbst die bekannte Demutshaltung eines Vertriebenen gegenüber Höhergestellten einnahm. Die Schweizer hätten ihn über die deutsche Grenze in die amerikanische Besatzungszone gebracht, sagte er – und erwähnte als Anhaltspunkt den Grenzübergang, für den Fall, daß Pym nachprüfen wollte. Sie hätten ihn der westdeutschen Polizei übergeben, die ihn nach der rituellen Abreibung an die Amerikaner weiterreichte, wo ihm die nächste Abreibung zuteil wurde, zuerst, weil er ausgebrochen, dann natürlich weil er zurückgekommen und schließlich weil er laut dem Ausweis, den er sich unklugerweise zugelegt hatte, ein abgefeimter Kriegsverbrecher war. Die Amerikaner steckten ihn ins Gefängnis, während sie eine neue Anklage gegen ihn vorbereiteten, brachten neue Zeugen ins Spiel, die zuviel Angst hatten, um ihn nicht zu identifizieren, setzten ein Datum für seinen Prozeß fest, und Axel konnte noch immer niemanden erreichen, der für ihn gebürgt oder gesagt hätte, daß er nur Axel aus Karlsbad sei und kein Nazi-Monster. Schlimmer noch, da die Beweise zusehends dünner aussahen – sagte Axel mit entschuldigendem Lächeln –, wurde sein eigenes Geständnis immer wichtiger, so daß sie ihm heftiger zusetzten, um es aus ihm herauszuprügeln. Doch es gab keinen Prozeß. Kriegsverbrechen kamen, selbst wenn sie fiktiv waren, aus der Mode, und so hatten ihn die Amerikaner eines Tages in einen weiteren Zug gesteckt und ihn den Tschechen übergeben, die, um nicht zurückzustehen, ihn für das doppelte Verbrechen, im Krieg ein deutscher Soldat und danach ein amerikanischer Gefangener gewesen zu sein, doppelt verprügelten.
»Dann, eines Tages, haben sie aufgehört, mich zu verprügeln und mich laufenlassen«, sagte er lächelnd und hob wieder die Hände. »Dafür habe ich anscheinend meinem lieben toten Vater zu danken. Du erinnerst dich doch an den großen Sozialisten, der im Bataillon Thälmann in Spanien gekämpft hat.«
»Natürlich erinnere ich mich«, sagte Pym, dem bei der Beobachtung von Axels rasch gestikulierenden Händen und blitzenden dunklen Augen der Gedanke kam, daß Axel das Deutsche in sich abgelegt und das Slawische für immer angelegt hatte. »Ich war ein Aristokrat geworden«, sagte er. »In der neuen Tschechoslowakei war ich plötzlich Sir Axel. Die alten Sozialisten hatten meinen Vater geliebt. Die neuen waren mit mir zur Schule gegangen und bereits Partei-Apparatschiks geworden. ›Warum verprügelt ihr Sir Axel?‹ fragten sie meine Wärter. Er hat einen guten Verstand, hört auf, ihn zu schlagen und laßt ihn frei. Schön, er hat für Hitler gekämpft. Es tut ihm leid. Jetzt wird er für uns kämpfen, nicht wahr, Axel?‹ – ›Klar‹, sagte ich. ›Warum nicht.‹ Also haben sie mich auf die Universität geschickt.«
»Aber was hast du studiert?« fragte Pym verblüfft. »Thomas Mann? Nietzsche?«
»Besseres. Wie man die Partei benützt, um vorwärts zu kommen. Wie man in der Jugendvereinigung aufsteigt. In den Komitees glänzt. Die Fakultäten und die Studentenschaft säubert, auf dem Rücken von Freunden und dem Ruf seines Vaters höher klettert. Wen hinten reintreten und wem reinkriechen. Wo man zuviel reden oder die Klappe halten muß. Vielleicht hätte ich das eher lernen sollen.«
Pym, der sich dem Herz der Dinge nahe fühlte, fragte sich, ob er sich nicht Notizen machen sollte, beschloß dann aber, Axels Redefluß nicht zu gefährden.
»Jemand hatte neulich den Nerv, mich einen Titoisten zu nennen«, sagte Axel. »Seit neunundvierzig ist das die schwerste Beleidigung.« – Pym fragte sich insgeheim, ob Axel nicht deswegen rübergekommen war. – »Weißt du, was ich getan hab?«
»Was?«
»Ich hab ihn denunziert.«
»Nein! Weswegen?«
»Weiß ich nicht. Irgend etwas Schlimmes. Nicht was man sagt, ist wichtig, sondern wem man’s sagt. Müßtest du eigentlich wissen. Du bist doch, wie man hört, ein großer Spion. Sir Magnus vom britischen Geheimdienst. Gratuliere. Steht Gefreiter Kaufmann immer noch da draußen? Vielleicht solltest du ihm etwas bringen?«
»Ich kümmere mich später um ihn, danke!«
Eine Pause trat ein, während jeder auf seine Art die Auswirkung dieser disziplinarischen Maßnahme genoß. Sie tranken einander zu, schüttelten die Köpfe über soviel Glück. Doch innerlich war Pym weniger behaglich zumute, als es nach außen hin schien. Er hatte das Gefühl, daß ihm Grundmuster und komplizierte Untertöne entgingen.
»Was hast du in den letzten Tagen so getan?« fragte er in dem Bemühen, wieder Oberwasser zu bekommen. »Wie ist es möglich, daß ein Gefreiter aus dem Oberkommando durch die Sowjetzone Österreichs fährt und seinen Frontwechsel plant?«
Axel zündete sich eine neue Zigarre an, so daß Pym einen Augenblick auf die Antwort warten mußte.
»Ein Gefreiter, das weiß ich nicht. In meiner Einheit haben wir nur Aristos. Wie du bin auch ich ein großer Spion, Sir Magnus. Spionage hat heutzutage Hochkonjunktur, wie du bemerkt haben dürftest. Wir haben die richtige Wahl getroffen.«
Pym, der plötzlich das Bedürfnis hatte, etwas für sein äußeres Erscheinungsbild zu tun, strich sich das Haar mit einer einstudierten nachdenklichen Bewegung glatt. »Aber du willst doch immer noch zu uns herüberkommen – vorausgesetzt natürlich, daß wir dir die richtigen Bedingungen bieten können?« fragte er mit kantiger Höflichkeit.
Axel wischte eine derart stupide Idee beiseite. »Ich hab mich entschieden, genau wie du. Es ist zwar nicht vollkommen, aber es ist mein Land. Ich habe meine letzte Grenze überschritten. Sie müssen sich mit mir abfinden.«
Pym hatte das Gefühl eines gefährlichen Bruchs. »Warum bist du dann hier – wenn du kein Überläufer bist –, wenn ich fragen darf?«
»Ich hab von dir gehört. Der große Oberleutnant Pym, von der Div Int, seit kurzem in Graz. Sprachforscher. Held. Liebhaber. Wie aufregend zu denken, daß du mich ausspionierst. Und daß ich dich ausspioniere. Wie schön, sich vorzustellen, wir seien wieder zusammen in unserem Dachgeschoß, nur diese dünne Wand zwischen uns – klopf, klopf! Ich dachte, ich muß mich mit diesem Burschen wieder in Verbindung setzen. Ihm die Hand schütteln. Ihm einen Drink spendieren. Vielleicht können wir die Welt wieder in Ordnung bringen, wie in den alten Tagen.«
»Verstehe«, sagte Pym. »Großartig.«
»Vielleicht können wir uns zusammentun. Wir sind vernünftige Menschen. Vielleicht will er keine weiteren Kriege mehr führen. Vielleicht will ich das auch nicht mehr. Vielleicht haben wir es satt, Helden zu sein. ›Gute Männer sind selten‹, dachte ich. ›Wieviele Leute in der Welt haben Thomas Mann die Hand geschüttelt?‹«
»Nur ich«, sagte Pym in einem echten Lachausbruch, und sie tranken wieder.
»Ich bin dir soviel Dank schuldig, Sir Magnus. Du warst so großmütig. Niemand hatte je ein besseres Herz. Ich hab dich angeschrien, dich verflucht. Was hast du getan? Mir den Kopf gehalten, wenn ich kotzte. Mir Tee gekocht, die Kotze und die Scheiße abgeputzt, Bücher geholt – hin zur Bibliothek, zurück von der Bibliothek –, mir nächtelang vorgelesen. ›Ich bin in der Schuld dieses Mannes‹, dachte ich. ›Ich muß dafür sorgen, daß er in seiner Karriere ein paar Schritte weiterkommt. Etwas tun, das mich schmerzt. Wenn ich dazu beitragen kann, ihm eine einflußreiche Stellung in der Welt zu verschaffen, ist das etwas Seltenes, wäre das schon gut. Für die Welt und für ihn. Nicht viele gute Männer erreichen heutzutage eine einflußreiche Stellung. Ich werd mir also einen kleinen Dreh ausdenken und mich aufmachen und ihn treffen. Und ihm die Hand schütteln. Und sagen, ich danke dir, Sir Magnus. Und ihm ein Geschenk mitbringen, um meine Schuld ihm gegenüber abzutragen und ihm in seiner Karriere zu helfen‹, hab ich mir gedacht. Denn ich liebe diesen Mann, hörst du?«
Er hatte keinen mit bunten Päckchen gefüllten Strohhut mitgebracht, doch aus der Tasche an seiner Seite zog er einen Hefter und reichte ihn Pym über den Tisch.
»Du hast einen großen Coup gelandet, Sir Magnus«, erklärte er stolz, als Pym den Deckel aufschlug. »Hab dafür viel herumspionieren und einen Haufen Gefahren auf mich nehmen müssen. Egal. Ich glaube, es ist noch besser als Grimmelshausen. Wenn sie mir je auf die Schliche kommen, bin ich geliefert.«
***
Pym schließt die Augen und öffnet sie wieder, aber es ist dieselbe Nacht und dieselbe Hütte. »Ich bin ein kleiner, fetter tschechischer Gefreiter, der seinen Wodka liebt«, erklärt Axel, während Pym wie im Traum Seite um Seite seines Geschenks umblättert. »Ich bin ein braver Soldat Schwejk. Haben wir das Buch gelesen? Mein Name ist Pavel. Hörst du? Pavel.«
»Natürlich haben wir es gelesen. Es war großartig. Ist das echt, Axel? Kein Scherz oder so?«
»Glaubst du, daß der fette Pavel ein derartiges Risiko eingeht, um dir einen Scherzartikel zu bringen? Er hat eine Frau, die ihn schlägt, Kinder, die ihn hassen, russische Bosse, die ihn schlimmer als einen Hund behandeln. Hörst du zu?«
Mit der Hälfte seines Kopfes hört Pym zu, jawohl. Er liest auch.
»Dein guter Freund Axel H. existiert nicht. Du hast ihn heute nacht nicht getroffen. Sicher, in Bern hast du vor langer Zeit einen kränklichen deutschen Soldaten kennengelernt, der an einem großen Buch schrieb und dessen Name vielleicht Axel war, aber was ist ein Name? Axel ist verschwunden. Irgendein übler Bursche hat ihn denunziert, du hast nie erfahren, was passiert ist. Heute abend triffst du den fetten Gefreiten Pavel von der tschechischen Abwehr, der gerne Knoblauch ißt, vögelt und seine Vorgesetzten verrät. Er spricht tschechisch und deutsch, und die Russen benützen ihn als Aufpasser, weil sie den Österreichern nicht trauen. Die eine Woche hängt er in ihrem Hauptquartier in Wiener Neustadt herum und spielt den Laufburschen und den Dolmetscher, die nächste friert er sich an der Zonengrenze bei der Ausschau nach kleinen Spionen den Arsch ab. Die Woche darauf ist er zurück an seinem Standort in der südlichen Tschechei, wo ihn die Russen wieder herumstoßen.« Axel klapst Pym leicht auf den Arm. »Kapiert? Hör zu. Hier ist eine Kopie seines Soldbuchs. Schau es dir an, Sir Magnus. Konzentrier dich. Er hat es für dich mitgebracht, denn er kann von niemandem erwarten, daß man ihm glaubt, was er sagt, wenn er keine Unterlagen dafür hat. Papiere. Genau das, was ich in Bern nicht hatte. Nimm es mit. Zeig es Membury.«
Widerstrebend reißt Pym sich von seiner Lektüre los und wirft einen raschen Blick auf den Stoß Glanzpapier, den Axel hochhält, daß Pym ihn bewundern kann. Fotokopien waren damals eine schwierige Sache: Plattenabzüge, mit Schnürsenkeln zu einem Loseblattheft gebunden. Axel drückt es Pym in die Hand und zwingt ihn, von seiner Kladde aufzublicken und das Bild des Soldbuchinhabers zu studieren: ein kleiner, schweinsköpfiger schlecht rasierter Mann mit verquollenen Augen und Schmollmund.
»Das bin ich, Sir Magnus«, sagt Axel und schlägt Pym auf die Schulter, um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, genau wie er es immer in Bern getan hatte. »Schau ihn dir gründlich an! Er ist ein gieriger, schmuddliger Bursche. Dauernd furzt er, kratzt sich am Kopf und stiehlt die Hühner seines Kommandanten. Aber er hat es nicht gern, daß sein Land von einem Haufen schwitzender Iwans besetzt ist, die in den Straßen von Prag herumstolzieren und ihn einen kleinen stinkenden Tschechen schimpfen, oder daß man ihn mir nichts dir nichts zur Verlustierung einer Kohorte betrunkener Kosaken nach Österreich abkommandiert. Er ist also auch tapfer, verstanden? Er ist ein tapferer, kleiner, schmieriger Feigling.«
Pym hält wieder in seiner Lektüre inne, diesmal um eine bürokratische Klage anzubringen, deren er sich später einigermaßen schämen wird. »Das ist ja alles gut und schön, Axel, ein reizender Zeitgenosse, den du da erfunden hast, aber was soll ich damit anfangen?« quengelt er. »Ich soll einen Überläufer vorweisen und kein Soldbuch. In Graz wollen sie einen warmen Körper haben. Und den krieg ich nicht, oder?«
»Du Idiot!« schreit Axel, als ärgere er sich über Pyms Begriffstutzigkeit. »Du englisches Unschuldslämmchen! Hast du noch nie etwas von einem Überläufer vor Ort gehört? Pavel ist ein Überläufer. Er läuft über, aber er bleibt, wo er ist. In drei Wochen kommt er wieder hierher und bringt dir weiteres Material. Er läuft nicht nur einmal über, sondern, wenn du vernünftig bist, zwanzigmal, hundertmal. Er ist ein Schreibstubenhengst bei der Abwehr, Kurier, Schmalspur-Außenmann, Mädchen für alles, Chiffrier-Gefreiter und Zuhälter. Er hat also zu allem Zugang, kapierst du nicht, was das bedeutet? Er wird dir immer wieder herrliches Geheimmaterial bringen. Seine Freunde im Grenzschutz helfen ihm beim Übergang. Zu unserem nächsten Treffen bringst du die Fragen mit, die Wien stellen will. Du wirst der Angelpunkt einer phantastischen Betriebsamkeit. ›Können Sie uns dieses besorgen, Pavel? Was heißt jenes, Pavel?‹ Wenn du höflich zu ihm bist, wenn du allein kommst, ihm ein hübsches Geschenk bringst, dann wird er die Fragen vielleicht beantworten.«
»Und wirst du das sein – werde ich dich treffen?«
»Du wirst Pavel treffen.«
»Und wirst du Pavel sein?«
»Sir Magnus. Hör zu.« Axel schiebt die Tasche beiseite, die zwischen ihnen liegt, knallt sein Glas neben Pyms Glas, rückt seinen Stuhl so nahe, daß seine Schulter an Pyms Schulter und sein Mund an Pyms Ohr ist. »Paßt du jetzt sehr, sehr gut auf?«
»Natürlich.«
»Du bist nämlich, glaube ich, so phantastisch blöd, daß du dich am besten überhaupt nicht auf dieses Spiel einlassen solltest. Hör zu.« Pym grinst genau wie damals, als Axel nicht müde wurde zu erklären, Pym sei ein Trottel, weil er Kant nicht verstand. »Was Axel heute nacht für dich tut, kann er in seinem ganzen Leben nicht wieder rückgängig machen. Ich riskiere Kopf und Kragen für dich. Wie Sabina dir ihren Bruder ausgeliefert hat, so liefert Axel dir Axel aus. Oder erkennst du in deiner Scheißblödheit nicht, daß ich meine Zukunft in deine Hände lege?«
»Ich will sie nicht, Axel. Ich möchte sie dir lieber zurückgeben.«
»Zu spät. Ich habe die Papiere gestohlen, ich bin herübergekommen, du hast sie gesehen, du weißt, was sie enthalten. Die Büchse der Pandora kann man nicht wieder schließen. Dein netter Major Membury – diese schlauen Aristos der Div Int –, keiner von ihnen hat je eine solche Information gesehen. Kannst du mir folgen?«
Pym nickt, Pym schüttelt den Kopf. Pym runzelt die Stirn, lächelt und versucht auf jede ihm mögliche Weise, wie der markige und männliche Hüter von Axels Schicksal auszusehen. »Dafür mußt du mir eins schwören. Ich hab vorhin gesagt, du sollst nichts versprechen. Jetzt sage ich, du mußt etwas versprechen. Du mußt mir, Axel, Treue versprechen. Der Gefreite Pavel, das ist etwas anderes. Den Gefreiten Pavel kannst du verraten und erfinden soviel du willst, er ist ohnehin eine Erfindung. Doch ich, Axel – dieser Axel hier – schau mich an –, Ich existiere nicht. Weder für Membury noch für Sabina, nicht einmal für dich selber. Selbst wenn du einsam bist und dich langweilst und wenn du jemand beeindrucken willst oder jemand kaufen oder verkaufen, ich bin keine Figur in deinem Spiel. Wenn deine eigenen Leute dich bedrohen, wenn sie dich foltern, mußt du mich immer noch verleugnen. Wenn sie dich in fünfzig Jahren ans Kreuz schlagen, wirst du dann für mich lügen? Antworte.«
Pym wundert sich, daß er nun, nachdem er Axels Existenz so lange und energisch geleugnet hat, versprechen soll, sie noch länger zu leugnen. Und er findet, es sei wirklich eine große Seltenheit, daß man ein zweites Mal die Chance erhält, seine Loyalität zu beweisen, nachdem man beim ersten Versuch so jämmerlich versagt hat.
»Ja«, sagt Pym.
»Was, ja?«
»Ich werde dich geheimhalten. Ich werde dich in mein Gedächtnis sperren und dir den Schlüssel geben.«
»Für immer. Sabinas Bruder Jan auch?«
»Für immer. Jan auch. Das ist ja die ganze sowjetische Truppenaufstellung in der Tschechoslowakei, die du mir da gegeben hast«, sagte Pym wie in Trance. »Wenn die Unterlagen echt sind.«
»Sie sind ein bißchen alt, aber ihr Briten wißt den Wert von Antiquitäten zu schätzen. Eure Karten in Wien und Graz sind älter. Und sie sind nicht so echt. Magst du Membury?«
»Ich glaube schon. Warum?«
»Ich auch. Interessierst du dich für Fische? Du hilfst ihm doch dabei, den See wieder mit Fischen zu besetzen?«
»Manchmal. Ja.«
»Eine wichtige Arbeit. Geh ihm zur Hand. Hilf ihm. Die Welt ist mies, Sir Magnus. Ein paar glückliche Fische können sie besser machen.«
Es war sechs Uhr morgens, als Pym die Hütte verließ. Kaufmann hatte sich schon seit langem im Jeep schlafen gelegt. Pym konnte seine Stiefel auf dem Heck sehen. Pym und Axel gingen zu dem weißen Stein, wobei Axel sich auf Pyms Arm stützte, wie früher bei ihren Spaziergängen an der Aare. Als sie den Stein erreicht hatten, bückte Axel sich, pflückte in dem reifen Korn eine Mohnblume und reichte sie Pym. Dann pflückte er noch eine für sich selber, besann sich aber anders und gab sie ebenfalls Pym.
»Da ist eine von mir und eine von dir, Sir Magnus. Von keinem von uns wird es je noch eine geben. Du bist der Hüter unserer Freundschaft. Grüße Sabina von mir. Sag ihr, Pavel schickt ihr einen Kuß, um ihr für ihre Hilfe zu danken.«
***
Ein Mann mit einer hochwertigen Quelle ist ein bewunderter und auch ein wohl traktierter Mann, Tom, wie Pym in den nächsten paar Wochen schnell entdeckte. Aus Wien angereiste, sehr hohe Offiziere führen ihn zum Abendessen aus, nur um die Aura seiner Persönlichkeit und Pyms große Leistung nachempfinden zu können. Auch Membury kommt mit, ein grinsender, hampelnder Caesar, der seinen Antonius zwergisch erscheinen läßt, sich am Ohr zupft, von Fischen träumt und die falschen Leute anlächelt. Andere, nicht so hohe, aber trotzdem wichtige Offiziere ändern über Nacht ihre Meinung von Pym und schicken ihm per Interzonenkurier anbiedernde Noten. »Marlene läßt Sie grüßen und Ihnen sagen, wie leid es ihr tut, daß Sie von Wien wegmußten, ohne sich von ihr verabschieden zu können. Einen Augenblick sah es so aus, als würde ich Ihr Vorgesetzter werden, doch das Schicksal hat anders entschieden. M. und ich hoffen, daß wir übernommen werden, sobald das Kriegsministerium grünes Licht gibt.« Er wird zu einer Kultfigur, und wer ihn kennt, darf sich zu den Insidern zählen: »Die phantastische Arbeit, die der junge Pym da leistet – wenn es nach mir ginge, bekäme er seinen dritten Stern, ob er nun Militär ist oder nicht.« – »Sie hätten London am Verwürfler hören sollen, sie spielen es bis zur Spitze hoch.« Auf allerhöchste Anordnung Londons hin erhält Pavel den Codenamen Greensleeves und Pym eine Beförderung. Sinnliche tschechische Dolmetscherinnen sind stolz auf ihn und bekunden auf raffinierte Art und Weise ihre lustvolle Anerkennung.
»Du darfst mir nie sagen, was passiert ist, prinzipiell«, befahl Sabina, während sie ihn zwischen ihren tiefen, traurigen Lippen halb zu Tode biß.
»Nie.«
»Er ist hübsch, Jans Freund? Er ist schön? Wie du? Ich würde ihn sofort lieben, ja?«
»Er ist groß und schön und sehr intelligent.«
»Auch sexy?«
»Sehr sexy.«
»Hommsexuell wie du?«
»Total.«
Diese Beschreibung erfüllt sie anscheinend mit tiefer und freudiger Genugtuung.
»Du bist ein sehr guter Mann, Magnus«, versicherte sie ihm. »Du hast guten Geschmack, wenn du diesen Mann so beschützt wie meinen Bruder.«
Es kam der Tag, an dem Gefreiter Pavel zum zweiten Mal auftreten sollte. Ganz wie Axel vorhergesagt hatte, war in Wien eine dichte Folge von Nachhakfragen zu Pavels erstem Angebot vorbereitet worden. Pym hatte sie in einem Stenoheft notiert und brachte sie mit. Er brachte auch Räucherlachsbrote und einen ausgezeichneten Sancerre von Membury mit. Dazu Zigaretten und Kaffee und P.X.-Pfefferminzschokolade und sonst noch alles, womit man nach Ansicht der gastronomischen Experten von Div Int den Wanst eines tapferen Überläufers vor Ort füllen konnte. Während sie Lachs aßen und Wodka tranken, klärten sie die anstehenden Fragen.
»Was hast du denn diesmal für mich?« fragte Pym vergnügt, als sich eine natürliche Pause in der Abwicklung ihrer Geschäfte ergab.
»Nichts«, antwortete Axel behaglich und schenkte sich Wodka nach. »Wir lassen sie ein bißchen darben. Das stärkt ihren Appetit für das nächste Mal.«
»Pavel hat eine Gewissenskrise«, berichtete Pym am nächsten Tag Membury, haargenau nach Axels Instruktionen. »Er hat Schwierigkeiten mit seiner Frau, und seine Tochter schläft mit einem nichtsnutzigen russischen Offizier, sooft Pavel nach Österreich geschickt wird. Ich habe ihn nicht gedrängt. Ich habe gesagt, wir seien da, und er könne uns vertrauen, und wir wollten nicht zusätzlich Druck auf ihn ausüben. Auf lange Sicht wird er uns sicher dankbar dafür sein. Aber ich habe ihm unsere Frage wegen der Panzerkonzentration östlich von Prag gestellt, und was er sagte, war interessant.«
Ein Colonel aus Wien war zu Besuch da. »Was hat er gesagt?« fragte der Colonel, der Pym gespannt gefolgt war.
»Er sagte, seiner Meinung nach sind sie zur Bewachung da.«
»Zur Bewachung wovon?«
»Waffen irgendwelcher Art. Möglicherweise Raketen.«
»Bleiben Sie in Kontakt mit ihm«, beschied der Colonel, während Membury die Backen aufblies und ganz wie der stolze Vater aussah, der er geworden war.
Bei ihrem dritten Treffen entschleierte die Quelle Greensleeves das Geheimnis der Panzerkonzentrationen und lieferte zudem eine komplette Aufstellung der sowjetischen Luftstreitkräfte in der Tschechoslowakei, Stand vom letzten November. Das heißt, eine fast komplette. Wien war auf alle Fälle von den Socken, und London genehmigte als Bezahlung zwei kleine Goldbarren, unter der Voraussetzung, daß die britische Punzierung vorher entfernt wurde, nach dem Motto, wir wissen von nichts! Der Gefreite Pavel wurde so als habgieriger Mann abgestempelt, zur allgemeinen Erleichterung von jedermanns Gewissen. In der Folge pendelte Pym einige Monate zwischen Axel und Membury hin und her wie ein Diener zweier Herren. Membury fragte sich, ob er nicht Greensleeves persönlich kennenlernen sollte. Wien schien das für eine gute Idee zu halten. Pym versuchte, eine Begegnung zu arrangieren, kam aber mit der traurigen Nachricht zurück, daß Greensleeves nur mit Pym verhandeln wolle. Membury fand sich damit ab.
Zudem war gerade Forellen-Laichzeit. Wien zitierte Pym herbei und bewirtete ihn. Obristen des Heeres, Kommodores der Luftstreitkräfte und Herrschaften der Kriegsmarine machten lautstark ihren Anspruch auf ihn geltend. Als sein eigentlicher Besitzer und Chef erwies sich jedoch Axel.
»Sir Magnus«, flüsterte Axel. »Etwas Schreckliches ist passiert.« Axels Lächeln hatte seine Strahlkraft verloren. Unter seinen gejagt blickenden Augen lagen tiefe Ringe. Pym hatte jede Menge P.X.-Delikatessen mitgebracht, doch Axel wies sie alle zurück. »Du mußt mir helfen, Sir Magnus«, sagte er und warf angstvolle Blicke auf die Hüttentüre. »Du bist meine einzige Hoffnung. Hilf mir, um Himmels willen. Weißt du, was sie mit Leuten wie mir tun? Schau mich nicht so an! Laß dir zur Abwechslung etwas einfallen! Jetzt bist du an der Reihe!«
***
Ich bin in diesem Augenblick in der Hütte, Tom, ich habe die letzten fünfunddreißig Jahre dort verbracht. Miss Dubbers getüpfelter Plafond hat den alten Dachsparren mit den kopfunter hängenden Fledermäusen Platz gemacht. Ich kann, während ich hier sitze, seinen Zigarrenrauch riechen und im Licht der Petroleumlampe die Löcher seiner dunklen Augen sehen, ihn Pyms Namen flüstern hören, wie der Invalide, der er gewesen war: hol mir Musik, hol mir Malerei, hol mir Brot, hol mir Staatsgeheimnisse. Aus seiner Stimme spricht jedoch kein Selbstmitleid, weder Flehen noch Bedauern. Das war nie Axels Art. Er fordert. Seine Stimme ist zwar manchmal leise, aber deswegen nicht weniger kraftvoll. Er ist souverän, wie immer. Er ist Axel, er ist der Gläubiger. Er hat Grenzen überschritten und ist verprügelt worden. Von mir selber halte ich überhaupt nichts. Ich habe es damals nicht getan, ich tue es heute nicht.
»Sie verhaften meine Freunde zu Hause, hörst du? Gestern morgen haben sie zwei von unserer Gruppe in Prag aus dem Bett gezerrt. Ein anderer ist auf dem Weg zur Arbeit verschwunden. Ich mußte ihnen von uns erzählen. Es ging nicht anders.«
Die Tragweite dieser Erklärung geht Pym erst nach einem Augenblick besorgt auf. Selbst dann klingt seine Stimme noch perplex: »Von uns? Von mir? Was hast du gesagt? Zu wem, Axel?«
»Keine Einzelheiten. Nur Allgemeines. Nichts Schlimmes. Nicht deinen Namen. Es ist alles in Ordnung, nur komplizierter, umständlicher. Ich bin schlauer gewesen als die anderen. Vielleicht ist es am Ende sogar besser.«
»Aber was hast du ihnen von uns erzählt?«
»Nichts. Hör zu. Ich bin weniger betroffen. Die anderen arbeiten in Fabriken, in Universitäten, sie haben keine Hintertür. Wenn sie gefoltert werden, erzählen sie die Wahrheit, und die Wahrheit bringt sie um. Ich aber bin ein großer Spion, ich habe eine starke Position, genau wie du. ›Sicher‹, sag ich zu ihnen, ›ich bin über die Grenze gegangen. Das ist mein Job. Ich beschaffe Nachrichten, das wißt ihr doch.‹ Ich spiele den Empörten, ich verlange, meinen vorgesetzten Offizier zu sprechen. Kein schlechter Kerl, dieser Offizier. Kein Hundertprozentiger, vielleicht ein Sechzigprozentiger. Aber er haßt die Iwans auch. ›Ich habe einen britischen Verräter an der Angel‹, sage ich zu ihm. ›Er ist ein großer Fisch. Ein Offizier in der Army. Ich habe es wegen der vielen Titoisten in unserer Organisation vor Ihnen geheimgehalten. Schaffen Sie mir die Geheimpolizei vom Hals, und Sie können sein Produkt mit mir teilen, wenn ich ihm erst mal die Daumenschrauben ansetze.«
Pym hat inzwischen die Sprache verloren. Er fragt sich nicht, was der vorgesetzte Offizier darauf geantwortet hat oder wie weit Axels wirkliches Leben mit dem fiktiven Leben des Gefreiten Pavel verglichen werden kann. Er leidet an galoppierendem Zellenschwund, im Kopf, in den Leisten, im Knochenmark. Sabina ist so weit entrückt wie eine Kindheitserinnerung. Es gibt auf der Welt nur noch Pym und Axel und Unglück. Während er zuhört, wird er zum Greis. Die Unwissenheit ganzer Zeitalter senkt sich auf ihn.
»Er sagt, ich muß ihm Beweise bringen«, sagt Axel zum zweiten Mal.
»Beweise?« murmelt Pym. »Was für Beweise? Beweise? Ich versteh dich nicht.«
»Geheimmaterial.« Axel reibt den Zeigefinger gegen den Daumen, genau wie einst E. Weber das getan hat. »Pinkepinke. Produkte. Geld. Etwas, womit ein britischer Verräter wie du herausrückt, wenn ich ihn erpresse. Es muß nicht unbedingt das Geheimnis der Atombombe sein, aber es muß gut sein. Gut genug, damit er Ruhe gibt. Kein Plunder, verstehst du? Auch mein Vorgesetzter hat Vorgesetzte.« Axel lächelt, wenn es auch nicht ein Lächeln ist, an das ich mich jetzt gern erinnere. »Es gibt immer einen Burschen, der eine Sprosse höher auf der Leiter steht, nicht wahr, Sir Magnus? Selbst wenn du glaubst, daß du ganz oben bist. Wenn du dann die Spitze erreicht hast, dann sind sie wieder unter dir, hängen an deinen Stiefeln. So ist es nun einmal in einem System wie dem unsrigen. ›Keine Fälschung‹, sagt er zu mir. ›Was es auch ist, es muß gut sein. Dann können wir’s hinkriegen.‹ Stiehl für mich, Sir Magnus. Da du meine Freiheit liebst, bring mir etwas Wunderbares.«
»Sie sehen aus, als hätten Sie eine Erscheinung gehabt«, sagt Gefreiter Kaufmann, als Pym zum Jeep zurückkommt.
»Nur mein Magen«, sagt Pym.
Auf der Heimfahrt nach Graz fühlte er sich allmählich besser. Leben ist Pflicht, überlegte er. Man muß nur herausbringen, welcher Gläubiger am lautesten fordert. Leben ist Rückzahlung. Leben ist Sorge um andere, auch wenn es einen umbringt.
***
Ein halbes Dutzend umgemodelter Pyms gingen in jener Nacht durch die Straßen von Graz, Tom, darunter kein einziger, dessen ich mich heute schämen müßte oder den ich nicht wie einen lange verlorenen Sohn, der seine Schuld gegenüber der Gesellschaft bezahlt hat, glücklich in die Arme schließen würde, wenn er in diesem Augenblick an Miss Dubbers Tür klopfte und sagte ›Vater, ich bin’s‹. Sicher gab es in seinem Leben keine Nacht, in der er weniger an sich selber und mehr an seine Pflicht gegenüber anderen dachte wie damals, als er unter den Schatten abbröckelnder habsburgischer Pracht durch die Straßen seines Stadtreichs patrouillierte und mal an den laubüberwachsenen Pforten von Memburys geräumigem Ehequartier, mal am Eingang von Sabinas schmucklosem Apartmenthaus stehenblieb, während er seinen Plan schmiedete und ihnen beruhigende Versprechungen zufunkte. »Keine Sorge«, sagte er in seinem Herzen zu Membury. »Du wirst nicht dafür büßen müssen, dein See wird weiter mit Fischen bestückt werden, und dein Posten ist dir sicher, solange du Wert darauf legst. Die Höchsten im Lande werden dir als dem Spiritus rector der Operation Greensleeves Respekt erweisen.« – »Deine Geheimnisse sind in meiner Hand«, flüstert er zu Sabinas unerleuchtetem Fenster hinauf. »Deine Beschäftigung bei den Briten, dein heroischer Bruder Jan, deine hohe Meinung von deinem Liebhaber Pym sind alle sicher. Ich werde sie hegen, wie ich deinen weichen warmen Körper hege, der in ruhelosem Schlaf liegt.«
Er faßte keine Entschlüsse, da er keine Zweifel hatte. Der einsame Kreuzritter hatte seine Mission erkannt, der erfahrene Spion würde sich um die Planung kümmern, der loyale Anhänger würde nie wieder im Austausch gegen die Illusion, der nationalen Sache zu dienen, einen Freund verraten. Seine Lieben, seine Pflichten, seine Bindungen waren nie klarer gewesen. Axel, ich bin in deiner Schuld. Zusammen können wir die Welt verändern. Ich bringe dir Geschenke mit, so wie du mir Geschenke mitgebracht hast. Ich werde dich nie wieder in die Lager schicken. Wenn er Alternativen in Betracht zog, dann nur, um sie als katastrophal zu verwerfen. Im Lauf der letzten Monate hatte der erfinderische Pym den Gefreiten Pavel zu einer Figur ausgebaut, die in den geheimen Korridoren von Graz, Wien und Whitehall Freude und Bewunderung erregte. Unter seiner geschickten Regie wurden die Trunksucht, die Herumhurerei und die donquichottehaften Mutausbrüche des kleinen, cholerischen Helden zu einer Legende. Selbst wenn Pym willens gewesen wäre, Axels Vertrauen ein zweites Mal zu enttäuschen, wie hätte er zu Membury gehen und sagen können: »Sir, der Gefreite Pavel existiert nicht. Greensleeves ist mein Freund Axel, der verlangt, daß wir ihm echte britische Geheimnisse ausliefern?« Memburys freundliche Augen würden hervorquellen, sein unschuldiges Gesicht würde in einen Ausdruck von Traurigkeit und Verzweiflung zerfallen. Sein Vertrauen zu Pym würde dahinwelken und sein Ruf damit: Membury an die Laterne, feuert Membury; Membury samt Frau und allen seinen Töchtern – go home. Der Kompromißversuch, Axels Dilemma dem fiktiven Gefreiten Pavel aufzubürden, würde zu einer noch schlimmeren Katastrophe führen.
Pym hatte die Szene in seiner Phantasie durchgespielt: »Sir, die Grenzübergänge des Gefreiten Pavel sind bemerkt worden. Er hat der tschechischen Geheimpolizei gesagt, er habe einen britischen Agenten an der Angel. Wir müssen ihm daher Futter geben, damit er seine Geschichte untermauern kann.« Die Div Int durfte keine Doppelagenten führen. Graz am allerwenigsten. Selbst ein Überläufer vor Ort ging schon zu weit. Daß London nicht schon seit langem den Fall übernommen hatte, war einzig dem Umstand zu verdanken, daß Greensleeves nur mit Pym zu tun haben wollte, doch es liefen bereits ernsthafte Verhandlungen darüber, wer Pavel nach Pyms Ausscheiden aus dem Militärdienst bekommen sollte. Die Umwandlung Axels oder des Gefreiten Pavel in einen Doppelagenten würde auf der Stelle eine schreckliche Kettenreaktion auslösen: Membury würde Greensleeves an London verlieren; Pyms Nachfolger würde die Täuschung in fünf Minuten erkennen; Axel würde ein weiteres Mal verraten werden und seine Überlebenschance verwirken; die Memburys kämen nach Sibirien.
Nein, Tom. Als Pym in jener folgenschweren Nacht unter einem Baldachin von unerreichbaren Idealen wandelte und in seiner Seelenreinheit Sabinas Bett verschmähte, da quälte er sich nicht mit großen Entscheidungen. Er erforschte seinen unsterblichen Geist nicht im Hinblick auf das, was Puristen Landesverrat nennen mochten. Er überlegte sich nicht, daß morgen der Tag für seine unwiderrufliche Hinrichtung war – der Tag, an dem jede Hoffnung für Pym sterben und dein Vater geboren werden würde. Er sah die Morgendämmerung an einem Tag voller Schönheit und Harmonie heraufziehen. Einem Tag, an dem er Unrecht gutmachen konnte, an dem das Schicksal all derer, die von ihm abhingen, in seiner Hand lag, an dem die Wähler seines heimlichen Wahlkreises auf die Knie fallen und Pym und Pyms Schöpfer dafür danken würden, daß Pym geboren worden war, um für sie nach dem Rechten zu sehen. Er glühte vor Jubel. Sein guter Wille und der Glaube an sich selbst füllte ihn mit Mut. Der heimliche Kreuzritter hatte sein Schwert auf den Altar gelegt und sandte brüderliche Botschaften an den Schlachtengott.
»Axel, komm rüber!« hatte Pym ihn angefleht. »Vergiß den Gefreiten Pavel. Du kannst ein ganz gewöhnlicher Überläufer sein. Ich sorge für dich. Ich verschaffe dir alles, was du brauchst. Das verspreche ich.«
Doch Axel war ebenso furchtlos wie entschlossen. »Verlange nicht von mir, daß ich meine Freunde verrate, Sir Magnus. Ich bin der einzige, der sie retten kann. Sagte ich dir nicht, daß ich meine letzte Grenze überschritten habe? Wenn du mir hilfst, können wir einen großen Sieg erringen. Ich erwarte dich am Mittwoch hier um die gleiche Zeit.«
***
Mit der Aktenmappe in der Hand steigt Pym rasch in den obersten Stock der Villa und sperrt die Tür seines Büros auf. Der Morgen ist meine Zeit, dafür bin ich bekannt. Pym ist ein Frühaufsteher, Pym ist eifrig, Pym hat ein Tagewerk vollbracht, während die meisten von uns noch beim Rasieren sind. Memburys Büro ist mit seinem eigenen durch eine große Flügeltüre verbunden. Pym öffnet sie und tritt ein. Sein Wohlgefühl wird dabei fast unerträglich: eine berauschende Mischung aus Entschlossenheit, Rechtmäßigkeit und Befreiung. Ich bin gesegnet. Memburys Metallschreibtisch ist kein Reichskanzlei-Schreibtisch. Seine Rückseite besteht aus einem alten Blech und Pyms Schweizermesser kennt die vier Schrauben sehr gut. In der dritten Schublade von oben auf der linken Seite verwahrt Membury seine Nachschlagewerke: Dauerinstruktionen für die Einheit, Die Braunfische, Geheimliste der Telefonanschlüsse, Österreichs Seen und Wasserwege, Organisationsplan der Abwehr in London, ein Verzeichnis der führenden Aquarien und ein Organigramm der Div Int, Wien, mit Einheiten und deren Funktionen, doch ohne Namen. Pym greift hinein. Kein Einbruch. Keine Vergeltung. Keine in die Täfelung geschnitzten Initialen. Ich bin hier, um eine Liebkosung zu spenden. Kladden, Loseblatt-Handbücher. Funkanweisungen mit dem Stempel »Geheime Verschlußsache«, die Pym noch nie gesehen hat. Ich bin hier, um etwas auszuleihen, nicht um zu stehlen. Er öffnet seine Mappe und nimmt eine Dienst-Agfa heraus, an deren Vorderseite eine dreißig Zentimeter lange Meßkette befestigt ist. Es ist dieselbe Kamera, die er benützt, wenn Axel Rohmaterial mitbringt, das Pym an Ort und Stelle fotografieren muß. Er spannt den Apparat und legt ihn auf den Schreibtisch. Dafür bin ich geboren, denkt er nicht zum ersten Mal: im Anfang war der Spion.
Aus einem Aktenordner mit dem durchgestrichenen Wort »Wirbeltiere« auf dem Rücken wählt er das Organigramm der Div Int. Axel kennt es sowieso, redet er sich zu. Trotzdem, es trägt oben und unten beeindruckende »Top Secret«-Stempel sowie einen Verteiler, der die Echtheit garantiert. Da du meine Freiheit liebst, bring mir etwas Wunderbares. Er fotografiert es einmal, dann nochmals, und sein Hochgefühl beginnt zu schwinden. Auf seinem Film sind sechsunddreißig Bilder. Warum knausere ich so und gebe ihm nur zwei? Ich könnte für unser gegenseitiges Verständnis etwas tun. Axel, du verdienst etwas Besseres. Er erinnert sich an eine kürzliche Studie des Kriegsministeriums über die sowjetische Bedrohung. Wenn sie das lesen, lesen sie alles. Sie ist in der oberen Schublade, neben einem Handbuch der Säugetiere des Wassers und beginnt mit einer Zusammenfassung der Schlußfolgerungen. Er fotografiert jede Seite und knipst so seinen Film ab. Axel, ich hab’s getan! Wir sind frei. Wir haben die Welt wieder in Ordnung gebracht, genau, wie du es gesagt hast! – Wir sind Männer des Mittelgrundes – wir haben unser eigenes Land mit einer Bevölkerung von zwei Männern gegründet.
»Du darfst mir nie wieder so etwas Gutes bringen, Sir Magnus«, sagte Axel bei ihrer nächsten Zusammenkunft. »Sie machen mich sonst zum General, und wir können uns im Leben nicht mehr treffen.«
Lieber Vater – schrieb Pym an das Hotel Majestic in Karachi, wo Rick aus Gesundheitsgründen zu leben schien –, Vielen Dank für Deine beiden Briefe. Ich freue mich, daß du Dich mit dem Aga Khan so glänzend verstehst. Ich glaube, daß ich hier gute Arbeit leiste und Du stolz auf mich sein würdest.