Vor der letzten Schulstunde stand Celia an meinem Schließfach und wartete zusammen mit Bethany und Zack auf mich. Ich atmete tief durch. Mir war immer klar gewesen, dass es hart werden würde dieses Jahr. Neuerdings ging nämlich auch meine kleine Schwester auf die Highschool. Ich will nichts Böses sagen über Celia und habe sie natürlich lieb, aber sie ist nun mal furchtbar anstrengend. Wenn es Pokale gäbe fürs Laut-und-peinlich-sein oder fürs Sich-daneben-benehmen, hätte Celia zu Hause einen ganzen Schrank voller Siegestrophäen.
Meine Oma hat immer gesagt, es läge daran, dass Celia ohne eine Frau im Haus aufgewachsen ist. Durch meinen Vater hätte sie gelernt, mit Brüllen und Fußaufstampfen ihren Willen durchzusetzen. Furchtbar verwöhnt, die Kleine, pflegte Oma zu sagen und vorwurfsvoll in Celias Richtung zu gucken.
Oma hatte recht, mit Celia klarzukommen war nicht leicht. Auch jetzt brüllte sie noch öfter herum und stampfte mit dem Fuß auf. Allerdings ging es ihr wohl nicht in erster Linie darum, Dad zum Nachgeben zu bringen, sondern es war der einzige Weg, um überhaupt seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Shannin und ich hatten es aufgegeben – wir kümmerten uns selbst um unseren Kram und rechneten nicht mehr groß mit Dad. Aber Celia fand anscheinend, sie müsste bloß lauter sein als alle anderen. Und meistens funktionierte das auch.
Celia war wirklich verwöhnt. Wir waren nur drei Jahre auseinander und man hätte annehmen sollen, dass wir ein besonders enges Verhältnis zueinander hätten. Aber dafür nervte Celia zu sehr. Sie war ruppig und abweisend, abgebrüht und zynisch. Sie bewegte sich durchs Leben, als würde die Welt ihr gehören, als müsste sich jeder vor ihr verbeugen und ihr zu Diensten sein. Sie lächelte nur dann, wenn sie etwas von einem wollte. Manchmal tat mir Celia leid, denn sie konnte anscheinend niemals glücklich sein. Doch das hielt meist nicht lange an, weil sie sich gleich wieder fies benahm oder etwas sagte, das jedes Mitgefühl für sie unmöglich machte.
Bei Zack allerdings war es anders. Zack mochte Celia gern, so wie ein großer Bruder. Er fand sie »zart besaitet« und versuchte immer, sie bei Laune zu halten, worüber Bethany und ich nur die Augen verdrehten.
»Du musst mich nach Hause fahren«, schnauzte mich Celia an, noch bevor ich bei meinem Schließfach angekommen war. »Ich geh heute nicht zum Jahrbuchtreffen.«
»Okay«, sagte ich. »Komm nachher einfach rüber zum Lernlabor.«
»Hol du lieber mich ab. Ich hab keine Lust, den ganzen Weg bis hier rüber zu laufen.«
»Aber das hast du doch gerade gemacht.«
»Eben drum. Ich hab jede Menge Hausaufgaben auf. Da will ich meinen schweren Rucksack nicht quer übers Gelände schleppen.«
Ich schürzte die Lippen. »Ach, du armes Baby. Meinst du, du überlebst es?«
»Herrgott, Alex«, sagte sie und warf ihre Ringellocken über die Schulter. »Kannst du nicht ein einziges Mal nett sein?«
Ich öffnete mein Schließfach und ihr Gesicht verschwand. Kurz tauschte ich einen Blick mit Bethany, die eine verächtliche Miene zog. Wäre Celia Bethanys Schwester, müsste sie wahrscheinlich zu Fuß nach Hause gehen. Bethany ließ ihren jüngeren Geschwistern kaum etwas durchgehen. »Ich nehm dich doch mit, oder?«, sagte ich müde und holte ein paar Kaubonbons aus der Tasche im Mittelfach.
»Du bist echt eine Zicke.«
»Alles klar, Celia«, sagte ich, nahm den Kopf aus dem Schließfach und blitzte sie an. »Wenn ich dir zu zickig bin, kannst du ja mit jemand anderem heimfahren.«
»Dad hat aber gesagt, du sollst mich mitnehmen, und wenn du nicht –«
»Meine Damen«, sagte Zack und trat zwischen uns. »Mir scheint, Ihnen entgeht hier das Wesentliche.« Er griff in mein Schließfach, schnappte sich eine Handvoll Kaubonbons und hielt eines mit Zitronengeschmack hoch. »Alex hat Süßigkeiten vor uns versteckt!« Er drehte sich zu mir und funkelte mich spaßig-böse an. »Ihr wisst alle«, fuhr er fort, »dass es eins der ersten Anzeichen für gravierende Probleme ist, wenn Freunde Beweismaterial voreinander verstecken.«
Ich schubste ihn mit der Hüfte. »Weg von meinen Sachen, du Dieb«, sagte ich und knallte die Schließfachtür zu. »Die sind abgezählt, nur dass du’s weißt.« Aber mir war jetzt schon klar, dass bald kein einziges Kaubonbon mehr da sein würde. Zack und Bethany kannten den Code von meinem Schloss, genau wie ich die für ihre Fächer. Wir konnten frei über alles verfügen. Zack würde alle Kaubonbons aufessen. Und stattdessen würde er wahrscheinlich Kondome reinlegen, nur so zum Spaß.
Bethany und ich machten uns auf den Weg Richtung Lernlabor. Zack legte Celia den Arm um die Schultern und kam hinter uns her. »Ich schlag dir was vor«, nuschelte er mit vollem Mund. »Ich hol dich bei euch drüben ab und lauf mit dir hierher zurück. Den schweren Rucksack trage ich. Und sollten dir die Beine den Dienst versagen, meine Verehrteste, werde ich dich als echter Gentleman selbstverständlich tragen«, sagte er zu Celia.
Ich sah mich zu den beiden um. Sie legte ihren Kopf auf Zacks Arm und strahlte übers ganze Gesicht. Neuerdings hatte ich manchmal den Eindruck, dass ihr hilfloses Getue in Zacks Gegenwart nicht ganz so berechnend war, wie ich immer gedacht hatte. Vielleicht mochte sie ihn ja wirklich. »Genau so machen wir’s«, sagte sie. »Schön, dass wenigstens einer von euch dreien freundlich ist.«
»Nimm das sofort zurück«, schnappte Zack und fuchtelte mit einem Kaubonbon vor ihrem Gesicht herum.
»Kein Problem. Du bist ein Volltrottel und ich kann dich nicht ausstehen«, sagte sie und schnappte sich das Bonbon.
»Das gefällt mir schon besser«, sagte er.
Als die erste Glocke läutete, stieß Celia einen kleinen Schrei aus, wand sich aus Zacks Arm und rannte los zu ihrem Klassenzimmer auf der anderen Seite des Schulgeländes. Zack wurde am Trinkbrunnen von irgendwem aufgehalten.
»Gehst du heute Abend zu dem Fußballspiel?«, fragte ich Bethany, die praktisch seit der Kindergartenzeit verknallt war in Randy Weston, den besten Stürmer und großen Star der Schulmannschaft. Der allerdings ahnte nicht mal was von ihrer Existenz.
Sie zuckte mit den Achseln und schob ihre Brille zurecht. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Umweltclub-Treffen.« Bethany war eine von diesen Intelligenzbestien, die sich pausenlos auf Matheprüfungen vorbereiten, auch wenn gar keine anstehen, aber ihr Freizeitprojekt war es, die Welt zu retten, so nach dem Motto: »Jede Flasche zählt.« Sie trug Hanfschmuck und T-Shirts aus Bambus und trieb ihre Eltern in den Wahnsinn mit ihrer Hypergenauigkeit in Sachen Müll. Außerdem hatte sie ein gnadenlos gutes Gedächtnis und konnte sich jede einzelne Statistik merken, die bewies, dass die Menschheit die Erde zugrunde richten wird. »Immerhin hab ich Randy heute früh in der Cafeteria gesehen. Er war mal wieder umwerfend. Super Klamotten und so.«
»Hast du mit ihm geredet?«
Sie stieß die Luft aus und zog ein betrübtes Gesicht. »Nein, was denkst du denn? Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn immer noch gut finde.«
Fassungslos sah ich sie an. »Aber du findest ihn doch seit dem Kindergarten gut.«
Wir waren bei den Umkleiden angekommen und blieben stehen. Bethany hatte in der letzten Stunde Sport – einen Sonderkurs für alle, denen Sport partout nicht liegt. Sie zuckte wieder mit den Achseln. »Aber er ignoriert mich auch seit dem Kindergarten. Wahrscheinlich sollte ich’s langsam lassen. Und nach irgendwem Ausschau halten, bei dem ich mehr Chancen habe.«
»Vielleicht solltest du mit ihm reden. Und herausfinden, ob er nicht doch Interesse hat.« Es war absurd, dass so ein Spruch ausgerechnet von mir kam. Wenn eine von uns beiden imstande war, die Karten auf den Tisch zu legen und klar zu sagen, was sie fühlte und wollte, dann war das Bethany und nicht ich.
»Mit wem reden?«, fragte Zack und stellte sich neben uns. Mit dem Ellbogen stützte er sich auf meiner Schulter ab und kaute schon wieder auf einem Zahnstocher herum.
»Mit dir«, sagte ich. »Mit wem denn sonst?«
Bethany grinste breit. »Ja. Wir finden, dass du nach Schweiß stinkst.«
Wir mussten derart lachen, dass wir gegeneinandertaumelten, während Zack so tat, als würde er sich ein Messer aus der Brust ziehen.
»Aha, tue ich das?«, fragte er. Dann schnappte er sich mit einer Hand Bethanys Kopf und hob den anderen Arm. »Du hast es nicht anders gewollt!«, rief er und drückte ihr Gesicht in seine Achselhöhle. Sie quiekte und trommelte gegen seine Brust, aber als er sie wieder losließ, hatte sie ein rotes Gesicht und sah glücklich aus.
»Hau endlich ab, du ekliger Kerl!«, sagte sie, stieß ihn gegen die Brust und zischte in die Umkleidekabine.
»Aber nicht ohne Alex«, sagte Zack, packte mich am Handgelenk und zerrte mich durch den Gang. »Komm schon«, sagte er. »Wir gehen zusammen zum Lernlabor. Celia hofft schließlich, dass meine Nettigkeit auf dich abfärbt.« Er zog mich durch die Schule bis vor mein Tutorenzimmer, und als Mrs Moody ihn rüber zu Amanda brachte, rief er mir mit einer überdrehten Piepsstimme zu: »Viel Spaß mit dem Anfängerkurs.« Dass Mrs Moody auf ihn einredete, er solle besser genauso viel Energie aufs Grammatiklernen verwenden wie auf seine Witzchen, kümmerte ihn nicht im Geringsten.
Genau als die Glocke zur siebten Stunden läutete, betrat ich das Unterrichtszimmer. Wie immer, wenn ich in den Raum kam, stand Cole sofort auf. Es fiel mir schwer zu verbergen, wie toll ich das fand.
»Ich bin spät dran, tut mir leid«, sagte ich.
Er drehte sich um und strahlte übers ganze Gesicht. »Macht doch nichts«, sagte er. »Rat mal, was passiert ist.«
»Was denn?«, fragte ich, ließ meinen Rucksack auf einen der Stühle fallen und machte den Reißverschluss auf. Er setzte sich wieder auf seinen Tisch.
»Ich habe eine super Note für meinen Essay gekriegt. Siebenundneunzig Prozent.«
»Hey, das ist ja spitzenmäßig!«, rief ich, und bevor mir klar wurde, was ich da tat, hatte ich mich schon vorgebeugt und ihn umarmt. »Glückwunsch!«
»Danke. Ich hab es genau so gemacht, wie du gesagt hast. Hat super geklappt, wie man sieht.«
Ich tat einen Schritt zurück, ein bisschen außer Atem und irgendwie verlegen, aber auf gute Art.
»Schön«, sagte ich, setzte mich und versuchte zu verdrängen, wie gut er gerochen hatte. »Ich hab auch eine Überraschung für dich.«
Er ließ sich auf dem Stuhl gegenüber nieder und stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf. Die Lederärmel seiner Pine-Gate-Jacke knarrten. »Wirklich? Was denn?«
Ich kramte in meinem Rucksack herum und zog schließlich ein abgestoßenes Blatt Papier aus einem Notizheft. Stumm reichte ich es ihm. Ich war so furchtbar nervös, dass ich nicht wusste, was ich hätte sagen können. Von Lehrern abgesehen, gab ich äußerst selten jemandem etwas zum Lesen, das ich geschrieben hatte. Außerdem war Cole nicht irgendwer. Ich wünschte mir, dass er von mir beeindruckt wäre, auch wenn ich nicht wusste, warum.
Einen Moment lang starrte er das Blatt nur an, mit zusammengezogenen Brauen. »Oh!«, sagte er endlich und begann zu strahlen. »Das ist dein Gedicht! Das, für das du den Preis gekriegt hast, stimmt’s?«
Ich nickte und hatte das Gefühl, ich würde jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Aber du musst es nicht lesen.«
»Ich will aber«, sagte er und las laut vor:
Ich kann deine eckigen Augen nicht schlucken
Ohne Blick für mein schrumpfendes Herz
Meine eingesunkene Brust
Schultern zum spiegelblanken Boden
Ich kann deine verschränkten Arme nicht schlucken
Meine Kehle das Bein eines Ertrunkenen
Rauch von brennenden Autoreifen
Deine Ellbogen spitz wie Messer an meinen Schläfen
Ich kann deine kühle Zunge nicht schlucken
Schnalzend hinter den Zähnen, während du
Aufzählst, worin ich versagt habe
Ich kann bloß Staub und Steppenkugeln weinen
Einen verwitterten Holzpfosten
Eine Handvoll rostiger Nägel
Die aus mir rinnen wie Murmeln
Nachdem er zu Ende gelesen hatte, sagte er eine Weile lang kein Wort. Er saß einfach nur da und starrte das Blatt an. Mein Gesicht wurde heiß, ich spürte ein Ziehen im Brustkorb und wurde unendlich verlegen.
Außer Mrs Moody hatte ich noch nie jemanden dieses Gedicht lesen lassen. Als ich es ihr damals zeigte, hatte sie erst ihre Lesebrille abgesetzt und die Abdrücke am Nasenrücken gerieben, dann hatte sie mir erklärt, dass sie genau wisse, was ich damit tun müsse. Am nächsten Tag brachte sie mir die Unterlagen für einen Wettbewerb junger Lyriker mit. Ihrer Überzeugung nach hätte ich gute Aussichten. Zwei Monate später erfuhr ich, dass ich den ersten Platz gewonnen hatte, und war ganz aus dem Häuschen vor lauter Begeisterung – aber zugleich immer noch verlegen. Dieses Gedicht war ein Teil meines Wesens. Meine Gedanken lebten darin. Meine verborgenen Gefühle. Es herumzuzeigen wäre mir vorgekommen, als würde ich in Unterwäsche vor meinen Mitschülern herumlaufen.
»Wahrscheinlich gab es nicht viel Konkurrenz«, hörte ich mich sagen. In der Stille des Raums klang meine Stimme kratzig und verzerrt, wie wenn im Radio der Sender schlecht eingestellt ist. Ich wollte nach dem Blatt in Coles Hand greifen, aber er ließ mich nicht.
»Machst du Witze?«, sagte er. »Das ist gut. Ich meine, richtig gut.«
Ich spürte, wie meine Lippen ein Lächeln zustande brachten, obwohl mir vor lauter Verlegenheit immer noch ganz schwummrig war. »Meinst du?«, fragte ich.
Endlich schaute er auf, mit leicht geöffneten Lippen. »Auf jeden Fall. Ich lese ja kaum Gedichte, aber das hier …« Er blickte wieder auf das Blatt. »Wow. Du bist wie … Emily Dickinson oder so.«
»Oha! Danke«, sagte ich.
Er sah mich an, wir guckten einander direkt in die Augen. Es kam mir so vor, als wäre er irgendwie … berührt.
Irgendwann riss ich mich von seinem Blick los und begann, in meinem Rucksack herumzukramen, holte mein Notizbuch raus und warf es in vorgetäuschtem Arbeitseifer zwischen uns auf den Tisch. »Also, was müssen wir heute durchgehen?«, fragte ich.
Doch er starrte mich einfach weiter an. Inzwischen war sein Grübchen wieder zu sehen, direkt neben dem Mundwinkel. »Hat das Gedicht einen Namen?«, fragte er.
Ich dachte darüber nach und fühlte mich furchtbar befangen. Auf gute Art, aber trotzdem. Darum räusperte ich mich und grinste.
»Ja«, sagte ich. »Es heißt ›mein persönliches Charisma und mein gutes Aussehen‹.« Unser Privatwitz.
Er lächelte, diesmal breit und unübersehbar, dann lachte er laut los. Er gab mir mein Gedicht zurück und ich stopfte es wieder in den Rucksack. Mein Unbehagen und meine Befangenheit waren wie weggewischt.
»Können wir jetzt anfangen zu arbeiten?«, fragte ich mit einem Blick auf die Uhr. »Mrs Moody wäre stinksauer, wenn sie wüsste, dass ich unsere kostbare Zeit mit irgendwelchen selbst verfassten Gedichten verschwende.«
»Okay, okay«, sagte er und griff nach seinem Englischbuch, das neben ihm auf dem Tisch lag. Er schmiss es neben mein Notizbuch und begann darin zu blättern. »Wenn du unbedingt willst. Aber ich persönlich bin der Meinung, dass das mit dem Gedicht überhaupt keine Zeitverschwendung war.«
Er schien weiter in seinem Buch herumzusuchen, aber als ich den Kopf hob und ihn anschaute, sah er mir mit einem tiefen Blick direkt in die Augen. Rasch senkte ich die Lider. Ich wurde rot und versuchte mir einzureden, dass dieser Blick nichts weiter bedeutete. Er fand einfach mein Gedicht gut, und fertig.
Aber egal was dieser Blick zu sagen hatte, ich musste mir eingestehen, dass er mir durch und durch ging, bis hinunter in die Zehenspitzen.