Kapitel 21

Alles war wieder okay.

Ich fuhr nach Hause und rannte gleich hoch in mein Zimmer, um meinen Rucksack loszuwerden. Ich zog mir eine bequeme Hose an, machte mir einen unordentlichen Pferdeschwanz und schaute zur Auffahrt vor Zacks Haus. Sein Auto stand schon da, was bedeutete, dass die beiden auf mich warteten.

Bei uns im Haus war es still – Dad würde Celia erst nach sechs von ihrem Jahrbuchtreffen abholen. Ich kritzelte eine kurze Nachricht auf die Rückseite von einem Briefumschlag und legte ihn auf den Küchentisch, damit sie wussten, wo ich war, dann ging ich nach draußen und lief auf Strümpfen durchs Gras, wobei mir die Kälte in die Zehen kroch.

Als ich hereinkam, war Zacks Mutter gerade dabei, in ihrem Atelier getrocknete Blumen zwischen den Seiten eines Telefonbuchs herauszuholen und auf kleine Kärtchen zu kleben. Mrs Clavinger war sehr geschickt in solchen Dingen, sie bastelte dauernd irgendwelche Sachen aus Bast, prägte Umschläge von Hand und so weiter. Sie war ein Scrapbook-Profi und gab regelmäßig Workshops zu diesem Thema. Zack nannte diese Treffen einmal im Monat »die Hühnerversammlung« und sah zu, dass er an diesen Tagen nicht zu Hause war.

»Hallo, Mrs C!«, rief ich und schloss hinter mir die Tür.

Als sie aufschaute, löste sich eine Haarsträhne aus ihrem Tuch und fiel ihr in die Stirn. »Alex!«, jubelte sie. »Wie nett – die beiden sind in der Küche – eine schöne Überraschung ist das – die backen Plätzchen.«

»Super«, sagte ich und ging Richtung Küche.

Bethany hielt eine Metallschüssel gegen ihren Bauch gedrückt und schlug mit einem Kochlöffel nach Zack, der seine Finger in den Teig stecken wollte.

»Hey«, sagte ich und stellte mich zu ihnen. Ich wartete, bis Bethany wieder auf Zack losging, dann schnappte ich mir selbst einen Finger voll Plätzchenteig.

»Hey!«, rief sie und schlug jetzt auch mich mit dem Kochlöffel, wodurch ich sofort Teig auf dem Arm hatte. Kaum hatte sie mich ins Visier genommen, nutzte Zack die Gelegenheit, um von der anderen Seite wieder in die Schüssel zu greifen und sich gleich eine ganze Handvoll Plätzchenteig zu schnappen. »Mann, Leute!«, quiekte Bethany, aber dann musste sie selbst so sehr lachen, dass sie uns nicht mehr abwehren konnte. Am Ende stellten wir die Schüssel einfach auf den Tisch, setzten uns drumrum und futterten den Plätzchenteig so, wie er war.

Das hatten wir schon millionenmal gemacht – Junkfood gefuttert und Blödsinn gequatscht, zum Beispiel welche Lehrer wohl heimliche Affären hatten und wie es sein konnte, dass der Busen von Mia Libby auf einen Schlag viel üppiger aussah, nachdem sie »zwei Wochen in Europa« gewesen war, wie sie behauptete.

Jetzt redeten wir über Colorado und kabbelten uns wieder über die Frage, ob Sommer oder Winter besser wäre. Bethany zeigte uns Campingbus-Fotos auf ihrem Laptop und rief die Website vom Stanley Hotel auf, damit wir nachlesen konnten, welche Geister sich dort angeblich herumtrieben und welche unheimlichen Legenden es sonst noch um diesen Ort gab. Wir beschlossen, auf jeden Fall ins Naturkundemuseum in Denver zu gehen. So langsam nahm alles Form an. Eigentlich mussten wir uns nur noch für den Zeitpunkt entscheiden.

Über den Abend mit der Party sprachen wir nicht mehr und keiner von uns erwähnte Cole.

Genau darum ging es in einer Freundschaft: um die Bereitschaft, Fehler zu verzeihen, und um eine tiefe, bedingungslose Zuneigung. Und natürlich um Plätzchenteig.

Zack wollte uns gerade was zum Trinken holen, als sein Vater von der Tür zur Garage her den Kopf in die Küche streckte.

»Hallo, da ist ja wieder mal das Monster mit den drei Köpfen«, sagte er.

»Hallo, Mr C!«, riefen Bethany und ich gleichzeitig, den Mund voller Plätzchenteig.

Er nickte uns zu und wandte sich dann an Zack. »Hey, kannst du mir mal helfen, die Vogeltränke deiner Mutter nach hinten in den Garten zu tragen? Das Ding wiegt eine Tonne.«

Zack stand auf und ließ die Muskeln spielen wie ein Profi-Ringer. Dann grunzte er tief. »Brauchst wohl einen echten Kerl für den Job, was?«

»So was in der Art, ja.« Sein Vater lachte und schüttelte den Kopf. »Mädels, ich weiß echt nicht, wie ihr diesen Kindskopf da aushaltet.«

»Das fragen wir uns auch«, sagte Bethany. »Meistens ignorieren wir ihn einfach.«

»Gutes Prinzip«, sagte Mr C, dann verschwand er zusammen mit Zack durch die Tür zur Garage.

Bethany und ich waren allein – zum ersten Mal seit Langem. Alles wirkte so richtig, wie es sein konnte, nur eines stimmte nicht: Es gab etwas furchtbar Wichtiges, was ich meiner besten Freundin nicht erzählt hatte. Vor ein paar Stunden war ich mir noch ganz sicher gewesen, dass es besser war, ihr nichts davon zu sagen, aber jetzt war mir klar, dass sie es einfach wissen musste, denn es würde ihr furchtbar wehtun, wenn ich es ihr verschwieg.

»Beth«, sagte ich. »Ich muss dir was erzählen. Aber du musst schwören, dass du es für dich behältst.«

Bethany zupfte mit den Fingern ein Stück von dem Teig ab und steckte ihn in den Mund. »Okay«, sagte sie kauend.

Ich schluckte und rieb mit den Handflächen über die Hose, dann holte ich tief Luft. Auf einmal wusste ich nicht, wie ich es ausdrücken sollte, darum ließ ich den Atem einfach wieder ausströmen. »Ich hab’s gemacht mit Cole.«

Bethany hörte auf zu kauen. Sie linste in die Schüssel, als wäre das, was ich gerade gesagt hatte, dort herausgekrochen. Ein Augenblick verging und ich dachte schon, sie hätte mich gar nicht gehört oder ich hätte den Satz vielleicht nur gedacht, statt ihn laut auszusprechen. Aber dann kaute sie weiter, schluckte und wandte mir das Gesicht zu. Hinter den Brillengläsern wirkten ihre Augen riesig. »Im Ernst?«, fragte sie.

Ich nickte. »Darum hab ich’s neulich nicht geschafft. Er hat mich mit zu sich nach Hause genommen und mich seinen Eltern vorgestellt. Sie waren furchtbar. Sein Dad ist echt fies und seine Mom ist ein totaler Zombie. Wir sind hoch in sein Zimmer gegangen und …« Ich zuckte mit den Achseln, die Hände schlaff in meinem Schoß.

»Woah!«, sagte Bethany. »Ich fass es nicht … Dabei seid ihr noch gar nicht so lange zusammen.«

»Na ja, Cole und ich haben uns schließlich nicht erst gestern kennengelernt«, gab ich in scharfem Tonfall zurück.

»Sei nicht sauer«, sagte sie defensiv. »Es ist nur … Bist du dir sicher, dass das alles richtig ist?« Sie rückte ihre Brille zurecht und schmierte sich dabei Teig auf die Nase.

Jetzt war es an mir, defensiv zu sein. »Wir haben verhütet, falls du das meinst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Na ja, das ist natürlich gut, aber … Ist bloß irgendwie komisch, wie er manchmal echt nett sein kann, so wie vor einer Weile bei Shubb’s, aber dann auf der Party so …« Sie verstummte.

Das Gespräch lief nicht so, wie es sollte. Ich hatte mir vorgestellt, dass Bethany total aufgeregt wäre und mich nach Einzelheiten ausfragen würde. »Da hat er einfach nur einen schlechten Tag gehabt, Beth«, sagte ich. »Wenn du den wahren Cole kennen würdest, würdest du ihn genauso sehr mögen wie ich.«

Sie stand auf. Schweigend ging sie zum Spülbecken und wusch sich die Finger. Dann machte sie den Kühlschrank auf und holte zwei Getränkedosen heraus.

»Beth«, sagte ich. »Ich wünsch mir so, dass du dich für mich freust.«

Sie ließ die Schultern sinken und versteckte sich für einen Sekundenbruchteil hinter der offenen Kühlschranktür. Als sie sich mir wieder zuwandte, hatte sie ein zittriges Lächeln im Gesicht, das beinahe verlegen wirkte. Sie setzte sich und schob mir eine Dose hin.

»Ich freu mich ja für dich«, sagte sie. »Nur … Ich will nicht, dass dir jemand wehtut. Cole wirkt irgendwie nicht … nicht so wirklich nett.«

»Du kennst ihn nicht«, sagte ich leise. »Nicht, wie ich ihn kenne.« Ich machte die Dose auf und starrte durch die Glastür nach hinten in den Garten, wo Zack und sein Vater neben dem Vogelbad standen, die Hände in die Hüften gestützt und ins Gespräch vertieft. Es war so unfair, dass ich endlich jemanden gefunden hatte, der mich liebte, jemanden, der mir so nahe war, dass ich mein erstes Mal mit ihm erlebt hatte, und ausgerechnet diesen Menschen musste ich vor meinen Freunden verteidigen.

»Ich weiß«, sagte sie, »aber …« Sie beugte sich vor und guckte wieder in die Schüssel mit dem Plätzchenteig. »Erinnerst du dich, wie ich dir erzählt habe, dass da was vorgefallen ist zwischen Cole und Zack, vor ein paar Wochen in der Umkleide? Weißt du, worum es da ging?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie haben sich geprügelt, weil Cole dauernd Sprüche gemacht hat, dass er dich rumkriegen und mit dir schlafen will. Anscheinend hat er ziemlich abstoßend darüber geredet, darum hat Zack sich eingemischt.«

»Wieso abstoßend?«

Sie zuckte mit den Achseln, lehnte sich zurück und schnippte mit dem Daumennagel einen Teigrest von ihren Jeans. Zack und sein Vater waren jetzt fertig im Garten und kamen zurück zum Haus. »Na ja, er hat über deinen Körper gesprochen. In allen Details.«

Ich wurde rot. Cole hatte im Umkleideraum über mich geredet. Und zwar so, dass mein »großer Bruder« Zack das Gefühl gekriegt hatte, er müsste einschreiten. Vor wer weiß wie vielen Leuten. Wie peinlich. Ich steckte mir einen Klumpen Teig in den Mund, aber auf einmal schmeckte er mir nicht mehr.

Wir hörten Zack und seinen Vater nebenan in der Garage hantieren, bis das Tor schließlich mit lautem Dröhnen zuging.

»Alex«, sagte Bethany und legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass du ihn liebst, aber er ist … er ist nicht … Pass gut auf dich auf, ja?«

Ich widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Ihre Art, mit mir zu reden, kam mir irgendwie herablassend vor. Sie tat fast so, als wäre sie meine Mutter.

»Okay, dann hat er eben in der Umkleide über mich geredet. Kann schon sein, dass das peinlich war, aber das ist doch kein Weltuntergang. Vielleicht hat er’s ganz anders gemeint.« Wahrscheinlich hatte er nur ausdrücken wollen, wie sehr er mich wollte. Cole würde mich nie absichtlich blamieren.

Bethany kannte Cole eben nicht so, wie ich ihn kannte. Keiner von den beiden tat das. Aber was war, wenn sie ihre Einstellung zu Cole nie änderten? Sie würden sich entscheiden müssen, ob sie auf meiner Seite waren oder nicht. Sie hatten die Wahl. Unsere Freundschaft stand nicht nur wegen mir auf der Kippe.

»Ich pass auf mich auf«, sagte ich mit dem Mund voller Teig. »Das verspreche ich.«