Kapitel 18

Auch wenn Georgia nicht mehr böse auf mich war, ließ ihre Anspannung nicht nach und gegen Ende meiner Schicht war es derart voll und alle waren derart gereizt, dass ich mir fast wünschte, Granit-Arsch würde auftauchen und alles für gut erklären, damit ihr Elend ein Ende hätte.

Georgia war eine großartige Lokalmanagerin und außerdem ein von Grund auf ehrlicher Mensch. Um einen Laden, für den sie die Verantwortung trug, musste sich Dave überhaupt keine Sorgen machen. Allerdings bezweifelte ich, dass ihm das klar war.

Ich war erleichtert, endlich hier rauszukommen und ein paar Tage lang nicht arbeiten gehen zu müssen. Vielleicht würde sich Dave in der Zwischenzeit beruhigen und Georgia fände zu ihrer alten Gelassenheit zurück.

Ich ging hinaus in den Gastraum, wo Cole saß und wartete. Als er mich sah, stand er sofort auf und kam mir entgegen.

»Mein Auto steht hinten«, sagte er. »Neben deinem.«

Er legte mir die Hand in den Nacken und führte mich nach draußen. Im Gehen setzte ich meine Kappe ab und zog mir das Gummiband heraus, das mich den ganzen Nachmittag über immer wieder an den Haaren gezerrt hatte.

»Eigentlich solltest du hier nicht parken«, sagte ich. »Diese Plätze sind fürs Personal reserviert.«

»Und wie soll irgendwer wissen, dass ich nicht zum Personal gehöre?«, fragte er schroff.

»Na ja«, sagte ich, »ich weiß es jedenfalls.«

Aber Cole schien völlig egal zu sein, wo er parkte. Lässig öffnete er die Beifahrertür.

»Mein Gefühl sagt mir, dass diese Ordnungswidrigkeit nicht so furchtbar streng geahndet werden wird«, sagte er, hakte die Finger in die Gürtelschlaufen meiner Jeans und zog mich zu sich. »Bitte, geben Sie mir keinen Strafzettel, Frau Polizistin«, jammerte er flehentlich und küsste mich auf die Stirn.

Lächelnd schmiegte ich mich an ihn. Er fühlte sich so gut an. Warm. Entspannt. Behaglich. Trotz allem, was am Abend zuvor passiert war, hatte ich immer noch den Eindruck, bei ihm wäre ich irgendwie … sicher oder so. Wenn ich die Augen schloss und seinen Duft einatmete, konnte ich mir beinahe einreden, gestern wäre nichts weiter gewesen.

Ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen, und er zog erst einen meiner Mundwinkel, dann den anderen in die Höhe. Auch wenn ich daraufhin die Augen verdrehte, blieb das Lächeln in meinem Gesicht. Er beugte sich vor und küsste erst die Mundwinkel, dann meine Nase und meine Schläfen. Als er mich noch näher zu sich zog, machte ich die Augen zu, ließ seinen Geruch in mich ein und spürte, wie mich seine Armmuskeln umschlangen. Auf einmal konnte ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, warum ich mich so über ihn geärgert hatte. Alle Wut war verraucht.

Schließlich machte Cole einen Schritt zur Seite und ich schlüpfte auf den Beifahrersitz. Er schloss hinter mir die Tür, ging auf die andere Seite und stieg ein. Der Sitz unter ihm knarrte und ein leichter Geruch nach Leder stieg auf, der mich an unser erstes Date erinnerte und bei dem ich ganz schwach wurde.

Nachdem er eingestiegen war, blieb er einfach sitzen. Seine Hände lagen regungslos in seinem Schoß und er starrte mit leerem Blick die Mauer hinter dem Lokal an, von der sich die Farbe löste. Ich musterte ihn, schaute den vorbeifahrenden Autos hinterher und bekam mit, wie die Hintertür aufging und Jerry eine Mülltüte nach draußen zum Container schleppte, wobei er Coles Wagen misstrauisch beäugte. Ich rutschte ein Stück tiefer nach unten.

Nach Minuten des Schweigens räusperte sich Cole, tippte mit den Daumen auf seinen Oberschenkeln herum und sagte: »Was da passiert ist. Das mit deinen Freunden. Tut mir leid.«

Ich blinzelte. »Hast du mir gestern schon gesagt«, antwortete ich und hoffte, dass der Satz nicht zu vorwurfsvoll klang.

Er fuhr mit dem Finger über das Armaturenbrett, wischte Staub weg.

»Ich weiß. Aber ich wollte es dir heute noch mal sagen. Du weißt schon, nicht einfach so spontan, aus dem Augenblick heraus, sondern richtig. Mir ist klar, dass du den ganzen Abend über sauer auf mich warst.«

Ich nickte und berührte unwillkürlich den Traumfänger. »Die beiden sind meine besten Freunde«, sagte ich. »Ich versteh nicht ganz, was da passiert ist. Bethany wollte einfach nett sein. Was du getan hast, war wirklich … uncool.«

Er starrte die Wand mit der abblätternden Farbe an und trommelte mit den Daumen einen Rhythmus auf seine Oberschenkel. »Sie hat dich im Griff«, sagte er. »Sie dominiert dich. Das ist dir klar, oder? Dieser ganze Colorado-Mist …« Er sprach nicht weiter, sondern schüttelte nur den Kopf. »Was soll das überhaupt mit dieser Reise? Weißt du, ich würde dir das nie antun – dass ich mit einem Mädchen irgendwo anders hinfahre. Mit einer ›besten Freundin‹.« Um die beiden letzten Wörter setzte er mit den Fingern Anführungszeichen.

Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Klar, Cole war eifersüchtig auf Zack. Das hatte ich längst begriffen. Aber er war nur darum eifersüchtig, weil er so vieles nicht wusste. Nicht wissen konnte. Jedes Mal, wenn wir auf unsere Familien kamen, hatte ich so schnell wie möglich das Thema gewechselt. Cole hatte nicht die geringste Ahnung, wie viel es mir bedeutete, diese beiden Freunde zu haben, und welche Rolle sie in meinem Leben spielten. Er hatte keine Ahnung, wie oft sie für mich da gewesen waren und wie oft ich für sie. Er war nicht dabei gewesen, als wir beschlossen hatten, nach Colorado zu fahren, um dem größten Geheimnis meines Lebens auf die Spur zu kommen. Er war nicht dabei gewesen, als wir drei einen feierlichen Schwur abgelegt hatten, dass wir diese Reise gemeinsam unternehmen würden, damals auf dem Holzhaufen bei Bethany im Garten. Er hatte nicht die geringste Vorstellung von all dem.

Ich schob ein Bein unter den Po, dann wandte ich mich ihm zu. Ich nahm seine Hand, damit er endlich mit diesem hektischen Getrommel aufhörte, und zog sie auf meinen Schoß. Auf seinen Wangen hatten sich zwei rote Flecken gebildet. Ich beugte mich zu ihm und berührte einen davon mit dem Finger. Er fühlte sich heiß an.

»Colorado ist einfach alles für mich«, sagte ich. »Und zwar schon furchtbar lange – seit mir Dad das hier gegeben hat. Damals war ich acht.« Ich zog die Traumfängerkette unter meinem Shirt hervor und ließ sie zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln.

Mit verwirrtem Gesichtsausdruck starrte Cole die Kette an, dann blickte er mir in die Augen. Er hatte aufgehört zu trommeln, auch mit der Hand, die ich nicht festhielt, und auf einmal war ich überzeugt, dass ich ihm begreiflich machen könnte, worum es für mich ging. Und dann würde zwischen uns alles wieder gut werden.

Ich ließ die Kette zurück auf meine Brust sinken, nahm seine Hand in beide Hände und sah ihm direkt ins Gesicht. Und dann erzählte ich ihm alles. Ich erzählte ihm, dass Mom gestorben war. Ich erzählte ihm von den Fotos und wie sehr ich mich als Kind hineingesteigert hatte, und auch von Dad und dem, was er über Mom gesagt hatte – dass sie verrückter als Gänsemist gewesen sei. Ich erzählte ihm von den Albträumen und dem Therapeuten und der Halskette, die mir dabei helfen sollte, meine Trauer zu bewältigen, und wie ich sie seither niemals abgelegt hatte. Und auch von Shannin und Celia, die das alles nicht groß zu kümmern schien. Ich erzählte ihm, dass Dad es immer noch kaum schaffte, sich morgens die Schnürsenkel zuzubinden, und wie er es in all den Jahren nie hingekriegt hatte, sich um uns zu kümmern.

Und ich erzählte ihm auch von Colorado. Dass es nicht einfach darum ging, Spaß zu haben auf der Reise, sondern dass ich unbedingt dorthin musste. Dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich würde nie ausdrücken können, warum das so wichtig für mich war, egal wie sehr ich mich um die richtigen Worte bemühte. Dass es mir vorkam, als wollte ich jemandem ein Loch beschreiben. Außer dass es tief und schwarz und einsam darin war, gab es nichts darüber zu sagen.

Ich erklärte ihm, dass es bei der Reise nicht darum ging, lustige Spielchen zu spielen oder etwas Romantisches zu erleben, und dass meine Nähe zu Zack und Bethany sich nie zwischen ihn und mich schieben würde. Es ging um Bewältigung, ums Abschließen. Es ging darum, ein Geheimnis zu ergründen. Antworten zu finden, die Dad mir nicht geben konnte oder wollte. Es ging darum, dass ich an den Ort fuhr, an den meine Mom gewollt hatte, und dass ich einen Weg fand, mich innerlich mit ihr auszusöhnen. Es ging darum, mich auf einen Berggipfel zu stellen und zu schauen, ob ich sie spüren konnte. Es ging um mein ganzes Leben und ich konnte auf diese Reise unmöglich verzichten, bloß weil einer meiner besten Freunde zufällig ein Junge war. Ich musste mich vergewissern, dass meine Mom … mich nicht einfach so hatte fallen lassen. In Colorado hatte es irgendwas Besseres gegeben. Es musste etwas Besseres gegeben haben. Mom hatte mich nicht bloß aus einer … Laune heraus verlassen.

Ich redete und redete, bis die Sonne verschwunden war und ringsum Lichter angingen, die uns in einen orangefarbenen Schimmer tauchten. Auch die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos leuchteten jetzt hell und ich war froh darüber, dass uns das Wageninnere immerhin ein wenig Schutz bot.

Irgendwann fing ich an zu weinen. »Du musst das verstehen«, sagte ich und fuhr mit den Fingern über Coles Handrücken. »Ich kann nicht anders, ich muss das tun. Mit meinen besten Freunden, denn sie haben das alles zusammen mit mir durchgestanden. Und zwar beide. Zack manchmal noch mehr als Bethany.«

Cole war die ganze Zeit über still gewesen und hatte mich reden lassen. Als ich fertig war, blieb er eine Weile lang regungslos sitzen. Dann zog er langsam seine Hand unter meiner hervor. Mit einem Finger strich er über das Lederband an meiner Halskette. »Du hast sie also nie abgelegt?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«, fragte er weiter.

»Weil …«, begann ich und umschloss die Kette mit meiner Faust, »weil sie das Einzige ist, was ich von ihr habe.«

Er schaute nachdenklich, dann richtete er sich auf, kramte seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn ins Zündschloss und ließ den Motor aufheulen.

»Ich muss nach Hause«, sagte ich. »Ich muss mit …« Erst zögerte ich, dann setzte ich mich gerade hin und beendete den Satz: »Ich muss mit Bethany und Zack reden. Über gestern Abend. Ich will mich wieder mit ihnen vertragen.«

»Das hier dauert nicht lang«, sagte er. »Ich will dir nur was zeigen.«

Er legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz.

»Ich muss um sieben zu Hause sein«, sagte ich, aber meine Neugier war jetzt stärker als das Gefühl von Dringlichkeit. Ich würde Bethany und Zack sagen, ich hätte länger arbeiten müssen. Das würden sie schon verstehen. So wie immer.

Cole stellte das Radio an und gab beim Hinausfahren auf die Straße so viel Gas, dass ich in den Sitz zurückgedrückt wurde. Er hatte jetzt wieder diesen entschlossenen Gesichtsausdruck, genau wie am Vorabend oben am See, als er Football gespielt hatte. Diesen Gesichtsausdruck, der allen klarmachte, dass er kriegen würde, was er wollte, und dass niemand es wagen sollte, sich ihm in den Weg zu stellen. Den Gesichtsausdruck, der signalisierte: »Sieger.«

Nachdem wir ein paarmal abgebogen und in eine Wohngegend gekommen waren, fuhr Cole endlich wieder langsamer. Und noch ein paar Abbiegungen später blieb er vor einem grauen Haus stehen.

Ich spähte durch die Windschutzscheibe auf das dunkle Haus vor mir, dann sah ich Cole fragend an.

»Komm«, sagte er. »Du sollst sehen, was dir erspart bleibt.« Er stieg aus und schloss seine Tür, kam aber nicht wie sonst herüber zu mir, um die Beifahrertür zu öffnen. Also machte ich die Tür selbst auf, stieg aus und blickte ihn über das Autodach hinweg an.

»Sieht aus, als wäre niemand zu Hause«, sagte ich.

»Ach, sie ist da«, sagte er. »Beide sind sie da.«

Sonst sagte er überhaupt nichts mehr, während ich hinter ihm her nach drinnen ging und mich fragte, warum seine Stimme bei dem Wort »sie« so verbittert geklungen hatte.