»Zeig mal«, sagte Bethany, als ich mich neben sie setzte. Heute war die Premiere von Zacks Musical, und weil ich kurz vorher noch einen Zahnarzttermin gehabt hatte, konnte ich Bethany erst drinnen treffen. Das Gemeindezentrum war brechend voll. Ich war aufgeregt wegen Zacks Auftritt, obwohl mir klar war, dass er selbst in diesem Augenblick garantiert hinter der Bühne herumhampelte und Blödsinn machte, als wäre gar nichts dabei.
Ich lächelte breit, um Bethany meinen frisch überkronten Zahn vorzuführen.
»Sehr hübsch«, sagte sie. »Hat’s wehgetan?«
»Nur auf dem Hinweg«, sagte ich, schloss die Lippen und fuhr mit der Zunge über die Schneidezähne, damit kein Lippenstift kleben blieb. Dann durchwühlte ich meine Tasche nach einem Spiegel.
»Große Strafpredigt, was?«
Ich nickte. »Genau.« Ich fand meinen Spiegel, hielt ihn ins Licht und betrachtete mich prüfend. Meine Nase, meine Lippen und das Kinn waren längst geheilt. Nur ein paar blasse Narben waren zurückgeblieben, die ich größtenteils mit Make-up verdecken konnte. »Ich kann’s mir nicht leisten, dir jedes Mal neue Zähne zu kaufen, wenn’s dich juckt, irgendwelchen Blödsinn zu treiben«, imitierte ich die ruppige Stimme meines Vater. »Ich war echt kurz davor, ihm zu sagen, das bräuchte er auch nicht, ich könnte ja das Provisorium behalten. Ich hab mich sowieso dran gewöhnt. Dieser neue Zahn fühlt sich zu groß für meinen Mund an.«
In Gedanken hörte ich die Unterhaltung zwischen Dad und mir auf dem Weg zum Zahnarzt noch mal. Es war nicht nur eine Strafpredigt gewesen.
»Dieser Typ hat dir schon wieder Rosen aufs Auto gelegt«, hatte Dad gesagt. Die Frage, die darin lag, blieb unausgesprochen zwischen uns stehen.
»Ja«, antwortete ich vage. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen können.
»Ist es ernst?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Diese Frage konnte ich unmöglich beantworten. Ich wusste nicht, wie es überhaupt mit Cole und mir stand. Am Montag danach war er in der Schule gewesen, und obwohl er selbst auch ziemlich lädiert wirkte, tat er, als wäre zwischen uns überhaupt nichts passiert. Er hatte mir immer wieder Rosen aufs Auto gelegt und Kärtchen, in denen er mich seine Emily Dickinson nannte und mich um Verzeihung bat. So wie immer.
Aber jetzt … jedes Mal, wenn er mich anfasste, bekam ich eine Gänsehaut. Jeder Satz von ihm ging mir gegen den Strich. Und ich hatte Angst vor ihm. Trotzdem hatte ich ihn nicht verlassen. Ich wusste im Augenblick einfach nicht, wie.
»Ich weiß nicht«, sagte ich zu Dad und stierte aus dem Autofenster auf die Bäume, die draußen vorbeirauschten. Als wir beim Überlaufbecken vorbeifuhren, verkrampfte sich mein Magen. Wenn wir doch bloß zurückkönnten in diese traumhafte Zeit am Anfang, dachte ich. Wenn ich doch nur zurückbekommen könnte, was ich schon so lange vermisste. Und bevor mir klar wurde, was ich tat, war der Satz schon aus mir herausgeplatzt: »Dad, warum ist Mom weggegangen?«
Zuerst hatte er gar nichts gesagt, sondern nur starr geradeaus geschaut, mit den Händen am Lenkrad. Schweigen, wie immer. Keine Antwort, nur … Schweigen. Ich rieb mir die Stirn und wartete, rechnete dabei aber mit nichts anderem als mit noch mehr Schweigen.
Als wir schon fast bei der Zahnarztpraxis waren, sagte Dad zu meiner Überraschung: »Sie hat sich auf einen Typen eingelassen, der behauptet hat, er wäre ein spiritueller Heiler.« Unwillig schüttelte er den Kopf und lachte hämisch. »In Wirklichkeit war er nur ein Blackjack-Dealer ohne Job. Aber sie hat ihm geglaubt.«
Ich setzte mich gerade. »Sie hatte eine Affäre?« Meine Finger waren kalt, ich begriff das nicht.
Doch Dad schüttelte den Kopf, bog auf den Parkplatz ein und fuhr den Wagen in eine Lücke. »Nein«, sagte er. »Es war keine Affäre.« Er behielt den Schlüsselbund im Schoß und warf ihn immer wieder ein kleines Stück in die Höhe. »Alex«, meinte er seufzend, »du bist schon immer diejenige gewesen, die sie am meisten vermisst hat. Du musst das verstehen: Sie war krank. Geisteskrank. Und an dem Abend, an dem sie gegangen ist, war sie außerdem noch betrunken. Es war einfach ein Unfall, ein tragischer, schlimmer Unfall.«
Er öffnete die Tür und stieg aus, doch ich blieb wie festgewachsen sitzen. Das ergab alles keinen Sinn. Was hatte Mom von einem spirituellen Heiler gewollt? Wenn die beiden nichts miteinander gehabt hatten, in was für einer Beziehung hatten sie dann gestanden? Und warum hatte Mom alles aufs Spiel gesetzt, um mit diesem Mann zusammen zu sein? Ich wollte Dad noch so viel fragen, aber wie er da hinter dem Auto stand und sich die Schlüssel in die Hosentasche stopfte, war mir klar, dass das Gespräch für ihn beendet war.
Das alles wollte ich Bethany und Zack erzählen. Ich wollte wissen, ob sie vielleicht mehr damit anfangen konnten als ich. Ob sie irgendwelche Schlüsse daraus ziehen würden. Doch nach allem, was passiert war, lernte ich gerade erst wieder, mit meinen besten Freunden zu reden. Ich war mir nicht mehr sicher, was sie interessierte. Ich wusste nicht mal, ob sie noch nach Colorado wollten. Jedenfalls mit mir.
»Tja, ich finde, er sieht gut aus«, sagte Bethany über meinen Zahn und holte mich aus meinen Gedanken zurück. »Schlag ihn dir bloß nicht noch mal aus. Stell dir vor, was dein Dad sagen würde, wenn er zweimal für ihn zahlen müsste.«
Ich ließ den Spiegel wieder in meine Tasche fallen und zog mit Schwung den Reißverschluss zu. »Bitte, Bethany. Fang nicht damit an. Ich weiß, was du denkst, aber es ist wirklich nur wegen meiner Jacke passiert. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich mich abfangen können. Ich war selbst schuld, echt.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß. Ich hab doch bloß gesagt, ich hoffe, du schlägst dir den Zahn nicht noch mal aus, das ist alles. Eine Menge Leute sterben jedes Jahr durch irgendwelche Stürze. Ich will nur nicht, dass du in diese Statistik gerätst.« Sie musste gar nicht deutlicher werden, ich verstand auch so, was sie meinte. Wenn ich gesagt hätte, ich könnte fliegen, wäre das für sie auch nicht weniger glaubwürdig gewesen als die Sache mit dem Sturz.
Als ein Pärchen an uns vorbeiwollte, um zu den Plätzen ein Stück weiter in der Reihe zu kommen, standen wir auf.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte ich, während wir uns wieder setzten. »Wieso gebt ihr nicht einfach Ruhe?«
Sie hob abwehrend die Hände. »Okay«, sagte sie. »Aber falls du Hilfe brauchst, um Schluss zu machen …«
Als das Licht im Saal heruntergedimmt wurde, fragte ich mich, ob ich wirklich nur Hilfe beim Schlussmachen brauchte. Vielleicht steckte mehr hinter meinem Zögern als die Angst, was Cole mir (oder auch Bethany und Zack) antun würde, wenn ich mich von ihm trennte. Vielleicht hatte ich einfach Angst davor, ohne Cole zu leben. Konnte es sein, dass ich letztlich lieber mit einem Schläger zusammen war als total allein?
Und bevor ich es verhindern konnte, purzelten die Worte schon aus meinem Mund heraus: »Ich glaube … ich weiß nicht, irgendwie … manchmal verdiene ich’s.«
Bethany wandte sich mir zu und berührte mein Handgelenk, das auf der Armlehne lag. »Alex«, flüsterte sie, aber jetzt wurde es komplett dunkel und das Orchester setzte mit großem Getöse ein, was mich aus meiner eigenartigen Trance holte. »Alex«, flüsterte sie wieder, doch als ein Mann vor uns laut »Pssst« machte, ließ sie es bleiben.
Ich schüttelte den Kopf und deutete auf die Bühne, wo Zack aufgetaucht war. Er trug einen Fünfzigerjahre-Anzug und sang irgendwas über Zahltage.
Zur Pause gingen die Lichter wieder an. Wir beide klatschten ausgelassen und bejubelten Zacks erste Halbzeit, die um Klassen besser war als alles, was Mickey Hankins je auf die Bühne gebracht hatte, aber irgendwie füllte die Begeisterung unser Inneres nicht wirklich aus.
Wir hätten weiter darüber reden können. Ich hätte ihr von dem Abend erzählen können, an dem er mich ins Gesicht geschlagen hatte. Ich hätte sie in die Damentoilette ziehen und ihr von Brendas Selbstmordversuchen erzählen können und von Coles Dad, der Brenda – da war ich mir mittlerweile ziemlich sicher – auch verprügelte. Ich hätte ihr von meinem Handgelenk erzählen können und davon, dass Cole mich immer »Schlampe« nannte, wenn er wütend auf mich war. Ich hätte mich durch Zacks Gesang und Bethanys weiche Hand auf meinem Unterarm vielleicht hinreißen lassen, ihr alles zu erzählen.
Doch nun war das Licht wieder an und brannte so grell, dass ich mich ausgesetzt fühlte. Die Familie neben mir begann sich durch die Reihe zu schieben, das Publikum strömte zu den Toiletten und der Moment war vorbei.
Auch Bethany hastete aufs Klo, aber ich brauchte nur was zum Trinken, also ging ich zu dem Stand, den die Schüler der Hauswirtschafts-AG aufgebaut hatten, und bestellte mir eine Cola. Ich zahlte und trank schon einen Schluck, während ich mich vom Stand wegdrehte. Dabei stieß ich um ein Haar mit Cole zusammen.
»Da ist sie ja, meine Schönheit!«, rief er und küsste mich aufs Ohr. Sofort spürte ich, wie sich meine Schultern verkrampften. In letzter Zeit hatte ich jedes Mal, wenn Cole mich anfasste, diese Anspannung in den Schultern gespürt. Ich lächelte verhalten. »Du siehst umwerfend aus heute Abend. Ich wusste nicht, dass sich Leute für einen Schultheaterabend so in Schale werfen.«
Mein Herz raste. Ich hatte Mühe, aufzunehmen, was er sagte, und antworten konnte ich schon gar nicht. Wollte er mir etwa unterstellen, dass ich mich extra für Zack aufgedonnert hätte? Das wies in eine Richtung, die mir allzu vertraut war und die ich auf keinen Fall einschlagen wollte. Betont lässig nippte ich an meinem Getränk.
»Ich wollte dich überraschen«, fuhr er fort, legte mir einen Arm um die Taille und zog mich in eine Ecke, wo niemand sonst stand. »Aber ich bin erst gekommen, als die Vorführung schon losging, darum hab ich dich nicht rechtzeitig gefunden. Sah aus, als hättet ihr da unten ein ernstes Gespräch geführt, du und Bethany.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als die Cola runterzuschlucken und etwas zu sagen. Ich rechnete damit, dass er mich gleich schubsen oder kneifen würde, um damit zu signalisieren: Ich weiß genau, was du ihr erzählt hast. Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben nur über meinen neuen Zahn gesprochen. Guck mal!«
Ich zeigte ihm meine Schneidezähne und Coles Gesicht hellte sich auf. »Das ist der Mund, den ich kenne und liebe.« Er beugte sich vor und küsste mich, dann presste er die Lippen zu einem übertriebenen Schmatz zusammen. »Mhm … süß!« Er drückte sich an mich und flüsterte mir ins Ohr: »Und die Cola schmeckt auch ganz gut.« Unser alter Witz.
Langsam begann ich mich zu entspannen. Das war der Cole, den ich kannte und mochte. Der Cole, der sich bemühte, mit Zack und Bethany klarzukommen. Der Cole, der mir zuflüsterte, dass ich schön war, der mir Rosen ans Auto steckte und mir versprach, wir beide würden ein wunderbares, entspanntes Leben miteinander führen und einen Haufen hübscher Kinder kriegen. Warum konnte er nicht dieser Cole bleiben?
Die Lichter gingen aus und an, woraufhin das Publikum wieder zurück in den Zuschauerraum strömte.
»Hey«, sagte Cole, zog zwei Eintrittskarten aus seiner Jeanstasche und hielt sie hoch. »Ich hab zwei Plätze.«
Ich sah hinüber zu Bethany, die mir über die Schulter hinweg besorgte Blicke zuwarf, während sie den anderen Zuschauern nach drinnen folgte. Nach dem, was ich eben gesagt hatte, würde sie auch in einer Million Jahren nicht begreifen, wieso ich jetzt schon wieder neben diesem Typen stand, und noch viel weniger würde sie es begreifen, wenn ich mich in der zweiten Hälfte der Aufführung neben ihn setzte, statt bei ihr zu bleiben.
Vielleicht würde sie mich sogar zu überreden versuchen, doch zurück auf meinen alten Platz zu wechseln. Vielleicht würde sie mir eine Szene machen vor allen Leuten, die uns anglotzen würden. Sodass ich am Ende nicht anders könnte, als alles abzustreiten und sie als Idiotin darzustellen, nur um meine eigene Haut zu retten.
Aber trotz meiner Sorge, wie Bethany reagieren würde, wenn ich mich nicht wieder zu ihr setzte, war mir klar: Cole würde ausrasten, falls ich mich für sie statt für ihn entschied. Und vor Cole hatte ich viel mehr Angst als vor ihr.
»Okay«, sagte ich und nahm ihn am Arm. »Gehen wir.«
Wie sich zeigte, waren unsere Plätze nur ein paar Reihen hinter Bethany, die wie besessen die Menge absuchte, bis es im Zuschauerraum wieder dunkel zu werden begann.
Gerade als die Lichter ganz ausgingen, fand sie mich endlich.
Und auch ohne Beleuchtung sah ich in ihren Augen, wie enttäuscht und traurig sie war.