Kapitel 35

Als Cole Richtung See abbog, war mir klar, wohin wir fuhren. Zum ersten Mal seit dem Musicalabend waren wir allein unterwegs. Bisher hatte ich es geschafft, das zu vermeiden, obwohl Cole es immer wieder darauf angelegt hatte.

Ich hatte Angst, mit ihm allein zu sein. Angst, dass er mir wieder etwas antat. Angst, mir könnte nichts anderes übrig bleiben, als mich von ihm zu trennen, und dann würde er komplett durchdrehen. Ein abgebrochener Zahn war gar nichts gegen all das, was ich mir sonst noch brechen konnte. In meinem Innern gab es Bereiche, die noch unverletzt waren und an denen keine Narben zu sehen sein würden. Ich hatte Angst, dass er diese Stellen in meinem Innern aufspüren und kurz und klein schlagen würde.

Aber egal, wie sehr ich es wollte, und egal, wie oft Bethany mich dazu zu überreden versuchte, ich konnte mich nicht von ihm trennen. Cole hatte etwas unendlich Vertrautes für mich. Ich liebte ihn. Ich verstand ihn. Wir verstanden einander. Und das gibt es nicht oft. Wenn du den einen Menschen wegschickst, dessen Seele dir ganz nah ist … wenn du ihn dir durch die Finger gleiten lässt … wirst du dann jemals wieder jemanden finden, der dich liebt? Ich wusste es nicht und fürchtete mich davor, es herauszufinden.

Wir redeten nicht miteinander, während wir durch den Wald fuhren. Coles Hand lag in meinem Schoß, seine Finger waren verschlungen mit meinen. Er sang mit bei einem Lied, das im Radio lief; ich spähte aus dem Fenster und betrachtete die kahlen Äste, die sich vor dem klaren Vorfrühlingshimmel abzeichneten. Die Stimmung zwischen uns war entspannt.

Cole hielt genau wie sonst an der Stelle mit dem verschlossenen Tor an und parkte das Auto auf einem Flecken trockener Gräser. Wir stiegen beide aus und stapften durch das Blattwerk, bis wir am oberen Ende des Überlaufbeckens herauskamen.

Cole marschierte wie immer unbekümmert am Rand entlang, aber als ich den Fuß hob, um ihm hinterherzugehen, spürte ich, wie mich eine vertraute Angst packte und in meiner Brust widerhallte. Wir waren schon lange nicht mehr hier gewesen. Es war so hoch. So gefährlich. Und seit dem letzten Mal war verdammt viel passiert. Cole selbst war inzwischen viel gefährlicher geworden.

»Komm schon, Emily Dickinson«, sagte er jetzt und streckte die Arme nach mir aus. »Ich schmeiß dich nicht runter.« Er lachte, als wäre das ein besonders komischer Witz, aber meine Knie begannen zu zittern, als mir klar wurde, dass ich mich genau davor fürchtete.

»Ich kann nicht«, sagte ich und würgte ein Lachen heraus. Mir klapperten die Zähne. »Ist zu lange her.«

Cole verdrehte die Augen und kam auf mich zu. »Angsthase«, neckte er mich. Dann nahm er mich genau wie bei unserem ersten Date an den Ellbogen, lief rückwärts und führte mich so bis in die Mitte.

»Siehst du? Du hast es geschafft, du Angsthase«, sagte er. Er setzte sich, ließ die Beine lässig über den Betonrand baumeln, rutschte ein Stück zurück und klopfte dann auf den Boden zwischen seinen Beinen. »Komm schon. Setz dich.« Als ich einfach stehen blieb, die Arme gegen den kalten Wind um mich geschlungen und am ganzen Körper zitternd, verdrehte er wieder die Augen. »Alex, ich pass auf dich auf. Setz dich. Ich will dir was erzählen.«

Langsam, ganz langsam, ließ ich mich hinunter in seinen Schoß. Meine Beine baumelten jetzt über den Rand, dabei lösten sich Steine und stürzten nach unten ins Wasser. Ich drückte mich gegen Cole und sog seinen Geruch ein, spürte seine Brust an meinem Rücken, die mir in den letzten Monaten so ganz und gar vertraut geworden war, und schloss die Augen. Erinnerungen überfluteten mich mit einer solchen Kraft, dass es beinahe wehtat.

Er drückte seine Wange gegen mein Ohr.

»Ich hab meinen Eltern gestern gesagt, dass ich mit dem Sport aufhöre«, erklärte er.

»Echt?«, fragte ich und drehte mich so nach hinten, dass meine Stirn jetzt an seinem Kinn lag.

Er nickte. »Ich hatte Angst, dich zu verlieren.« Er nahm mein Kinn und hob es an, damit ich ihm direkt in die Augen guckte. »Ich würd’s nicht aushalten, dich zu verlieren. Ich liebe dich zu sehr.« Er beugte sich vor und küsste mich sanft. »Alles, was passiert ist, Alex. Das ist vorbei. Es wird sich nie wiederholen.«

Ich zog den Kopf ein, wodurch mein Kinn gegen seine Hand gedrückt wurde. »Das sagst du nicht zum ersten Mal«, murmelte ich.

Ich spürte, wie sich sein Bauch vorwölbte und zurücktrat, als er erst tief einatmete und dann die Luft wieder ausströmen ließ. »Ich weiß«, sagte er. »Aber dieses Mal ist es anders. Ich ändere mich. Ich bin gestern bei einem Gewaltberater gewesen. Für dich, Alex. Ich ändere mich, weil ich dich liebe.«

Eine Welle von Erleichterung strömte durch meinen Körper. Cole hatte schon öfter gesagt, er würde sich ändern, aber diesmal fühlte es sich ganz anders an. Er hatte noch nie darüber gesprochen, zu einem Psychologen zu gehen. Fast gegen meinen Willen begann ich zu glauben, dass er es dieses Mal wirklich ernst meinte. Ich drehte mich jetzt mit dem ganzen Oberkörper zu ihm und sah ihm ins Gesicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Jetzt konnte alles anders werden. Es konnte wieder so werden wie am Anfang. Ich konnte den alten Cole zurückhaben, und zwar für immer. Ich war so unfassbar glücklich, dass ich beinahe geweint hätte.

Cole nahm meine Hand von seinem Oberschenkel, legte sie zwischen seine Handflächen und liebkoste meine Finger. »Ich will dich heiraten, Alex«, sagte er. »Ich möchte, dass wir für immer zusammen sind.«

Und auf einmal fand ich meine Stimme wieder. »Das will ich auch«, sagte ich, selbst überrascht, wie wahr dieser Satz mir erschien. Trotz all dem, was wir durchgemacht hatten, wünschte ich mir eine Zukunft mit ihm. Und ich glaubte an diese Zukunft.

Cole rutschte ein Stück zurück und zog mich mit sich, weg vom Überlaufbecken. Als wir in sicherem Abstand waren, drehte ich mich um, sah ihm ins Gesicht und schlang die Beine um seine Taille. Dann küssten wir uns. Ich hatte keine Angst mehr. Ich vergaß, wie hoch oben wir waren und wie uns jeder noch so kleine Ausrutscher bis tief nach unten stürzen lassen würde.