Ich bekam Besuch. Viel Besuch. Leute aus der Schule. Cousinen, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Nachbarn. Bethany und Zack, die bedrückt und düster wirkten, hilflose Witzchen machten und schnell wieder gingen. Ich wünschte mir, sie würden bleiben. Ich vermisste sie mehr denn je.
Und dann war da noch Brenda. Verlegen betrat sie das Zimmer, mit einem Strauß Blumen in der Hand. Die leuchtenden Farben der Blüten wirkten vor dem Hintergrund ihrer fahlen, blassen Haut derart strahlend, dass mich der Anblick an eines dieser Fotos erinnerte, auf denen nur ein einziger Gegenstand in Farbe und alles Übrige schwarz-weiß ist.
»Sie haben ihn eingesperrt«, sagte sie kaum hörbar.
Meistens bewegte ich mich sehr wenig – oft machte ich nicht mal die Augen auf, weil sie so geschwollen waren –, aber jetzt nickte ich. Ich wusste das schon. Georgia hatte neben meinem Bett gesessen, als ich im Krankenhaus zu mir kam, und das war das Erste gewesen, was sie mir gesagt hatte.
Brenda kratzte sich am Arm, wo sie die Blumen gehalten hatte, und wieder erschütterte mich, wie dünn sie war.
»Er hat behauptet, du hättest ihn zuerst geschubst«, sagte sie. Gleich darauf schüttelte sie den Kopf und schaute zum Fenster, als würde sie bereuen, diesen Satz gesagt zu haben. Irgendwann stand sie einfach auf und ging. Sie kam nicht zurück. Wahrscheinlich hatte sie nur selbst sehen wollen, was ihr Sohn angerichtet hatte. Und schon allein der Anblick muss ihr wehgetan haben.
Auch Celia war gekommen. Mit Shannin, Dad und den Omas. Sie hatten Dads Geburtstagskuchen mitgebracht und wir hatten im Krankenhauszimmer ein kleines Familienfest gefeiert, wobei Celia so verdrießlich geguckt hatte, dass es mir in der Seele wehtat. Aber später, als Dad, Shannin und die Omas zum Kaffeetrinken runter in die Cafeteria gingen, war sie zurückgekommen, mit einer Art Buch in der Hand.
Sie hielt es mir hin. Es war ein Fotoalbum.
Ich sah zu ihr hoch und versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, dann reckte ich ihr meinen geschienten Arm entgegen. »Ich kann so nicht …«, sagte ich.
Einen Moment lang wirkte sie unschlüssig, es sah fast so aus, als würde sie buchstäblich schwanken. Dann trat sie neben mein Bett, kletterte hinein und legte sich neben mich, genau wie früher, als wir noch klein waren. Sie schlug das Album auf, und zwar so, dass wir beide zugleich hineinschauen konnten.
Ich keuchte und presste mir die gesunde Hand auf den Mund. Die Fotos. Sie waren alle da.
»Wo hast du …«
»Ich hab gestern in deinem Bett geschlafen«, sagte sie. »Ich dachte, du stirbst. Verlässt uns, genau wie Mom. Und da … hab ich zufällig diese Kiste gefunden, zwischen dem Bett und der Wand. Ich wusste gar nicht, dass es die Bilder noch gibt.«
Sie blätterte die Seiten um, eine nach der anderen, und da waren sie. Mom und Dad, schön und zufrieden und vereint.
»Dad hat sie sortiert«, sagte Celia. »Gleich gestern Nacht. Und er hat diese hier dazugetan. Er hatte sie bei sich im Schlafzimmerschrank.«
Sie überblätterte ein paar Seiten und schlug eine Doppelseite mit neuen Bildern auf. Es waren Hochzeitsfotos. Dutzende von Hochzeitsfotos. Seite um Seite um Seite. Mom und Dad, so glücklich miteinander. So verliebt. Und so vollkommen.
Ein paar Seiten weiter hinten waren noch mehr neue Fotos eingeklebt: Babybilder. Von Shannin, von mir und von Celia. Mom wirkte müde und voller Liebe. Dad sah wahnsinnig stolz aus. Fotos von uns im Krabbelalter, Schulfotos, Fotos im Erdbeerfeld und beim Rutschen auf einem Spielplatz, Geburtstagsfotos. All diese Fotos waren da – und damit der Beweis, dass unsere Mutter uns geliebt hatte.
Der Beweis, dass ich richtiggelegen hatte, all die Jahre über.
Später, als die Omas mit Celia und Shannin zum Essen gingen, setzte sich Dad an mein Bett und blätterte still in dem Album. Er schien untröstlich, noch mehr als sonst.
Als er zu dem Bild kam, wo Mom am Straßenrand steht und sich die Blume über den Kopf hält, lachte er leise in sich hinein und berührte es mit dem Finger.
»Wo war das, Dad?«, fragte ich. »Welcher Berg ist das?«
Er streichelte den Berg im Hintergrund. »Cheyenne Mountain«, sagte er. »Bei Colorado Springs. Da haben wir unsere Flitterwochen verbracht.«
Cheyenne Mountain.
»Sie hat immer gesagt, in den Bergen hätte sie sich zum letzten Mal wirklich ganz gefühlt.«
»Wollte sie deswegen zurück? Weil sie sich nach eurer Hochzeitsreise zurückgesehnt hat?«
Gott, das konnte doch nicht sein, dachte ich. War sie ums Leben gekommen, bloß weil sie aus lauter Sentimentalität wieder in die Berge wollte?
Er schüttelte den Kopf und klappte das Album zu. »Alex«, sagte er und sah mir tief in die Augen, »eure Mutter war geisteskrank. Und nachdem ihr Mädchen geboren wart, ging es ihr immer schlechter. Ihr Denken war verdreht. Sie hat gesagt, sie liebt euch so sehr, dass jedes Mal etwas in ihr zusammenbricht, wenn ihr weint. Sie war davon überzeugt, keine gute Mutter zu sein.«
»Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Warum Colorado? Wieso dieser Heiler? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Dad schüttelte den Kopf. »Nein, tut es wirklich nicht. Er hat ihr eingeredet, sie müsste einfach nur zurück an den Ort, an dem sie sich zum letzten Mal ganz bei sich gefühlt hat, dann würde es ihr besser gehen und sie könnte eine gute Mutter für euch Mädchen sein. Das klingt verrückt und das war es auch. Aber sie hat ihm geglaubt.«
In mir begann sich alles zu drehen. Sie hatte uns gar nicht verlassen wollen. Im Gegenteil, sie war gerade wegen uns weggegangen, für uns. Sie hatte zurückkommen wollen, gesünder als vorher. Sie hatte Heilung gesucht, um uns besser lieb haben zu können.
Und ich musste mir die Frage stellen, wie anders das letzte Jahr wohl gewesen wäre, wenn ich das gewusst hätte. Wie anders mein ganzes Leben verlaufen wäre. Warum hatte mir Dad das nicht früher gesagt? Warum hatte er seinen eigenen Kummer nicht überwinden und mir die eine Sache erzählen können, die ich so dringend hören wollte: dass meine Mutter mich geliebt hatte. Dass ich zählte. Dass ich wichtig war. Und dass Moms Tod nur ein einziger großer und trauriger Unfall gewesen war.
Nachdem Dad das Zimmer verlassen hatte, krümmte ich mich auf der linken Seite zusammen, weil die etwas weniger wehtat als die rechte, und weinte. Mom war weg und wir würden sie niemals zurückholen können.
Aber ich lebte noch. Für mich gab es Hoffnung.