Das Schulbasketballteam hatte eine elend schlechte Saison und so war es fast schon ein Wunder, dass sich unsere Schule überhaupt für dieses Turnier qualifiziert hatte. Man spürte die Anspannung auf der Tribüne. Vor allem die Eltern hofften auf einen entscheidenden Sieg der Mannschaft, der die Wende einläuten würde. Den Schülern in der Menge ging es wohl mehr darum, Spaß zu haben. Sich voreinander zu produzieren. Das Gefühl von Freiheit zu genießen. In der Schule abzuhängen, ohne dass Unterricht war. Ein bisschen zu schlägern oder rumzuknutschen, ein bisschen schriller geschminkt zu sein als sonst.
Ich war alleine dort. Bethany hatte ich seit vierzehn Tagen nicht mehr gesehen, zuletzt an dem Wochenende, an dem wir zusammen bei Zack gewesen waren, um ihm beim Lernen seiner Rolle zu helfen – ich hatte mich den ganzen Abend über wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Cole war Bethany gegenüber mittlerweile entspannter, aber ihre einzige Reaktion war, dass sie mich links liegen ließ. Sie hatte an dem Abend bei Zack kaum mit mir gesprochen, wohl nicht aus Ärger über mich, sondern weil sie offenbar nicht wusste, was sie mit mir reden sollte. Es war das erste Mal überhaupt, dass ich mir in Gegenwart von Bethany und Zack wie ein Eindringling vorkam. Wir waren immer das Katastrophen-Trio gewesen, das Monster mit den drei Köpfen. Jetzt waren es die beiden … und ich.
Wahrscheinlich war Bethany auch jetzt bei Zack und ging seinen Text mit ihm durch, statt zum Spiel zu kommen. Vielleicht waren die beiden aber auch im Kino. Jedenfalls wurde mir wieder einmal klar, dass ich von ihrem alltäglichen Geplapper und ihren Plänen nichts mehr mitbekam.
Sogar wenn Zack und ich zusammen Lernlabor hatten, arbeiteten wir fast die ganze Zeit. Es gab kaum noch Persönliches zwischen uns beiden. Er machte keine Witzchen mehr, sondern saß nur da und beantwortete brav meine Fragen.
Hätte ich ein Gedicht über unsere Freundschaft schreiben wollen, hätte ich die Wörter beklommen und gekünstelt benutzen müssen.
Offen gesagt war ich wirklich ein bisschen sauer, dass sie mich ausgerechnet in dem Moment abhängten, in dem ich Cole dazu gekriegt hatte, meine Freundschaft mit ihnen zu akzeptieren. Außerdem musste ich auf die Art alleine zum Basketballmatch, wenn ich Cole spielen sehen wollte. Wie es aussah, machte ich in letzter Zeit immer mehr alleine.
Und das Spiel lief schlecht. Zur Halbzeit stand es 43:12. Zu Beginn der zweiten Halbzeit landete Coles Team ein paar Treffer, aber das Endergebnis war mit 62:23 auch diesmal peinlich für die Mannschaft.
Ein paar Leute buhten sogar, als die Spieler vom Feld gingen. An den hängenden Schultern konnte man erkennen, wie enttäuscht alle waren. Alle außer einem. Nummer 12. Coles Schultern unter dem Trikot waren angespannt und hart. Er hatte so schlecht gespielt, dass ihn der Trainer für acht Minuten auf die Reservebank gesetzt hatte.
Ich wusste, dass er einen Moment für sich allein brauchen würde, um alles abzuschütteln, zumal wir später zu einer After-Game-Party bei Trent wollten. Er musste erst mal runterkommen und sich in Partylaune bringen. Und zwischen uns lief es gerade wirklich gut. Ich wusste mittlerweile genau, wann es besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Und das hier war ganz klar eine von diesen Situationen.
Darum blieb ich erst einmal auf der Tribüne sitzen und überlegte, wie ich Cole aufmuntern könnte, wenn er nachher aus der Umkleide kam.
Bald saß in meiner Reihe niemand mehr außer mir, und als ich den Kopf hob, merkte ich, dass fast alle Zuschauer gegangen waren.
Ich stand auf und genau in diesem Moment sah ich sie: Zack und Bethany. Sie waren eben doch beim Spiel gewesen, anscheinend hatten sie nur ein paar Reihen hinter mir gesessen. Jetzt steckten sie die Köpfe zusammen, hörten Musik aus dem gleichen Ohrhörer. Wie lange waren sie wohl schon da? Wieso hatten sie sich nicht bemerkbar gemacht?
»Hey«, rief ich laut. Sofort schossen ihre Köpfe hoch und sie blickten mich an.
»Alex«, rief Zack zurück. »Ich hab dich gar nicht gesehen!« Aber mir fiel auf, dass Bethany leicht den Kopf drehte, um ihr Grinsen zu verbergen. Es war eine Lüge. Die beiden hatten genau gewusst, dass ich da war, und mich ignoriert. Mit voller Absicht.
»Natürlich nicht«, sagte ich ironisch. »Denn sonst hättest du ja garantiert Hallo gesagt, oder?«
Bethany guckte mich irritiert an, doch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, tippte ihr ein Mädchen auf die Schulter, das ich schon öfter bei Bethany am Schließfach gesehen hatte. Als Bethany sich umdrehte, verschwand ihr finsterer Gesichtsausdruck und sie lächelte strahlend. Dann stand sie auf, umarmte die andere und die beiden plauderten munter drauflos.
Wie war das bloß passiert? Seit wann hatte meine beste Freundin keine Lust mehr, mit mir zu reden? Und seit wann verstand sie sich mit diesem Mädchen so gut wie früher nur mit mir?
Zack kletterte eilig über die Sitzreihen, bis er direkt vor mir stand.
»Hey«, sagte er. »Hör mal, Bethany wird dich ziemlich sicher fragen, ob’s dir was ausmacht, wenn Tina mitkommt nach Colorado.«
»Wer ist denn Tina?«, fragte ich, doch dann dämmerte mir, dass er wohl Bethanys neue Freundin meinte. »Die da?«, fragte ich und deutete mit dem Finger auf sie.
Zack nickte. »Du wirst sie mögen.«
»Nein«, sagte ich und schob meine Arme wütend in die Jackenärmel.
»Die zwei verstehen sich super«, sagte er mit einem Seitenblick auf Bethany. »Und sie ist echt witzig.«
»Das ist mir egal, Zack«, entgegnete ich und merkte zu spät, wie laut ich sprach. »Bei dieser Reise geht’s nämlich nicht darum, sich dauernd totzulachen. Aber anscheinend habt ihr über eurem tollen Campingbus und den heißen Tattoos und dem Extra-Budget für echten Indianerschmuck sowieso längst vergessen, was eigentlich der Sinn dieser Reise ist.«
Er streckte die Hände vor, als wollte er die Schallwellen stoppen, die aus meinem Mund kamen, und verhindern, dass sie Bethany erreichten. Aber dafür war es zu spät. Sie und Tina starrten uns an, mit dem gleichen Ausdruck von Abwehr im Gesicht.
»Holla«, sagte Zack. »Mach doch nicht gleich so einen Aufstand. Wir wissen ganz genau, um was es geht.«
»Sieht für mich aber nicht danach aus«, schnauzte ich und kletterte über die Bank vor mir, um an ihm vorbeizukommen. »Als wollte ich die Tage, auf die ich mich mein gottverdammtes Leben lang gefreut habe, ausgerechnet mit Tina-der-Ulknudel verbringen!« Sarkastisch streckte ich den Daumen in die Höhe. »Super Plan, Leute. Echt wahr!«
Damit rannte ich zur Treppe.
»Ach, Alex, sei doch nicht so«, rief Zack hinter mir her.
Ich wollte mich schon umdrehen, denn so getroffen wie jetzt hörte sich Zack selten an und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Aber dann hörte ich Bethany mit barscher Stimme sagen: »Egal, lass sie doch.« Also streckte ich den Rücken durch und lief noch schneller.
Allerdings ging ich nicht wie sonst rechts den Gang entlang, um vor der Umkleide auf Cole zu warten, sondern nach links, raus auf den Parkplatz. Die grellen Neonröhren in der Schule konnte ich jetzt nicht ertragen, auch der Schweißgeruch und die feuchte Luft in der Sporthalle waren mir zuwider. Und mit der Aussicht, Bethany und Zack – und womöglich auch Tina – zu begegnen, kam ich schon gar nicht klar. Stattdessen suchte ich Coles Auto und lief in endlosen Kreisen immer wieder rundherum.
Obwohl das Spiel ein Desaster gewesen war, breitete sich Partystimmung aus. Leute hingen auf dem Parkplatz rum, holten Getränke aus Kühlboxen, die auf den Rücksitzen standen. Jungs trugen Mädels huckepack, johlten ihren Kumpels zu, die aus der Umkleide kamen, und riefen Sachen wie: »Hey, Alter, die waren ein harter Brocken, aber du hast echt super gespielt!«
Die Eltern hatten sich alle davongemacht, mit schlafenden Kleinkindern auf dem Arm und überdrehten Grundschulkids an der Hand, die zu viel Süßes gegessen hatten. Die Rücklichter ihrer Autos waren die Hauptstraße hinunter Richtung Stadt verschwunden und bald gehörte der Parkplatz wieder ganz den Teenagern.
Aber Cole tauchte so lange nicht auf, dass sich am Ende auch sie mit großem Getöse davonmachten – sie beugten sich aus den offenen Autofenstern, brüllten ohne Grund in den Nachthimmel und fuhren mit quietschenden Reifen weg. Jetzt standen nur noch zwei Autos auf dem Parkplatz, das von Cole und das vom Basketballtrainer. Coach Dample blieb nach Spielen immer lange; er brach erst auf, wenn alle anderen gegangen waren.
Soweit ich mitgekriegt hatte, wollten so ziemlich alle zu Trent nach Hause. Ich fragte mich, ob Bethany und Zack auch dort sein würden. Super! Wenn ja, dann war bestimmt auch die witzige Tina dabei.
Dieser Gedanke machte meine Wut und mein Unglück wieder stärker. Warum? Warum musste immer alles so schwierig sein?
Unruhig lief ich auf und ab und überlegte. Vielleicht ließe sich das irgendwie bereden. Vielleicht konnte ich ihnen klarmachen, dass diese Reise für mich nun einmal etwas sehr Persönliches war. Und dass da jemand, den ich gar nicht kannte, keinen Platz hatte, auch wenn diese Tina bestimmt wirklich sympathisch war.
Vielleicht konnte ich ihnen erklären, dass mir gerade jetzt, da ich mit Cole zusammen war, alles noch viel mehr bedeutete. Ich musste diese Reise machen und endlich verstehen, was da draußen in den Bergen so wichtig gewesen war. Ich musste mir beweisen, dass ich für Mom verdammt noch mal mehr hätte zählen müssen als alles, was ihr dort verlockend erschienen war. Ich musste mich ein für alle Mal von all dem befreien – damit ich endlich aufhören konnte, das kleine Kind zu sein, das von der eigenen Mutter verlassen worden war, und die unversehrte Alex werden konnte, die mit sich im Reinen war statt entsetzlich bedürftig und unberechenbar. Es war wichtig für mich, dass sie das wussten. Dass sie verstanden, wie nebensächlich ich mich immer wieder gefühlt hatte und wie es mir vorkam, als könnte ich dieses Gefühl zurückverfolgen bis zu dem Tag, an dem die Polizei das Gehirn meiner Mutter von der Straße gespritzt hatte. Und wie eine Spur von jenem Tag in meiner Kindheit zu diesem anderen Tag führte, an dem ich Coles Haus mit einem blauen, geschwollenen Gesicht verlassen hatte. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ihnen zu erzählen, dass Cole mich geschlagen hatte. Dann würden sie vielleicht verstehen, warum ich einen Beweis dafür brauchte, dass ich nicht nebensächlich war.
Aber um ihnen all das zu erklären, würde ich mein Geheimnis verraten müssen. Und jetzt, wo wieder alles in Ordnung war zwischen Cole und mir, wollte ich das nicht. Ich war nicht bereit, das Mädchen zu sein, das von ihrem Freund verprügelt wurde. Und ich war auch nicht bereit, Cole als einen Typen bloßzustellen, der seine Freundin schlug, nur weil er eifersüchtig und frustriert war. Schließlich war Cole nicht immer so, doch das würde niemand hören wollen.
Bis ich ihn endlich aus dem Seiteneingang der Schule kommen sah, hatte ich das Im-Kreis-Herumlaufen gründlich satt. Mir war nach und nach immer kälter geworden und inzwischen fror ich richtig. Ich hatte den Reißverschluss meiner Jacke bis ans Kinn hochgezogen und die Arme aus den Jackenärmeln gezogen und sie mir wärmend um die Taille geschlungen, genau wie früher als kleines Kind. Mir war klar, dass ich lächerlich aussah, wie ich da als eine Art Mumie mit leeren Jackenärmeln herumhüpfte, aber es half.
»Ich hab gedacht, du bist drin«, sagte Cole, während er mit langen, schnellen Schritten auf mich zukam. In den dichten Schatten, die auf dem Parkplatz lagen, konnte ich seine Miene nicht erkennen, doch ich sah, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Das Spiel steckte ihm noch in den Knochen.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hab frische Luft gebraucht.«
»Na super«, erwiderte er und drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung.
»Hey, tut mir echt leid, das mit dem Spiel«, sagte ich und zitterte jetzt noch mehr. »Wär nur fair gewesen, dass ihr gewinnt.«
Er hatte die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt, unterbrach sich aber mitten in der Bewegung. »Ach ja?«
Irgendwas an seinem Gesicht warnte mich. Das hier war einer von den Abenden, an denen ich gut aufpassen musste, was ich sagte. Er wirkte gefährlich, und was das für mich bedeuten konnte, wusste ich ja.
»Ich hab nicht gemeint …«, begann ich, kaute dann aber auf meiner Lippe, weil ich nicht weiterwusste. Meine Gedanken rasten. Was konnte ich sagen? Was würde ihn umstimmen? »Fahren wir jetzt zu Trents Party?«
»Nein«, antwortete er, streckte den Arm aus und packte mich an der Schulter. Sein Griff war nicht besonders fest, trotzdem stieg dieses kalte Gefühl wieder in mir hoch. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an die Schläge ins Gesicht und den hämmernden Schmerz in meiner Wange. An mein Genick, das steif geworden war, weil ich zwei Tage lang immer auf der Seite gelegen und mich krank gestellt hatte, damit niemand mein blau geschlagenes, zugeschwollenes Gesicht sah. Ich würde das kein zweites Mal ertragen können.
»Nein. Wir bleiben hier und du erklärst mir, wie wir dieses Spiel hätten gewinnen können, deiner Meinung nach. Anscheinend kennst du dich ja super aus mit Basketball.« Dabei schubste er mich ein bisschen, versetzte mir einen kleinen Stoß in die Seite. Das machte er dann noch drei oder vier Mal, was mich an einen Bären erinnerte, der mit seiner Beute spielt, bevor er sie frisst. »Na?«, sagte er immer wieder. »Sag’s mir. Erklär mir, wie hätten wir gewinnen können.«
Ich antwortete nicht, sondern versuchte, so wenig wie möglich zu reagieren. Ich hoffte, dann würde er das Interesse verlieren und einfach ins Auto steigen, wir würden zu Trent rüberfahren, er würde dort was trinken und alles wäre wieder okay.
Aber er verlor das Interesse nicht. »Hey, Leute!«, brüllte er über den leeren Parkplatz. »Hört gut zu! Anscheinend ist diese Schlampe hier, die sich meine Freundin nennt, nicht einfach nur eine dahergelaufene Schreiberin mieser Gedichte, sondern sie versteht echt was von Sport. Sie wird uns jetzt erklären, wie man’s hinkriegt, beim Basketball zu gewinnen.«
»Cole«, zischte ich. »Es ging doch gar nicht darum, dass ich dir sage, wie man gewinnt. Ich hab nur –«
»Was? Was hast du ›nur‹? Los, raus damit. Wir sind alle ganz Ohr.«
Er schubste mich wieder, diesmal fester, sodass ich einen Schritt nach hinten machen musste. Nervös sah ich mich um. Da war niemand, der irgendwas hätte hören können. Die Erkenntnis ließ mich frösteln – es war wirklich keiner mehr da. Er konnte mit mir machen, was er wollte.
»Bitte, Cole«, sagte ich mit wackliger Stimme. Ich hasste es, dass ich so unsicher klang – als würde ich um mein Leben betteln. Und irgendwie tat ich das ja auch. »Können wir jetzt nicht einfach zu Trent?«
»Können wir jetzt nicht einfach zu Trent?«, äffte er mich mit lächerlich hoher Stimme nach. Ein Schubser. »Können wir jetzt nicht einfach zu Trent? Bitte, Cole?« Noch ein Schubser.
Ich versuchte gar nicht erst, ihm standzuhalten, sondern wich jedes Mal einen Schritt zurück. Doch er kam mir nach. Und schubste mich wieder. Ein Schubser. Ein Schritt zurück. Wir waren jetzt schon ein ganzes Stück vom Auto entfernt und kamen immer näher an die Baumreihe, die den Parkplatz begrenzte.
Ich flehte ihn an aufzuhören und schlang meine Arme fester um die Taille. Gern hätte ich sie wieder in die Ärmel gesteckt, aber ich hatte Angst, das würde nach Widerstand aussehen oder vielleicht sogar, als würde ich ihn – mir unvorstellbar – zurückschubsen wollen. Ich hatte noch nie versucht, mich gegen Cole zu wehren, und jetzt würde ich ganz sicher nicht damit anfangen. Ich fürchtete mich viel zu sehr davor, wie schlimm er zuschlagen würde, falls ich das tat. »Komm, Cole. Lass uns einfach gehen«, sagte ich und versuchte, meine Stimme tief und fest klingen zu lassen, damit er mich nicht wieder nachäffte. Damit sie ihn nicht reizte. Aber es hatte keinen Sinn. Er war schon total gereizt.
Ein Schubser, ein Schritt. »Weißt du was, Alex? Du bist unglaublich blöd.« Ein Schubser, ein Schritt. »Du bildest dir ein, du wüsstest alles. Das macht mich echt fertig. Du denkst, du hättest auf alles eine Antwort. Du schreibst beschissene kleine Amateurgedichte und denkst, du wärst Gott.« Ein Schubser, ein Schritt. »Gibt nichts Schlimmeres als eine Schlampe, die dir sagen will …« Ein Schubser, ein Schritt. Ein Taumeln. »… wo’s langgeht.«
Der Schubser beim letzten Wort war fester als die vorherigen. Ich versuchte, die Balance zu halten, doch weil meine Arme immer noch in der Jacke feststeckten, schaffte ich es nicht. Ich würde fallen.
Diesmal gab ich keinen Laut von mir. Ich war zu sehr in Panik und es passierte alles viel zu schnell. Aber im letzten Augenblick drehte ich mich und versuchte im Fallen, meine Hände doch noch frei zu kriegen, damit ich mich abstützen konnte. Aber ich schaffte es nicht. Sondern krachte auf die Betoneinfassung am Rand des Parkplatzes. Meine Schulter bremste die Wucht des Falls zwar ein bisschen, aber trotzdem knallte ich mit dem Gesicht auf den Beton.
Und er lachte.
Ein richtig großes Lachen. Ho, Ho, Ho, lachte er laut und herzhaft.
Endlich schaffte ich es, meine Arme in die Ärmel hineinzuwinden, und fasste mir ans Gesicht. Meine Hand wurde sofort nass und im Dunkeln sahen meine Finger schwarz aus. Blut. Die Schulter schmerzte, wirkte aber halbwegs in Ordnung: Ich konnte sie bewegen, gebrochen war wohl nichts. Aber mein Kinn und meine Lippe taten furchtbar weh. Irgendwas Hartes fuhr in meinem Mund herum und ich spuckte es in die Handfläche. Ein Stück Zahn. Mit der Zunge fuhr ich über die scharfe Kante an einem meiner Schneidezähne. Es war ein großes Stück abgebrochen.
Ich rappelte mich hoch und stand auf, zu wütend, um zu weinen, und zu verängstigt, um etwas zu sagen – wieder fühlte ich mich völlig taub. Wie abgeschaltet. Als läge ein Schleier über mir. Bestimmt war diese Taubheit ein schlechtes Zeichen – es gab jede Menge andere Gefühle außer Taubheit, die ich hätte haben können, und es machte mir Sorgen, dass ich keines davon spürte.
Cole lachte immer noch, er hielt sich den Bauch, als wäre das hier das Komischste, was er je gesehen hatte. Ich lief um ihn herum, mit der Hand über dem Gesicht, öffnete die Autotür und setzte mich hinein.
Ich hatte immer geglaubt, Cole wäre zufrieden, wenn ich Zack und Bethany aus dem Weg ging. Wenn ich es hinkriegte, dass Zack mich nicht mehr kitzelte. Wenn ich meine besten Freunde nicht mehr umarmte. Wenn ich nicht über sie redete und mich auch sonst verhielt, als wären sie nicht weiter wichtig für mich, dann könnte ich verhindern, dass Cole aus der Haut fuhr. Aber das hatte nicht geklappt.
Und außerdem hatte ich geglaubt, dass Cole zufrieden sein würde, wenn ich ihn in allem unterstützte. Ihm zustimmte, wann immer er über Brenda fluchte. Ihn fürs Basketballspielen motivierte. Wenn ich ihm zeigte, dass ich in jeder Situation auf seiner Seite stand, dann würde er vielleicht nicht mehr ausrasten. Aber das hatte auch nicht geklappt.
Zum allerersten Mal überkam mich die Einsicht, dass ich nichts tun konnte, um Coles Wutausbrüche zu verhindern. Es gab einfach nichts, was ich bleiben lassen oder anders machen oder mir vom Leib halten oder sagen konnte. Ich hatte keine Macht über das, was zwischen uns lief. Die Macht lag allein bei Cole. Alle Wendungen, die unsere Beziehung nahm, gingen von ihm aus. Er steuerte alles. Er sagte, wo es langging. Ich war nur sein Püppchen, das sich genau so bewegte, wie er es wollte.
Irgendwann ging er zur Fahrerseite und stieg auch ins Auto ein. Ich blutete inzwischen nur noch ein bisschen, aber dafür taten mein Arm, mein Kinn und jetzt auch mein Zahn höllisch weh. Ich zwang mich, nicht zu weinen. Und nicht daran zu denken, wie furchtbar der Zahn aussehen musste und was Dad wohl sagen würde, wenn ich ihm das zeigte.
»Ich muss nach Hause«, sagte ich, als er den Motor anstellte.
Er schüttelte den Kopf. »Wir fahren zu Trent, weißt du nicht mehr? Ist erst eine Minute her, dass du da unbedingt hinwolltest. Jetzt mach ich genau, was du willst.«
Ungläubig starrte ich ihn an. Dachte er im Ernst, dass ich so auf eine Party gehen würde? Ich sah furchtbar aus.
»Mein Zahn ist abgebrochen«, sagte ich.
Die Stimmung im Wageninneren veränderte sich. Er wandte sich mir zu. »Wirklich? Lass mich mal gucken.«
Ich ließ ihn meine Zähne sehen, hasserfüllt, aber zu apathisch, um irgendwas zu unternehmen, und er beäugte meinen Mund. »Mann, Alex. Du solltest echt nicht mehr so rumlaufen, mit den Händen unter der Jacke.« Und er brachte es fertig, das so klingen zu lassen, als wäre er ernsthaft besorgt um mich.
»Was soll das heißen?«, fuhr ich ihn an. Ich konnte meine Wut nicht länger zurückhalten. »Ich bin nicht rumgelaufen. Du hast mich gestoßen.«
»Ach, das?«, fragte er und zeigte mit dem Daumen in die Parkplatzecke, wo wir eben noch gestanden hatten. Schon wieder mit diesem blöden Lachen. »Ich hab doch nur Spaß gemacht. Ein bisschen rumgealbert. Du bist gestolpert.«
So sollte das also in Zukunft laufen. Er würde nicht aufhören, mir wehzutun, sondern nur abstreiten, dass er es tat. Aber damit war jetzt Schluss. Meinetwegen konnte er mir eine Million Bücher kaufen und jeden Winkel meines Herzens kennen – es war mir egal. Ich ertrug das alles nicht mehr. Ich konnte unmöglich zulassen, dass er mich verletzte und dann so tat, als wäre ich selbst daran schuld. Okay, ich liebte Cole, aber in diesem Moment, als sich die Kante meines Zahn in meine Zungenspitze bohrte und mir das Blut am Kinn hinunterlief, hasste ich ihn mehr, als ich ihn liebte.
Zum ersten Mal, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte, wurde mir klar, dass er nie aufhören würde. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
Wie zur Bestätigung drückte er mir seine Fingerknöchel fest in die Rippen.
»Wenn ich dir wehtun wollte, würde ich’s doch nicht so machen, dass es jeder sehen kann«, sagte er. »Du bist echt blöd, Alex, weißt du das?«
Wir blickten einander lange in die Augen und ich schaffte es, dem Druck seiner Fingerknöchel dabei nicht auszuweichen, obwohl der Schmerz in den Rippen mit jeder Sekunde schlimmer wurde.
»Dann los zu Trent«, sagte ich, dabei konnte ich an nichts anderes denken als an meine neue Einsicht, die mich mit Angst und Trauer erfüllte und beinahe umwarf.
Cole war ein Schläger. Ich war ein Opfer.
Es würde nie besser werden zwischen uns.