5  Die Passagiere der Montrose

Atlantischer Ozean: Donnerstag, 21. Juli 1910

Mr John Robinson hatte nie Schwierigkeiten mit dem Schlafen gehabt, bis Anfang Februar, als die Ereignisse dafür gesorgt hatten, dass seine nächtlichen acht Stunden kaum mehr ungestört blieben. Die erste Nacht an Bord der Montrose war jedoch weit schlimmer, ja, fast unerträglich. Edmund und er hatten schließlich gegen elf Uhr voneinander abgelassen, Edmund war nach oben geklettert und augenblicklich eingeschlafen. Mr Robinson auf dem unteren Bett hatte hingegen wach gelegen. Es war so warm in der Kabine, dass er alle Decken zur Seite schob und ohne sie zu schlafen versuchte. Die Erste-Klasse-Kabinen waren angenehm groß, nur die Präsidentensuite, deren Bewohner sie noch nicht kennengelernt hatten, war größer, aber die Luft war fürchterlich stickig, und er schwor sich, das Bullauge ab sofort den ganzen Tag offen zu lassen. Das Schwanken des Schiffes machte alles noch unangenehmer, und als er schließlich einnickte, war es nach zwei Uhr morgens. Mr Robinson träumte, er tanzte oben auf dem Rand des höchsten Wolkenkratzers der Welt, mit Rollschuhen, und vermochte kaum das Gleichgewicht zu halten. Als er schließlich ausrutschte und auf den Verkehr unten auf der Straße zustürzte, schreckte er schweißnass aus dem Schlaf hoch und griff nach der Taschenuhr auf dem Nachttisch neben sich, um zu sehen, wie spät es war. Drei Uhr dreißig. Er seufzte erschöpft, wischte sich über das Gesicht und versuchte, sich von den schlimmen Erinnerungen zu befreien, die vor seinen Augen aufflimmerten. Danach schlief er nur noch in unruhigen Intervallen, stand kurz nach sieben leise auf, um Edmund nicht zu wecken, und wusch sich in dem kleinen Bad. Seine Augenlider schienen vor Erschöpfung aneinanderzukleben, aber er dachte, eine kleine Runde an Deck in der frischen Morgenluft würde ihn schon zurück ins Leben holen. Er zog den Anzug vom Vortag an, band sich die Krawatte um und verließ die Kabine. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu und ging zum Aufgang hinüber.

Es war ein heller, warmer Morgen an diesem ersten Tag, und der blaue Himmel und das glitzernde Meer heiterten seine Laune auf. Die Sonne fing sich in den gegen den Schiffsrumpf schlagenden Wellen, und die Gischt erstrahlte in ihrem Licht. Seevögel schrien, stießen ins Wasser und genossen ihr Frühstück. Mr Robinson trat an die Reling und sah in die Tiefe. Er beugte sich gerade so weit vor, dass ihm hin und wieder etwas von der Gischt ins Gesicht sprühte. Wenn er die Augen etwas zusammenkniff, konnte er die dunklen Fischschwärme erkennen, die das Schiff auf seiner Reise begleiteten. Ihre Geschwindigkeit überraschte ihn, sie schienen mühelos mit der Montrose mithalten zu können, die doch mit wenigstens zehn, elf Knoten unterwegs sein musste. Mit einer guten Harpune, dachte er, könnte er einige von ihnen töten.

Trotz der frühen Stunde waren bereits etliche Leute an Deck, Passagiere wie er, die ihre erste Nacht auf See eher unruhig verbracht hatten. Billy Carter, der Erste Offizier, war die frühen Spaziergänger gewöhnt, obwohl an diesem Morgen, als er aus dem Fenster der Brücke sah, ein paar mehr als sonst unterwegs waren. Sein Blick fiel auf zwei sich unterhaltende, rauchende Seeleute, und er rief sie zu sich und trug ihnen auf, was er morgens immer als Erstes befahl, wobei niemand besonders glücklich war, wenn es ihn traf.

»Holt ein paar Eimer Wasser, Jungs«, sagte er, »und geht die Seiten des Schiffes ab. Die Bordwand ist wahrscheinlich voll mit Erbrochenem von den Leuten, die das Abendessen nicht bei sich behalten konnten, und keiner der Passagiere, der auf die See hinausblickt, möchte das gerne sehen.«

Auf dem C-Deck gab es eine Offiziersmesse, in der Carter normalerweise gefrühstückt hätte, an diesem ersten Morgen jedoch ging er in den Speisesaal der ersten Klasse. Nicht, weil er besser essen wollte als die anderen, sondern weil er glaubte, dass es einen guten Eindruck machte, der vornehmen Welt sein Gesicht zu zeigen und alle Fragen zu beantworten, die es zur Überfahrt geben mochte. Wenn er jetzt nicht ging, würden sie ihn später aufzuspüren versuchen.

Entlang der Wände des Saales war ein Büfett aufgebaut worden, und er bediente sich ausgiebig, bevor er den Blick schweifen ließ, um zu sehen, wer sonst schon beim Frühstück saß. Es waren noch nicht viele Leute da, und er steuerte auf einen Tisch mit drei modisch gekleideten, hübschen jungen Damen zu, die etwa Mitte zwanzig sein mussten, als er eine weit ältere und weit weniger attraktive Frau bemerkte, die von einem anderen Tisch aus versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie wedelte mit ihrer Serviette in seine Richtung, und er fühlte sich wie ein Stier, der von einem Matador angelockt wurde. Er lächelte der Frau zu, da er unmöglich so tun konnte, als hätte er sie nicht bemerkt, und ging zu ihr hinüber.

»Guten Morgen, junger Mann«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. Ein Stückchen Butter von ihrem Toast klebte an ihrem Kinn, und Billy Carter überlegte, ob er sie darauf aufmerksam machen sollte, entschied sich aber dagegen. »Warum setzen Sie sich nicht zu mir, ich warte auf meine Tochter, doch sie scheint sich zu verspäten. Der Himmel weiß, was sie wieder zu tun hat.«

»Aber mit Vergnügen«, sagte Carter, setzte sich und warf einen schnellen, sehnsüchtigen Blick hinüber zu den drei Sirenen an dem anderen Tisch, die sich ausgelassen glucksend unterhielten. Eine von ihnen schenkte ihm einen kurzen, koketten Blick und schaute gleich wieder zu ihren Freundinnen. »Erster Offizier Carter«, fügte er hinzu und nickte höflich mit dem Kopf.

»Oh, welch eine Freude«, kam die Antwort. »Ein Offizier. Ich bin Mrs Antoinette Drake, Kabine A7. Ich reise mit meiner Tochter Victoria.«

»Guten Morgen«, sagte Carter und machte sich über sein Frühstück her. Er spürte bereits, dass Mrs Drake einer der Passagiere war, die sich, falls er nicht vorsichtig war, endlos an ihm festklammern würden, und er nahm sich vor, sich nicht zu lange in ihrer Gesellschaft aufzuhalten. »Und gefällt Ihnen Ihre Reise bis jetzt?«

»Wunderbar, ganz wunderbar«, sagte sie. »Obwohl ich das Schwanken des Schiffes in der Nacht etwas stark fand. Ob Sie vielleicht mit einem Ihrer Seemänner darüber reden könnten?«

Carter lächelte. Er fragte sich, ob sie dachte, sie würden von einem Trupp römischer Sklaven über den Atlantik gerudert, die aneinandergekettet im Schiffsbauch saßen und sich ohne Unterlass in die Riemen legten. »Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er höflich.

»Victoria und ich haben einen leichten Schlaf, müssen Sie wissen, und ich …« Sie unterbrach sich mit einem kleinen, mädchenhaften Kichern und sah ihn verschämt an, wobei sie seinen Arm berührte. »Nun, ich brauche meinen Schönheitsschlaf, Mr Carter.«

»Aber natürlich«, sagte er und begriff nicht, dass sie mit seinem Widerspruch gerechnet hatte. Ihr Lächeln gefror von einer Sekunde auf die andere, und sie runzelte die Stirn. Wie ungezogen, dachte sie, bevor ihr wieder einfiel, warum sie ihn zu sich hergewinkt hatte.

»Sagen Sie mir, der Kapitän dieses Schiffes«, sagte sie. »Wie heißt er noch?«

»Kapitän Kendall, Ma’am.«

»Kapitän Kendall, ja. So ein starker Name. Der erfüllt einen mit Vertrauen. Er isst hier jeden Abend, ist das richtig?«

»Ich denke schon, Ma’am«, sagte er und wusste bereits, worauf sie hinauswollte. »Das ist meine erste Fahrt auf der Montrose. Der übliche Erste Offizier ist erkrankt.«

»Meine Tochter Victoria, wissen Sie, würde sich ungeheuer freuen, wenn sie eines Abends mit ihm essen könnte, und ich wünsche mir so sehr, dass sie diese Reise genießt. Verstehe ich es richtig, dass er abends einige der Erste-Klasse-Passagiere zum Essen an den Kapitänstisch einlädt?« Sie hob ganz leicht die gemalten Brauen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und fütterte ihn praktisch mit der Antwort, die sie hören wollte. Und dann fuhr sie ganz unversehens die Zunge heraus, wie eine Echse, und holte sich den Klecks Butter, so als hätte sie ihn bewusst für diesen Moment auf ihrem Kinn abgelegt.

»Ich bin sicher, dass er das tut«, sagte Carter und spürte überrascht, wie sich sein Magen kurz zusammenzog. »Soll ich es arrangieren, dass Sie beide einen Abend an seinem Tisch sitzen?«

»Für mich selbst würde ich nie darum bitten«, antwortete Mrs Drake schnell und schüttelte den Kopf. »Ich nehme meine Mahlzeiten ein, wo immer man sie mir serviert. Ich bin absolut nicht wählerisch. Aber wenn Sie es für Victoria tun könnten, wäre das ganz wundervoll. Das wäre sehr nett von Ihnen.« Ihre Meinung über ihn wandelte sich bereits wieder. »Wirklich, sehr nett.«

»Kein Problem«, sagte er und schlang sein Essen hinunter, um möglichst schnell fliehen zu können.

»Wo ist das Mädchen überhaupt?«, fragte Mrs Drake einen Moment später und blickte verärgert zur Tür hinüber. »Sie weiß, dass ich es nicht mag, wenn sie mich warten lässt. Sie wird noch ihr Frühstück verpassen. Wenn ich zurück in die Kabine komme, und sie liegt noch im Bett, gibt es Ärger, Mr Carter. Das kann ich Ihnen versichern.«

Mrs Drake hätte sich keine Sorgen machen müssen, denn Victoria lag längst nicht mehr im Bett. Sie war nur Augenblicke, nachdem ihre Mutter die Kabine verlassen hatte, aufgestanden, hatte zwanzig Minuten im Bad verbracht, sich gewaschen, das Haar gebürstet und etwas aus den kleinen Make-up-Töpfchen aufgetragen, die sie vor Wochen in Paris gekauft hatte. Als sie das Bullauge öffnete und die warme Sonne und die frische Luft spürte, beschloss sie, sich weniger förmlich anzuziehen als am Vortag, und wählte eine helle schulterfreie Bluse und dazu einen langen dunkelblauen Rock. Sie steckte den Kopf aus der Kabinentür und blickte den Gang hinauf und hinunter, um sich zu versichern, dass sie niemand sah, bevor sie zur Kabine A4 hinüberhuschte. Sie legte das Ohr an die Tür und blinzelte dabei leicht, als könnte sie so besser hören. Es dauerte einen Augenblick, dann vernahm sie drinnen eine Bewegung. Sie rannte mit klopfendem Herzen zurück in ihre eigene Kabine, ließ die Tür einen Spaltbreit auf und wartete. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand sie da, lauschte und musste noch zehn Minuten warten, bis sie hörte, wie sich die Tür am anderen Ende des Ganges öffnete, woraufhin auch sie nach draußen trat und ihre Tür laut hinter sich zuschlug.

»Oh, guten Morgen«, sagte Edmund und sah in ihre Richtung. »Victoria, richtig?«

»Ja«, sagte sie gereizt, als versuchte er, sie in Verlegenheit zu bringen, indem er ihren Namen nicht mehr sicher wusste. »Und Sie sind Edward, richtig?«

»Genau. Wie geht’s Ihnen heute Morgen?«

Sie sah ihn spöttisch an. »Heißen Sie jetzt Edward oder Edmund?«, fragte sie nach eine kurzen Pause.

»Oh! Ed … mund«, sagte er nach einer Pause, und ihm stieg etwas Farbe in die Wangen. »Haben Sie das nicht gesagt?«

»Nun, Sie klingen nicht so sicher«, sagte Victoria. »Kennen Sie denn Ihren eigenen Namen nicht? Und nein, ich habe ›Edward‹ gesagt.«

»Warum, wenn Sie doch wussten, dass ich nicht so heiße?«

Victoria sah ihn an und ging auf seine Frage nicht weiter ein. »Gehen Sie frühstücken?«, fragte sie. Edmund nickte. »Wo ist Ihr Vater? Schläft er noch?«

»Er ist vor einer Stunde oder so schon aufgestanden. Ich glaube, er konnte nicht richtig schlafen.«

»Mutter auch nicht. Die Alten«, sagte sie abschätzig.

Das Hauptdeck lag im hellen Sonnenlicht, und Victoria nutzte die Gelegenheit, Edmund genau zu betrachten. Er war nicht so groß wie einige der Beaus, die sie bereits verführt hatte, höchstens einen Meter siebzig vielleicht, aber sie hatte selten einen Jungen mit so feiner Haut und so schönen Augen gesehen. Sein Haar war etwas länger, als es der üblichen Mode entsprach, es war pechschwarz, fein und doch kräftig. Er trug eine Mütze, und sie spürte den überwältigenden Drang, sie ihm vom Kopf zu ziehen und mit den Fingern durch seinen glänzenden Schopf zu fahren. Und seine Lippen! Kirschrot und voll. Sie flehten förmlich darum, geküsst zu werden. Als seine Zunge kurz zwischen ihnen auftauchte, wurden ihr einen Moment lang die Knie weich. Selbst die dünne Narbe, die sich von seiner Nase über die Lippe zog, wirkte anziehend. Victorias Herz tat einen leichten Sprung, und sie zwang sich, nach vorn zu sehen, damit er sie nicht dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte.

»Da ist ja Miss Hayes«, sagte Edmund und deutete zur Reling hinüber, wo Martha Hayes fast an der gleichen Stelle stand wie am Abend zuvor. »Sollen wir Hallo sagen?«

Victoria seufzte. Wenn es auch unmöglich war, dass sich Edmund für eine Frau im Alter von Miss Hayes interessierte, die schließlich fast dreißig war, ärgerte es Victoria doch, dass er lieber mit ihr sprechen wollte, als mit einer Schönheit wie ihr allein zu sein. Wahrscheinlich ist das nur ein Trick, um mich zappeln zu lassen, dachte sie. Er tut so, als wäre er schwer herumzukriegen.

»Miss Hayes!«, rief Edmund, als sie zu ihr traten, und die ältere Frau wandte sich um und lächelte. »Oh, hallo, Kinder«, sagte sie, steckte das Medaillon, das sie in der Hand gehalten hatte, in die Tasche und ließ sie zuschnappen. »Wie schön, euch zu sehen.«

Kinder!, dachte Victoria verärgert. Was fällt denn der ein! Wir sind beide fast achtzehn!

»Sie waren doch nicht die ganze Nacht hier draußen?«, fragte Edmund mit einem Lächeln. »Ich meine, Sie sind nicht gleich wieder hochgekommen, nachdem wir alle nach unten gegangen waren?«

»O nein«, sagte sie lachend. »Nein. Ich habe mich hingelegt, kaum dass ich in meiner Kabine war, das versichere ich euch. Ich bin erst vor einem Moment hier heraufgekommen. Wie ist das Frühstück, Victoria?«, fragte sie. »Gut oder ekelhaft?«

»Ich habe noch nicht gefrühstückt, Miss Hayes«, antwortete Victoria und hielt es für sehr vorwitzig, dass die Frau sie mit ihrem Vornamen ansprach. »Ich bin auch gerade erst heraufgekommen.«

»Ach ja? Ich hätte schwören können, dich schon draußen auf dem Gang gesehen zu haben.«

»Mich?«, fragte Victoria überrascht.

»Ich dachte, du wolltest Mr Robinson und seinen Sohn einladen, dich zu begleiten. Habe ich dich nicht vor ihrer Kabine gesehen?«

Victoria schnappte nach Luft, sie wollte die Feststellung mit einem Lachen abtun und hätte die Frau doch am liebsten geschlagen. Sie spürte, wie Edmund sie gespannt ansah, und wurde rot. »Ganz bestimmt nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »Was für eine komische Idee.«

»Vor unserer Kabine?«, fragte Edmund und überhörte, dass sie es abstritt. »Warum das denn bloß?«

»Ich war nicht mal in der Nähe«, antwortete Victoria, und ihre Stimme wurde etwas tiefer, während sie das Thema zu beenden versuchte. »Das muss einer der Passagiere vom Zwischendeck gewesen sein, die sich an Orten herumtreiben, wo sie nichts zu suchen haben. Wir sollten mit dem Kapitän reden. Das sind Diebe, zumindest die meisten. Und Zigeuner.«

»Ja, so muss es gewesen sein«, sagte Miss Hayes. »Mit denen bist du leicht zu verwechseln. Ihr jungen Mädchen seht euch so ähnlich. Das ist die Mode, vermute ich.«

Victoria starrte Miss Hayes giftig an. Wer ist diese schreckliche Frau?, dachte sie. Warum macht sie uns ständig Schwierigkeiten?

»Möchten Sie mit uns frühstücken, Miss Hayes?«, fragte Edmund, und Victoria seufzte wieder.

Kapitän Kendall persönlich hielt ihnen die Tür zum Speisesaal auf. Er hatte gerade selbst gefrühstückt, allerdings in der Küche, da er nicht in der Stimmung für frühmorgendliche Unterhaltungen war. Jetzt trat er hinaus an Deck und sog die frische Luft tief in seine Lungen. Ein schöner Morgen. Er ließ den Blick schweifen und sah zwei seiner besten jungen Männer, die Wasser über die Reling kippten, nicht ins Meer, sondern an der Schiffswand hinunter. Neugierig ging er zu ihnen hinüber.

»Was geht hier vor, Männer?«, fragte er verwirrt. »Was um alles in der Welt tun Sie da?«

»Der neue Erste Offizier«, erklärte einer von ihnen. »Der hat gesagt, wir sollen das tun.«

»Eimerweise Wasser über Bord zu kippen? Warum das denn?«

»Er sagte, einige Passagiere hätten sich über die Reling erbrochen, und wir sollten es wegwaschen. Würde sonst einen schlechten Eindruck machen, meinte er.«

Kendall sah den Mann an und warf einen Blick über die Reling. Er konnte nichts erkennen. »Lächerlich«, sagte er. »Hören Sie sofort damit auf. Das Meer wird wegwaschen, was weggewaschen werden muss. Kümmern Sie sich um Ihre eigentlichen Pflichten.«

»Ja, Sir«, antworteten die beiden wie aus einem Mund, froh, von ihrer Aufgabe befreit zu sein. Schon eilten sie mit ihren Eimern davon.

Kendall schüttelte mürrisch den Kopf. »Erbrochenes wegwaschen«, sagte er leise für sich und vermisste seinen alten Freund umso mehr. »Kapitän Bligh hätte ihn weggewaschen. Oh, Mr Sorenson«, seufzte er in den Wind, »wen haben die mir da bloß ins Boot gesetzt?«

 

Achtzig Liegestühle standen auf dem Erste-Klasse-Deck der SS Montrose, das für die übrigen Passagiere gesperrt war, und etwa ein Drittel von ihnen war am späteren Nachmittag besetzt, während die Sonne immer noch auf das Schiff niederbrannte. Einige der Reisenden zogen es vor, sich in ihren Kabinen auszuruhen, einige dösten im Sonnenschein oder lasen ein Buch, andere spielten im Freizeitraum Karten. Auf dem Zwischendeck rannten Kinder ausgelassen hin und her, sie spielten Fangen, rauften miteinander und hatten Unfug im Sinn, während ihre Eltern rauchten und freundlich miteinander schwatzten. Männer wie Frauen trugen Sonnenhüte, einige Damen spazierten auch unter einem Sonnenschirm dahin, auf der Suche nach Ablenkung. Wer saß, blieb meist für sich; hier und da wurden erste Bekanntschaften geschlossen, einzelne Paare suchten Kontakt zu anderen, aber alle schienen darauf zu achten, nicht für die nächsten neun Tage mit Langweilern zusammenzugeraten. Ganz hinten an Deck saß ein etwa vierzehnjähriger Junge, beugte sich auf seinem Stuhl vor und blinzelte ins Sonnenlicht. Sein Gesicht war bereits gebräunt, seine Haut von der Art, die schnell Farbe annahm. Aber der Junge schwitzte, während er dort saß, und schob sich immer wieder die Haare aus den Augen. Er wünschte, er hätte sie sich vor der Abreise in Antwerpen noch schneiden lassen, da sie ihm mittlerweile ziemlich auf die Nerven gingen. Er überdachte die letzten Monate und wunderte sich erneut, dass er nun auf diesem Schiff saß. Es kam ihm so vor, als hätte ihm jemand sein Leben weggenommen und er müsste sich in ein neues fügen.

Es war seine erste Seereise, und sie fand unter unglücklichen Umständen statt. Er war gerade sechs Monate alt gewesen war, da war sein Vater im Burenkrieg gefallen, und vor ein paar Monaten war seine Mutter, eine Französin namens Céline de Fredi, an Tuberkulose gestorben. Sie hatten in verschiedenen Städten Europas gelebt, und Tom, so hieß der Junge, vermochte sich in mehreren Sprachen zu verständigen. Sein einziger überlebender Verwandter war der Onkel seines verstorbenen Vaters, dem Céline kurz vor ihrem Tod einen Brief geschrieben hatte. Darin hatte sie ihn gebeten, sich um ihren Jungen zu kümmern, sollte ihr etwas zustoßen. Toms Großonkel hatte dem zugestimmt und war in der Woche vor ihrem Tod nach Paris gekommen, wo Céline ihm gestand, wie mühevoll seine neue Aufgabe werden konnte: Tom war ein schwieriger Junge, vor allem draußen auf den Straßen der Stadt, und machte seiner Mutter immer wieder aufs Neue Sorgen. Da sein neuer Vormund keine Erfahrung mit Kindern hatte, wusste sie nicht, ob er mit Tom fertigwerden würde, aber es gab sonst niemanden, dem sie ihren Sohn hätte anvertrauen können. Außer dem Onkel bliebe nur das Waisenhaus, und wenn sie das wählte, war es ihrer Meinung nach nur eine Frage der Zeit, bis Tom von einem Gefängnis ins andere wanderte. Nach ihrem Tod waren Tom und sein Großonkel noch einen Monat in Paris geblieben, um Célines Angelegenheiten zu regeln, und dann nach Antwerpen gefahren, wo der Onkel lebte. Jetzt riefen den Onkel Geschäfte nach Kanada, er hatte es passend gefunden, sich von der Montrose dorthin bringen zu lassen, und die teuerste Kabine – die Präsidentensuite – gebucht.

Es gab an Bord nicht viele Jungen in Toms Alter, und er freute sich nicht gerade auf weitere neun Tage Langweile in Gesellschaft seines Onkels. Er vermisste seine Pariser Freunde, auch wenn die es gewesen waren, die ihn im letzten Jahr auf Abwege gebracht hatten. Im Dunkel der Nacht waren sie in Häuser eingebrochen, hatten in Läden Essen gestohlen und sich als Taschendiebe geübt, obwohl keiner von ihnen das Geld wirklich gebraucht hatte. Die Erinnerung daran trug zu seiner schlechten Stimmung bei. Aber das lag jetzt alles hinter ihm, Kanada war die Zukunft. Ganz zu schweigen von seinem neuen Verwandten, an den er sich immer noch gewöhnen musste, der allerdings ein anständiger, wenn auch etwas distanzierter Herr zu sein schien.

»Da bist du ja«, erklang eine Stimme neben ihm, und er sah auf, beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte ins Sonnenlicht.

»Onkel Matthieu«, sagte er. »Was gibt’s?«

»Nichts, mein Junge«, sagte der Mann, setzte sich neben ihn und ließ den Blick zerstreut über das Deck gleiten. »Ich habe nur nach dir gesucht, das ist alles. Als ich dich nicht finden konnte, hatte ich schon Angst, du wärst über Bord gegangen. Stell dir den Verlust vor.«

Tom runzelte die Stirn. Der Humor seines Onkels war für ihn manchmal schwer zu verstehen. »Ich sitze hier und überlege, was ich machen könnte«, sagte er nach einer Weile. »Das wird wohl die trübsinnigste Reise, die ich je gemacht habe. Wahrscheinlich sterbe ich vor Langweile. Dann kannst du mich gleich hier auf See bestatten.«

»Versprochen«, sagte Matthieu und nickte. »Ich persönlich finde es sehr entspannend. Elf Tage auf dem Atlantik, ohne dass man sich irgendwelche Sorgen machen muss. Keiner, der mich mit seinen Geschäftsproblemen stört, ausgezeichnet untergebracht, gutes Essen, angenehme Gesellschaft. Ich glaube, ich würde es hier noch ein paar Wochen aushalten. Das ist die beste Art des Reisens.«

»Ja, aber du bist alt«, erklärte Tom. »Du brauchst die Erholung. Ich bin jung und langweile mich zu Tode.«

»Soso«, antwortete der Onkel wenig beeindruckt. Für den flüchtigen Betrachter war Matthieu Zéla ein Mann, der auf die Fünfzig zuging. Trotz seines schütter werdenden grauen Haars hatte er mit seinen eins fünfundachtzig bereits die Aufmerksamkeit einiger Damen an Bord auf sich gezogen, ohne es zu bemerken. Seine schlanke Figur und die elegante Kleidung, verbunden mit dem Umstand, dass er sich die teuerste Kabine an Bord leisten konnte, machten ihn besonders für die Alleinstehenden unter ihnen interessant. Zudem war er Witwer und reiste ohne weibliche Begleitung, was ihn noch attraktiver machte … und zu einer offenbar ausgezeichneten Partie. »Vielleicht solltest du es mit einem Buch versuchen«, schlug er seinem Neffen vor. »Den Verstand ein wenig weiten. Was hast du in letzter Zeit so gelesen?«

Tom überlegte. Obwohl er umgeben von Literatur groß geworden war, hatte er nie eine intensivere Beziehung zu ihr entwickelt. Er erinnerte sich daran, dass seine Mutter einmal ein Buch mit dem Titel Der Mann mit der eisernen Maske gelesen hatte, damals war er elf gewesen, und er erwähnte es.

»Ah«, sagte Matthieu glücklich, »Dumas. Eine ausgezeichnete Wahl. Perfekt für den jugendlichen Geist. Abenteuer, Geschichte, Spannung. Alles, was ein Roman haben sollte. Ich bin sicher, an Bord gibt es eine Bibliothek. Vielleicht können wir später einen Blick hineinwerfen und etwas Passendes für dich aussuchen. Dann geht die Reise schneller vorbei. Ich selbst bin fast nie ohne Buch. Habe ich dir erzählt, dass ich einmal in Covent Garden bei einer Lesung von Mr Charles Dickens war?«

»Wo ist das?«, fragte Tom, der nie in England gewesen war.

»In London, mein Junge! London!«, antwortete Matthieu. »Erstaunlich, wie wenig die Jugend heute weiß.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du solltest ein paar von Mr Dickens’ Romanen lesen. Viele von ihnen handeln von Waisen wie dir.«

Tom legte die Stirn in Falten. Wieso muss er das so sagen?, dachte er. Wenn er eines über diesen Monsieur Zéla gelernt hatte, dann, dass er offen alles aussprach, ohne sich über mögliche Befindlichkeiten Gedanken zu machen.

»Was geschieht mit diesen Waisen?«, fragte er.

»Nachdem ihre Eltern gestorben sind, müssen die meisten von ihnen feststellen, dass ihre neuen Vormunde, oft ältere Männer, grausam sind und sie missbrauchen. Sie geben ihnen nichts zu essen, schlagen sie und machen ihr Leben zu einer solchen Tortur, dass die Geschundenen weglaufen, mit kaum mehr als einem Paar Schuhe an den Füßen. Am Ende jedoch triumphieren sie. Wie ist übrigens dein Bett? Hast du gut geschlafen?«

In diesem Augenblick rollte ein Ball vor sie hin. Er kam von der anderen Seite des Schiffes, wo ein paar Kinder Tennis spielten, ziemlich vorsichtig, um die Bälle nicht ins Meer zu schlagen. Matthieu drehte sich zu ihnen um, während Tom den Ball bereits in Händen hielt und ins Wasser warf, wo er mit einem fernen Plopp landete. Kichernd ließ er sich in seinen Liegestuhl zurücksinken, verschränkte die Arme vor der Brust und tat so, als schliefe er. Matthieu starrte ihn völlig perplex an.

Zwei kleine Kinder kamen herbeigelaufen und suchten das Deck verzweifelt nach ihrem Ball ab.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte das jüngere, ein höfliches kleines Mädchen mit Ringellocken und grünen Augen. Es trug für die Tageszeit ein sehr förmliches Kleidchen. »Unser Tennisball?«

Matthieu öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und bedauerte es, so eine unschuldige Kleine anlügen zu müssen. »Es tut mir leid, ich habe ihn nicht gesehen«, sagte er.

Das Mädchen machte schmale Augen und wollte es ihm nicht glauben. »Doch, das haben Sie«, sagte sie mit tieferer Stimme, zeigte mit dem Finger auf ihn und brach in Tränen aus. Sie musste von ihrem Bruder zum Tennisplatz zurückgebracht werden. »Sie haben ihn gestohlen!«, rief sie noch und klang wütender, als es bei einem Kind möglich schien.

Matthieu wandte sich voller Ärger an seinen Neffen. »Tom!«, rief er. »Wie konntest du das tun? Warum hast du den Ball weggeworfen?«

Tom zuckte grinsend mit den Schultern. Sein Streich gefiel ihm noch immer. »Ich hatte nichts Besseres zu tun«, sagte er mit ruhiger Stimme.

»Nun, das war extrem kindisch«, schimpfte Matthieu. »Ich denke, du solltest zu den Kindern hinübergehen und dich entschuldigen. Sage ihnen meinetwegen, es war ein Versehen. Dass du ihnen den Ball zurückgeben wolltest und er dir weggerutscht ist. Aber entschuldige dich.«

»Warum?«, fragte Tom. »Wen stört das schon?«

»Mich«, sagte Matthieu. »Und jetzt geh. Auf der Stelle. Ich meine es ernst.«

Tom zögerte. Die Regeln ihrer Beziehung waren noch nicht festgelegt. Wie viel Autorität Matthieu über ihn hatte, stand noch infrage. Trotz seiner vierzehn Jahre war Tom noch ein Kind und nicht so weit, sich stark genug zu fühlen, um sich den Erwachsenen zu widersetzen. Im Übrigen, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, fürchtete er doch, was geschehen würde, wenn dieser Mann, der ihn vor ein paar Monaten zum ersten Mal gesehen hatte, zu dem Schluss kam, dass er ein übler Kerl war und ihn im Stich ließ. Matthieu Zéla war fraglos wohlhabend und konnte ihm in seinem zukünftigen Leben helfen. Es gab keinen Grund, ihn unnötig zu vergraulen, und so entschloss er sich, dieses Mal das gescholtene Kind zu spielen. Er seufzte übertrieben, stand auf und schleppte sich über Deck, als wöge er zweihundert Pfund.

Matthieu schüttelte den Kopf. Er hatte wenig Erfahrung mit Kindern, der Junge war ihm mehr oder weniger aufgedrängt worden, und er war sich alles andere als sicher, ob er in loco parentis zu handeln vermochte.

»Es war richtig, ihm zu sagen, dass er sich entschuldigen soll«, erklang eine Stimme neben ihm, und er drehte sich um und sah die junge Dame an, die sich in den Liegestuhl neben ihm gesetzt hatte.

»Dann haben Sie das mitbekommen?«, fragte er, und es war ihm peinlich für seinen Neffen. »Haben Sie gesehen, was er getan hat?«

Sie nickte. »Er ist ein Junge«, sagte sie, »und ihm ist langweilig. Trotzdem war es gut, ihn hinüberzuschicken. Manieren sind wichtig.«

Matthieu nickte und sah aufs Meer hinaus, bis er sich an die eigenen Manieren erinnerte und sich der jungen Frau zuwandte. »Entschuldigen Sie«, sagte er und streckte den Arm in ihre Richtung. »Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich heiße Matthieu Zéla.«

»Martha Hayes«, antwortete sie und schüttelte ihm die Hand.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Hayes. Stammen Sie aus Kanada oder fahren Sie zum ersten Mal hin?«

»Ein bisschen von beidem«, sagte sie. »Ich war noch nie dort, aber ich hoffe, in Quebec eine neue Heimat zu finden. Ich habe mein ganzes Leben in Europa verbracht und es gründlich über.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, antwortete er lächelnd. »Ich selbst bin ein Reisender und scheine es nie sehr lange an einem Ort auszuhalten. Es gibt immer etwas, das mich zwingt, weiterzuziehen.«

»Das muss aufregend sein.«

»Manchmal. Aber ich würde gerne für eine Weile Wurzeln schlagen. Man wird schließlich nicht jünger.«

»Auf mich machen Sie noch einen ziemlich schwungvollen Eindruck, Monsieur Zéla«, sagte sie und begann ihn bereits zu mögen.

»Matthieu, bitte.«

»Gut, aber das mit dem schwungvollen Eindruck meine ich wirklich, Matthieu«, wiederholte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Der äußere Anschein trügt oft«, brummte er und wechselte das Thema: »Wie gefällt Ihnen die Reise bisher? Haben Sie sich schon an das Schwanken gewöhnt?«

»Gerade so«, sagte sie mit einem Lachen. »Es ist sehr entspannend.«

»Genau das habe ich meinem Neffen gesagt«, sagte Matthieu, »und er schien genau das für das Problem zu halten.«

»Ihr Neffe?«

»Ja, ich bin Toms Onkel, und im Augenblick auch sein Vormund. Seine Eltern sind tot. Seine Mutter ist kürzlich erst gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte Martha. »Der arme Junge. Ich nehme an, unter den Umständen ist einen Tennisball ins Wasser zu werfen kein so großes Verbrechen. Er ist erst wie alt … vierzehn?«

Matthieu nickte. Die Psychologie der Jugend war nicht unbedingt sein Steckenpferd. Was ihn anging, hatte der Junge einen Verlust erlitten, er sollte den Tod seiner Mutter betrauern, ihn akzeptieren und nach vorn blicken. Er selbst hatte es in noch weit jüngeren Jahren ganz ähnlich machen müssen. Matthieus Mutter war von ihrem gewalttätigen zweiten Ehemann umgebracht worden, was ihn und seinen jüngeren Bruder zu Waisen gemacht hatte, allerdings ohne einen Vormund. Trotzdem hatten sie überlebt.

»Ich hoffe, er findet drüben in Amerika sein Glück«, sagte er nach einigem Überlegen. »Ein neuer Anfang kann etwas sehr Gesundes sein. Er ist jung, er kann sich dort eine neue Welt schaffen. Ich reise geschäftlich nach Kanada und gehe anschließend wahrscheinlich für eine Weile hinunter in die Vereinigten Staaten. Wenn alles gut geht, bleiben wir eventuell dort. Tom hat sich in Paris als nicht ganz einfach erwiesen, und ich hoffe, ich kann ihn wieder auf die richtige Bahn bringen. Immer angenommen, er dreht hier auf dem Schiff nicht durch und springt über Bord.«

»Oh, er fängt sich schon«, sagte Martha in beruhigendem Ton.

In dem Augenblick kam Tom von der anderen Seite des Decks zurück und stellte sich vor sie hin, wobei er Miss Hayes misstrauisch musterte. »Ah, Tom«, sagte Matthieu. »Lass mich dich vorstellen. Das ist mein Neffe, Miss Hayes. Tom DuMarqué.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen, Tom«, sagte Martha und schüttelte ihm die Hand.

Tom nickte ihr zu, sagte aber nichts und stand so nahe bei den Stühlen und so weit von der Reling entfernt wie nur möglich. Er hatte, obwohl er es seinem Onkel nie eingestehen würde, schreckliche Angst vor dem Wasser, und jeder Augenblick an Bord war eine Prüfung für ihn. Er vermied jeden Gedanken an die riesige Weite des Atlantiks um sie herum und hatte beschlossen, während ihrer Reise nicht ein einziges Mal über die Reling zu blicken.

»Nun? Hast du dich entschuldigt?«, fragte Matthieu, als klar wurde, dass der Junge nichts zum Gespräch beitragen würde.

»Ja«, rief Tom übertrieben. »Die haben da drüben etwa zwanzig Tennisbälle, und ich weiß nicht, was das ganze Theater soll.« Er sah immer noch Martha an, die sich in seiner Gegenwart unwohl zu fühlen begann. Der Junge hatte einen Ausdruck in den Augen, der ihn gefährlich und unberechenbar erscheinen ließ.

»Es war schön, Sie kennenzulernen, Monsieur Zéla«, sagte sie, stand auf und strich sich den Rock glatt.

»Matthieu, bitte.«

»Matthieu«, sagte sie. »Und dich, Tom. Aber ich denke, ich setze jetzt meinen kleinen Spaziergang fort. Ich bin sicher, wir sehen uns wieder.«

»O Gott, dein Meer ist so groß, und mein Schiff so klein«, sagte Matthieu mit einem Lächeln und nickte ihr nach. »Was für eine charmante Frau«, sagte er leise, als sie verschwunden war. »Du hättest etwas freundlicher zu ihr sein können, Tom. Wirklich, deine Manieren sind erstaunlich ungehobelt.«

»Pffft«, kam die Antwort, ein trockenes Schnauben durch die Lippen, das einen Tropfen Speichel darauf hinterließ, bis er ihn wegwischte.

Tom hätte seiner beredten Antwort vielleicht noch mehr hinzugefügt, wäre sein Blick nicht an der Gestalt von Victoria Drake hängen geblieben, die sechs, sieben Meter entfernt von den beiden an der Reling stand und aufs Meer hinaussah. Seine Augen weiteten sich, der Mund öffnete sich, und er empfand zum ersten Mal ein körperliches Verlangen. Victoria schien zu spüren, dass sie angesehen wurde, wandte sich langsam um, fing seinen Blick auf, verzog abfällig das Gesicht und sah wieder weg. Tom spürte, wie er rot wurde, und presste die Lippen fest aufeinander. Matthieu, der die Pantomime beobachtet hatte, musste schmunzeln.

»Aber, Tom«, rief er. »Du wirst ja ganz rot. Hast du dich verliebt?«

»Pffft«, kam es wieder aus ihm heraus, als wäre schon der Gedanke lächerlich. (Ja, dachte er.) Matthieu sah zum Objekt der Begierde seines Neffen hinüber und nickte. Unwillkürlich wanderte auch Toms Blick zurück zu Victoria, aber da war sie schon wieder aus dem Sichtfeld entschwunden.

»Ah«, sagte Matthieu, denn er war selbst oft in dieser Lage gewesen, »ich glaube, ich verstehe dich.«

 

Kapitän Kendall hatte über viele Jahre gelernt, dass es vernünftig war, kein zu enges Verhältnis mit der Mannschaft zu entwickeln. In seinen frühen Tagen als Kapitän hatte er sich bei seinen Offizieren und Seeleuten einzuschmeicheln versucht, weil er hoffte, ein kameradschaftliches Verhältnis würde die Atmosphäre an Bord verbessern. Aber man hatte ihn ausgenutzt, unter der Mannschaft an Bord der Perseverance hatte sich Selbstgefälligkeit breitgemacht, und er wurde nicht gerade als der disziplinierte Anführer betrachtet, als der ihn Bligh in der Geschichte der Bounty so fasziniert hatte. Als er dann das Kommando über die Montrose übernahm, änderte er sein Verhalten grundsätzlich. Inzwischen wurde er von seinen Männern zwar nicht unbedingt gefürchtet, aber doch geachtet, und seine Launen waren legendär. Er konnte sich einem Erste-Klasse-Passagier gegenüber völlig unterwürfig verhalten und in der nächsten Minute schon nahe daran sein, einen seiner Leute zu schlagen. Deren allgemeine Daumenregel bestand darin, seine Befehle auszuführen, ihm aber nicht zu nahezukommen. Der Einzige, der dieser Regel nicht gefolgt war, war sein blinddarmgeschädigter Erster Offizier Sorenson, und er hatte sich durch seine Speichelleckerei bei den Kollegen ziemlich unbeliebt gemacht. Dem Kapitän war durchaus bewusst, dass er der Einzige an Bord war, der Sorensons Abwesenheit bedauerte.

Es war später Nachmittag, und Kendall saß in seiner Kabine, seine Kompasse auf blauen Karten vor sich. Er stellte auf einem Zettel ein paar schnelle Berechnungen an, kalkulierte Entfernungen nach Länge und Breite und schloss mithilfe ihrer Geschwindigkeit darauf, dass sie Kanada zum geplanten Termin erreichen würden. Es gefiel ihm zu sehen, wie gut sie vorankamen. Der klare Himmel und der leichte Rückenwind an diesem Nachmittag hatten ihnen gutgetan, und sie waren noch etwas schneller geworden, obwohl er erst vier der sechs Kessel heizen ließ. Kapitän Kendall war ein großer Anhänger der Devise, ein Schiff nicht zu überfordern, und fuhr nur selten alle Kessel mit voller Kraft. Im Gegensatz zu seinem Helden Bligh folgte er dem Fahrplan und hatte kein Interesse daran, einen Wettlauf gegen die Uhr zu gewinnen. Sie sollten am Morgen des 31. Juli Quebec erreichen, und was ihn anging, war das alles, was zählte. Bereits am 30. anzukommen, wäre zu protzig, und der 1. August war eindeutig zu spät. Im Moment lagen sie bestens im Plan, und er lächelte zufrieden, lehnte sich zurück und griff nach der Zeitung, die er vor dem Ablegen noch gekauft hatte. Er warf einen Blick auf die Schlagzeilen: Es gab Schwierigkeiten wegen Streiks in der belgischen Schnapsindustrie, ein Mann, der seine Frau umgebracht und in kleine Teile zerlegt hatte, wurde gesucht, und eine wohlhabende Großmutter hatte einen achtzehnjährigen Jungen geheiratet. Kendall legte die Zeitung wieder weg. Die Dummheit dieser Welt ärgerte ihn. Deshalb war er lieber auf See.

Er dachte an Mr Sorenson, der allein in einem Antwerpener Krankenhaus schmachtete. Dem Mann war sein Blinddarm wahrscheinlich längst entfernt worden, und er erholte sich von der Operation. Vielleicht wachte er auch jetzt gerade erst aus der Narkose auf und fragte sich, ob das Schiff ohne ihn abgefahren war, wobei er natürlich wusste, dass es nicht anders sein konnte. Kendall setzte die Mütze auf, zog sich die Uniformjacke glatt und fragte sich, ob er in den Funkraum gehen und mit dem neuen Marconi-Telegrafen seine besten Genesungswünsche an das Krankenhaus schicken sollte, entschied sich aber dagegen. Es würde schwierig sein, den Funkern zu erklären, warum er eine Weile allein sein wollte, und wenn sie herausfanden, was für eine Nachricht er geschickt hatte, unterminierte das womöglich sein sorgfältig gepflegtes Bild als strenger Zuchtmeister. Allerdings gefiel ihm der Gedanke ganz und gar nicht, Mr Sorenson könnte annehmen, er sorge sich nicht um ihn. Mit einem Kopfschütteln riss er sich aus seinen Grübeleien, trat aus der Kabine und schloss die Tür hinter sich ab.

Von seinem Aussichtspunkt auf Deck konnte er die Gestalt Billy Carters auf der Brücke erkennen, der aufs Meer hinausdeutete und offenbar mit einem der Navigationsoffiziere herumalberte. Er hielt eine Tasse in der Hand, was der Kapitän auf der Brücke ausdrücklich untersagt hatte. Kendall ging über das Zwischendeck, wich den Kindern und ihren Eltern aus und vollführte scharfe Links- und Rechtswendungen, wann immer er ein lästiges Individuum sah, das offensichtlich seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, um ein Gespräch anzufangen. Sie fliegen auf die Uniform, dachte er bei sich und hatte recht damit. In seiner schwarzen Kapitänstracht bot er einen schneidigen Anblick, auch wenn sich die Orden entlang der Brusttasche bei näherem Hinsehen als die verschiedenen Insignien der Canadian-Pacific-Flotte entpuppten. Verglichen mit den billigen Reisekleidern der Passagiere waren seine eher die eines Dandys. Er ließ einen kleinen Seufzer der Erleichterung hören, als er das Erste-Klasse-Deck erreichte, aber wirklich nur einen kleinen, denn die Leute hier, das wusste er, konnten noch um einiges schlimmer sein als die auf dem Zwischendeck, denn sie sahen in der Regel nicht zu ihm auf. Im Gegenteil, sie blickten nur zu oft auf ihn herab und schienen zu glauben, dass er nur knapp über einem ihrer Butler oder Bediensteten stand. Wobei er als Kapitän stets gezwungen war, ihnen gegenüber höflich zu bleiben. Im Übrigen versuchten sie alle, eine Einladung an seinen Tisch zu ergattern, und er hasste dieses allabendliche Ritual. Mr Sorenson gelang es gewöhnlich ganz gut, die Langweiler von den leidlich Unterhaltsamen zu scheiden, gegen bestimmte äußere Zwänge konnte jedoch auch er nichts tun. Die Bewohner der Präsidentensuite zum Beispiel waren auf jeden Fall einzuladen, zusammen mit einigen anderen Erste-Klasse-Passagieren. Aber jetzt, wo Mr Sorenson nicht länger die Spreu vom Weizen trennte, welche Hoffnung hatte der Kapitän da überhaupt noch, sein Essen genießen und angemessen verdauen zu können? Kendall fing einzelne Wortfetzen auf, als er auf dem Weg zur Brücke an einigen Passagieren vorbeikam, darunter den unerwarteten Kommentar eines jungen Mannes.

»Das ist eine schicke Uniform, oder?«, sagte Edmund zu Victoria. Die beiden saßen in Liegestühlen, spielten Karten, und Edmund sah dem vorbeigehenden Kapitän hinterher. »Die Offiziere sehen sehr elegant aus.«

»Sehr«, antwortete Victoria, die nur zu gerne ein Interesse an den anderen Männern an Bord ausdrückte, da sie hoffte, damit so etwas wie Eifersucht in ihm zu entfachen. »Hast du den Ersten Offizier gesehen? Der sieht toll aus.«

Edmund lächelte, sagte jedoch nichts und warf eine rote Dame auf eine rote Acht. Es war bereits das vierte Romméspiel, und er hatte die ersten drei verloren, was ihn überraschte, da er sich für einen ziemlich guten Kartenspieler hielt. Er versuchte, sich zu konzentrieren, um nicht völlig an die Wand gespielt zu werden.

»Letzte Karte«, sagte Victoria, legte die Pik-Neun vor sich hin und biss sich in Erwartung eines weiteren Sieges auf die Lippe. Als es so weit war, stieß sie einen Jauchzer aus, rief: »Gin!« und klatschte vor Freude in die Hände.

»Vier Mal nacheinander«, sagte Edmund und schüttelte den Kopf. »Du hast eine Glückssträhne.«

»Mutter und ich spielen ständig Karten«, gestand sie ihm. »Sag es niemandem, aber wir spielen um Geld, und sie verliert immer. Für mich ist das eine nette Aufbesserung meines Taschengelds.«

»Eine Falschspielerin also«, antwortete er und lächelte. »Wirklich, Victoria, es überrascht mich, dass du dich so an mir schadlos hältst.«

Sie hob eine Augenbraue und fragte sich, ob das endlich der Beginn eines kleinen Flirts mit ihr war, doch er griff bereits nach den Karten und mischte sie für ein neues Spiel. Sie seufzte und suchte das Deck nach anderen interessanten jungen Männern ab, doch es schien keine zu geben. Die Montrose bot nur eine höchst enttäuschende Auswahl. Für gewöhnlich gab es auf Reisen wenigstens ein Dutzend Schönlinge, die um ihre Gunst buhlten, und in den seltenen Fällen, dass sie selbst von jemandem angezogen wurde, ließ der Wettbewerb das Objekt ihrer Begierde wunschgemäß reagieren. Sie spielten weiter, und als klar wurde, dass Edmund sie mit dem Vorwurf, sie halte sich an ihm »schadlos«, keinesfalls hatte necken wollen, spürte sie, wie er sie mehr und mehr ärgerte. Und sie konnte nichts dagegen tun.

»Kennst du den Jungen da drüben?«, fragte Edmund nach einer Weile. Obwohl er sich auf seine Karten konzentrierte und entschlossen war zu gewinnen, war ihm der junge dunkelhaarige Bursche aufgefallen, der die ganze Zeit schon aus der Entfernung zu ihnen herübersah. Victoria drehte sich um, worauf sich der Junge abwandte und aufs Meer hinausblickte. Dann wich er, offenbar erschrocken, ein paar Schritte zurück und legte die Hände auf den Schornstein hinter sich.

»Nein«, sagte sie und wandte sich wieder Edmund zu. »Er ist mir zwar schon aufgefallen, weil er mich ständig anstarrt, aber ich habe keine Ahnung, wer das ist.«

»Ich denke, da hast du einen Bewunderer«, sagte Edmund mit einem Lächeln, und sie spürte, wie sie gegen ihren Willen – und zu ihrem tiefen Erstaunen – rot wurde.

»Das glaube ich kaum«, sagte sie. »Der ist ja noch ein Kind. Er kann nicht älter als vierzehn, fünfzehn sein.«

»So viel älter bist du nun auch nicht«, sagte er. »Vielleicht könntest du eine kleine Schiffsromanze anfangen.«

Victoria schnaubte. »Nicht mit dem kleinen Jungen!«, sagte sie. »Was glaubst du eigentlich, wer ich bin? Ich gebe mich doch nicht mit Säuglingen ab! Ich habe meine Standards, weißt du, ich muss nicht im Kindergarten nach Ablenkung suchen.«

Edmund lachte. »Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte er.

»Und was ist mit dir?«, fragte sie und war bereit, etwas tiefer in seine Psyche vorzudringen. »Hast du schon ein paar lohnende Objekte an Bord gefunden, die dir gefallen?«

Er veränderte verlegen seine Sitzposition, und sie genoss es, dass ihm ihre Frage offenbar Unwohlsein bereitete. »Nein«, sagte er schroff und spielte eine weitere Karte aus. »Warum kann ich heute nur nicht gewinnen?«, fragte er mit einem Blick zum Himmel hinauf.

»Wechsle nicht das Thema, Edmund.«

»Mir war nicht bewusst, dass wir ein Thema haben.«

»Doch, das haben wir. Das romantische Liebesleben.«

»Ich dachte, wir spielen Karten.«

Sie lächelte ihn geziert an und hatte nach ein paar weiteren Runden erneut gewonnen. Edmund seufzte enttäuscht. »Ich scheine heute einfach kein Glück zu haben«, sagte er, nahm die Karten und mischte sie wieder, hielt dann inne und begann, sie zu zählen. »Es sind nur neunundvierzig«, sagte er und sah seine Mitspielerin überrascht an.

»Was sagst du?«, fragte sie unschuldig.

»Ich sagte, das Spiel besteht nur aus neunundvierzig Karten. Ich dachte mir schon, dass da etwas nicht stimmt. Es gibt keine …« Er zählte noch einmal und sah die Karten durch, bevor er heftig nickte. »Es gibt nur zwei Könige statt vier, und es fehlt auch ein Ass. Kein Wunder, dass ich nicht gewinnen kann, wenn ich auf sie rechne.«

»Oh«, sagte Victoria und tat überrascht. »Das muss ein altes Spiel sein, wir spielen seit Wochen damit. Vielleicht haben wir die Karten in unserem Zimmer in Antwerpen verloren.«

»Aha«, sagte Edmund misstrauisch und war froh, dass sie nicht um Geld gespielt hatten.

»Ich hoffe, du sagst jetzt nicht, ich hätte gemogelt«, sagte Victoria und hob die Hand an den Hals, als nehme ihr schon der Gedanke den Atem.

»Natürlich nicht«, antwortete er, obwohl er sich da nicht so sicher war. »Es ist doch nur ein Spiel. Allerdings denke ich, wir brauchen neue Karten, wenn wir weiterspielen wollen.«

Victoria überlegte. Sie fragte sich, ob sie tatsächlich den Mut hatte, ihren Plan durchzuführen. Sie hatte die drei Karten versteckt, bevor sie das Spiel mit an Deck gebracht hatte, und genau dieses Geschehen erwartet. Sie war überrascht, dass Edmund so lange gebraucht hatte, um zu bemerken, dass einige der Karten fehlten, und hatte sich bereits gefragt, ob sie wohl den ganzen Nachmittag hier draußen spielen mussten, mit zwei Königen und einem Ass zu wenig. Victoria schluckte und sagte sich, wenn sie es jetzt nicht versuchte, würde sie es niemals tun, und so machte sie sich innerlich auf eine mögliche Zurückweisung gefasst, als sie ihren ziemlich unverfrorenen Vorschlag vorbrachte. »Ich habe noch ein anderes Spiel in meiner Kabine«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Ein ganz neues. Gehen wir und holen es.«

Edmunds Augen wurden schmal. »Ich kann hier auf dich warten, wenn du magst«, sagte er. »Ich passe solange auf unsere Stühle auf.«

»Es gibt genug Stühle«, sagte sie und sah sich lachend um. »Du hast doch nichts dagegen mitzukommen? Ich möchte nicht, dass mir dieser Junge hinterherläuft.«

Edmund nickte. »Also, wenn du meinst …«, sagte er langsam. Die beiden standen auf, und Victoria griff nach Edmunds Arm. Ihr Herz schlug schneller, nachdem sie ihn da hatte, wo sie ihn haben wollte. Schnell zog sie ihn mit sich, kam an Tom DuMarqué vorbei, ohne ihm einen Blick zu schenken, führte Edmund zum Niedergang und weiter zu ihrer Kabine und war ganz durchdrungen von der Aussicht auf das, was nun kommen mochte.

Kapitän Kendall beobachtete die beiden von der Brücke aus und erkannte sie als zwei Erste-Klasse-Passagiere, wobei ihm an Edmund, kurz bevor er ihn aus dem Blick verlor, etwas auffiel, ohne dass er hätte sagen können, was es war. Etwas Ungewöhnliches. Etwas …

»Käpt’n?«, sagte Billy Carter und unterbrach seine Gedanken.

»Ja, was denn, Mann?«, fragte Kendall gereizt und sorgte dafür, dass der junge Mann ihn überrascht ansah. Kendall schloss kurz die Augen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. »Was ist?«, wiederholte er noch einmal mit ruhigerer Stimme.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich eine Pause mache. Sie finden mich in meiner Kabine, wenn Sie mich brauchen«, sagte Carter.

»Sehr gut.«

»Auf dem Tisch drüben liegt eine Liste mit den Passagieren, die heute Abend bei Ihnen am Tisch sitzen werden.«

»Keine Nervensägen, hoffe ich, Mr Carter?«

»Außer mir nicht.«

»Außer Ihnen?«

»Ist das nicht Tradition, Sir? Dass der Erste Offizier am zweiten Tag der Reise mit am Kapitänstisch sitzt?«

War das so?, dachte Kendall. Wenn ja, war es ihm neu. Mr Sorenson aß sowieso jeden Abend mit ihm, aber das war einfach ihre Gewohnheit. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass es in diesem Zusammenhang Regeln gab. Um jedoch nicht ignorant zu erscheinen, nickte er schroff. »Das ist wohl so«, sagte er. »Und wer noch?«

»Nun, da sind Monsieur Zéla und sein Neffe, ein Tom DuMarqué.«

»Die Präsidentensuite?«

»Richtig.«

Kendall nickte. »Zéla?«, fragte er. »DuMarqué? Was sind denn das für Namen?«

»Es sind Franzosen, Sir.«

»Franzosen«, wiederholte der Kapitän entnervt. »Gott, hilf uns allen.«

»Dann ist da eine gewisse Mrs Drake mit ihrer Tochter Victoria«, fuhr Billy Carter fort. »Mrs Drake war sehr darauf aus, mit eingeladen zu werden.«

»Reich? Lästig? Kriecherisch?«

»Eine sehr angenehme Person, da bin ich sicher, Sir. Dazu habe ich Mr Robinson und seinen Sohn Edmund eingeladen sowie eine Miss Hayes. Sie alle scheinen Bekanntschaft geschlossen zu haben. Es sollte eine lebhafte Gruppe werden, Sir.«

»Ich bin ganz feucht vor Aufregung«, sagte Kendall trocken.

»Ja, Sir«, antwortete Carter nach kurzem Zögern. Die Bemerkung des Kapitäns verblüffte ihn. »Nun, wenn es sonst nichts gibt, Käpt’n, ziehe ich mich bis zum Essen zurück.«

»Nein, es gibt sonst nichts, Mr Carter. Gehen Sie nur.« Kendall sah zu, wie sein Erster Offizier die Stufen hinunterging und in der Menge auf dem Zwischendeck verschwand. Er sah auf die Uhr. Halb sechs. Zweieinhalb Stunden noch bis zu der Essenstortur mit einer oder zwei Stunden gezwungener Unterhaltung und Jovialität, bevor er schlafen gehen konnte. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn begann er, sich zu fragen, ob er wirklich für diesen Job gemacht war.

 

Obwohl das Abendessen jederzeit zwischen halb acht und zehn Uhr eingenommen werden konnte, lautete die Einladung für den Kapitänstisch auf acht Uhr, da das die Zeit war, zu der der Kapitän zu essen pflegte. Während Kendall vor dem Spiegel stand und seine Krawatte zurechtzog, bereiteten sich auch die übrigen Glücklichen, die sich an seinem Tisch einfinden sollten, auf jeweils unterschiedliche Weise auf das Ereignis vor, waren mehr oder weniger aufgeregt und freuten sich auf das vor ihnen liegende Essen.

In Kabine A7 beugte sich Mrs Antoinette Drake näher zum Spiegel und hantierte mit dem Licht. Sie sah den schwachen Schimmer ihres nachgewachsenen Damenbarts auf der Oberlippe und stöhnte verzweifelt. In Antwerpen hatte sie sich einer Schönheitsbehandlung unterzogen, aber das dumme Ding in dem Salon hatte vergessen, ihr die Härchen von der Oberlippe zu entfernen. Sie griff nach ihrer Puderquaste und betupfte sich sanft damit. Für den Abend hatte Mrs Drake ein extravagantes grünes Kleid ausgesucht und dazu ein Mieder, das ihre Brüste kräftig nach oben drückte. Sie hoben sich, wenn sie einatmete, und man konnte sie praktisch diskutieren hören, welche von ihnen als Erste hervorschnellen sollte. Mrs Drake betrachtete ihr Spiegelbild und vermochte sich zu überzeugen, dass sie immer noch die sexuelle Anziehungskraft einer achtzehnjährigen Debütantin besaß.

»Victoria, versuche doch bitte, ein wenig munterer dreinzublicken«, sagte sie und fing im Spiegel den Blick ihrer Tochter auf. »Du solltest dich auf heute Abend freuen. Wie viele Mädchen in deinem Alter können schon mit einem Schiffskapitän dinieren?«

Victoria, in einem herrlichen roten Abendkleid, saß auf dem Rand ihres Bettes und starrte ins Nichts. Die Demütigung des Nachmittags lag ihr immer noch auf der Seele.

»Was ist denn mit dir? Du siehst aus, als stünde das Ende der Welt bevor.«

»Nichts ist mit mir«, fuhr Victoria auf. »Ich bin nur hungrig, das ist alles. Bist du immer noch nicht fertig?«

»Ich beeile mich, so gut ich kann. Drängle mich nicht.«

»Es ist fast acht Uhr.«

»Es ist das Privileg einer Lady, zu spät zu kommen«, erklärte ihr die Mutter. »Das ist etwas, was du noch lernen musst, mein Kind. Die Gentlemen warten zu lassen. Wenn wir als Erste an den Tisch kämen, wäre das für alle äußerst peinlich.«

Für Victoria war der vor ihnen liegende Abend schon jetzt mehr als peinlich, wusste sie doch, dass Edmund Robinson mit am Tisch sitzen würde, und sie konnte nur beten, dass der Tisch groß genug war, um möglichst weit von ihm entfernt zu sein. Ihr gemeinsamer Nachmittag hatte ein abruptes Ende gefunden, als sie ihn mit in die Kabine nahm, um ein neues Kartenspiel zu holen. Als die Tür fest hinter ihnen geschlossen war, hatte sie ihm einen Platz angeboten, während sie nach den Karten sehen wollte. Er ging jedoch zum Ankleidetisch und betrachtete die gerahmten Fotografien, die Mrs Drake dort aufgestellt hatte.

»Mein Vater«, sagte Victoria, trat hinter ihn und sah über seine Schulter auf das Bild eines dünnen, alternden Mannes mit gebeugten Schultern, dessen dunkle Augen aufgebracht in die Kamera starrten. »Er mag es nicht, fotografiert zu werden. Es macht ihn richtiggehend wütend.«

»Das sieht man«, sagte Edmund, der ihn ernst betrachtete.

Bevor sie sich wieder abwandte, glitt Victorias Blick leicht nach links und blieb gebannt an Edmunds Nacken haften, an dieser hellen, zarten Haut, die so völlig ohne jeden Makel war, von so vollkommenem Weiß wie ein Garten voll frisch gefallenem, jungfräulichem Schnee. Sie atmete seinen Duft ein und zwang sich zurückzutreten. Edmund fuhr herum, als er ihren Atem an seinem Ohr spürte.

»Wie klug von dir, ein zusätzliches Kartenspiel mitzubringen«, sagte er, und sie sah ihn an und vergaß für einen Moment, warum sie hier waren.

»Ja, richtig«, sagte sie, »die Karten. Wo hab ich sie nur hingetan?«

»Victoria, hörst du mir überhaupt zu?« Victoria riss sich aus ihrem Tagtraum und wandte sich ihrer Mutter zu, die aufbruchbereit an der Tür stand. »Jetzt komm schon«, sagte Mrs Drake. »Es ist fünf nach acht. Die anderen sollten bereits da sein. Es wird Zeit.«

Victoria legte die Stirn in Falten, stand auf und machte sich von ihrer Erinnerung los. »Ja doch«, sagte sie.

Martha Hayes hatte für den Abend ebenfalls eines ihrer Lieblingskleider gewählt, eine Robe aus weißem Chiffon, die ihr Léon Brillt, die eine wahre Liebe ihres Lebens, zur Verlobung geschenkt hatte. Sie hatte fast alle Geschenke Léons weggeworfen, aber dieses Kleid war so schön und so teuer, dass sie es nicht übers Herz brachte, sich von ihm zu trennen. Zwar erinnerte es sie an den Abend, an dem er es ihr geschenkt hatte, ihren wohl denkwürdigsten Abend zusammen (an dem sie sich ihm zum ersten Mal hingegeben hatte), doch sie versuchte, sich von dieser Erinnerung frei zu machen und es zu genießen, wie sie sich in diesem Traum aus Weiß fühlte. Als sie aus ihrer Kabine trat, traf sie auf Billy Carter in seiner weißen Abenduniform, der ebenfalls unterwegs in den Speisesaal war.

»Oh, guten Abend, Miss Hayes«, sagte er, beeindruckt von ihrer Verwandlung. »Sie sehen zauberhaft aus.«

»Ich danke Ihnen, Mr Carter«, sagte sie mit einem Lächeln. »Und danke auch für die nette Einladung. Welch eine Ehre, mit dem Kapitän essen zu können.«

»Nichts zu danken. Wir haben heute Abend eine angenehme Gruppe beisammen, denke ich. Kapitän Kendall liegt sehr daran, seine Passagiere besser kennenzulernen. Er ist ein äußerst freundlicher Mensch«, log er und dachte: Nur mich hasst er.

»Sind Sie schon oft zusammen gefahren?«

»Das ist unser erstes Mal«, antwortete er. »Der übliche Erste Offizier, Mr Sorenson, musste wegen seines Blinddarms ins Krankenhaus.«

»Nicht wirklich?«, rief sie überrascht. »Mein Verlobter ist vor drei Monaten fast an einem geplatzten Blinddarm gestorben.« Die Worte, so wahr sie waren, waren ihr entschlüpft, bevor sie darüber nachdenken konnte, und Martha verspürte sogleich den Wunsch, sie zurückzunehmen. Aber da betraten sie schon den Speisesaal, und Billy Carter führte sie hinüber, um sie dem Kapitän vorzustellen. Der Tisch war rund, und vier der anderen Gäste saßen bereits beim Kapitän: Matthieu Zéla und sein Neffe Tom sowie John Robinson und sein Sohn Edmund.

»Ich denke, die Robinsons kennen Sie bereits«, sagte Billy Carter und zog Marthas Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte. »Aber haben Sie auch schon Monsieur Zéla und seinen Neffen kennengelernt?«

»Heute Nachmittag«, sagte Martha und grüßte den Mann mit einem Kopfnicken. »Wie schön, Sie wiederzusehen. Und Tom«, sagte sie mit einem Blick auf den Jungen, der sie genauso misstrauisch betrachtete wie zuvor auf Deck. Einen Moment später schon wanderten seine Augen jedoch von ihr weg, als Mrs Antoinette Drake mit ihrer Tochter hinter sich hereinkam und auf den Tisch zuschritt, als wollte sie verkünden, das Kommando über das Schiff liege fortan bei ihr, und alle sollten auf die Knie fallen und ihr huldigen.

»Entschuldigen Sie unsere Verspätung«, sagte sie und nahm den leeren Platz zwischen dem Kapitän und Mr Robinson ein, der ein wenig zur Seite rückte. »Ich hoffe, wir haben Sie nicht warten lassen. Ich musste noch etwas Puder auflegen.«

»Ich bin auch erst gerade gekommen, Mrs Drake«, sagte Martha Hayes. »Das ist das Vorrecht der Lady, wie man so sagt.«

»Oh! Miss Hayes«, antwortete Mrs Drake, und ihr Lächeln verblich etwas, als sie sah, wer ihr da gegenübersaß. »Sie sind aber auch wirklich überall, nicht wahr?«

Martha lächelte liebenswürdig und fragte sich, was um alles in der Welt sie getan hatte, um das Missfallen dieser Frau zu erregen.

Damit war nur noch ein Platz frei, zwischen Billy Carter und Tom DuMarqué, und Victoria blieb nichts übrig, als ihn einzunehmen. Tom leckte sich die Lippen wie ein Löwe, der Anstalten machte, sich auf seine Beute zu stürzen, sie erst aber noch etwas beschnüffeln wollte. Es folgte die förmliche Vorstellung, dann gab der Kapitän dem Steward das Zeichen, den ersten Gang zu servieren.

Edmund saß Victoria gegenüber und versuchte, ihrem Blick auszuweichen, konnte aber nicht anders, als von Zeit zu Zeit zu ihr hinüberzusehen. Auch ihm war es peinlich, was am Nachmittag geschehen war. Zwischen den beiden schien jedoch ein unausgesprochener Pakt geschlossen, jetzt kein Wort darüber zu verlieren. Nachdem Victoria endlich die neuen Karten gefunden hatte, war Edmund zur Kabinentür gegangen, aber sie hatte sich ihm in den Weg gestellt und ihn vielsagend angelächelt.

»Etwas sagt mir, dass du nicht mit mir allein sein willst«, erklärte sie.

Er schüttelte überrascht den Kopf. »Ganz und gar nicht, Victoria«, entgegnete er. »Warum denkst du das?«

»Ich glaube, du hast Angst vor dir selbst, was mich betrifft.«

»Victoria …«, begann er, doch bevor er weiterreden konnte, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen. Es war ein prickelndes Gefühl, und sie hätte stundenlang so dastehen können, die Fingerspitze auf seinen vollen roten Lippen. Sie wusste, was sie jetzt tun wollte, zog den Finger zurück, schloss die Augen, legte die Hand hinter seinen Kopf und zog ihn zu sich heran, damit er sie küsste.

»Victoria!«, sagte Edmund und machte sich von ihr frei. »Das ist keine gute Idee. Ich denke, wir sollten zurückgehen an Deck.«

»Gleich«, schnurrte sie.

»Victoria, nein«, sagte er noch einmal, wich zurück und schüttelte den Kopf. »Bitte, hör auf.«

»Was stimmt denn nicht mit dir?«, fragte sie, und in ihren Augen glitzerte der Zorn. »Findest du mich nicht attraktiv? Weißt du nicht, dass ich eines der begehrtesten Mädchen von Paris war? Warum behandelst du mich so?«

»Ich behandele dich überhaupt nicht«, sagte er abwehrend und schob sich Richtung Tür. »Ich glaube nur, dass sich das Auf und Ab des Meeres bei dir bemerkbar macht.«

»Das was?«

»Wirklich, Victoria. Ich denke nicht, dass wir … Im Übrigen habe ich versprochen … meinem Vater, meine ich, dass wir uns etwa um diese Zeit in unserer Kabine treffen. Ich sollte allmählich gehen.«

Damit lief er hinaus und vergaß, die Tür hinter sich zu schließen – was sie für ihn tat, lautstark, um dann die nächsten zehn Minuten in der Kabine auf und ab zu laufen, Edmund zu verfluchen und sich selbst dafür zu verdammen, dass sie sich so weit vorgetraut hatte. Sie verfiel ihm immer mehr. Seine Unschuld und seine Furcht vor der Intimität betörten sie. Es muss sein erstes Mal sein, dachte sie, geradezu überwältigt von dem Gedanken.

»Was für eine bezaubernde Art, den Abend zu verbringen«, sagte Mrs Drake, und ihre Stimme übertönte die Gespräche aller anderen. »Mein Mann, Mr Drake, und ich sind schon öfter auf Schiffen gereist, haben aber noch nie am Kapitänstisch gegessen.«

»Es ist ein Vergnügen, Sie hier zu haben«, brummte der Kapitän.

»Miss Hayes hat mir eben erzählt, dass sie verlobt ist und heiraten wird«, sagte Billy Carter und machte sich mit Genuss über sein Steak her. »Lebt Ihr Verlobter in Kanada?«, fragte er sie.

»Oh!«, rief sie, verlegen und überrascht, dass er das hier vor allen anderen ansprach.

»Verlobt!«, sagte Mrs Drake, als wäre der bloße Gedanke schon völlig absurd. »Ach, wie schön. Aber sagen Sie, meine Liebe«, fügte sie gleich noch hinzu und starrte auf Marthas nackte Finger. »Wo ist denn Ihr Verlobungsring?«

»Meinen Glückwunsch, Miss Hayes«, sagte Matthieu Zéla gleichzeitig. »Darauf sollten wir trinken.«

»Nein, nein«, sagte Martha und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dass sich Monsieur Brillt als … das heißt, Monsieur Brillt und ich … nun, es tut mir leid, sagen zu müssen, dass wir unsere Verlobung gelöst haben.«

»Verstehe«, sagte Mrs Drake, und ihre Nasenflügel flatterten, als witterte sie einen Skandal.

»Hat er sich eine andere ausgesucht?«, fragte Tom und sah Victoria an, um ihr zuzuzwinkern, aber die starrte ihn an, als verströmte er einen üblen Geruch.

»Tom«, sagte Matthieu leise.

»Das ist etwas Persönliches«, sagte Martha und blickte verlegen auf ihren Teller. »Ich würde lieber nicht darüber sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Vielleicht sollten wir das Thema wechseln«, sagte Mr John Robinson und warf einen hoffnungsvollen Blick in die Runde. Es tat ihm leid, dass sie so in die Enge getrieben worden war.

»Ganz recht«, pflichtete ihm Matthieu bei. »Sagen Sie, Edmund«, fuhr er fort und wandte sich nach links. »Welchem beruflichen Feld möchten Sie sich denn in Kanada zuwenden?«

»Ich bin Arzt«, sagte Mr Robinson und antwortete für ihn. »Ich hoffe, ich kann mir dort eine Praxis einrichten. Edmund wird mit seinen Studien fortfahren.«

»Ist das so?«, sagte Matthieu, sah ihn an und nickte langsam. »Wie alt sind Sie, Edmund?«

Der Junge blinzelte und schien nachzudenken. »Siebzehn«, sagte er.

»Und Sie, Kapitän Kendall«, sagte Mrs Drake, »Ihre Frau muss Sie fürchterlich vermissen, wenn Sie auf See sind.«

»Siebzehn ist ein schönes Alter«, sagte Matthieu. »Da freuen Sie sich bestimmt, in Miss Drake eine Altersgenossin gefunden zu haben, nicht wahr?«, fragte er und nickte zu Victoria hinüber, die ihn zornig anfunkelte.

»Ich bin ein unverheirateter Mann«, sagte der Kapitän förmlich und mit einem kurzen Stirnrunzeln. Halb dem anderen Gespräch folgend, erinnerte er sich, dass er Edmund und Victoria gemeinsam in Richtung Kabinendeck hatte verschwinden sehen. Er vermutete unstatthaftes Verhalten.

»Sie waren nie verheiratet? Sind nicht mal Witwer?«

»Alle Passagiere, die ich bislang kennengelernt habe, scheinen sehr nett zu sein«, sagte Edmund, um Victoria nicht besonders hervorzuheben.

»In der Tat.«

»Meine Frau ist daheim in Antwerpen. Sie bekommt bald ein Baby«, sagte Billy Carter.

»Ich fand Witwer immer sehr charmant.«

»Einige sind nicht so nett wie andere«, sagte Victoria.

»Sie sind sehr still, Mr Robinson«, sagte Monsieur Zéla. »Genießen Sie Ihr Essen?«

»Wie schön für Sie«, sagte Martha Hayes. »Ist es Ihr erstes?«

»Ich kann ziemlich nett sein, weißt du?«, sagte Tom und schob die Hand unter den Tisch, um Victorias Knie zu drücken.

»Es ist köstlich«, sagte Mr Robinson, zerlegte sein Hähnchen gekonnt und trennte Beine und Brüste vom Rumpf.

»Natürlich ist eine Witwe etwas ganz anderes. Manche sind äußerst plump. Was daran liegt, dass sie endlich die Kontrolle über das Geld haben, verstehen Sie. Ich nehme an, es haben an Bord schon einige Witwen versucht, Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, Kapitän, habe ich recht?«

»Das erste von vielen, hoffe ich!«

»Nimm deine Hände von mir, du kleiner Scheißer, oder ich schneide dir die Eier ab«, flüsterte Victoria, und Tom zog seine Hand zurück und schluckte nervös, fühlte sich jedoch ungeheuer erregt.

»Wo kommen Sie ursprünglich her, Mr Robinson? Haben Sie in Antwerpen gelebt?«

»Ich tue meine Pflichten an Bord, Mrs Drake. Sonst nichts«, sagte der Kapitän mit einem trockenen Lachen. Diese Art von persönlicher Befragung war einer der Gründe, warum er diese Essen so sehr hasste.

»Vielleicht sollten wir morgen Vormittag eine Partie Bowls spielen, Victoria«, schlug Edmund vor, der sich mit ihr vertragen wollte und den zornigen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, ohne zu wissen, dass er auf die unerwünschten Aufmerksamkeiten Tom DuMarqués zurückzuführen war.

»Werden Sie denn zur Geburt wieder zu Hause sein?«

»Was für eine reizende Idee. Das wird Victoria gefallen, nicht wahr, Liebes?«

»Nein«, sagte Mr Robinson. »Ich war viele Jahre in London, wobei ich ursprünglich aus Amerika stamme.« Edmund warf ihm einen Blick zu und war sich offenbar nicht sicher, wie offen sie diesen Leuten gegenüber sein sollten.

»O ja. Das möchte ich um alles in der Welt nicht verpassen.«

»Vielleicht«, sagte Victoria, die sich nicht festlegen wollte. Bedauerst du das jetzt?, fragte sie sich.

»Aus welchem Teil Amerikas?«

»Wird es später noch Tanz geben, Kapitän? Wenn ja, würde ich mich freuen, wenn Sie mich begleiten würden.«

Der Kapitän klopfte mit dem Messer gegen sein Glas, und der helle Klang brachte alle zum Schweigen.

»Ladys und Gentlemen«, sagte er. »Willkommen auf der Montrose. Und Ihnen allen eine sichere Reise.«

»Eine sichere Reise«, wiederholten alle und erhoben die Gläser.

»Als ich in Paris gewohnt habe«, sagte Tom DuMarqué und brach damit das plötzliche Schweigen, das auf den Trinkspruch gefolgt war, »meinten die Leute, aus mir würde nichts werden, weil ich ständig Schwierigkeiten wegen Diebstählen und Einbrüchen hatte. Aber wenn ich nach Amerika komme«, fuhr er fort und sah dabei Edmund an, den er bereits als seinen natürlichen Feind identifiziert hatte, »gehe ich nach Hollywood und werde ein Filmstar.«

»Grundgütiger!«, rief Mrs Drake, die nicht sicher war, welcher Teil seiner Aussage sie mehr schockierte, seine kriminelle Vergangenheit oder die angestrebte Karriere. Victoria schnaubte nur, schon der Gedanke schien ihr lächerlich.

»Ein was?«, fragte Mr Robinson und sah den Jungen an.

»Ein Filmstar«, wiederholte Tom. »Das ist die große Sache im Moment, wissen Sie. In Hollywood bauen sie Studios, und jeder kann hin und in ihren Filmen auftreten. Sie müssen doch schon einige gesehen haben.«

»Vielleicht ein oder zwei«, sagte Mr Robinson und versuchte, sich zu erinnern. »Ich war schon mal im Nickelodeon. Aber davon kann man doch sicher nicht leben?«

»Mehr als das«, sagte Tom voller Überzeugung. »Es heißt, wer da von Anfang an mitmacht, kann bis zu seinem Tod eine Million Dollar verdienen.«

»Was für ein Unsinn«, sagte Victoria.

»Das kommt nicht an«, sagte Billy Carter. »Mit den Music Halls können die niemals konkurrieren. Die sind das Tollste überhaupt. Da habe ich auch meine Frau kennengelernt. Sie war eine Revuetänzerin.«

»Eine Revuetänzerin«, sagte Mrs Drake. »Wie schockierend!«

»Die Frauen dort«, sagte Mr Robinson mit ruhiger Stimme, »bedeuten nichts als Ärger. Sie produzieren sich wie billige Huren und hoffen, einen armen Kerl in die Falle zu locken, und wenn sie ihn haben, bluten sie ihn aus. Wenn es nach mir ginge, würde jede einzelne Music Hall im Land geschlossen.«

Schweigen senkte sich über den Tisch. Mr Robinson hatte einen unangemessenen Ton angeschlagen, und Mrs Drake sah, wie seine Fingerknöchel ganz weiß wurden, so fest hielt er Messer und Gabel gepackt.

»Nun, nicht meine Delilah«, sagte Billy Carter endlich, um die Spannung zu durchbrechen. »Sie ist die große Ausnahme.«

Kapitän Kendall schob seinen Teller zur Seite und gab dem Steward das Zeichen, den Tisch abzuräumen, obwohl noch nicht alle mit dem Essen fertig waren. Er zog seine Taschenuhr heraus, öffnete sie und rief laut: »Oje, wie spät es schon ist!«

»Herr Kapitän, Sie wollen uns doch sicher nicht bereits verlassen?«, fragte Mrs Drake enttäuscht.

»Die Pflicht ruft, meine Gute«, sagte er und gab sich etwas unterwürfig, jetzt, da er sich verabschiedete. »Die Pflicht ruft. Aber Mr Carter, Sie werden sich auch weiter um unsere Gäste kümmern, nehme ich an?«

»Natürlich, Sir.«

»Gut. Ich bin an Deck, falls man mich braucht.«

 

Ein schmaler Balkon umgab die Kommandobrücke, und es war dem Kapitän zur Gewohnheit geworden, dort abends noch eine Zigarre zu rauchen, bevor er sich zurückzog. Er stand an einer finsteren Stelle, wo er nicht zu sehen war, nur die helle rote Glut seiner Zigarre leuchtete im Dunkel. Es war friedlich dort oben, und er hörte nichts als die gedämpfte Musik vom ein Stück entfernt liegenden Zwischendeck und das harmonische Rauschen der Wellen, die sein Schiff, die Montrose, durchschnitt. Er wollte gerade wieder hineingehen, als er zwei Passagiere auf Deck kommen sah, die sich ins Dunkel der Schatten drückten und nervös umsahen.

»Gehen wir in die Kabine«, sagte Mr Robinson mit gedämpfter Stimme. »Da können wir reden.«

»Gleich«, sagte Edmund. »Ich brauche nur noch etwas frische Luft.«

Kapitän Kendall wollte den beiden schon ein Zeichen geben, dass er über ihnen stand, hatte sich Mr Robinson doch bislang als sein liebster Passagier erwiesen. Er besaß weder die Taktlosigkeit von Mrs Drake noch die Distanziertheit ihrer Tochter, weder die schillernde Galanterie von diesem Monsieur Zéla noch das pubertäre Gehabe seines Neffen, weder die einfältige Natur von Miss Hayes noch die vorwitzige Arroganz von Mr Carter. Mr Robinson war der Einzige, mit dem er sich auch privat unterhalten würde. Wäre Edmund jetzt nicht bei ihm, würde er ihn vielleicht sogar auf eine Zigarre einladen, sozusagen als Ersatz für Mr Sorenson.

»Willst du wirklich morgen mit diesem Mädchen Bowls spielen?«, fragte Mr Robinson.

»Ich will sie nicht verärgern«, antwortete Edmund. »Ich bin sicher, sie ist eigentlich eine ganz nette Person, nur ein wenig egoistisch.«

»Sie wird nur wieder versuchen, dich zu verführen. Darauf kannst du wetten.«

Ich wusste es, dachte Kapitän Kendall und verspürte einen merkwürdigen Gefallen daran, dass der Junge die Annäherungsversuche des Mädchens offenbar zurückgewiesen hatte.

»Ich glaube nicht«, sagte Edmund, »sie wird zu sehr damit beschäftigt sein, diesen Tom DuMarqué abzuwehren. Hast du gesehen, wie er sie angeschmachtet hat? Ich dachte, er wollte sie bei lebendigem Leib verschlingen. Dabei ist er noch ein Kind.«

»Ich habe ihn kaum bemerkt«, sagte Mr Robinson und zog Edmund an sich heran. »Ich hatte, wie immer, nur Augen für dich.«

Eine Weile herrschte Schweigen, während sich die beiden in die Augen sahen. Kapitän Kendall lehnte sich vor und linste in die Finsternis, um erkennen zu können, was dort unten vorging. Seine Augen wurden größer und größer, und er musste sich zurückhalten, nicht laut aufzuschreien. Mr Robinson und Edmund küssten sich leidenschaftlich, ihre Lippen schienen fest miteinander verbunden, und sie pressten die Körper gegeneinander. Er starrte zu den beiden hin und konnte nicht glauben, was er da sah. Es war zu schockierend, zu unerhört, zu …

Mr Robinson fuhr mit der Hand durch Edmunds Haar, das sich von dessen Kopf löste und aufs Deck fiel. Kapitän Kendall schnappte nach Luft und glaubte schon, er müsste sich übergeben. Was zum …?, dachte er, bevor er genauer hinsah und feststellte, dass es natürlich nicht das Haar des Jungen war, sondern eine Perücke, unter der dichte, brünette Locken hervorgequollen waren.

»Meine Haare«, flüsterte Edmund und hob die Perücke auf. Dabei ließ ein Lichtschein den Umriss seines Gesichts erkennen, und Kapitän Kendall sah zum ersten Mal das zarte Profil mit dem echten Haar. Edmund blickte schnell übers ganze Deck, um sich zu versichern, dass niemand etwas gesehen hatte, und setzte dann die Perücke wieder auf. »Gehen wir nach unten«, sagte er, und sie verschwanden über den Niedergang in Richtung ihrer Kabine.

»Eine Frau!«, sagte Kapitän Kendall mit bleichem Gesicht und voller Staunen über das, was er da gesehen hatte. »Edmund Robinson ist eine Frau!«