13 Die Abendgesellschaft
London: 19. Januar 1910
In verschiedenen Londoner Stadtteilen bereiteten sich zehn unterschiedlich gespannte Menschen auf Cora Crippens Abendgesellschaft vor. Oben in ihrem Haus am Tavistock Square saß Mrs Louise Smythson an ihrem Ankleidetisch, sprühte sich etwas Parfüm auf den Hals und inspizierte die Haut unter ihren Augen auf Anzeichen des Alterns. Direkt unter dem Lid bildeten sich ganz eindeutig einige haarfeine, noch kaum sichtbare Fältchen, und Louise seufzte, wusste sie doch, dass das nur der Anfang war. Bald schon würden sie sich ausbreiten. Die Wangen würden einsinken, ihre Hände knotig und fleckig werden, die Beine bleich, von Venen durchzogen. Ihre Brüste würden ihre Fülle verlieren und nach unten sacken, und dann würde der Spiegel ein früher einmal guter Freund sein, den sie nicht länger sehen wollte. Sie konnte hören, wie ihr Mann Nicholas in seinem Ankleidezimmer nebenan vor sich hin pfiff.
Die Einladung zum Essen hatte sie überrascht. Es sei ein besonderer Anlass, hatte Cora Crippen gesagt, ihr fünfzehnter Hochzeitstag, und das wolle sie feiern. Cora hatte die Einladung beim Treffen der Music Hall Ladies’ Guild in der vorangegangenen Woche ausgesprochen, und Louise hatte gleich zugesagt. Seit sie Cora kannte, hatte sie Dr. Crippen nur bei einer Handvoll Anlässe getroffen, sie kannte ihn kaum. Sie hielt ihn für einen Stockfisch, ohne jedes Talent für ein Gespräch in guter Gesellschaft, und kaum für einen angemessenen Tischnachbarn, doch er war Coras Mann, und so konnte sie ihre Kritik nicht laut äußern. Selbstverständlich wäre sie lieber in ein nobles Restaurant eingeladen worden, aber Cora hatte darauf bestanden, selbst zu kochen, was Louise äußerst merkwürdig vorkam und was sie dem exzentrischen Charme ihrer Freundin zurechnete. Sie hatte keine Ahnung, dass es für Cora nichts als eine finanzielle Notwendigkeit war, sich selbst an den Herd zu stellen. Louise sah auf die Uhr und ging nach nebenan, um ihren Mann zu holen. Es war Zeit aufzubrechen.
Hawley Crippen war den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, Vorbereitungen für das Essen zu treffen. Cora hatte ihm erst zwei Abende zuvor davon erzählt, als sie ihm ihre Anweisungen gegeben hatte. Dass sie sich an ihren Hochzeitstag erinnerte und ihn sogar feiern wollte, hatte ihn überrascht, aber er erhob keine Einwände. Er wusste nur zu gut, dass sie es allein deshalb tat, um ihre Freundinnen zu beeindrucken und sich noch mehr in die Gesellschaft hineinzudrängen, der sie so unbedingt angehören wollte. Mit ihm hatte das alles nichts zu tun. Es war offensichtlich, dass Paare wie die Smythsons und die Nashs ihre Dinnereinladung irgendwann erwidern mussten, und da er und Cora noch nie von einem der beiden Paare eingeladen worden waren, wäre es ein beträchtlicher Coup für sie, wenn ihr das gelang.
Er verharrte für einen Moment mitten in der Küche und ging durch die Liste in seinem Kopf. Der Tisch war gedeckt, der Wein stand auf der Anrichte, das Lamm brutzelte im Ofen, die Kartoffeln köchelten vor sich hin, und das Gemüse lag bereit, um im rechten Moment in den Topf gegeben zu werden. Den Teppich hatte er morgens gründlich gesäubert, wofür er fast zwei Stunden gebraucht hatte. Nicht gerade hilfreich war gewesen, dass Alec Heath mit völlig verdreckten Stiefeln hereingekommen war und seinen auf dem Boden knienden, sorgsam den Flor scheuernden Vermieter geflissentlich übersehen hatte. Hawley war sicher, dass noch etwas fehlte, konnte jedoch nicht sagen, was es war. Aber selbst wenn er sich täuschte, würde Cora ausreichend Gründe finden, sich zu beklagen. Das war er gewohnt, und sosehr es ihn auch zermürbte, überraschte es ihn doch längst nicht mehr. Er öffnete den Ofen, wich ein Stück zurück, als die heiße Luft mit einem Schwall daraus entwich, und warf einen Blick hinein. Das Fleisch sah wunderbar saftig aus und roch herrlich. Ja, eines musste er noch tun, bevor er sich entspannen konnte. Hawley holte zwei schwere Tranchiermesser aus dem Schrank und begann, sie zu schärfen. Die Klingen sollten ohne jede Schwierigkeit durch das Fleisch gleiten. Er musste an seine Zeit im Schlachthof von McKinley-Ross denken.
Fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt stand Ethel LeNeve fertig angekleidet vor dem Spiegel, nahm die einfache Silberkette ab, die sie sich vor einem Monat gekauft hatte, um sich etwas aufzumuntern, und ersetzte sie durch die Perlen ihrer verstorbenen Mutter. In der letzten Nacht hatte sie kaum geschlafen, so aufgeregt war sie bei dem Gedanken an die heutige Abendgesellschaft. Die Einladung hatte sie völlig überrascht. Was sie nicht wusste, war, dass sich Cora Crippen einen ganzen Abend lang den Kopf zerbrochen hatte, welche alleinstehende Frau sie noch einladen konnte, denn sonst wäre das Verhältnis nicht ausgeglichen gewesen. Aber alle ihre Freundinnen waren verheiratet, und ihr wollte keine passende Kandidatin einfallen. Hawley hatte Ethel vorgeschlagen, und Cora hatte zunächst abwehrend reagiert. »Wen?«, fragte sie. »Welche Ethel?«
»Ethel LeNeve«, antwortete er geduldig. »Meine Assistentin bei Munyon’s. Du hast sie verschiedentlich schon gesehen.«
»Was, das kleine, burschikos aussehende Ding mit der dicken blutroten Narbe auf der Lippe?«
»Meine Assistentin«, wiederholte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Eine reizende Person.«
»Oh, ich glaube kaum, dass sie zu uns passt«, sagte Cora. »Ist sie nicht etwas gewöhnlich?«
Gewöhnlicher als du, die mich in einer Music Hall aufgelesen hat?, dachte er. Gewöhnlicher als Louise Smythson, die als Bedienung in einem Pub gearbeitet hat? »Nein«, sagte er. »Sie ist sehr gesellig.«
»Nun, allein wird sie sein, nehme ich an«, sagte Cora zweifelnd. »Ich meine, wer würde die hässliche Kleine schon haben wollen?«
Hawley überkam eine Welle des Hasses auf seine Frau, als sie das sagte, doch er hielt sich für den Moment zurück. Endlich gab sie ihr Einverständnis, und so hatte Hawley Ethel am nächsten Tag bei der Arbeit eingeladen. Natürlich sagte sie, sie komme nur zu gerne. Als sie jetzt die Straße zum Haus der Crippens hinunterspazierte und der Schirm neben ihr aufs Pflaster klopfte, hoffte sie, dass sie sich mit Cora Crippen an diesem Abend ein wenig besser verstehen würde als sonst. Sie hatte sie bisher nur wenige Male gesehen, das erste Mal vor Jahren, als sie morgens zu Munyon’s hineingegangen war und ihren lieben Hawley kennengelernt hatte. Dann vor etwas mehr als einem Jahr, als sie dem guten Mann seine Schlüssel gebracht und das Pech gehabt hatte, eine wutentbrannte Cora erleben zu müssen, die, wie sie später erfuhr, gerade einen bösen Rückschlag in ihrer Karriere erlitten hatte. Einmal im Battersea Park an einem Sonntagnachmittag, als sie mit einem Buch auf einer Bank saß und die Crippens zufällig vorbeigekommen waren. Und schließlich war Cora eines Morgens in die Apotheke gekommen, hatte Geld von ihrem Mann gewollt und ausgesehen, als würde sie auf der Stelle der Schlag treffen, wenn sie es nicht bekäme. Cora war eine eigensinnige Frau, daran bestand kein Zweifel. Und sie mochte Ethel nicht.
Andrew und Margaret Nash überholten Ethel in einem Hansom-Taxi, ohne zu wissen, dass sie zur selben Einladung wollte. Die beiden schwatzten fröhlich miteinander, als sie sich dem Haus der Crippens näherten. Wie auch die Smythson waren sie ein wenig überrascht gewesen, zu deren Hochzeitstag eingeladen zu werden, konnten aus Anstandsgründen aber nicht ablehnen.
»Lass uns sehen, dass wir uns gegen elf wieder verabschieden«, sagte Andrew, als sie vor dem Haus vorfuhren. »Ich habe morgen in aller Frühe einen Termin und möchte nicht zu müde sein.«
»Natürlich, Liebster«, sagte Margaret, »ich bin sicher, da ist die Feier längst vorbei«, und fügte mit einem Blick nach draußen gleich noch hinzu: »Was für ein entzückendes Haus.«
»Kommt mir ein bisschen eng vor«, murmelte er. »Bist du sicher, diese Leute sind von unserem Stand?«
»Nun, ihn kenne ich nicht«, gab sie zu. »Aber Cora ist eine reizende Frau. Du könntest dir keine kultiviertere, elegantere Lady wünschen. Perfekte Umgangsformen. Entzückend. Ich bin sicher, du magst sie, und er ist schließlich Arzt.«
»Ich hasse Ärzte«, sagte Andrew. »Sie sehen dich immer an, als müsstest du im nächsten Augenblick umfallen und vor ihnen zusammenbrechen. Ich halte nichts von ihnen. Wenn du stirbst, dann stirbst du. Daran lässt sich nichts ändern. Es hat keinen Sinn, es zu versuchen.«
»Natürlich, Liebster. Oh, sieh dir nur die arme, unglückliche Frau an«, sagte sie mit einem Blick auf die näher kommende Ethel. »Diese Narbe auf der Lippe. Ich wette, sie trinkt.«
»Warum?«, fragte Andrew verblüfft und amüsiert.
»Wahrscheinlich hatte sie getrunken, es war zu viel, und sie ist gestürzt und hat sich die Lippe aufgeschlagen. Sie sieht ziemlich gewöhnlich aus, meinst du nicht?«
Er drehte sich ganz in Ethels Richtung, aber da war sie schon da und überraschte die beiden damit, dass sie offenbar ebenfalls eingeladen war.
Alec Heath kämpfte sich aus dem Bett und stand laut gähnend auf. Er war vor ein, zwei Stunden eingeschlafen, obwohl er doch vor dem Essen noch ein Bad nehmen wollte. In der letzten Nacht war es spät geworden, weil er mit einer der Tänzerinnen vom Majestic ausgegangen war, was Cora ernsthaft verletzt hatte. Bis zwei Uhr morgens hatte sie auf ihn gewartet. Endlich hatte sie erschöpft aufgegeben und war zu Bett gegangen, wo sie wach lag und auf seinen Schlüssel in der Tür lauschte, den sie zwei Stunden später endlich vernahm. Er war mit der Kleinen ein Bier trinken gegangen, und das Mädchen hatte ihn anschließend in eine Bar mitgenommen, wo es, wie sie wusste, in den frühen Morgenstunden noch Whisky für Twopence das Glas gab. Betrunken hatte sie sich danach von ihm in eine dunkle, nasse Gasse ziehen lassen, wo er unter einer Laterne schnell mit ihr kopuliert hatte, bevor er nach Hause ging. Morgens um elf hatte er wieder bei der Arbeit sein müssen, da sie ein neues Bühnenbild bauten. Für das Mädchen hatte er keinen Blick mehr übrig, denn für was brauchte er sie jetzt noch? Alecs Plan war gewesen, vor dem Essen ausgiebig zu baden, um wieder frisch zu werden, stattdessen war er eingeschlafen. Egal, dachte er, knöpfte sich die Manschetten zu, griff nach seiner Krawatte und studierte sein ruppiges Erscheinungsbild im Spiegel. Er strich sich über die Bartstoppeln, die ein wenig zu lang waren für eine Abendgesellschaft, entschied sich aber gegen eine Rasur. Sie konnten ihn nehmen, wie er war, oder gar nicht. Er warf sich nur ein wenig Wasser aus der Rosenschüssel ins Gesicht und sagte sich, das reiche aus. Sein Magen knurrte. Er wollte sein Dinner.
Cora kam erst dann aus den Höhen ins Wohnzimmer hinabgeschwebt, als sie wusste, dass alle Gäste eingetroffen waren. Bis dahin hatte Hawley sie unterhalten müssen, und er hatte sein Bestes gegeben, während sie oben an der Tür des Schlafzimmers saß und zählte, wer unten ankam. Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Gastgeberin einer intimen Dinnerparty nicht erscheinen solle, ehe nicht alle Gäste anwesend waren, und wollte dem nicht zuwiderhandeln für den Fall, dass die Nashs oder die Smythsons es bemerken und sie dafür verachten würden. Langsam schritt sie in ihrem neuen Kleid nach unten, das Haar hoch auf dem Kopf aufgetürmt, die Schultern nackt. Sie waren viel zu maskulin, zu breit und muskulös, um öffentlich zur Schau gestellt zu werden, aber dafür war sie immer schon blind gewesen. Jetzt bin ich eine Gastgeberin der guten Gesellschaft, dachte sie voller Glück. Sie drückte die Tür auf und trat mit einem starren Lächeln ein.
Das Essen war köstlich, Hawley erwies sich als ausgezeichneter Koch. Cora bestimmte das Gespräch und schwatzte während der ersten Stunde freundlich mit allen am Tisch, bis mehr Wein in ihr System drang und sie zunehmend beschwingte.
»Mexiko«, rief sie, nachdem sie von Andrew Nashs Plänen gehört hatte, seine Bergwerke dort mit einer unterirdischen Verbindung zu versehen. »Wie aufregend!«
»Das wird es«, sagte er, »obwohl es mit der eigentlichen Arbeit erst in acht Monaten losgeht.«
»Waren Sie schon da?«
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Die Firma hat erst einmal Kundschafter und Ingenieure geschickt, um die entsprechenden Pläne zu entwickeln. Bis dahin gibt es für mich nicht viel zu tun, fürchte ich. Da stehe ich höchstens im Weg.«
»Andrew ist nicht wirklich jemand, der sich die Hände schmutzig macht«, sagte Margaret und lachte.
»Das wäre auch nicht sinnvoll«, sagte er. »Ich habe die Ideen und überlasse die harte Arbeit denen, die dafür gemacht sind. Nein, ich selbst werde wahrscheinlich im April oder Mai hinfahren, um dafür zu sorgen, dass alles rechtzeitig fertig wird, und die Arbeiter zu treten, falls nötig. Es ist eine Schande, aber wir werden ein Menge Mexikaner einstellen müssen.«
»Oh, doch sicher nicht«, sagte Cora erschüttert.
»Doch, doch, wir brauchen Hunderte von Männern und können kaum eine Schiffsladung Engländer hinüberschicken. Es ist einfacher, mit Mexikanern zu arbeiten. Obwohl es mir, wie ich zugeben muss, einige Sorge bereitet. Ich hoffe, sie sind der Aufgabe gewachsen. Billiger als Engländer sind sie allemal.«
»Sie müssen einen Engländer hinüberschicken, der ein Auge auf sie hat«, sagte Alec Heath. »Jemanden, der dafür sorgt, dass keiner aus der Reihe tanzt.«
»In der Tat. Selbstverständlich sind ein paar Firmenmitarbeiter da, die …«
»Ich meine jemanden, der die kleinen Dreckskerle in den Hintern tritt. Keinen Haufen vornehmer Pinkel.«
»Alec«, beschwichtigte Hawley ihn von der anderen Seite des Tischs, »es sitzen Ladys am Tisch.«
»Oh, keine Sorge«, sagte Louise Smythson. »Der junge Mr Heath hat ganz recht. Den Männern der Firma drüben geht es um Pläne und Zahlen. Sie sitzen den ganzen Tag im Büro, gehen Listen durch, rechnen Spalten rauf und Spalten runter, von innen nach außen und von außen nach innen, und keiner achtet darauf, ob die Leute ihre Arbeit tun. Und schon steigen die Kosten.«
»Da hast du recht«, sagte Andrew. »Ich werde darüber nachdenken.«
»Ich wüsste, was ich zu tun hätte, wenn sie ihr Soll nicht erfüllen«, sagte Alec, beugte sich vor und schlug unversehens mit der rechten Faust in die linke, geöffnete Hand. »Das.«
Rund um den Tisch war nervöses Lachen zu hören, nur von Ethel nicht, die neben Alec saß und bei seinem Schlag erschreckt zusammengefahren war. Schmächtig, wie sie war, fühlte sie sich neben diesem muskelbepackten Riesen wie ein Zwerg. Seit mehr als einer Stunde ignorierte Alec sie vollkommen, er starrte ihr nur verschiedentlich, wie sie bemerkt hatte, in den Ausschnitt, wenn er dachte, sie sähe in eine andere Richtung. Er war attraktiv, das war klar, doch er hatte auch etwas an sich, was ihr Angst machte.
»Vielleicht sollte ich Kaffee kochen«, schlug Hawley vor, aber Cora winkte ab.
»Keinen Kaffee, du Langweiler«, sagte sie lachend. »Warum machst du nicht noch eine Flasche auf? Mach dich ein einziges Mal in deinem Leben nützlich.«
»Ein weiteres Problem mit diesen Ausländern«, erklärte Margaret Nash, »besteht darin, dass sie schon beim leichtesten Anflug eines Kopfschmerzes die Arbeit Arbeit sein lassen. Sie sind so faul, dass sie einfach so tun, als wären sie krank. Und dann wollen sie dafür auch noch bezahlt werden.«
»Ich war noch nicht einen Tag in meinem Leben krank«, sagte Alec. »Was soll das? Steh einfach auf, tu, was zu tun ist, und benimm dich nicht wie ein Baby, so sehe ich das.«
»Manchmal geht das nicht«, erklärte Hawley. »Wenn jemand wirklich krank ist, meine ich, und nicht nur abends vorher zu viel getrunken hat.«
Alec starrte ihn an. »Was wissen Sie denn schon?«, sagte er.
»Hawley ist Arzt«, sagte Ethel. »Er behandelt viele Patienten. Sie sollten ihn manchmal bei uns in der Apotheke erleben. Obwohl wir eigentlich nur homöopathische Mittel verkaufen, gibt es viele Kunden mit Beschwerden, die Hawley beiseitenimmt, um ihnen einen Rat zu geben, und sie gehen los, und wir sehen sie nie wieder.«
»Vielleicht, weil sie dran gestorben sind«, sagte Cora. »Vielleicht kommen sie deshalb nicht wieder, und wenn er sie in Ruhe gelassen und ihnen verkauft hätte, was sie wollten, hätten sie’s überlebt.«
»Sie sterben nicht«, sagte Ethel und nahm sie fest in den Blick. »Hawley weiß genau, was er tut.«
»Hört, hört«, sagte Andrew Nash, steckte sich eine Zigarre an und bot auch Nicholas und Alec eine an, Hawley aus unerklärten Gründen nicht. »Ich glaube, Sie haben da eine Bewunderin, Crippen. Ich sage nur, Cora, seien Sie auf der Hut.«
Ethel lief tiefrot an, starrte auf ihren Teller und spürte die Blicke der gesamten Runde auf sich. Hawley sah, wie unwohl sie sich fühlen musste, streckte die Hand aus und stieß absichtlich ein Weinglas um. Der dunkelrote Claret ergoss sich über das Leinentischtuch und zog alle Blicke auf ihn.
»Oh, Hawley, sieh doch nur, was du getan hast«, rief Cora verzweifelt, während Alec etwas zur Seite rutschte, näher zu Ethel hin, um nichts von dem verschütteten Wein auf die Hose zu bekommen. Sie mochte es nicht, dass er ihr so nahe kam. Sein massiger Körper nahm ihr den Blick auf Hawley, und ihr war, als verdunkelte der Mond plötzlich die Sonne.
»Macht nichts, macht nichts«, sagte Hawley und wischte den Wein mit ein paar Servietten auf. »Es ist doch nur etwas Wein.«
»Aber die gute Tischdecke«, jammerte Cora. »Oh, es ist hoffnungslos mit dir. Du taugst zu absolut gar nichts.«
Er seufzte und brachte die nassen Servietten in den Wäschekorb. Auf dem Weg zurück zum Tisch fragte er sich, wie lange sie alle noch dort sitzen und so tun mussten, als interessierten sie sich füreinander. »Soll ich Kaffee machen?«, fragte er wieder.
»Oh, du und dein Kaffee!«, rief Cora entnervt. »Man sollte denken, du besitzt Anteile an einer Plantage. Also gut, koch deinen Kaffee, wenn es dir so viel bedeutet.«
Er ging und setzte Wasser auf, hinter sich das unbehagliche Schweigen spürend, das Coras jäher, lauter Ausbruch hinterlassen hatte. Er warf einen Blick zurück ins Wohnzimmer und sah, wie Alec sich zu Ethel hinabbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie starrte ihn ängstlich an.
»Ethel«, sagte Cora, die den privaten Austausch ebenfalls verfolgt hatte und daran denken musste, wie die junge Frau vor ein paar Minuten unverzeihlicherweise für Hawley eingetreten war, »ich bin so froh, dass Sie heute Abend auch kommen konnten.«
»Die Einladung hat mich sehr gefreut«, antwortete Ethel.
Cora lächelte. »Nun, es wäre schrecklich gewesen, wenn das Gleichgewicht nicht gestimmt hätte, und mir wollte keine andere alleinstehende Frau einfallen. Sie sind die einzige erwachsene Person, die ich kenne, die nicht verheiratet oder verlobt ist.« Ethel nickte und versuchte, nicht beleidigt zu wirken. »Sie sind aber doch sicher auf der Suche, oder?«
»Ich … ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht«, antwortete Ethel leise.
»Margaret, Louise, kennt ihr keine unverheirateten Männer, die nach einer Frau Ausschau halten? Wir können doch nicht zusehen, wie die Ärmste ihr Leben lang eine Jungfer bleibt! Margaret, sagtest du nicht, du hättest einen verwitweten Gärtnergehilfen mit einem kleinen Kind?«
»Ja, in der Tat«, sagte Mrs Nash und nickte glücklich. »Dempsey heißt er. Ich bin nicht sicher, was für einen Vornamen er hat, wir sagen immer nur Dempsey. Ich meine, er ist ziemlich alt, um die fünfzig, aber seine Tochter ist noch klein. Er braucht ganz sicher jemanden, der sich um Haus und Kind kümmert. Soll ich ein Treffen arrangieren?«
»Nein!«, fuhr Ethel auf und wünschte sich, dass Hawley bald mit dem Kaffee kam. Der Wunsch wurde ihr erfüllt, in diesem Moment kam er zurück ins Wohnzimmer. »Nein, machen Sie sich nicht die Mühe«, fügte Ethel darauf etwas höflicher hinzu. »Mir geht es absolut gut so.«
»Was gibt’s?«, fragte Hawley.
»Margaret wird ein Treffen zwischen Ethel und einem ihrer Gärtnergehilfen arrangieren. Es könnte sein, dass der Mann eine Frau braucht.«
»Ich möchte das wirklich nicht«, sagte Ethel.
»Ist er zu alt?«, fragte Alec mit einem Grinsen.
»Ernsthaft, Cora«, sagte Hawley und zog die Brauen zusammen. »Ich glaube nicht, dass das angemessen ist.«
»Die Ehe, meine Liebe«, sagte Cora, beugte sich vor und legte ihre Hand auf die von Ethel, »ist ein Segen. Wenn Sie wüssten, wie glücklich mein lieber Hawley und ich seit fünfzehn Jahren sind, würden Sie auf nichts anderes hoffen. Nein, es ist beschlossen«, sagte sie und nahm ihre Hand zurück. »Wir arrangieren das.«
»Es wäre mir lieber, Sie täten es nicht«, sagte Ethel mit fester Stimme. »Wirklich, Mrs Crippen, ich möchte das nicht.«
»Ich glaube, sie hat einen Liebsten«, sagte Louise Smythson, musterte sie aufmerksam und begann zu lächeln. »Ich glaube, die Ärmste hat eine heimliche Liebe, von der sie uns nichts sagen will.«
»Ist das so?«, fragte Cora überrascht. »Ich kann es mir nicht vorstellen, Louise. Aber ist es tatsächlich so?«
»Nein«, sagte Ethel.
»Cora!«, sagte Hawley.
»O Hawley, wir machen doch nur Spaß. Sieh sie nur an, ganz rot ist sie geworden. Sie hat ihr Herz an jemanden verloren, sie weiß es nur noch nicht. Es ist doch nicht Alec? Da würde ich mich nicht bemühen. Er ist von der ›Lieb-sie-und-lass-sie-sitzen‹-Sorte. So finden Sie niemals einen Ehemann.«
»Würden Sie mich einen Moment entschuldigen?«, fragte Ethel, wischte sich mit der Serviette über den Mund und stand auf.
»Gleich oben die Tür links«, sagte Cora und grinste der Gedemütigten hinterher. Das wird ihr eine Lehre sein, dachte sie. Meinen Mann zu verteidigen! Was für ein schreckliches kleines Ding!
Ethel stand im Bad, weinte leise und versuchte, die Tränen zu stoppen, bevor ihre Augen und Wangen zu rot wurden. Ihre Gefühle für Hawley waren stärker geworden, ohne dass es ihr bewusst geworden wäre. Sie hatte nie vorgehabt, sich in ihn zu verlieben, sondern ihn von Beginn an eher wie einen Vater betrachtet, jemanden, der den Menschen ersetzte, den sie nie kennengelernt hatte, und nicht als möglichen Liebhaber. Sie war noch ein Baby gewesen, als ihr Vater gestorben war, und ihre Mutter, eine gewalttätige Trinkerin, hatte ihr die Narbe auf der Lippe zugefügt, als sie Ethel als Kind ins Gesicht geschlagen hatte, mit einem kantigen Ring am Finger. Wie Jezebel Crippen hatte sie behauptet, eine gläubige, fromme Frau zu sein, und ihre Tochter zur Gottesfurcht erzogen, nur stand ihr Verhalten in völligem Gegensatz zu ihren Worten. Erwachsen geworden, hatte Ethel nie nach Liebe Ausschau gehalten, nie viel darüber nachgedacht, bis Hawley Crippen sie mit seiner Liebenswürdigkeit überrascht hatte. Mit ihm zusammenzuarbeiten, Seite an Seite, hatte ihr ein neues Gefühl von Sicherheit und Glück verschafft. Wenn er guter Laune war, hatte auch sie einen guten Tag. Aber manchmal kam er und war in gänzlich finsterer Stimmung, völlig unnahbar, dann machte er ihr mit seinem Verhalten fast Angst. Eines wusste sie sicher: Cora Crippen war ein herzloses, böses, gemeines, undurchschaubares Biest. Und scharfsichtig, denn sie hatte natürlich recht. Ethels Herz gehörte jemandem, aber sie konnte ihre Liebe zu Hawley wohl kaum beim Essen zur Feier seines fünfzehnten Hochzeitstages verkünden. Sie gab sich einen Ruck und beschloss, für nicht länger als zwanzig Minuten nach unten zurückzukehren. Dann würde sie sich entschuldigen, heimgehen und niemals mehr in dieses Haus zurückkehren, solange Cora Crippen darin wohnte.
Sie öffnete die Tür und zuckte erschreckt zusammen, denn der Weg zur Treppe wurde von Alec Heath versperrt.
»Hallo«, sagte er und zwinkerte ihr zu.
»Mr Heath«, sagte sie, überrascht, ihn dort zu sehen, so nahe bei der Tür zum Bad.
»Warum so eilig?«, fragte er. »Sie wollen doch nicht wieder nach unten?«
»Für eine kleine Weile«, sagte sie. »Was für ein schöner Abend, nicht wahr?«
»Mach mir nichts vor«, sagte er. »Ich würde Cora nicht weiter beachten. Im Prinzip ist sie ganz in Ordnung, aber sie kann ein ziemliches Biest sein, wenn sie will.«
»Ich bin sicher …«
»Mit einem hat sie allerdings recht«, fuhr er fort und drehte sich dabei so, dass sie mit dem Rücken an die Wand gedrückt wurde. »Du solltest nicht so allein sein. Du bist ein hübscher Käfer, weißt du. Auch mit der Narbe.« Er hob die Hand und strich mit einem seiner dicken Finger darüber. Ethel zitterte nervös, sie konnte sich nicht von ihm losmachen.
»Mr Heath, bitte«, bettelte sie.
»Psst«, flüsterte er. »Genieß es einfach.« Seine rechte Hand fuhr von der Narbe den Hals hinunter, während er mit der Linken nach ihren Brüsten griff.
Sie wehrte sich gegen ihn. »Lassen Sie mich!«, rief sie. »Bitte, Mr Heath, lassen Sie mich!«
»Halt einfach für eine Minute den Mund«, zischte er und drückte sich gegen sie. Sie spürte, wie seine Erregung wuchs, sah zum Treppengeländer und fragte sich, was passieren würde, wenn sie sich da hinunterstürzte. Ob sie es wohl überleben würde. Er ließ einen Moment lang von ihr ab und trat einen Schritt zurück, um seine Hose zurechtzuziehen. Ethel sah die Lücke, die sich zwischen ihnen auftat, und wollte gerade losrennen, als Hawley unten an der Treppe erschien und verwirrt zu ihnen hinaufsah.
»Ethel«, sagte er, »ist alles in Ordnung?«
»Ja, Hawley«, sagte sie, machte sich von Alec Heath los und kam zitternd die Treppe herunter.
Alec schob wütend die Unterlippe vor, als sie ihn hinter sich ließ. »Ethel, kommen Sie zurück, damit wir unsere Unterhaltung beenden können«, sagte er.
»Nein danke, Mr Heath«, rief sie, ohne sich umzudrehen.
Hawley starrte Alec an und fragte sich, was geschehen war, aber der junge Mann blieb unbeeindruckt und beachtete ihn nicht weiter.
»Es war schön, Sie kennenzulernen«, rief sie zu ihm hinauf. »Hawley«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich muss jetzt gehen.«
»Aber, Ethel, wir …«
»Hawley, ich gehe«, sagte sie noch einmal.
Sie sahen einander eine Weile lang an, und er wünschte, er könnte ihre Hand nehmen und sie könnten beide davonrennen, so schnell sie ihre Beine trugen, weit weg vom Hilldrop Crescent. »Sicher«, sagte er und nickte. »Ich muss mich entschuldigen. Es tut mir so leid.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte sie und nahm ihren Mantel vom Garderobenständer. »Bitte sagen Sie den anderen Auf Wiedersehen von mir. Und danke für den schönen Abend.«
»Ethel, was kann ich sagen?«
»Sagen Sie nichts, Hawley. Ich muss gehen.«
Er beugte sich vor und wollte sich all seinen Schmerz von der Seele reden, aber Alec kam den Flur entlang, blieb bei ihnen stehen und erlaubte ihnen keinen Moment allein miteinander. »Ich sehe Sie morgen bei der Arbeit«, murmelte er, als sie die Klinke hinunterdrückte und nach draußen trat. Sie zog die Tür schnell hinter sich zu und ließ Dr. Crippen, der vor Wut und Hass bebte, allein.
Im Geschäft war es für einen Montag, der traditionell ihr geschäftigster Tag in der Woche war, recht ruhig gewesen. Den Morgen über war Hawley mit Mr Munyon die Bücher durchgegangen. Er war davon überzeugt, dass der alte Mann nicht mehr lange in dieser Welt weilen würde. Mr Munyons bucklige Gestalt war in letzter Zeit noch hinfälliger geworden, und er schien mit den einfachsten Rechnungen Schwierigkeiten zu haben. Obwohl er nur noch zweimal in der Woche ins Geschäft kam, montagmorgens und freitagnachmittags, versuchte Hawley ihn noch über die kleinsten Dinge informiert zu halten. Er tat es aus Respekt für ihn. Wenn Mr Munyons geistige Fähigkeiten zu sehr nachließen, war es nur eine Frage der Zeit, dass es auch körperlich bergab ging, und als Arzt wollte er das verhindern.
»Die Einnahmen sind gestiegen, Crippen«, sagte Mr Munyon und fuhr mit dem Finger über eine Zahlenreihe.
»Nein, Sir, sie sind zurückgegangen«, antwortete er. »Allerdings nicht viel, und heute haben wir gut zu tun.«
»Hm«, knurrte der alte Mann und ärgerte sich darüber, dass er nicht mehr gleich alles sah. »Und wie geht es mit der neuen Kraft? Macht sie sich nützlich?«
»Eine neue Kraft?«, fragte Hawley verdutzt. »Aber wir haben niemanden eingestellt.«
»Sie da draußen«, sagte der alte Mann, hob seinen Stock und deutete damit in Richtung von Ethel, die vorne einen Kunden bediente.
»Sie meinen Ethel?«, fragte Hawley. »Miss LeNeve, sollte ich sagen. Aber sie ist nicht neu, Sir. Sie ist seit zweieinhalb Jahren bei uns.«
»Wenn Sie siebenundachtzig Jahre alt sind und während zweiundsechzig davon ein Geschäft aufgebaut haben, kommt Ihnen das schon ziemlich neu vor«, antwortete Mr Munyon und blinzelte zu ihr hin, glücklich darüber, dass er eine gute Ausrede für seine Vergesslichkeit gefunden hatte.
»Ziemlich«, sagte Hawley.
Mr Munyon stand auf und sammelte seine Sachen ein, während Hawley das Hauptbuch und die Kontenbücher weglegte. »Was ist mit Ihrem Auge?«, fragte Munyon nach einer Weile.
»Wie bitte?«
»Ihr Auge, Crippen. Was ist damit?«
Hawley legte einen Finger über den tiefen Schnitt über seiner Braue und berührte ihn vorsichtig. »Dümmer geht es nicht«, sagte er. »Ich bin mitten in der Nacht aufgestanden, habe nicht aufgepasst, wohin ich gehe, und ehe ich michs versah, war ich gegen den Türstock gelaufen. Hat mich ziemlich böse erwischt.«
Munyon nickte. »Ihnen passiert ständig was, Crippen«, sagte er. »Das habe ich noch bei niemand anderem so erlebt. Jede Woche haben Sie was Neues. Sie sollten mehr auf die Welt um sich herum achten. Ich bin halb blind, aber ich laufe nicht in halb so viele Dinge hinein wie Sie.«
Ethel blickte auf, als sie auf dem Weg zur Tür an ihr vorbeikamen, und wünschte ihrem Arbeitgeber höflich einen guten Tag. Als Hawley zurückkam, sagte sie nichts und hielt den Blick gesenkt, und er fragte sich, ob er sie irgendwie verletzt hatte. Seit Beginn des Tages schon war sie ihm gegenüber so verschlossen, sie antwortete auf seine Fragen, sagte von sich aus aber nichts. Er zermarterte sich das Hirn, womit er sie aufgebracht haben mochte, doch ihm wollte nichts einfallen. Das fürchterliche Essen lag jetzt einen Monat zurück, und seitdem schien sich etwas Missliches in ihr Verhältnis geschlichen zu haben. Dabei hatte sich zwischen ihnen so viel Zuneigung und Wärme gebildet, dass es schwierig geworden war, sich auf rein freundschaftlicher, kollegialer Ebene zu bewegen. Wäre er nicht verheiratet, könnte er Ethel, so dachte er, etwas über seine Gefühle ihr gegenüber sagen, Gefühle, die sie, da war er überzeugt, auch ihm gegenüber hegte, aber er war verheiratet und sie beide wussten das, und er würde sie nicht beleidigen, indem er ihr etwas Unmoralisches vorschlug. Solange die Verhältnisse waren, wie sie waren.
Er wartete bis zum Ende des Tages, als das Geschäft leer und die Tür abgeschlossen war, bevor er sie aufs Neue in ein Gespräch zu verwickeln versuchte. »Das war ein geschäftiger Montag«, begann er und bemühte sich um lockeres Geplauder. »Vielleicht haben wir in dieser Woche mehr zu tun als in der letzten.« Er sah zu ihr hinüber, doch sie nickte kaum und sagte nichts. Er seufzte. »Ethel?«, fragte er.
Sie drehte sich zu ihm um. »Ja, Hawley?«
»Ich sagte, vielleicht haben wir diese Woche …«
»Ja, ich habe es gehört. Es tut mir leid, ich war in Gedanken. Ich denke, es könnte sein, ja.«
»Sie sind wegen irgendetwas aufgebracht.«
»Was?«
»Ethel, Sie sind aufgebracht. Sie haben heute kaum zwei Worte zu mir gesagt. Was ist los? Habe ich etwas falsch gemacht? Etwas gesagt?«
Sie lachte seine Frage weg. »Aber nein, seien Sie nicht albern. Was könnten Sie schon getan haben?«
»Ich weiß es nicht. Deshalb frage ich ja.«
»Es ist nichts, Hawley. Stören Sie sich nicht an mir. Ich bin nur etwas geistesabwesend.«
Er nickte und fragte fürs Erste nicht weiter nach, aber dann ertrug er das Schweigen nicht mehr, ging um die Theke und stellte sich vor sie hin. »Sagen Sie’s mir«, sagte er. »Was ist es?«
»Hawley, ich …«
»Ethel, ich betrachte uns als Freunde. Falls es etwas gibt, was Sie ärgert oder verstört, würde ich es als verletzend empfinden, wenn Sie sich mir nicht anvertrauen könnten. Gibt es etwas bei Ihnen zu Hause, worüber Sie reden mögen?«
»Bei mir zu Hause gibt es nichts, was mir Sorgen macht«, sagte sie endlich und vermochte ihn dabei nicht anzusehen.
»Bei Ihnen nicht?«, fragte er verwirrt. »Aber bei wem denn?«
»Was denken Sie? Bei Ihnen, Hawley. Um Sie sorge ich mich.«
Er lachte. »Um mich?«, fragte er überrascht. »Aber warum denn, um Himmels willen? Warum müssen Sie sich um mich Sorgen machen?«
Sie überlegte, senkte den Blick und schloss die Augen einen Moment lang, bevor sie ihn ansah. »Hawley, gerade haben Sie gesagt, dass Sie uns als Freunde betrachten.«
»Das ist so.«
»Mir geht es ebenso. Und Sie sagten, dass Sie, wenn es ein Problem gäbe, möchten, dass ich Ihnen davon erzähle. Nun, auch da geht es mir ebenso.« Er starrte sie an und wusste nicht zu entschlüsseln, was sie damit meinte. »Hawley«, sagte sie endlich, »was ist mit Ihrem Gesicht?«
Sein Herz schien einen Schlag lang auszusetzen, er wandte den Blick ab und biss sich auf die Lippe. Das war kein Thema, über das er reden wollte. »Mit meinem Gesicht?«, fragte er. »Warum? Was soll damit sein?«
»Ich rede von Ihrem Auge, Hawley. Nein, laufen Sie jetzt nicht weg«, sagte sie und fasste nach seinem Arm. »Ich möchte, dass Sie es mir sagen. Sie haben einen tiefen Schnitt über dem Auge, und er scheint schmerzvoll zu sein. Ich wundere mich, dass er nicht genäht werden musste.«
»Ich bin Arzt, Ethel.«
»Wie ist es geschehen?«
»Dümmer geht es nicht. Ich bin nachts aufgewacht …«
»Nein«, sagte Ethel mit fester Stimme, »ich habe gehört, was Sie Mr Munyon erzählt haben, und es tut mir leid, aber ich glaube das einfach nicht. Es ist möglich, dass jemand alle Jubeljahre mal gegen einen Türstock läuft, aber nicht so oft wie Sie. Sie kommen ständig her und haben sich verletzt. Sie sagen, Sie sind gegen Türstöcke gelaufen und Treppen hinuntergefallen. Sie haben Weinflaschen geöffnet und den Korken ins Auge bekommen. Sie sind von einem Hansom-Taxi angefahren worden und haben so viele blaue Flecken, dass Sie kaum laufen können. Entweder sind Sie vom Pech verfolgt wie kein anderer Mann in diesem Land, oder es steckt mehr dahinter. Und ich will wissen, was es ist. Ich bin nicht Mr Munyon, ich will die Wahrheit.«
Hawley presste die Lippen aufeinander. Er sah die Sorge in ihren Augen und liebte sie dafür. »Wirklich«, sagte er endlich, »Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch. Ich bin einfach nur unbeholfen.«
»Es ist sie, habe ich recht?«, sagte Ethel und war entschlossen zu sagen, was sie glaubte. »Sie tut Ihnen das alles an.«
»Sie? Wer?«
»Ihre Frau, Hawley. Dieser Drache, mit dem Sie verheiratet sind.«
»Ethel, ich …«
»Es tut mir leid, Hawley. Ich hasse es, solche Dinge zu sagen oder solche Worte zu benutzen, doch es lässt sich nicht anders ausdrücken. Ich habe gesehen, wie Ihre Frau Sie behandelt. Ich habe gehört, wie sie mit Ihnen spricht, und ich glaube nicht, dass das schon alles ist. Sie schlägt Sie, habe ich recht? Sie behandelt Sie nicht besser als irgendeinen Straßenköter. Und Sie lehnen sich zurück und lassen es mit sich machen.«
»Ethel, so ist es nicht. Sie regt sich auf, sie …«
»Sie regt sich auf?«, rief Ethel, die sich jetzt auch aufregte. »Ich bin sicher, das tun Sie auch, aber Sie schlagen sie nicht grün und blau, oder?«
»Selbstverständlich nicht. Ich habe aus Wut nie auch nur einen Finger gegen sie erhoben.«
»Weil Sie ein Gentleman sind.«
»Weil ich Angst habe«, rief er und sorgte damit dafür, dass sie einen Schritt zurückwich. Er schluckte und spürte die Tränen in seinen Augen. »Ich habe Angst vor ihr, Ethel«, sagte er. »Höre ich mich an wie ein Schwächling? Vielleicht schon. Höre ich mich an, als wäre ich nur ein halber Mann? Vielleicht bin ich das. Sie hat solche Stimmungsschwankungen, Sie würden es nicht glauben. Ich wache morgens auf, und das Erste, was ich denke, ist: Welche Laune wird sie heute haben? Wir sitzen abends zusammen und hören Musik vom Phonographen, und ich habe Angst, eine Bemerkung zu machen, überhaupt etwas zu sagen, denn sie wird mir widersprechen, egal, was es ist. Sie widerspricht und fängt einen Streit an. Scheinbar ist es das Einzige, was sie will: streiten. Nur so scheint sie eine Beziehung mit mir unterhalten zu können. Indem sie mich zu einem Nichts macht.«
»Weil sie selbst ein Nichts ist«, sagte Ethel bestimmt, »weil sie nichts in ihrem Leben hat. Dieser Unsinn, dass sie eine Sängerin ist. Daraus wird nie etwas. Das wissen Sie, ich weiß es, und sie weiß es auch. Sie ist so sehr von ihrem Leben enttäuscht, dass sie es an Ihnen auslässt. Sie sind das leichteste Ziel. Weil Sie gütig und sanftmütig sind. Und Sie lieben den Frieden. Sie sind alles, was sie nicht ist.«
»Was soll ich Ihrer Meinung nach denn tun?«, fragte er flehentlich. »Das geht schon so lange. Vielleicht, wenn ich mich ihr vor all den Jahren entgegengestellt hätte …«
»Es ist nie zu spät, Hawley. Geben Sie es zu. Sie schlägt Sie, richtig?« Er nickte. »Sie drischt auf Sie ein?« Er nickte. »Womit? Mit der Bratpfanne, mit Töpfen, den Fäusten?«
»Mit allem«, gab er zu, »und noch mehr.«
»Ich halte Sie deswegen nicht für einen geringeren Menschen«, sagte Ethel leise, schüttelte den Kopf und war ihrerseits den Tränen nahe. »Ich denke, dass Sie in einer schrecklichen Ehe leben und sich daraus befreien müssen. Sie müssen von ihr weg. Bevor sie Sie umbringt, und das wird sie tun, Hawley. Wenn es so weitergeht, bringt Ihre Frau Sie eines Tages um.«
»Das wäre wohl das Beste«, sagte er so leise, dass sie ihn gerade noch verstand.
»Das wäre es nicht!«, rief sie und brach tatsächlich in Tränen aus. »O Hawley, wie können Sie das sagen? Wie können Sie das auch nur denken? Was wäre dann mit mir? Wie könnte ich ohne Sie weiterleben?«
Hawley sah sie erschrocken an. »Sie?«, fragte er. »Aber was …?«
»Ich könnte es nicht«, sagte sie mit fester Stimme. »So einfach ist das. Ich habe nie einen Mann so geliebt wie Sie, Hawley, und zu sehen, dass Ihre Frau Sie so behandelt, weckt in mir den Wunsch, sie umzubringen.« Sie machte einen Schritt nach vorn, und bevor noch einer von ihnen recht wusste, was sie taten, trafen sich ihre Lippen, und sie küssten sich. Es dauerte nicht lange, nur ein paar Augenblicke, dann fuhren sie zurück und sahen sich mit einer Mischung aus Panik und Liebe an. Ethel schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. »Ich muss gehen«, sagte sie, griff nach ihrem Mantel und schloss die Tür auf.
»Ethel, warte. Wir sollten …«
»Wir sehen uns morgen, Hawley«, rief sie, ohne sich noch einmal umzusehen. »Lass dir nur nicht mehr wehtun. Bitte. Wehre dich, für mich.«
Und dann war sie verschwunden. Hawley stieß sämtliche Luft aus, setzte sich auf einen Stuhl und kratzte sich staunend den Kopf. Sie liebt mich?, dachte er. Das ist zu unglaublich, um es mit Worten zu beschreiben. Er nahm seinen Mantel, schloss den Laden ab und hoffte, dass sie noch draußen auf der Straße war, doch sie war bereits außer Sichtweite. Es war sowieso nicht die richtige Zeit, ihr zu folgen, dachte er. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, Zeit, Cora zu sagen, wie es von jetzt an laufen würde. Dass er sich von ihr nicht mehr so behandeln lassen würde wie bisher. Dass es keine Schreierei mehr geben würde, keine Gewalt, keinen Ärger. Er ging los, mit großen Schritten, gestärkt durch Ethels Worte und ihre Gefühle für ihn, und er empfand nur noch Wut, hauptsächlich auf sich selbst, weil er eine solche Behandlung zugelassen hatte. Normalerweise wäre er jetzt in die Praxis gegangen, heute nicht.
Als er ihr Haus am Hilldrop Crescent erreichte, erwartete er, seine Frau auf dem Sofa vorzufinden, Obst essend und ein Buch lesend, was abends ihre Lieblingsbeschäftigung war. Sie war aber nicht da, und doch spürte er ihre Anwesenheit. Zwei halb leere Teetassen standen auf dem Tisch, und er berührte eine von ihnen. Sie war noch warm. Er ging in die Küche, ohne wirklich zu erwarten, sie dort zu finden, und er hatte recht. Im Bad, dessen Tür offen stand, war sie auch nicht. Er ging ins Schlafzimmer, auch dort war niemand. Er strich sich über den Schnauzbart und wollte schon wieder nach unten gehen, als er ein Geräusch vernahm. Es kam von oben, aus dem Zimmer von Alec Heath. Er lauschte aufmerksam und war sich nicht sicher, ob er es sich nur eingebildet hatte. Aber nein, da war es wieder. Langsam ging er zur Treppe und stellte einen Fuß auf die unterste Stufe. Er war nicht mehr dort oben gewesen, seit Alec vor über einem Jahr eingezogen war, und hatte keine Vorstellung davon, in was für einem Zustand das Zimmer sein mochte. Im Grunde betrachtete er es nicht länger als Teil seines Zuhauses. So leise wie nur möglich stieg er die Treppe hinauf, und die Geräusche wurden lauter, je höher er kam. Stöhnen, Ächzen, einzelne Silben flammten zu kleinen Schreien auf, während die Bettfedern eine Art Hintergrundmusik bildeten. Er kam oben an, die Tür stand einen Spalt offen, und er legte die Hand daran und drückte sie geräuschlos weiter ins Zimmer hinein. Vor ihm, auf Alecs Bett, bot sich ein Anblick, den sein Verstand zunächst nicht zu fassen vermochte, so fremdartig kam er ihm vor. Auf dem Bettzeug lag der junge Mann, dem sie das Zimmer vermietet hatten, nackt, wie er diese Welt erblickt hatte, die langen Beine ausgestreckt und die Augen halb geschlossen, während er genussvoll Coras Namen stöhnte, die rittlings auf ihm saß, ebenfalls nackt, mit hängenden Brüsten, schweißnass, und ihm mit einer Hand den Kopf ins Kissen drückte, so tief es ging. Der junge Mann seufzte lustvoll.
Am Abend des 19. Januar 1910 arbeitete Mr Henry Wilkinson, ein vierundzwanzigjähriger Apotheker in der Lewis&Burrow’s Pharmacy in der Oxford Street. Er hatte Spätschicht und gähnte unaufhörlich, da es sein achter Arbeitstag in Folge war, was an der fortdauernden Krankheit von Mr Tubbs, seinem Arbeitgeber, lag. Henry war völlig erschöpft, und er wusste, sollte Mr Tubbs tags darauf immer noch krank sein, musste er die Apotheke mittags schließen, oder er riskierte, die Rezepte falsch zusammenzumischen. Er konnte kaum noch die Augen offen halten, so ging es nicht weiter.
Die Glocke über der Tür erklang, und er sah einen Mann mit Hut und einem dicken Mantel mit hochgeschlagenem Kragen eintreten. Der Mann trug eine Brille, hatte einen schwarzen Schnauzbart, trat schnell an die Theke und reichte Henry ein Rezept, wortlos und mit abgewandtem Blick. Henry öffnete das Rezept, las es und hob erstaunt eine Braue.
»Hyoscin-Hydrobromid«, sagte er. »Das ist eine kraftvolle Substanz. Hat Ihnen Ihr Arzt die damit verbundenen Gefahren erläutert?«
»Ich bin Arzt«, kam die Antwort.
»Oh. Verstehe«, sagte Henry. »Ich brauche allerdings eine Weile, um es fertig zu machen. Solche Gifte werden nicht oft gebraucht.«
»Wie lange?«, fragte der Mann mit gedämpfter Stimme.
»Etwa zehn Minuten, Sir«, sagte Henry. »Möchten Sie warten oder lieber später noch einmal kommen? Wir haben bis um zehn geöffnet.«
»Ich warte.«
Henry ging ins Hinterzimmer, von wo aus er den Laden weiterhin im Blick hatte, und konsultierte ein Handbuch, ehe er die Zutaten vom Regal nahm und sie mit einer Pipette vorsichtig in eine mittelgroße Medizinflasche füllte. Der Mann draußen hatte etwas Eigentümliches an sich, dachte Henry. Er betrachtete eingehend die Regale und hielt ihm die ganze Zeit den Rücken zugewandt.
»Ein schöner Abend, Sir«, rief Henry in dem Versuch, ein Gespräch anzufangen. »Sind Sie auf dem Weg nach Hause zum Essen?« Der Mann antwortete nicht, sondern lief auch weiter hin und her und klopfte dabei mit seinem Stock auf den Boden. »Wie du willst«, murmelte Henry.
Zehn Minuten später war die Mischung bereitet, und er ging nach vorn und steckte die Flasche in eine Tüte.
»Also«, sagte er. »Ich muss Ihnen nicht eigens sagen, dass Sie damit vorsichtig umgehen müssen, Sir. Verdünnen Sie eine Flaschenkappe immer mit fünf Kappen Wasser, oder Sie wissen, was passiert. Steht auch auf dem Etikett.«
Der Mann gab ihm eine Pfundnote, Henry nahm sie und holte das Wechselgeld aus der Kasse. »Ich muss Sie noch bitten, den Erhalt zu quittieren, Sir«, sagte er, zog eine große schwarze Mappe hervor und blätterte sie durch, bis er die gesuchte Seite fand. »Das ist eine der Substanzen, die wir nicht ohne Unterschrift und Adresse herausgeben dürfen.«
Der Mann nickte, er kannte die Vorschriften und schrieb mit deutlichen Buchstaben: »James Middleton, 46 The Rise, Clerkenwell«. Henry warf einen Blick darauf und nickte. »Vielen Dank, Dr. Middleton«, sagte er. »Und einen guten Nachhauseweg noch.«
Draußen auf der Straße nahm der Mann die Flasche aus der Tüte und las das Etikett noch einmal. Eine Kappe auf fünf Kappen Wasser. Einmal am Tag. Das Herz schlug schnell in seiner Brust, seine Lippen waren trocken, die Knie leicht zittrig. Er steckte die Flasche in die Manteltasche und ging nach Hause.