2  Jugend

Michigan: 1862 bis 1883

Als Mr Josiah Crippen und seine Frau Dolores die Heiligkreuzkirche in Ann Arbor, Michigan, betraten, um der Vermählung ihres Sohnes Samuel mit Jezebel Quirk, seiner Cousine zweiten Grades, beizuwohnen, waren sie in sehr unterschiedlicher Verfassung. Josiah lächelte während der gesamten Zeremonie, war er doch völlig betrunken, und Dolores zog einen solchen Schmollmund, dass ihre Lippen am Ende fast taub waren, so empört war sie, dass ihr teurer Junge einer anderen Frau und nicht ihr ewige Treue schwor. Sie hatte ihn dazu erzogen, seine Mutter anzubeten und zu verehren, wodurch sie jedoch nur erreicht hatte (ohne dass es ihr bewusst geworden wäre), dass er sie wegen ihrer Kälte verachtete. In seiner Braut dagegen hatte er ein liebevolles, schönes Mädchen gefunden, das ihm nach einem Jahr einen Sohn schenkte, den sie Hawley Harvey Crippen nannten.

Das Jahr zwischen ihrer Heirat und der Geburt war das einzige glückliche Jahr im gemeinsamen Leben der Crippens, denn als das Kind da war, änderte sich Jezebels Art von Grund auf. Sie verlor sämtliche Lebenslust und wurde regelrecht puritanisch. Hatte sie es früher genossen, mit Samuel tanzen zu gehen, betrachtete sie solche Abende nun als unziemlich und zügellos. Hatte sie früher gerne ihre Nachbarn, die Tennetts, zum abendlichen Kartenspiel eingeladen, so hielt sie derlei Unterhaltungen jetzt für unmoralisch und brach die Beziehung zu dem im Übrigen harmlosen Paar ab. Nachdem sie bis zur Geburt keinerlei moralischen Eifer bewiesen hatte, stellte Jezebel Crippen danach fest, dass die Schwangerschaft ihr nicht nur ein Kind, sondern auch einen neuen besten Freund beschert hatte: Jesus. Und Er mochte es nicht, dass sie sich amüsierte.

Hawley war von Beginn an ein ruhiges Kind. Er hatte keine Brüder oder Schwestern, war doch seine Geburt so anstrengend und schmerzvoll gewesen, mit Wehen, die nicht aufhören wollten, dass Jezebel anschließend ihren eigenen Namen verriet und ihrem Mann sogar verwehrte, in einem Bett mit ihr zu schlafen, von einem möglichen Liebesakt ganz zu schweigen.

»Du hast mich oft genug geschändet, Samuel Crippen«, sagte sie während der ersten Monate, als er noch glaubte, er könnte sie, wenn er es nur geschickt genug anstellte, dazu bringen, ihre Meinung zu ändern, so wie sein Vater es vor ihm geglaubt hatte, als er die Verteidigungslinien von Dolores Hartford durchbrochen hatte. »Ich werde niemals wieder einem Mann erlauben, mich in dieser schmutzigen Weise anzufassen.«

»Aber, meine Liebe«, protestierte er. »Unser Ehegelübde!«

»Ich habe nur noch einen wahren Ehemann, Samuel, und dessen Name ist Jesus. Ihn darf ich nicht hintergehen.«

Schließlich musste Samuel begreifen, dass sie nicht nachgeben würde, und dass ihm, dank ihres Messias, ein Leben in Enthaltsamkeit drohte. Er hätte auf die Grausamkeit ihrer Entscheidung geschimpft, erfuhr zum Glück jedoch von der Existenz eines Bordells etwa zehn Meilen außerhalb von Ann Arbor, wo er seinen romantischen Interessen mit weit weniger emotionaler Beschwernis nachgehen konnte, was eine ansprechende Aussicht war.

Als Junge wurde Hawley von seiner Mutter dazu ermutigt, seine Einsamkeit zu genießen. Die beiden saßen lange Stunden auf der Veranda und sahen zum Himmel hinauf, während sie die Gedanken ihres Sohnes auf den Herrn zu richten versuchte. Sie glaubte, solange sie beide für sich waren, gebe es weniger Gelegenheit für Sünde. Ihr einziges Lebensziel bestand darin, sicherzustellen, dass Hawley in den Himmel kam, selbst wenn sie ihn zu früh dort abliefern musste.

»Gottes glorreicher Himmel«, sagte sie und lächelte das Lächeln einer geistig Gestörten, während sie den Blick auf die vorbeiziehenden Wolken geheftet hielt und die Sonne dahinter aufblitzen sah. »Danke dem guten Herrn, Hawley, für diesen so wunderschönen Tag.«

»Ich danke Dir, Herr«, sagte Hawley brav und blinzelte ins Licht.

»Gottes glorreiches Werk«, stellte sie fest, wenn sie fröhlich überall im Haus Staub wischte, Spinnweben wegfeudelte und mit einem schmierigen Lappen den Schmutz von den Fenstern wischte. »Danke dem guten Herrn, Hawley, dass er all den Schmutz um uns herum geschaffen hat, damit wir die Ehre haben, ihn in Seinem Namen zu entfernen.«

»Ich danke Dir, Herr«, antwortete Hawley misstrauisch, und der aufgewirbelte Staub ließ ihn husten.

Das gemeinsame Abendessen im Hause der Crippens war eine ruhige Angelegenheit. Samuel kam um sechs von der Arbeit im Lebensmittelladen zurück, und seine Frau bereitete ein spartanisches Mal für sie drei. Für gewöhnlich bestand es aus trockenem gekochten Gemüse und womöglich nicht ganz durchgegartem Hühner- oder Schweinefleisch, das ihnen Durchfall und Verdauungsprobleme bescherte. Für die armen Seelen im Fegefeuer.

»Gottes glorreiche Gaben«, sagte Jezebel, lächelte ihre Männer selig an und breitete die Arme aus, als wäre sie der wiedergeborene Jesus beim letzten Abendmahl. »Danke dem guten Herrn, Hawley, dass er uns mit so einem reichen Mahl beschenkt.«

»Ich danke Dir, Herr«, antwortete Hawley, und es rumorte in seinem Magen, und die Beine wurden ihm schwach, während sich sein Inneres Gottes glorreichen Verdauungsstörungen ergab.

Als Jezebel in ihre Dreißiger kam und Gottes Glorie in jedem einzelnen gesegneten Augenblick des Tages zu sehen begann, verbrachte Samuel immer weniger Zeit zu Hause. Er ging lieber in die örtliche Kneipe, wo er seinen Verdruss im Alkohol ersäufte. Seine Frau betrachtete das mit Missfallen, doch er hielt ausreichend Distanz, um ihre Beschwerden ignorieren zu können. Sie äußerte sie sowieso meist nur, wenn er betrunken war, und da störten sie ihn kaum. Einmal kam er etwa gegen Mitternacht nach Hause, wacklig auf den Beinen, das Gesicht aufgedunsen, die Nase so rot wie bei einem der Rentiere des Weihnachtsmanns. Er kam hereingestolpert und sang ein derbes Lied, das von den Abenteuern eines gut ausgestatteten Seemannes in einem schlecht beleumdeten Haus in Venedig erzählte.

»Du bist nicht der Mann, den ich geheiratet habe«, rief Jezebel voller Abscheu und holte den Wischeimer aus der Küche, da die blutunterlaufenen Augen und der unruhige Gesichtsausdruck ihres Gatten darauf hindeuteten, dass er bald schon seinen Magen auf den Wohnzimmerboden entleeren würde. »Um diese Zeit in solch einem Zustand nach Hause zu kommen, und das vor unserem Hawley. Was hast du alles getrunken? Whisky? Bier? Sag es mir, Samuel.«

»Gottes glorreichen Alkohol«, antwortete der mit leiernder Stimme, rülpste lautstark, machte ein erstauntes Gesicht und fiel bewusstlos zu Boden.

»Ich danke Dir, Herr«, intonierte Hawley fromm, wie er es gelernt hatte.

Es war Jezebels Idee, ihren Sohn aus der Dorfschule zu nehmen und ihn zu Hause zu unterrichten. Hawley hatte nichts dagegen. In der Schule wurde er aufgezogen, weil er so dunkle, förmliche Sachen trug, die ihn wie Oliver Twist in der Lehre beim Bestatter Sowerberry aussehen ließen, und seine zarten Züge brachten einige der Jungen dazu, zu behaupten, dass er keiner von ihnen, sondern ein lausiges Mädchen sei. Untersuchungen bewiesen das Gegenteil, worauf sich der Junge noch gedemütigter und verachteter vorkam.

»Fangen wir mit dem Studium der Bibel an«, erklärte Jezebel am ersten Morgen seines Heimunterrichts. »Und dann, vor dem zweiten Teil unserer Bibelstudien, wirst du richtig lesen lernen, was wir mit dem Buch der Psalmen üben. Nach einer inneren Einkehr zu den Geheimnissen des Kreuzes beenden wir den Unterricht schließlich mit einigen seelenbildenden Bibelstudien.« Als er neun war, vermochte Hawley alle einhundertfünfzig Psalmen in der richtigen Reihenfolge aufzusagen, und er kannte die genaue Ahnenreihe von Adam bis Jesus Christus. Niemand hatte irgendwen gezeugt, ohne dass Hawley mit dabei gewesen wäre. Jezebel machte einen Partytrick daraus, für Weihnachten, wenn die Crippens und die Quirks bei Gerstenwasser und trockenem Kuchen im Wohnzimmer zusammensaßen.

»Wer zeugte Enosch, Hawley?«, sagte sie, einen Namen aus ihrem Gedächtnis wählend, und der Junge zog die Stirn kraus und arbeitete sich durch die Schöpfungsgeschichte.

»Set«, sagte er.

»Richtig! Und wer zeugte Metuschelach?«

Hawley dachte wieder nach. »Henoch«, sagte er.

»Ganz sicher tat er das, das schmutzige Scheusal. Und Nimrod?«

»Kusch«, sagte Hawley triumphierend.

»Genau, es war Kusch! Und Nimrod war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn, und am Beginn seines Königreiches standen Babel und Erech und Akkad und Kalne im Land Schina«, fuhr sie freudig fort, klatschte mit orgiastischer Wonne in die Hände, und in ihren eingefallenen Augen blitzte das verrückte Feuer des religiösen Eifers.

Für eine Frau, die es nicht ertrug, von ihrem Mann angefasst zu werden, war Jezebel in Samuels Augen merkwürdig besessen vom Zeugungsakt. Zudem wünschte er seinem Sohn, ein aktiveres Leben außerhalb des Hauses zu haben, und war sicher, dass der Junge einige der klassischen Kindheitsfreuden verpasste.

»Er verpasst etwas?«, fragte Jezebel und lachte über die Geistesschwäche ihres Mannes. »Du denkst, der Junge verpasst etwas? Wie absolut lächerlich! Pass auf, du dummer Mann. Hawley: ›Denn es verdross mich der Ruhmredigen, da ich sah, dass es den Gottlosen so wohl ging.‹«

»›Denn sie sind in keiner Gefahr des Todes‹«, antwortete Hawley von seinem Platz am Wohnzimmerfenster, von dem er sinnierend zum Himmel hinaufsah. Er bewegte die Augen langsam von links nach rechts, als läse er die Worte geradewegs von den Wolken ab. »›Sondern stehen fest wie ein Palast.‹«

»Psalm Nummer?«

»Dreiundsiebzig, Mutter.«

»Die Verse?«

»Zwei und drei.«

Jezebel sah ihren Mann triumphierend an. Ihre gelblichen Zähne drängten durch die Lippen, als sie versuchte, ihre aufsteigenden Gefühle zu kontrollieren. »Samuel Crippen«, verkündete sie, »dein Sohn ist ein Wunderkind.«

Die frühen Jugendjahre brachten zusätzliche Unbill in Hawleys Leben. Um seinen dreizehnten Geburtstag herum befiel ihn eine plötzlich aufflammende Akne, begleitet von einer fast schon krankhaft starken Bettnässerei, was im Hause der Crippens Fassungslosigkeit hervorrief. Der Junge wachte jeden Morgen um fünf Uhr auf, das Bett durchtränkt infolge exotischer Träume. So lag er da und fürchtete sich vor dem Tagesanbruch und dem Moment, da seine Mutter erschien, ob des in der Luft hängenden Geruchs die Nase hob, ihn einen bösen Jungen, schlimmer als ein Baby, nannte und heftig ohrfeigte. Als sie hörte, wie Samuel seinen Sohn über eine geeignete Möglichkeit informierte, die nächtlichen Emissionen zu verringern, brach sie ohnmächtig auf dem Dielenboden der Küche zusammen. Sie schlug böse mit dem Hinterkopf auf und musste mit Riechsalz wiederbelebt werden.

Trotz allem fand Hawley im Laufe seiner stürmischen Jugend Gelegenheit, seine eigenen Interessen zu entwickeln. Seine Bildung begann, über das Buch der Offenbarung hinauszuwachsen, als er in der Abgeschiedenheit der kleinen Bibliothek von Ann Arbor zu lesen begann: Literatur, Lyrik und Sachbücher. Mit fünfzehn Jahren entdeckte er ein Buch mit dem Titel Der menschliche Körper & seine vielen so merkwürdigen wie ungewöhnlichen Funktionen, von Dr. A.K. Larousse. Dieses Buch wurde zu seiner neuen Bibel, und er nahm jedes einzelne Wort über die Körperorgane und Atemfunktionen in sich auf. Larousse führte ihn zu vielen anderen Büchern ähnlichen Themas, und so wurden seine späten Jugendjahre vom Studium der Wissenschaften und der Biologie befeuert, von Theorien zur Entstehung des Universums, der Funktionsweise des menschlichen wie tierischen Körpers und der Natur des Lebens selbst. Die meisten dieser Bücher versteckte er vor seiner Mutter, für die alle Wissenschaft Sünde war, sah sie darin doch den Versuch, das Denken Gottes zu verstehen.

»Wenn Gott wollte, dass wir ewig lebten«, sagte sie, »hätte er uns niemals die sieben Plagen geschickt. Das war ein Gott, der mit dem Bösen umzugehen wusste, und wenn du mich fragst, könnte er heute wieder etwas mehr von seiner alten Chuzpe brauchen.«

Ohne dass Jezebel davon wusste, begann Hawley, Ausgaben des Scientific American, einer ganz neuen, radikalen Zeitschrift aus dem Staat New York, zu kaufen und unter seiner Matratze aufzubewahren. Er holte sie immer erst spät in der Nacht hervor, wenn seine Eltern längst in ihren getrennten Schlafzimmern lagen, steckte eine Kerze an, las sie von vorn bis hinten und leckte sich die Lippen bei jedem neuen Happen Information, den er daraus bezog. Jede einzelne Seite schien eine neue Theorie oder die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Revolution in sich zu bergen. Jeder einzelne Beitragende schien an einem bahnbrechenden Medikament, einer komplizierten Gleichung oder einer neuen Definition von Begriffen wie »das Leben«, »der Mensch« oder »die Existenz« zu arbeiten. Hawley konnte nur gespannt den Atem anhalten und darauf warten, was als Nächstes kam.

Als Hawley siebzehn wurde, begann die Zeitschriftenschicht unter seiner Matratze jedoch merklich anzuwachsen, wenn er sie auch vom Kopf- bis zum Fußende stets gleichmäßig verteilte, eine zusätzliche Dämmung aus Wissbegier. Eines Nachmittags im Juni kam er aus der Bibliothek nach Hause, setzte sich aufs Bett, um die Stiefel auszuziehen, und musste überrascht feststellen, dass die Matratze unter ihm stärker als gewohnt nachgab. Er hob sie an, um zu sehen, was der Grund dafür sein mochte, und erkannte mit Schrecken, dass seine Zeitschriftensammlung verschwunden war. Er wurde blass und dann tiefrot vor Verlegenheit. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog, und musste sich gleich wieder setzen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er sich eine Erklärung zurechtzulegen versuchte. Voller Angst wartete er darauf, dass seine Mutter durch die Tür trat, entrüstet, voller Zorn, aber sie ließ sich nicht blicken. Erst nachdem er am Abend gehört hatte, wie sein Vater nach Hause kam, wurde er nach unten gerufen, wo die Zeitschriften, in die er während der vergangenen zweieinhalb Jahre investiert hatte, in einem Stapel auf dem Küchentisch lagen. Er starrte sie an, als hätte er sie nie zuvor gesehen, und schluckte nervös. Obwohl er bereit war, den Besitz abzustreiten, waren sie ihm dennoch sehr viel wert, und er wollte sie unbeschädigt zurück. Seine Mutter stand beim Herd, die Arme vor der Brust verschränkt, und ihr Gesicht verriet ihre Wut, während Samuel irgendwo zwischen den beiden stand und nicht zu wissen schien, welche Position er einnehmen sollte.

»All diese Jahre habe ich geglaubt, dich zu kennen«, sagte Jezebel. »Ich dachte, du seist ein anständiger Junge. Ich dachte, ich hätte dich richtig großgezogen.«

»Das tust du! Das bin ich! Das hast du!«, protestierte Hawley und antwortete auf jeden ihrer Vorwürfe, aber bevor er noch etwas sagen konnte, übertönte ihr Geschrei seine Stimme.

»Ein anständiger Junge bewahrt nicht solchen Schmutz unter seiner Matratze auf! Das ist widerwärtig! Hast du die Zeitschriften gesehen?«, fragte sie ihren Mann, der dümmlich den Kopf schüttelte, eine in die Hand nahm und durchblätterte, wobei sein aufgeregter Ausdruck mehr und mehr der Enttäuschung wich, als er sich dem Ende näherte.

»Das interessiert mich«, flehte Hawley. »Es geht um Wissenschaft. Das ist lehrreich.«

»Es ist Schmutz!«, sagte Jezebel. »Wie kann ein Mensch sein Geld nur für derart kranken Abfall zum Fenster hinauswerfen?«

»Ich lese die Artikel«, sagte Hawley, und seine Stimme hob sich nur ganz leicht. »Ich interessiere mich für den menschlichen Körper …«

»Hawley! Nicht in diesem Haus!«

»Dafür, wie die Welt erschaffen wurde. Wer wir sind.«

Jezebel schüttelte wütend den Kopf, nahm ihrem Mann die Ausgabe weg, die er immer noch in der Hand hielt, warf sie ins Feuer und schob sie mit dem Schürhaken tief in die Kohlen hinein.

»Mutter, nein!«, rief Hawley, als sie nach dem nächsten Exemplar griff, und noch einem und noch einem.

»Es ist zu deinem Besten«, sagte sie und sah zu, wie seine jahrelangen Studienhilfen im Kamin flackerten und verkohlten. »Besser, dieses Papier brennt, als dass du selbst eine Ewigkeit in den Flammen des Hades schmorst. Ich könnte nicht weiterleben, wenn ich wüsste, dass du auf ewig in der Hölle sitzt.«

»Das ist doch lächerlich«, rief Hawley angewidert, und es war das erste Mal, dass er seine Stimme in diesem Haus erhob.

Die Eltern sahen sich staunend an, während Hawley rot anlief und seine Augen vor Wut funkelten. »Einfach lächerlich!«, rief er. »Diese Zeitschriften faszinieren mich. Versteht ihr denn nicht? Ich will ein Mann der Wissenschaft werden.«

»Der Wissenschaft?«, schrie Jezebel perplex. »Die Wissenschaft ist reines Teufelswerk und nichts anderes. Habe ich dich dazu unterrichtet?«

»Das ist mir egal. Das ist es, was ich will«, rief Hawley. Er fühlte sich abgestoßen von ihrer Verblendung, und während er die Zeitschriften in Flammen aufgehen sah, fand er die Worte, um auszudrücken, worin er seine Aufgabe auf dieser Welt sah. »Ich habe vor, Medizin zu studieren«, erklärte er seinen Eltern. »Ich werde ein großer Wissenschaftler.« Damit beugte er sich zu seiner Mutter vor, die allen Mut zusammennehmen musste, um nicht ängstlich einen Schritt zurückzuweichen. »Vielleicht ist das Gottes Plan für mich«, sagte er leise.

Jezebel hob eine Hand vor den Mund, als hätte er Worte ausgesprochen, die sie alle in die Verdammnis stürzen mussten.

»Gottes glorreicher Plan, Hawley«, sagte Samuel verwirrt und vielleicht auch etwas betrunken.

 

Mit Hawleys einundzwanzigstem Geburtstag kam es zu einer ganzen Reihe von Änderungen. Sehr zur Empörung seiner Mutter und zur Überraschung seines Vaters begann Hawley, seinen Willen durchzusetzen, und ließ sich nicht länger vorschreiben, wie er zu leben hatte. Jezebels Zensur riskierend, aber ohne sie erst um Erlaubnis zu fragen, kaufte er den Scientific American und legte die Ausgaben stolz auf seine Kommode, wo sie jedem Besucher als Zeugen seiner Perversion ins Auge stachen. Dazu gesellten sich die vierteljährlichen Ausgaben des American Journal of Human Medicine sowie die Medical Practioner’s Bi-Monthly Review, eine zweimonatlich erscheinende Zeitschrift zur ärztlichen Praxis. Beides waren akademische Schriften, deren Tiefenanalysen den letzten Stand der Wissenschaft in den Vereinigten Staaten darstellten und weit über das Verständnis der meisten Laien hinausgingen. Die Artikel und Schaubilder faszinierten den jungen Crippen jedoch und überzeugten ihn davon, in ihnen das Leben zu finden, nach dem er sich sehnte. Die so offene wie unerwünschte Zurschaustellung schien, im Gegensatz zur Aufbewahrung unter der Matratze, ihre Existenz zu rechtfertigen und ließ Jezebel zögern, sie ebenfalls ins Feuer zu befördern.

Um sein großes Ideal zu verwirklichen, bewarb er sich an der University of Michigan um eine Zulassung zum Medizinstudium, und erst als sie ihm ihr Vorlesungsverzeichnis schickten, begriff er, dass nach Ansicht einer solchen Einrichtung der Wunsch zu studieren nicht so wesentlich war wie die Fähigkeit, dafür zu bezahlen. Um Arzt zu werden, musste er vier Jahre studieren und der Universität dafür jedes Jahr mehr als fünfhundert Dollar Gebühren zahlen. Seit dem Ende der Schule arbeitete er im Laden seines Vaters, verdiente aber nicht mehr als dreiunddreißig Dollar pro Woche, wovon er ein Drittel seiner Mutter für seinen Unterhalt zu geben hatte. Es war ihm völlig unmöglich, die Studiengebühren aufzubringen.

»Ihr müsst verstehen«, sagte er eines Abends, als er seinen Eltern sein Dilemma zu erklären versuchte, »dass es für mich das Wichtigste auf dieser Welt ist, Arzt zu werden. Ich spüre, dass dies mein Schicksal ist, meine Berufung.«

»Bitte, Hawley, benutze diese Worte nicht in solch einem Zusammenhang«, sagte Jezebel, die hocherfreut war, dass er wieder einmal mit einer Bitte zu ihr kam. Wenn sich ihre Haltung seinen Interessen gegenüber mit den Jahren auch etwas entspannt hatte, konnte sie doch nicht umhin, gegen die, wie sie es verstand, antichristlichen Ansichten ihres Sohnes zu protestieren. »Eine Berufung ist allein, wenn dich der gute Herr in seinen Dienst ruft.«

»Vielleicht tut Er ja genau das«, antwortete er. »Vielleicht will Er ja, dass ich den Kranken helfe und sie gesund mache. Vielleicht will Er, dass ich Arzt werde. Schließlich ist es ein ehrbarer Beruf.«

»Der Herr betrachtet die Kunst der Medizin als eine heidnische, das weißt du. Warum sollte Er kleinen Kindern Krankheit bringen, wenn sie von uns Menschen geheilt werden kann? Es ist das Beste, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sein Wille geschehe.«

Hawley seufzte. Er hatte sich einen Schnauzbart wachsen lassen, den er, wenn er unter Druck geriet, gerne glatt strich. Er mühte sich, die Fassung zu bewahren, da alles andere seine Chancen auf Erfolg erheblich mindern würde. »Mutter, bitte«, sagte er ruhig. »Siehst du denn nicht, wie wichtig es mir ist?«

»Wie viel brauchst du denn?«, fragte Samuel und wagte seine Frau dabei nicht anzusehen. Er spürte ihren giftigen Blick tausend Pfeilen gleich in seinen Körper dringen und wusste, dass er später dafür zahlen würde.

»Die Gebühren betragen fünfhundert Dollar pro Jahr …«

»Fünfhundert Dollar!«, rief Jezebel. »Das ist ausgeschlossen.«

»Es ist teuer, aber das ist es wert«, protestierte Hawley. »Ich kann selbst vielleicht hundert aufbringen, wenn ich einen Nachtjob annehme. Es wird nicht einfach sein, tagsüber zu studieren und nachts zu arbeiten, aber das sind Opfer, die ich auf mich nehme.« Das Letzte sagte er, um den Sinn seiner Mutter für das Märtyrertum anzusprechen.

»Du brauchst also vier Jahre lang vierhundert Dollar pro Jahr?«, sagte Samuel.

»Ja.«

»Sechzehnhundert Dollar?«

»Faktisch ja.«

»Das ist völlig unmöglich«, sagte Jezebel entschieden.

»Ich vermute, wir könnten eine Hypothek auf den Laden aufnehmen«, sagte sein Vater, der sich mit einer Geste über das Gesicht strich, die die seines Sohnes nachahmte. »Die Bank würde dem vielleicht zustimmen. Aber es gibt keine Garantie, dass sie …«

»Wir nehmen keine Hypothek auf den Laden auf«, sagte Jezebel. »Wir haben all die Jahre gebraucht, bis er uns endlich gehört, Samuel, und ich werde mich nicht neu verschulden, damit sich Hawley einen Schlafplatz in der Wohnung des Teufels kaufen kann.«

»Ach, Mutter!«, rief Hawley enttäuscht. »Wenn du doch nur einen Moment lang nicht nur dich sehen könntest.«

»Es tut mir leid, Hawley«, sagte sie. »Es mag eine Enttäuschung für dich sein, aber du weißt, was ich empfinde, und du kannst nicht von mir verlangen, dass ich mich ändere. Ich will nun mal nicht, dass ein Sohn von mir einen solchen Beruf ergreift. Wenn du meinst, du bist dazu berufen, den Menschen zu helfen, warum wirst du dann nicht Lehrer? Der Staat schreit nach jungen Lehrern, und du bringst die besten Voraussetzungen dafür mit. Oder Priester?«

»Aber ich will nicht unterrichten«, rief er, »und ganz sicher auch nicht predigen. Ich will Arzt werden! Ich will mich der Medizin widmen! Warum ist das für dich so schwer zu verstehen?«

Jezebel schloss die Augen, wiegte sich auf ihrem Stuhl vor und zurück und summte Amazing Grace, wie sie es immer tat, wenn sie ihrer Meinung Ausdruck geben wollte, dass die Unterhaltung zu einem Ende gekommen war.

Hawley sah zu seinem Vater hinüber, seiner letzten Verteidigungslinie, aber Samuel zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf seine Frau, der besagte, dass die letzte Entscheidung bei ihr lag und er daran nichts ändern konnte. Zutiefst enttäuscht blieb Hawley nichts anderes, als der Universität zu schreiben, dass er zwar gerne ein Studium aufnähme, sich aber die Studiengebühren nicht leisten könne. Er hoffte noch eine kleine Weile, ein Stipendium zu bekommen, doch stattdessen nahm die Zulassungskommission seine Entscheidung an und dankte ihm für sein Interesse in einem Brief, der keinerlei Mitgefühl für seine Situation verspüren ließ.

Damit war der Arztberuf ein Wunsch, den er sich aus dem Kopf schlagen konnte. Aber es gab noch andere Studiengänge, die weniger teuer waren, seiner Begeisterung für die Wissenschaft aber dennoch entgegenkamen. Er begann, sich genauer zu informieren, und betäubte seine Enttäuschung, indem er sich sagte, das alles sei auch nicht so schlecht. In einer Ausgabe der Medical Practioner’s Bi-Monthly Review las er, das Medical College of Philadelphia biete einen zwölfmonatigen allgemeinen Gesundheitskurs an, durch dessen Abschluss man ein Diplom erlangen könne. Dieser Kurs kostete sechzig Dollar und würde tief in sein Einkommen schneiden, aber er entschied, dass es sich lohnte, bewarb sich und wurde schnell als Student angenommen.

Um sein Diplom bezahlen zu können, suchte er nach einem Nachtjob und fand eine Stelle im McKinley-Ross-Schlachthof, wo er drei Nächte in der Woche von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens Schafe oder Rinder häuten, ausnehmen, säubern und zerlegen musste.

Jezebel und Samuel waren entsetzt, doch für Hawley war es ein gewöhnlicher Job, dank dem er sein Studium beginnen konnte. Er hatte genügend Abende damit verbracht, mit dem Finger über die verschiedenen Teile des menschlichen Körpers zu fahren, die in Gray’s Anatomy abgebildet waren, die verschiedenen Bezeichnungen und Funktionen zu lernen und zu verstehen, wie leicht sie Schaden nehmen oder zerstört werden konnten. Er wusste, wo die schwachen Punkte von Bändern und Sehnen lagen, und wenn er auch noch nie mit dem Messer in ein totes Tier gefahren war, hatte er doch schon davon geträumt und entschieden, mit welchen Schnitten sich ihre Körper am saubersten zerlegen ließen. Zwar war das alles nicht ideal, dennoch fand er ziemlichen Gefallen an der Vorstellung, ein frisch geschlachtetes Tier zu zerlegen. Er allein würde die Verantwortung dafür tragen, die Knochen von den Muskeln zu trennen und die Haut von den Organen, das Blut aufzufangen und das Fleisch für den Esstisch zurechtzuschneiden. Für viele war das sicher eine abscheuliche Tätigkeit, Hawley Harvey Crippen leckte sich die Lippen, wenn er daran dachte, was da vor ihm lag.

In seiner ersten Nacht bei McKinley-Ross stand ihm ein zweiundsechzigjähriger Schlachthofveteran namens Stanley Price zur Seite, der ihn, wie es hieß, in das Handwerk einführen sollte. Price war ein magerer Teufel mit einem leichten Buckel und grauweißem Haar. Das Erste, was Hawley an seinem Lehrer auffiel, war, dass dessen Hände nach siebenunddreißig Jahren Schlachthofarbeit rot gerändert und die Poren so tief eingefärbt waren, dass sich die Innereien von Abertausenden Tieren auf seiner Haut wiederfinden ließen. »Das geht auch mit allem Waschen dieser Welt nicht mehr weg«, sagte Price stolz. »Ich habe mehr Blut an den Händen als alle Mörder im Knast zusammengenommen. Und ich bin besser mit dem Messer. Hast du schon jemals ein totes Tier aufgeschnitten?«

»Noch nie«, gab Hawley zu und lachte, als wäre der Gedanke absurd. Als hätte er die langen, faulen Sommertage seiner Jugend in Michigan damit verbracht, auf der Veranda vor dem Haus wahllos Hunde und Katzen aufzuschlitzen.

»Wirst du damit klarkommen?«

»Ich glaube schon. Ich studiere am Medical College in Philadelphia, um Arzt zu werden.« Das war eine harmlose Lüge, denn es war den Absolventen des einjährigen Kurses am MCP nicht erlaubt, sich anschließend Arzt zu nennen, aber natürlich genossen sie eine gewisse medizinische Ausbildung. Hawley glaubte, nicht viel verlieren zu können, wenn er ein bisschen angab, und vielleicht verschaffte es ihm ja sogar etwas Respekt.

»Aber wenn du in Philly studierst, was zum Teufel machst du dann hier in Michigan?«

»Es ist ein Fernkurs«, erklärte er.

»Ein Fernkurs, um Arzt zu werden?«, fragte der ältere Mann skeptisch.

Hawley nickte und ließ sich nichts anmerken.

Die beiden starrten sich, wie es Hawley vorkam, minutenlang an, bis Price schließlich schwer durch die Nase ausatmete, den Kopf schüttelte und den Blick abwandte. »Komm mir bloß nicht zu Hilfe, wenn du siehst, dass ich krank zusammenbreche. Mit einem Fernstudium Arzt werden«, murmelte er vor sich hin. »Was wird aus dieser Welt?«

»Wie viele Tiere zerlegen wir in einer Nacht?«, fragte Hawley. Er wollte das Thema wechseln und auf das zurückkommen, was vor ihnen lag. Dabei versuchte er, seine Frage in einem möglichst ernsthaften Ton zu stellen, weil er nicht blutdürstig erscheinen wollte.

»Ich selbst schaffe in einer guten Nacht fünf Rinder und vielleicht zwischendurch noch zwei, drei Schafe. Von der Schlachtung bis zur Aufteilung in Portionen, um Hackfleisch draus zu machen. Und du …« Er betrachtete den Jungen von oben bis unten, als hätte er nie einen weniger geeigneten Kandidaten gesehen, »in den ersten paar Monaten hast du Glück, wenn du pro Nacht ohne Hilfe eines schaffst. Aber es kommt nicht auf die Zahl an, Crippen. Denke immer daran. Du musst jedes Tier mit dem gleichen Geschick und der gleichen Sorgfalt angehen, und wenn das heißt, dass du nur ein Fünftel der Arbeit eines anderen schaffst, nun, dann sei’s drum. Werde nicht nachlässig, nur weil du ans nächste Tier willst. Dann ruinierst du das Fleisch.«

»Verstanden«, sagte Hawley, verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere und spürte, wie ihm das Blut durch die Adern pulste. »Wann fangen wir also an?«

»Nervös, was?«, sagte Price. »Nur keine Angst, es geht noch früh genug los. Sobald die Glocke da oben schrillt.« Er nickte zur Uhr an der Wand hinüber, die sich langsam auf neun Uhr zubewegte. Die Tagesschicht der Schlachthofarbeiter endete um sieben Uhr, dann kamen die Putzleute, schrubbten die Böden und desinfizierten die Arbeitstische für die Nachtschicht. McKinley-Ross machte keine Pause, es gab immer geschlachtete Tiere, die zerlegt werden mussten.

Endlich läutete es, und die Türen öffneten sich. Die vierzig Nachtschichtarbeiter betraten einen langen Korridor, in dem Reihen makellos weißer Jacken hingen, so wie sie Wissenschaftler im Labor trugen.

»Hier gibt’s nur eine Größe«, sagte Price. »Nimm also die Erste, die du in die Hand bekommst, und lass uns an die Arbeit gehen. Ich weiß nicht, was das mit den Jacken soll. Am Ende der Schicht sind alle voller Blut.«

Hawley nahm eine Jacke und zog sie an. Es gefiel ihm, dass er sich darin wie ein richtiger Doktor fühlte. Er grinste Stanley Price an, der seinen Blick misstrauisch erwiderte und dann den Kopf schüttelte, als hätte er ein schwachsinniges Kind auf dem Weg zu seiner Hinrichtung vor sich, das keine Ahnung hatte, was auf es zukam.

Price trat in eine Ecke des riesigen Saales, sah sich um und zeigte seinem Schützling die verschiedenen Ein- und Vorrichtungen. »Da drüben sind unsere Werkzeuge«, sagte er. »Sägen, Tranchiermesser, Aufschneidemesser. Sie werden zweimal täglich geschärft. Versuche nicht, mit dem Finger zu testen, wie scharf sie sind, es sei denn, du willst ihn verlieren. Hier vorne hängt ein Schlauch, mit dem wir das Blut in den Abfluss spülen. Es wird da unten gesammelt.« Er nickte hinüber zu einer Ecke des Bodens, der dort plötzlich stark abfiel und wo das Blut verschwinden würde. »Wenn wir anfangen, drücken wir diesen Knopf.« Er hob die Hand und drückte einen grünen Knopf neben einem Fließband, das sich sogleich in Bewegung setzte. Hawley hörte, wie überall in dem mächtigen Raum ähnliche Knöpfe gedrückt wurden und schon kam eine ganze Serie toter Tiere in den Raum gefahren, die an durch die Nacken getriebenen massiven Stahlhaken hingen. »Du hast den Hauptgewinn«, sagte Price mit trockener Stimme, »ein Rind.«

Der Körper des Rindes bewegte sich langsam voran, bis er sich direkt über dem Abfluss befand, worauf Price einen roten Knopf drückte und das Tier damit ruckartig stoppte. Unsicher schwang es an seinem Haken vor und zurück. Hawley streckte die Hand aus, um das Fell zu berühren: Es war kalt, und die Haare hinter dem Nacken waren leicht aufgestellt, ähnlich wie die auf seinen Unterarmen. Die Augen des Rindes waren weit offen und starrten ihn an, große, finstere schwarze Tümpel, in denen er, wenn er sich vorbeugte, sein eigenes Spiegelbild erkennen konnte.

»Wir brauchen nur den Rumpf«, sagte Price, »also eins nach dem anderen. Drück den grünen Knopf noch einmal, bis das Rind über der Bank hängt.«

Hawley tat, was ihm gesagt wurde, dann griff Price zur Seite und zog einen gelben Hebel nach unten, was offenbar einiges an Kraft verlangte. Erschrocken sprang Hawley zurück, als das Rind vor seinen Augen zum Leben zu erwachen schien. Tatsächlich hatte der Hebel den Haken nach hinten bewegt, sodass sich der Kopf des Tieres langsam vorneigte, bis sich das Rind vom Haken löste und mit einem heftigen dumpfen Schlag auf den Arbeitstisch fiel. Jahrelange Erfahrung sorgten dafür, dass der ältere Mann, wenn er einen Knopf drückte oder Hebel zog, intuitiv den richtigen Zeitpunkt wählte, und so war das Rind in genau der richtigen Position für die nun folgenden Amputationen vor ihnen gelandet, nämlich auf der Seite liegend.

»Wir müssen den Kopf abschneiden«, sagte Price mit ruhiger Stimme, »dann den Schwanz und die Beine, eines nach dem anderen. Dann lassen wir das Blut aus dem Körper, häuten ihn, holen die inneren Organe heraus, spritzen den verbleibenden Torso ab und zerlegen ihn in schmackhafte Portionen. Na, wie klingt das, mein Junge?«

Es war nicht das erste Mal, dass Price einem Neuling beibrachte, wie ein frisch geschlachtetes Tier in die wesentlichen Teile zerlegt wurde, und jedes Mal wieder verfolgte er mit einem verqueren Vergnügen, wie alle, selbst die Hartgesottensten, bis zu diesem Moment aushielten, bis zum Ende seiner kleinen Rede, um dann ungelenk zurückzuweichen, die Hand an den Mund zu heben und nach draußen in die kalte Luft zu rennen, wo sie ausspuckten, was sie kurz vorher dummerweise noch gegessen hatten. Aber als er heute Hawley anblickte, sah er zum ersten Mal seit Jahren kein angeekeltes, entsetztes Gesicht, sondern einen ernst dreinblickenden jungen Mann, dessen Wangen, wenn überhaupt, noch an Farbe gewonnen hatten. Und täuschte er sich, oder zeigte sich da sogar ein leichtes Lächeln auf den Zügen dieses Jungen?

»Mein liebes bisschen«, sagte er überrascht und vielleicht auch ein wenig beunruhigt. »Du bist aber einer von der kalten Sorte, wie?«