19 Die Gefangennahme
Nahe Quebec: Sonntag, 31. Juli 1910
Inspector Walter Dew wachte in der kleinen Pension auf, in der Inspecteur Caroux ihn untergebracht hatte. Es war noch früh, obwohl er abends nicht gleich in sein Zimmer gekonnt hatte, da die Pensionswirtin erst noch sein Bett frisch beziehen musste. Das war ein Trick, vermutete er, schließlich hatte sie den ganzen Tag schon gewusst, dass er kommen würde. Aber so musste er während der endlos langen Zeit, die sie brauchte, in den Salon zu den übrigen Gästen, die ihn allesamt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst anstarrten und mit Fragen zu Dr. Crippen bombardierten. Im Gegensatz zu den Passagieren der Laurentic jedoch, die sich zumeist für die Methode interessiert hatten, mit der Crippen seine Frau beseitigt hatte, und für den grausigen Fund im Keller, schienen die Kanadier unbedingt wissen zu wollen, was mit ihm nach seiner Rückkehr nach London geschehen würde.
»Er wird natürlich gehängt«, sagte einer.
»So gut wie sofort«, meinte ein anderer.
»Einen Prozess braucht der nicht, würde ich denken.«
»Ein Prozess ist immer nötig, Madame«, sagte Dew, dem die Vorstellung nicht recht behagen wollte, dass Hawley Crippen am Ende eines Seiles baumelte, ganz gleich, was er getan haben mochte. »Wir leben in einem Land, in dem jeder als unschuldig gilt, bis man ihm seine Schuld bewiesen hat. Wie Sie, wie ich glaube, auch.«
»Aber, Inspector, wenn einer ein so grässliches Verbrechen begangen hat, hat es doch keinen Sinn, lange herumzutun? Wenn Sie sich überlegen, jemandem auf eine solche Weise das Leben zu nehmen …«
»Was ein Grund mehr für uns ist, uns mit dem Urteil Zeit zu lassen«, antwortete er. »Ein Mord ist ein Kapitalverbrechen, welches zwingend die Todesstrafe fordert. Wenn wir da nicht sicher sind, ob das, was wir tun, richtig ist, machen wir uns mit Mördern gemein.«
Seine Antwort schien sie zu enttäuschen, offenbar hatten sie auf etwas Drastischeres gehofft. »Wird er erschossen oder aufgehängt?«, fragte eine uralte Hexe mit einem so faltigen Gesicht, wie Dew es noch bei keinem Menschen gesehen hatte.
»Aufgehängt, würde ich sagen. Wenn er für schuldig befunden wird. Aber ich kann nicht eindringlich genug darauf hinweisen, dass …«
»Waren Sie schon einmal dabei, wenn einer aufgehängt wurde, Inspector?«
»Mehrfach.«
»Ist es sehr aufregend?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »ganz und gar nicht. Es ist tragisch. Nachdem bereits jemand sein oder ihr Leben verloren hat, kommt nun noch jemand zu Tode. Es ist nichts, was einem Freude oder Befriedigung verschaffen könnte.« Allmählich war er überzeugt, dass die Gäste sich zusammengetan und die Pensionswirtin dafür bezahlt hatten, sich bei der Vorbereitung seines Zimmer ausgiebig Zeit zu lassen, um ihn gehörig ausfragen zu können.
»Wann gehen Sie morgen zum Hafen?«, meldete sich die menschliche Falte wieder. »Seit langer, langer Zeit hat es in Quebec keine solche Aufregung mehr gegeben. Wir können es nicht erwarten zu sehen, was geschieht.«
»Ich werde Dr. Crippen nicht auf kanadischem Boden verhaften«, stellte Dew bestimmt fest. »Es tut mir leid, Sie da enttäuschen zu müssen. Was heißt, dass die Zeit meines Aufbruchs ohne oder nur von geringer Bedeutung ist.«
»Sie verhaften ihn hier nicht? Ja, wo denn dann?«
Er überlegte. Wenn er es ihnen sagte, war damit nichts verloren. Die Montrose hatte ihre Instruktionen erhalten und war bis zum Anlegen praktisch vom Rest der Welt abgeschnitten. »Ich werde mit einem Boot zu Dr. Crippens Schiff fahren und ihn an Bord verhaften«, sagte er.
»O nein! Das doch sicher nicht!«, riefen sie enttäuscht.
»Ich fürchte, doch.«
»Aber damit verderben Sie es für alle.«
»Madame, es geht hier nicht um ein Bühnenstück, das zur allgemeinen Unterhaltung aufgeführt wird, sondern um die Verhaftung eines Mannes, dem ein Mord vorgeworfen wird. Ich entschuldige mich dafür, dass ich es nicht kurzweiliger gestalten kann, aber so ist es nun einmal.«
»Nun, das ist für uns alle sehr schade«, sagte die Wirtin und drängte herein, nachdem sie offenbar im Flur gestanden und zugehört hatte. »Ihr Zimmer ist fertig«, fügte sie endlich noch gereizt hinzu, als habe ihr das alles viel zu viele Umstände gemacht.
»Danke«, sagte er. »Dann wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«
Trotz der frühen Stunde hatte sich am nächsten Morgen, als er durch den Salon kam, längst wieder exakt die gleiche Gruppe versammelt. Er sah sie überrascht an, sie schienen sich seit dem Abend nicht bewegt zu haben. Allerdings befragten sie ihn diesmal nicht, sondern folgten ihm nur mit Blicken, als er zur Polizei aufbrach – als wäre er keinen Deut besser als dieser Dr. Crippen selbst.
Inspecteur Caroux war ebenfalls früh aufgestanden und hatte seine beste Uniform angelegt, wusste er doch, dass er später fotografiert werden würde. Seinen Schnauzbart hatte er mit ein wenig Wachs und das Haar mit einem eleganten Tonikum geglättet. Die Duftwolke, die ihn umgab, war so überwältigend, das Rasierwasser so kräftig, dass Dew ein Stück zurückwich und husten musste.
»Was für ein Tag da vor uns liegt, Inspector«, sagte Caroux. »Darf ich Sie Walter nennen?«
»Wenn Sie mögen.«
»Ich habe für zehn Uhr ein Boot bestellt, das uns hinausbringt. Die Montrose hat bereits telegrafiert, dass sie die Maschinen rechtzeitig stoppen wird.«
»Das uns hinausbringt?«, fragte Dew. »Wer ist uns?«
»Na, Sie und mich, Walter, als oberste Repräsentanten von Scotland Yard und der kanadischen Polizei in Quebec. Ich habe natürlich angenommen, Sie wollten …«
»Nein«, sagte er mit fester Stimme und schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Ich fahre allein. Geben Sie mir nur einen Mann, der das Boot steuert, das ist genug.«
»Aber Walter!«, rief Caroux voller Enttäuschung. »Der Mann ist ein wahnsinniger Killer. Sie wissen doch gar nicht, in was Sie sich da hineinbegeben.«
»Er ist kein wahnsinniger Killer«, sagte Dew streng, »und er ist auch kein Kannibale, bevor Sie auch das noch andeuten.«
»Mon Dieu! Ich wusste nicht, dass er sie gegessen hat …«
»Hat er auch nicht.«
»Warum sagen Sie es dann?«
»Er ist ein absolut vernünftiger Mann, der womöglich einen Fehler in seinem Leben gemacht hat, das ist alles. Ich versichere Ihnen, dass ich absolut nicht in Gefahr kommen werde. Schließlich wird auch Kapitän Kendall da sein und so viele seiner Offiziere, wie ich brauche. Auch wenn ich Dr. Crippen nur flüchtig kenne, glaube ich nicht, dass er Schwierigkeiten machen wird.«
»Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte Caroux und klang dabei wie ein kleiner Junge, dem sein Eis verwehrt wurde. »Aber wenn er Sie ebenfalls zerteilt und verspeist, haben Sie es allein sich selbst zuzuschreiben.«
»Ich werde daran denken.«
Zahlreiche Menschen standen am Kai, als er in ein kleines zweimotoriges Boot stieg und aus dem Hafen hinausfuhr. Der alte Seebär, der das Boot steuerte, schien der einzige Mensch in ganz Quebec zu sein, der ohne jedes Interesse an den Geschehnissen war. Er wirkte allenfalls genervt durch die große Zahl schreiender und applaudierender Neugieriger, die ihnen hinterhersahen, und hatte kaum ein Wort für Inspector Dew übrig, der mehr als zufrieden mit dem Schweigen war, sich auf die Seite des Bootes setzte, die Arme ausstreckte und das Gefühl des Windes und den Geruch des Meeres genoss. Seine Angst vor dem Wasser schien er auf der Überfahrt hinter sich gelassen zu haben. Etwas mehr als eine Stunde später erschien die Montrose am Horizont, Dew drückte den Rücken durch, und in seinem Magen machte sich Nervosität bemerkbar. Das letzte Kapitel seiner Jagd auf Dr. Hawley Harvey Crippen begann.
»Dort drüben«, sagte der Seemann und deutete auf das Schiff, bevor er erneut in Schweigen verfiel. Endlich wurden sie langsamer und gingen längsseits der Montrose. Einer der Offiziere war abgestellt worden, um nach ihnen Ausschau zu halten, und dirigierte sie zu der Leiter, die, für die Passagiere unsichtbar, am Schiffsrumpf herunterhing. Dew dankte seinem schweigsamen Seemann, setzte einen Fuß auf die unterste Sprosse und kletterte an Bord des großen Schiffes.
»Inspector Dew?«, fragte der Offizier, als könnte er jemand anders sein.
»Ja, hallo. Ich würde gern Kapitän Kendall sprechen.«
»Sicher, Sir. Hier entlang, bitte.«
Der Erste Offizier Billy Carter hatte die Offiziere am vorhergehenden Abend über ihre geheimnisvollen Passagiere informiert und zu striktem Stillschweigen verpflichtet, bis die Verhaftung vollzogen war. Sich der Strafen bewusst, die Kapitän Kendall zu verhängen imstande war, wenn er sich in der entsprechenden Stimmung befand, hatten sie nichts nach außen dringen lassen.
Dew wurde sogleich in die Kapitänskabine gebracht, wo Kendall und Billy Carter schon seit einer Weile saßen und Tee tranken. Die beiden waren bester Laune, und Kendall konnte seine Freude kaum für sich behalten.
»Es tut mir leid, Sie zu verlieren, Carter«, sagte er, ohne es wirklich zu meinen, doch er wollte sich großmütig zeigen. »Sie waren mir auf dieser Reise ein guter Erster Offizier. Haben unser kleines Geheimnis bestens gehütet. Ich werde es, wie schon gesagt, Ihren Vorgesetzten gegenüber erwähnen.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Carter. »Ich nehme an, Sie werden froh sein, Mr Sorenson zurückzubekommen. Freut mich übrigens sehr, von seiner Gesundung zu hören.«
»Ja, das sind ausgezeichnete Neuigkeiten«, sagte der Kapitän strahlend, die Wangen gerötet. Früh am Morgen war eine Nachricht von Mr Sorenson persönlich über den Marconi-Telegrafen gekommen, er sei wiederhergestellt, aus dem Krankenhaus entlassen und stehe bereit, seine Pflichten auf der Montrose wiederaufzunehmen, sobald sie in Antwerpen eintreffe. Die Nachricht war alles, worauf Kapitän Kendall gewartet hatte, und er hatte seitdem kaum aufhören können, auf dem Schiff herumzumarschieren, um all die zusätzliche Energie zu verbrennen, mit der ihn seine Begeisterung versorgte.
»Sie sind enge Freunde, nicht wahr?«, sagte Carter, der gern mehr über die Beziehung zwischen den beiden erfahren hätte.
»Er ist ein ausgezeichneter Erster Offizier, müssen Sie wissen«, sagte Kendall geistesabwesend, als schenkte er der Sache kaum Beachtung und als hätte ihn der Gedanke an Mr Sorensons Gesundheitszustand nicht seit dem Morgen ihrer Abreise ständig verfolgt. »Nicht, dass Sie schlechter wären, aber wir fahren seit langer Zeit zusammen. Wir sind wie ein altes Ehepaar, wir kennen unsere Eigenarten so gut, dass wir ohne einander verloren sind.«
»Tatsächlich«, sagte Carter und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Natürlich hatte das Verhältnis der beiden nichts mit dem eines Ehepaares zu tun, zumindest nicht so, wie er und seine Frau es verstanden, aber Carter sagte nichts weiter dazu, denn vielleicht hatte Kendall ja am Ende doch nicht ganz unrecht. »Feiern Sie auch Ihre Hochzeitstage?«, fragte er verschmitzt. »Mit gegenseitigen Geschenken? Zur papiernen, silbernen und so weiter Hochzeit?«
Kendall hob argwöhnisch die Brauen und fragte sich, ob er verspottet wurde, doch bevor er noch etwas sagen konnte, klopfte es an der Tür. »Herein«, dröhnte er, und die Tür öffnete sich und gab den Blick auf den Besucher frei. »Ah, Sie müssen Inspector Dew sein«, sagte der Kapitän, stand auf und schüttelte Dew die Hand. »Endlich lernen wir uns auch persönlich kennen.«
»Ja, das bin ich«, sagte der Eintretende. »Die Freude ist ganz meinerseits, Kapitän.«
»Das ist mein Erster Offizier, Mr Carter.«
»Mr Carter«, sagte Dew, nickte und schüttelte auch dessen Hand.
»Nun, das ist der Moment der Wahrheit, wie?«, sagte Kendall. »Stellen Sie sich vor, ich hätte mich von Beginn an geirrt.«
Dew lachte schnell. »Hoffen wir, dass es nicht so ist«, antwortete er. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie die Welt diesem Augenblick entgegenfiebert? Wir sind alle Berühmtheiten, und Sie, Kapitän Kendall, gelten als Held, weil Sie ihn entdeckt haben.«
Kendall drückte die Brust vor und strahlte. »Es ist nett, dass Sie das so sagen, Inspector, aber ich habe nur meine Pflicht getan. Wie also gehen wir am besten vor? Sie sind in einer der Erste-Klasse-Kabinen. Geben sich als Mr John Robinson und sein Sohn Edmund aus. Sollen wir hinuntergehen?«
Inspector Dew schüttelte den Kopf. »Ich hätte sie lieber nicht beide gemeinsam«, sagte er. »Wäre es möglich, jemanden hinzuschicken und Dr. Crippen – Mr Robinson, meine ich – hier in Ihre Kabine zu bitten? Dann kann ich ihn verhaften, ohne dass Miss LeNeve bei ihm ist oder einer der anderen Passagiere in Gefahr geraten könnte.«
Kendall zuckte mit den Schultern. »Wie Sie mögen, Inspector«, sagte er. »Jetzt?«
»Jetzt.«
»Mr Carter, wären Sie so nett, Mr Robinson herzubitten?«
»Unter welchem Vorwand, Sir?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Kapitän gereizt. »Denken Sie sich etwas aus. Benutzen Sie Ihre Fantasie. Sagen Sie ihm nur nicht die Wahrheit und kommen Sie so schnell wie möglich mit ihm her. Und sagen Sie ein paar Offizieren, sie sollen die Augen offen halten. Wenn Sie mit ihm hier hereinkommen, sollen sie sich draußen auf dem Gang bereithalten, falls es Schwierigkeiten gibt.«
»Ja, Sir.« Carter ging hinaus. Er war ziemlich aufgeregt, als er in Richtung der Erste-Klasse-Kabinen ging.
»Nervös, Inspector?«, fragte Kendall.
»Nicht besonders«, antwortete der. »Hoffnungsvoll wäre das bessere Wort.«
Allerdings konnte Dew nicht genau sagen, worauf er hoffte: dass dieser Mr Robinson wirklich Dr. Crippen war, oder dass er unschuldig war und er, Dew, die Wahrheit über Coras Tod doch noch nicht kannte? Sie warteten, Seite an Seite, dass Billy Carter mit ihm zurückkam.
Hawley und Ethel waren damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen, als es an der Tür klopfte. Sie hatten nur drei Koffer mit auf die Montrose gebracht, in denen sich ihre gesamte weltliche Habe befand. Sonst hatten sie nichts mitnehmen wollen. Fast alles Mobiliar im Haus am Hilldrop Crescent hatte dem Vermieter Mr Micklefield gehört, und Hawley Crippen war noch nie sehr an materiellen Besitztümern gelegen gewesen. Ethel hatte ebenfalls beschlossen, den Großteil ihrer Sachen zurückzulassen. Als sie darüber nachdachte, war ihr bewusst geworden, dass fast alles, was sie besaß, von ihren Eltern stammte, und sie bisher aus einer merkwürdigen Sentimentalität daran festgehalten hatte. Alles, was sie wirklich brauchten, waren Kleidung und Geld, und von Letzterem hatten sie glücklicherweise genug. Hawley hatte über die Jahre eisern gespart und einen großen Teil seines Geldes vor Cora versteckt, und auch Ethel hatte gespart und ihr Erbe nicht angerührt. Es bestand keine Frage, dass sie sich in Kanada ein hübsches Haus kaufen und ihr neues Leben in aller Behaglichkeit beginnen konnten.
»Ich kann kaum glauben, dass wir fast da sind«, sagte Ethel und sah auf die Uhr, während sie einen der Koffer verschloss. »Es kommt mir vor, als hätte diese Reise ewig gedauert.«
»Gott sei Dank werden wir nach dem heutigen Tag keinen dieser Menschen je wiedersehen müssen«, sagte Hawley. Er war Ethel den ganzen Morgen über etwas abwesend vorgekommen, so als sei er mit seinen Gedanken ganz woanders.
»Und ich kann wieder eine Frau werden«, sagte sie. »Es war wirklich ganz unterhaltsam, so zu tun, als wäre ich ein Junge, aber jetzt habe ich genug davon. Ich glaube, ich werde meine Befreiung damit feiern, dass ich mir in Quebec ein paar neue Kleider kaufe.«
»Wir werden dort glücklich sein, oder?«, fragte er. »Ich kann dir vertrauen?«
»Natürlich kannst du das, Hawley. Warum stellst du nur so eine Frage?«
Er sah sie an und begriff, dass der Augenblick endlich gekommen war. All die Zeit hatte er gewartet und gebetet, dass sie ihm die Wahrheit sagte, doch seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Er liebte sie so sehr und musste Klarheit schaffen, bevor sie kanadischen Boden betraten. Lange hatte er überlegt, ob es lohnte, diese Büchse der Pandora zu öffnen, schließlich bestand die Möglichkeit, dass das, was sie freigab, irgendwann einmal zwischen sie trat. Aber war es besser, so zu tun, als kenne er die Wahrheit nicht?
»Wir müssen ehrlich miteinander sein, Ethel«, sagte er. »Das verstehst du doch? Von dem Moment an, da wir festes Land betreten, dürfen wir einander nie wieder belügen. Nur so kann unsere Beziehung überleben, und alles, was in der Vergangenheit war, nun, das ist jetzt Vergangenheit. Wir müssen nach dem heutigen Tag nicht wieder darauf zurückkommen. Aber wenn es vorher noch etwas gibt, was du mir erzählen willst, ist das jetzt der richtige Zeitpunkt.«
Sie sah ihn verblüfft an und zog die Nase kraus, so unverständlich erschienen ihr seine Worte. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. »Ich weiß nicht, wovon du redest, Hawley«, sagte sie. »Ich habe keine Geheimnisse vor dir.«
»Ich auch nicht vor dir, Ethel, und ich glaube, ich kenne alle deine Geheimnisse. Aber ich würde sie dennoch gern von deinen Lippen hören.«
Sie erschauderte. »Du machst mir Angst, Hawley«, sagte sie und konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Was ist mit dir? Bist du krank?«
»Nein, es geht mir gut«, sagte er, lächelte und legte die Arme um sie. »Denke nur immer daran, dass ich weiß, du liebst mich, und dass ich dich auch liebe und nichts uns trennen kann. Du hast so viel für mich getan. Wenn es sein müsste, würde ich mein Leben für deines geben.«
»Uns wird nichts trennen, Hawley«, sagte sie verwirrt.
Er legte die Arme fester um sie und drückte sie an sich, neigte den Kopf und hielt sie mit solcher Kraft, dass sie kaum mehr atmen konnte. Er drückte die Lippen auf ihr Ohr und flüsterte klar und schnell: »Ich weiß, was du getan hast, Ethel. Ich weiß, was du mit Cora gemacht hast.«
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was er da sagte, und sie riss die Augen weit auf, kämpfte gegen seine Umarmung an und versuchte, sich von ihm frei zu machen, aber er ließ sie nicht los. Sie konnte es nicht glauben und hatte fast Angst vor ihm, ganz so, als wäre er der Mörder von Cora Crippen und nicht sie, und bereitete sich gerade darauf vor, seiner Tat ein zweites Opfer hinzuzufügen.
»Hawley«, sagte sie, den Mund gegen seine Brust gedrückt. »Hawley, lass mich los.«
Endlich kam sie frei und stolperte rückwärts durch die Kabine. Sie war blass, ihr Haar rutschte unter Edmunds Perücke hervor, und sie schaffte es kaum, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie hatte Angst, dass er sie nun hasste, doch dann endlich wanderte ihr Blick zu ihm, und sie sah sein Lächeln. Sein Verständnis. Seine Dankbarkeit.
»Ist schon gut«, sagte er. »Ich habe es die ganze Zeit gewusst.«
»Woher?«, fragte sie und schnappte nach Luft. »Wie bist du dahintergekommen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Cora und ich waren lange verheiratet«, sagte er, »und du und ich, wir haben so viele Jahre in der Apotheke zusammengearbeitet. Glaubst du nicht, ich kenne den Unterschied zwischen euren Handschriften?«
»Ich verstehe nicht«, sagte sie und spürte, wie ihr die Beine schwach wurden.
»Der Brief, Ethel«, sagte er. »Der Brief, vorgeblich von Cora, in dem sie mir mitteilte, sie werde mich verlassen. Ich wusste, dass du ihn geschrieben hattest. Die ganze Zeit habe ich es gewusst.«
»Aber du hast nie etwas gesagt.«
»Weil ich hoffte, du würdest es mir von dir aus erzählen. Ich hoffte, du würdest mir genug trauen. Jetzt sage ich dir, dass du es kannst.«
Ethel schluckte. Er hatte es die ganze Zeit gewusst und für sich behalten? Es war unglaublich. »Seit wann?«, fragte sie endlich und setzte sich aufs Bett, um nicht zusammenzubrechen. »Seit wann genau weißt du es?«
»Seit dem ersten Abend, als ich bei dir geblieben bin, dem Abend, als du sie umgebracht hast. Ich bin aufgewacht, als du weggingst, habe gesehen, wie du dich anzogst und den Mantel und den Hut nahmst, und als du am Schlafzimmer vorbeikamst, sah ich auch den falschen Schnauzbart. Das war der erste Auftritt von Master Edmund Robinson, glaube ich. Wenn auch in einer älteren Version.«
»Hawley, nein …«
»Ich begriff nicht, was du vorhattest, also habe ich mich selbst schnell angezogen und bin dir gefolgt. Das Türschloss habe ich nicht einschnappen lassen, damit ich wieder hineinkonnte. Bis zum Hilldrop Crescent bin ich dir gefolgt und habe draußen gewartet. Ich sah, wie du noch auf der Straße ein Fläschchen herauszogst – es muss das Gift gewesen sein –, ganz offenbar dachtest du, niemand würde dich sehen. Ich begriff sofort, was du vorhattest, es war, als könnte ich deine Gedanken lesen.« Er neigte bedauernd den Kopf und setzte sich neben sie aufs Bett. »Ich wollte dich aufhalten«, sagte er, »aber gleichzeitig wollte ich, dass du es vollbrachtest. Ich wusste, nur so konnten wir zusammenkommen, und ich wusste auch, dass ich selbst niemals dazu fähig wäre.«
Tränen strömten Ethel über das Gesicht. »Ich habe es für dich getan«, sagte sie. »Für uns.«
»Ich weiß, und ich habe dich gelassen. Ich bin ebenso schuldig wie du.«
»Aber du hast nie etwas gesagt.«
»Ich hoffte, du würdest es mir von dir aus erzählen. An die Geschichte, Cora hätte mich verlassen, habe ich mich nur gehalten, weil ich darauf wartete, dass du mir die Wahrheit sagst. Inspector Dew habe ich belogen. Ich habe ihm gegenüber so getan, als wäre ich unschuldig, bin es aber nicht. Vielleicht war ich nicht der, der Cora getötet hat, Ethel, aber bei Gott, ich war so glücklich, sie tot zu sehen.«
»Hasst du mich nicht?«
»Wie könnte ich das?«
»Wegen dem, was ich getan habe. Es ist so ungeheuerlich.«
Hawley lachte. »Sie war das Ungeheuer«, sagte er und knirschte mit den Zähnen. »Sie hatte den Tod verdient. Ich dachte, du würdest vielleicht ahnen, dass ich Bescheid wusste.«
»Nein.«
»Wirklich, Ethel«, sagte er und neckte sie sanft, »die Sache mit der Hutschachtel. Das war schon etwas makaber, oder? Irgendwann dachte ich, ihr Kopf würde uns den Rest unseres Lebens begleiten.«
Ethel starrte ihn an und spürte, wie sie erschauderte. Auch wenn sie die Mörderin war, die Cora Crippen zerstückelt und vergraben hatte, kam ihr Hawley plötzlich noch unheimlicher und unheilvoller vor. Sie hatte ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen, um mit dem Mann zusammen sein zu können, den sie liebte. Sie hatte ihn vor der Wahrheit beschützt … und er hatte sie von Anfang bis Ende getäuscht und bewiesen, dass er ein noch besserer Lügner war als sie. Mit fast so etwas wie Amüsement hatte er ihren Schwindel verfolgt, so als wäre das Ganze kaum mehr als ein Spiel. Sie sah sich um, ob das Bullauge offen stand, weil es sich mit einem Mal anfühlte, als wäre die Kabine mit Eis gefüllt.
»Ich weiß nicht, ob ich dich verstehe«, sagte sie nervös. »Wie konntest du dein Wissen so für dich behalten?«
»Weil ich dich liebe, Ethel«, sagte er. »Und weil ich glaube, dass wir zusammen glücklich sein können. Wie ich weiß, dass auch du es glaubst. Wir sind füreinander die einzige Chance, glücklich zu werden, und ich würde mit Freuden mein Leben für dich geben, wenn ich müsste. Ich hatte nur gehofft, du würdest mir genug vertrauen, um mir die Wahrheit zu sagen. Die ganze Reisezeit habe ich dir gegeben. Heute Morgen erst habe ich begriffen, dass du es für dich behalten würdest, und ich möchte keine Geheimnisse zwischen uns.«
»An dem Tag, als Inspector Dew da war«, sagte sie, »und du draußen unter dem Baum standest. Da wusstest du Bescheid?«
»Gezittert wie Espenlaub habe ich, weil es so kalt war im Regen, und ich musste so tun, als verstünde ich, warum du ihn allein sehen wolltest. Ich dachte die ganze Zeit, dass uns nur noch ein paar Tage blieben, um aus London zu verschwinden. Hättest du es nicht vorgeschlagen, hätte ich es getan. Wir haben immer in die gleiche Richtung gedacht, Ethel, nur, dass du es nicht wusstest. Wir sind gleich, du und ich. Es beweist, wie sehr wir zusammengehören.«
Sie schluckte. Zum ersten Mal fühlte sie so etwas wie Schuld wegen dem, was sie getan hatte. Einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. In ihrem Magen rumorte es, und sie spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie dachte an die Art, wie sie die Tat begangen hatte, an ihre Gefühllosigkeit und die grausige Weise, wie sie sich der Leiche entledigt hatte. Das ist aus mir geworden? So etwas kann ich aus Liebe tun? Die Wände der Kabine schienen näher zusammenzurücken, und sie dachte, wenn sie noch einen Augenblick länger mit Hawley hier drinbliebe, müsste sie ohnmächtig werden. Sie stand auf, um auf Deck hinauszugehen, an die frische Luft, wurde aber durch ein Klopfen an der Tür aufgehalten. Hawley sah sich gereizt um.
»Wer kann denn das jetzt sein?«, murmelte er. »Hallo?«
»Mr Robinson, ich bin’s, der Erste Offizier, Carter«, rief es von draußen. »Kann ich Sie bitte kurz sprechen, Sir?«
»Im Moment ist es etwas ungünstig«, rief Hawley. »Kann es nicht warten?« Er sah Ethel an und wurde sich bewusst, wie sehr sich ihr Gesicht verändert hatte. Sie schien sich nicht länger auf Kanada zu freuen, sondern sah aus, als fühlte sie sich betrogen. »Was ist?«, fragte er.
»Ich fürchte, nein, Sir«, rief Carter. »Wenn Sie bitte die Tür öffnen könnten.«
Er seufzte. »Ich erledige das wohl besser«, sagte er zu Ethel. »Bist du in Ordnung?«
Sie zuckte mit den Schultern und zog ihre Perücke zurecht. »Jaja«, sagte sie mit völlig tonloser Stimme. »Lass uns in Kanada ankommen und dort alles besprechen.«
Er sah sie an, und sein Gesicht füllte sich mit Sorge. »Ich habe das Richtige getan, oder?«, fragte er. »Dass ich es dir gesagt habe, meine ich.«
»Ich nehme es an«, sagte sie und war völlig verunsichert.
»Mr Robinson!«
»Ich komme ja schon«, rief er und sagte zu Ethel gewandt: »Sehen wir, was er will. Wir reden hinterher weiter.«
Er ging zur Tür und öffnete sie. »Ja?«, fragte er. »Was kann ich für Sie tun?«
»Es tut mir leid, dass ich störe, aber Kapitän Kendall möchte Sie sprechen.«
»Geht das denn nicht später? Mein Sohn und ich sind mitten in einem wichtigen Gespräch.«
Billy Carter blickte in die Kabine und sah Edmund Robinson dastehen, das Gesicht tränennass und völlig verloren, so als nehme er kaum etwas um sich herum wahr. Wie sehr er doch wie eine Frau aussieht, dachte Carter. Es war so offensichtlich. Hinweise darauf hatte es genug gegeben, dennoch war es ihm nie bewusst geworden. Alle nahmen an, dass Edmund Robinson ein junger Mann war, also hatte es so sein müssen.
»Ich fürchte, nein, Sir«, sagte er. »Wenn Sie bitte mit mir kommen könnten.«
Mr Robinson zögerte, sah ihn einen Moment lang unwillig an und gab dann nach. »Ich ziehe nur schnell meinen Mantel an«, sagte er und nahm ihn vom Haken hinter der Tür. »Ich bin gleich wieder da, Edmund. Wir reden später weiter.«
Ethel nickte und sah zu, wie er hinausging. Zum ersten Mal, seit sie Hawley kannte, wusste sie nicht zu sagen, ob sie ihm trauen konnte, und wünschte sich tausend Meilen von diesem Ort weg. »Was habe ich getan?«, fragte sie sich laut. »Was habe ich getan?«
Im Gang wurden sie von Mrs Antoinette Drake und ihrer Tochter Victoria aufgehalten, die Mr Robinson angewidert ansah, selbst noch, als sie stehen blieben, um mit dem Ersten Offizier zu sprechen.
»Oh, einen guten Tag, Mr Carter«, sagte Mrs Drake. »Wie schön, Sie zu sehen.«
»Mrs Drake«, sagte er mit einem kurzen Nicken und hoffte, schnell an ihr vorbeizukommen.
»Wir müssen Kanada mittlerweile ziemlich nahe sein.«
»Ein paar Stunden noch, und wir sind da. Das Beste ist, Sie packen Ihre Sachen schon einmal zusammen, würde ich sagen.«
»Aber wir haben angehalten«, knurrte Victoria.
»Wie bitte?«, fragte Mr Robinson.
»Wir haben angehalten«, wiederholte sie. »Das Schiff fährt nicht weiter.«
»Sie hat recht«, sagte Mrs Drake, die allein zu Billy Carter sprach. Sie hatte Mr Robinson sein Verhalten ihr gegenüber vor ein paar Tagen immer noch nicht vergeben, und es ärgerte sie, dass er ihr seitdem aus dem Weg gegangen war und sich noch nicht einmal entschuldigt hatte.
»Wir sind nur langsamer geworden«, sagte Carter schnell. »Das ist normal, wenn man sich einem Hafen nähert.«
»Wir sind nicht nur langsamer geworden«, sagte Victoria. »Wir fahren nicht weiter. Wozu das denn wohl?«
Sie standen einen Moment lang da und sahen sich an, während Carter versuchte, sich einen plausiblen Grund einfallen zu lassen. Zum Glück sprangen genau in diesem Moment die Maschinen wieder an, und das Schiff setzte sich mit einem Zittern in Bewegung, was es problemlos konnte, da Inspector Dew sicher an Bord war. »Sehen Sie?«, lächelte er. »Es war nur ein kurzer Stopp, nichts sonst. Schon geht es weiter.«
Er wollte ebenfalls weitergehen, aber Mrs Drake hielt ihn am Arm fest. »Und wohin bringen Sie Mr Robinson?«, wollte sie wissen, weil sie fürchtete, von etwas ausgeschlossen zu werden.
»Zum Kapitän.«
»Warum?«
»Ich fürchte, es handelt sich um eine Privatangelegenheit, Mrs Drake«, sagte er. »Nichts, weswegen Sie sich Sorgen machen müssten.«
Mr Robinson runzelte die Stirn. Er war vorhin noch ganz bei seinem Gespräch mit Edmund gewesen und fragte sich jetzt selbst, warum Kapitän Kendall ihn sehen wollte. Wahrscheinlich wollte er ihn nur bei sich haben, während sie sich Quebec näherten. Kendall hatte sich während der Reise bemüht, Zeit mit Hawley zu verbringen, was dem mehr und mehr auf die Nerven gegangen war. Er hielt den Kapitän für einen öden Langweiler, den nur zwei Dinge zu interessieren schienen: das Meer und der Gesundheitszustand eines ehemaligen Offiziers der Besatzung, über den er ständig reden musste.
»Nun, ich würde annehmen, dass wir Sie später noch an Deck sehen, Mr Carter«, sagte Mrs Drake zweifelnd und fragte sich, wovon sie da wohl ausgeschlossen wurde.
Sie gingen weiter, und Mr Robinson war sich bewusst, dass ihm sowohl Mrs Drake als auch Victoria argwöhnisch hinterherblickten. Als sie die Stufen zum Deck hinaufkamen, sah er Martha Hayes bei Matthieu Zéla sitzen und wandte schnell den Blick ab, da er mit den beiden jetzt nicht reden wollte. Doch so viel Glück war ihm nicht vergönnt. Sie kamen so nahe an ihnen vorbei, dass Martha sich umdrehte und sie ansprach.
»Ist es nicht aufregend?«, sagte sie. »Wir sind nur noch ein paar Stunden von unserem neuen Leben entfernt. Ich kann es kaum abwarten, kanadischen Boden zu betreten.«
»Ja«, sagte Mr Robinson. »Wir alle warten darauf, denke ich.«
»Gibt es ein Problem, Mr Carter?«, fragte Matthieu und sah den Ersten Offizier an, der unbedingt weiterzuwollen schien und von einem Fuß auf den anderen trat, als wäre seine Blase übervoll.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte Carter genervt. »Wir müssen nur zum Kapitän, das ist alles.«
»Mr Robinson, was ganz wundervoll ist«, sagte Martha und nahm seine Hand. »Monsieur Zéla und ich, Matthieu, meine ich, nun, er hat mich eingeladen, ein paar Wochen bei ihm und Tom in Quebec zu bleiben. Er braucht eine Assistentin bei einer Unternehmung und hat mir die Stelle angeboten. Bis ich auf eigenen Füßen stehen kann, verstehen Sie.«
»Meinen Glückwunsch«, sagte Mr Robinson. »Dann scheint es ja tatsächlich so zu sein, dass Sie auf dieser Reise Ihr Glück gefunden haben.«
»Wie auch ich«, sagte Matthieu. »Ich bin froh, einen erwachsenen Menschen an meiner Seite zu haben, da ich annehme, dass mir Tom mehr und mehr Schwierigkeiten bereiten wird. Mir graut bei dem Gedanken, was die nächsten ein, zwei Jahre seines Lebens mit sich bringen werden.«
»Damit habe ich nichts zu tun.« Martha lachte. »Ich habe nicht vor, den Mutterersatz für jemanden zu spielen.«
»Mr Robinson, wir sollten wirklich sehen, dass wir zum Kapitän kommen«, sagte Billy Carter.
»Natürlich. Ich sehe Sie beide später.«
»Auf Wiedersehen, Mr Robinson«, sagte Martha, sah wieder in Richtung Land und wartete darauf, dass der Hafen in Sicht kam.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte Matthieu leise, als die beiden weggingen, »haben sie ihn endlich erwischt.«
»Erwischt?«, fragte sie. »Wobei erwischt?«
»Nun«, sagte er, »wo wir fast in Quebec sind, dürfte es keinen Schaden anrichten, wenn ich es Ihnen verrate.« Sie beugte sich vor, als er ihr eröffnete, was er wusste.
»Gehen wir nicht auf die Brücke?«, fragte Mr Robinson überrascht, als Billy Carter ihn nicht zum gewohnten Aufenthaltsort des Kapitäns führte.
»Heute nicht, Sir, nein«, sagte der Erste Offizier. »Der Kapitän ist in seiner Kabine.«
»Er will mich in seiner Kabine sprechen? Kommen Sie, Mr Carter, können Sie mir nicht sagen, was das alles zu bedeuten hat?«
»Das kann ich wirklich nicht, Sir. Aber wir sind fast da. Wir müssen nur noch diesen Niedergang hinunter.«
Sie gingen hinunter zu den Mannschaftsquartieren, aber vorher sah Mr Robinson noch Tom DuMarqué, der sich in einer Ecke herumdrückte und zu ihm herüberblickte wie ein Geier, der wartet, dass ein Tier endgültig zu Boden geht, um sich daraufzustürzen und sich an dem noch warmen Fleisch gütlich zu tun. Seine dunklen Augen trafen sich mit denen von Mr Robinson, und der Mund des Jungen verzog sich zu einem Knurren, das erkennen ließ, wie sehr er ihn verabscheute. Aber das war nichts im Vergleich zu der Wut, die Mr Robinson verspürt hatte, als er Tom Edmund hatte angreifen sehen. Er wandte den Blick ab und ging weiter.
Mr Robinson war überrascht, zwei kräftige Besatzungsmitglieder vor der Kabine des Kapitäns stehen zu sehen, sagte aber nichts dazu. Sie traten zur Seite, als Billy Carter an die Tür klopfte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis von drinnen die Aufforderung kam, einzutreten. Carter öffnete die Tür und ging hinein, gefolgt von Mr Robinson, der freundlich an ihm vorbeisah.
»Kapitän«, sagte er, »Sie wollten mich sprechen.«
Kapitän Kendall nickte, und die Tür schloss sich hinter Mr Robinson. Kendall nickte erneut, diesmal zu einer Gestalt hinüber, die sich hinter seinem Besucher befand. Mr Robinson drehte sich um, um zu sehen, wer dort stand, und einen Moment lang erkannte er das Gesicht nicht. Natürlich erinnerte er sich, aber es kam so unerwartet und ohne jeden Zusammenhang, dass er ein paar Sekunden brauchte, um zu begreifen, wen er da vor sich hatte. Als er es tat, verspürte er eine Mischung aus Schrecken und Ruhe, so als wäre das Schlimmste eingetreten, und er fände endlich seinen Frieden.
»Dr. Hawley Crippen«, sagte Inspector Dew, trat vor und streckte die Hand höflich aus, als wären sie alte Bekannte. Auf seinem Gesicht war eine große Erleichterung zu erkennen, dass er den Mann endlich gefunden hatte. »Ich hoffe, Sie erinnern sich an mich. Ich bin Inspector Walter Dew von Scotland Yard.«
»Ich erinnere mich an Sie«, antwortete Hawley ruhig, »und in gewisser Weise bin ich froh, dass es vorbei ist.«