Zwölftes Kapitel
Es war der mit Abstand verrückteste Plan, an dessen Umsetzung ich jemals mitgearbeitet hatte. Hätte mir jemand davon erzählt, ich hätte ihn für irre gehalten und zu einem Psychiater geschickt. Der Plan basierte allein auf der Voraussetzung, daß die beiden Hauptbeteiligten moralisch gesehen Schweine waren. Von Julius Berner wußten wir, daß er auf einigen Lebensfeldern durchaus ein netter und anständiger Kerl war, und ich ging davon aus, daß es sich bei Martin Kleve ähnlich verhielt. Doch die beiden standen unter ungeheurem Druck. Es ging um ihre Existenz, und zwar nicht um ihre wirtschaftliche Existenz, denn Geld brauchten sie seit Jahren nicht mehr, davon hatten sie genug, es vermehrte sich automatisch. Es ging um ihre Machtpositionen im gesellschaftlichen Umfeld, es ging um die hohe berufliche Anerkennung, die sie genossen, es ging um ihre Wichtigkeit, es ging um sie selbst und ihren untadeligen Ruf als Profis.
Der Notarzt spritzte Trierberg ein mildes Beruhigungsmittel und verschwand wieder.
»Ich bin dafür«, sagte der Zöllner energisch, »daß wir den Druck auf Kleve so weit erhöhen, daß er dem Verlangen, hierher zu kommen und zu töten, nicht mehr widerstehen kann. Wie kann das funktionieren?«
»Sag mal«, meinte Emma, »wie heißt du eigentlich?«
»Egbert«, antwortete er. »Wie kriegen wir den Druck so hoch?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit.« Emma biß herzhaft in eine Scheibe Schwarzbrot. »Kleves Schwachpunkt wird seine Frau sein. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie genauso geldgeil wie Kleve selbst. Wenn er sie nicht mehr kontrollieren kann, wenn ...«
»Wir müssen sie festnehmen«, nickte Rodenstock mit neuem Elan. »Na sicher, das ist es, wir müssen sie von der Bildfläche verschwinden lassen.«
»Das hört sich gut an. Spielen wir das mal durch«, murmelte der Zöllner namens Egbert. »Wir brauchen die Hilfe der Staatsanwaltschaft in Trier und die der in Düsseldorf. Außerdem eine Menge technischen Kram. Das übernehmen meine Leute. Wir benötigen einen Haufen Handys, damit jeder so ein Ding hat, und eine eigene Nummer für Standleitungen. Es gibt massenweise zu tun, Leute.«
Wenig später durften Emma, Rodenstock und ich gehen. Wir hatten genau umrissene Aufgaben zu erledigen und sollten zunächst zu Julius Berner fahren, weil Kischkewitz und Egbert davon ausgingen, daß er uns gegenüber offener sein würde als gegenüber der Mordkommission.
Und alles mußte sehr schnell gehen, Schnelligkeit war ein entscheidender Faktor. Egbert hatte gemeint: »Wenn wir ihnen zuviel Zeit geben nachzudenken, sind wir schon vor dem Start im Eimer.«
Inzwischen war es stockdunkel, die Luft war feucht, aus dem Tal stieg sanft Nebel und sah aus wie ein weißes, waberndes Tuch. Die Eifel deckte sich zu. Ich hatte schon feurig rote Ahornblätter gesehen, der Sommer war sehr kurz gewesen, der Herbst fiel ein, und wir hatten noch nicht einmal das Erntedankfest erreicht. Wenige Tage Hitze, dann der Absturz um gute fünfzehn Grad, dann Regen, jetzt Nebel und rote Blätter.
Als ich auf der schmalen Veranda stand, seufzte ich: »Oh Herr, der Sommer war sehr kurz. Kannst du nicht Dinah bringen? «
»Das ist fest geplant«, nickte Emma. »Morgen früh hole ich sie.«
»Ich freue mich auf sie«, murmelte Rodenstock. »Jetzt gib mir deine Hand, Weib, und führe mich zu Tal.«
»Möglicherweise machen wir einen Fehler«, überlegte Emma. »Wir gehen davon aus, daß Kleve das Oberschwein ist und Berner nur Schwein Nummer zwei. Was ist, wenn Berner viel mehr auf dem Kerbholz hat als Kleve? Dann machen wir den Bock zum Gärtner ...«
Rodenstock unterbrach sie. »Wir haben nur diesen einen Versuch, zerrede ihn nicht. Daß du klug bist, wissen wir.«
»Danke«, äußerte sie spitz, aber sie schwieg.
Wir fuhren hinunter nach Birresborn und bogen im Kylltal nach Mürlenbach ab. Den Wagen ließen wir links neben der Burg stehen und gingen den Rest des Weges zu Fuß.
Als wir bei Berner schellten, war es elf Uhr, es regnete wieder, und der Wald triefte vor Nässe.
Stefan Hommes empfing uns an der Haustür. Er sah schlecht aus. »Er ist drin und wartet auf euch. Bevor er kam, haben Techniker alles installiert. Wanzen, Tonbänder und Fangschaltungen. Alles funkgesteuert. Oh, ich habe ein Scheißgefühl. Er sitzt da und brütet vor sich hin. Wollt ihr ein Bier?«
»Ein Bier für mich«, nickte Rodenstock.
»Ein Sekt vielleicht«, sagte Emma. »Und beruhige dich, mein Junge. Weißt du, wo Andreas Ballmann ist?«
»Auf Jagen zweihundertzehn. Ziemlich nah hier beim Haus. Braucht ihr ihn?«
»Wir brauchen ihn«, sagte ich. »Sofort. Aber Berner soll ihn nicht sehen.«
Stefan Hommes ging vor uns her, öffnete die Tür zu dem riesigen Raum und sagte: »Die drei sind da, Chef.«
»Gut. Bring was zu trinken, Stefan.«
»Klar, Chef.«
»Kommen Sie, meine Herrschaften, setzen Sie sich.«
Berner hatte sich den Kamin anzünden lassen, das Holz prasselte leise und roch gut.
»Wissen Sie jetzt, wer Cherie getötet hat?« fragte Emma.
»Nein«, sagte er. Er wirkte wie ein kleiner müder alter Mann, der sich in seinem Ohrensessel verkriecht.
»Aber Sie ahnen es«, hakte Rodenstock nach.
Julius Berner sah ihn. »Muß ich das?« Er hatte ein Pokergesicht.
»Selbstverständlich«, sagte Emma hell. »Nun hören Sie schon auf, Martin Kleve zu verheimlichen. Sie haben es doch eigentlich nicht nötig, so zu tun, als seien Sie ein Heiliger. Sie sind keiner, Sie waren keiner und Sie werden nie einer sein. Natürlich haben Sie sofort an Martin Kleve gedacht. Und er tötete sie tatsächlich. Nehmen Sie das als verbindlich zur Kenntnis.«
Berner starrte in das Feuer. »Das ist merkwürdig. Ich habe in früheren Jahren gedacht, daß alles einmal zu Ende sein wird, weil er Fehler macht. Den Gedanken habe ich inzwischen verdrängt, ich habe gedacht, wir können gar keine Fehler mehr machen. Ich glaubte, daß Kleve perfekt ist.«
»Er ist ein perfekter Killer«, nickte ich. »Haben Sie eine Ahnung, warum er Narben-Otto umgebracht hat?«
»Habe ich nicht«, sagte er, und es klang glaubwürdig.
»Er hat ihn umgebracht, weil er entdeckte, daß Cherie Narben-Otto alles Mögliche erzählt hat, und ...«
»Warum sollte sie Narben-Otto etwas erzählen? Und was?«
»Er hat ihr ein Kind abgetrieben. Ein Kind von Ihnen. Sie wollte es nicht. Sie haben ihr viel von Martin Kleve erzählt, nicht wahr?«
Berner legte die Fingerspitzen aneinander. »So ziemlich alles.«
»Sie hat versucht, Kleve um eine Million zu erpressen. Er ist in die Eifel gekommen und hat sie deshalb getötet.«
»Das glaube ich nicht«, behauptete er, aber er glaubte es in Wahrheit doch. Langsam und unerbittlich sickerte die Erkenntnis in ihn hinein und fraß an seiner Seele.
»Warum haben Sie die Polen engagiert, Ballmann zu töten?« fragte Emma. »Das war so schrecklich sinnlos.«
»Das habe ich nicht. Ich habe die drei gebeten, sich Ballmann vorzunehmen, ihn zu verscheuchen, zu ... zu verprügeln vielleicht. Aber nachts ist Kleve gekommen und hat ihnen zehntausend Mark gegeben. Jedem. Und er hat gesagt: Tötet den Mann! So ist das gelaufen. Und ich merkte, Kleve dreht durch, Kleve fängt an zu versagen. Was ist mit Mathilde? Hat er auch Mathilde getötet?«
»Nein«, murmelte Rodenstock. »Das war ihr Mann, der soviel von Ihrem Katholizismus hielt. Sie waren sein Vorbild. Nun brauchen wir Ihre Hilfe. Zunächst einmal eine Beschreibung von Kleves Frau.«
»Hah, die Walburga.« Er zeigte plötzlich eine Spur des alten Berner, plötzlich war Bewegung in seinem Gesicht, richtige Anteilnahme. Und er lächelte. »Das ist mit Abstand die furchtbarste Frau, die ich kenne, und ich kenne eine Menge Frauen. Wir sehen uns selten, manchmal ein Jahr lang nicht. Sie ist blond und hat eine Figur wie aus einer Wagner-Oper entsprungen, sie ist eben eine echte Walburga, eine richtige teutonische Frauenkampfmaschine. Sie macht auf Mutti, aber sie ist so wenig Mutti, daß ihre Kinder, wenn die mal Kummer haben, mich anrufen. Sie ist behängt mit Gold, kiloweise, und mit echten Steinen. Sie hat mal zu mir gesagt, daß sie an Sex nicht interessiert sei, das einzige, was sie interessieren würde, sei Bargeld. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Kleve mit der leben kann. Aber er ist eigentlich genauso geldgeil, in dem Punkt treffen sie sich. Rodenstock, sagen Sie mal: Hat Cherie wirklich ein Kind von mir abgetrieben? Bei Narben-Otto? Und sie hat wirklich versucht, Kleve zu erpressen?«
Rodenstock antwortete darauf nicht, sondern sagte: »Sie wissen selbst, daß Sie sich hier ein Traumreich aufgebaut haben, eine Maske, eine Menge falscher Kulissen. Sie haben Cherie in den Stand der Heiligen Jungfrau Maria geschoben. Doch es scheint, als sei sie eine Ratte gewesen. Eine Ratte mit großer Gewalt über Sie. Kleve hat das begriffen. Wahrscheinlich von Anfang an. Sagen Sie mir, Berner, wieviele Ihrer steuerzahlenden Kollegen haben Sie im Laufe der Jahre an die Bullen und das Finanzamt verpfiffen? Die ungefähre Zahl würde mich interessieren.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er in nichtssagendem Ton. »Es ging über Jahre, und ich hatte gar keine andere Wahl. Kleve hatte mich fest in der Hand, und ...«
»Berner«, unterbrach Emma. »Die ungefähre Zahl wollen wir wissen.«
»Zweihundert, vielleicht dreihundert. Ich habe nicht Buch geführt, Kleve setzte mich auf die Fälle an, ich erledigte sie.«
»Was glauben Sie, wieviele Unschuldige waren darunter? Die Hälfte?«
»Kann sein.«
»Sie haben auch Konkurrenten auf die Art aus dem Geschäft gestoßen, nicht wahr? Wieviel?« Rodenstock fragte monoton, als interessiere es ihn eigentlich nicht.
»Ich weiß das wirklich nicht mehr.«
»Sie regen mich langsam auf.« Emma zündete sich einen ihrer holländischen Zigarillos an. »Was macht Sie eigentlich so sicher?«
Berner starrte wieder in das Feuer. Sein Gesicht wirkte müde, und in den Augen stand Resignation. »Die Grundidee von Kleve war schlicht genial. Der Staat, Vater Staat, baute eine Falle für säumige Steuerzahler auf. Ich war sozusagen der Kasten der Falle. Dafür erhielt ich Privilegien. Wenn es zu einem Verfahren gegen mich kommt, wird herauskommen, daß ich diesem Vater Staat jedes Jahr Hunderte von Millionen Mark einbrachte. Und das ist nicht schädlich, das war ein Polizistentrick. Der Staat kann sich gar nicht erlauben, uns vor Gericht zu stellen.«
»Der Skandal wird Sie töten«, stellte Emma fest. »Kleve ist wegen Mordes dran. Mindestens wegen Absprache.«
»Genau das ist nicht sicher«, schnappte Berner zurück. »Genau das nicht, meine Verehrteste. Und selbst wenn: Wir werden auf freiem Fuß bleiben und jede Rechtsmöglichkeit ausschöpfen. Ist es eigentlich wahr, daß die meisten aus der Clique, meine Kinder ... meine jungen Freunde, auch als Drogenkuriere gearbeitet haben?«
Ich hielt den Atem an, und ich sah, daß Rodenstocks rechte Hand sich verkrampfte. Emma war so verblüfft, daß ihr Rauch vom Zigarillo unkontrolliert in die Lunge geriet. Sie begann bellend zu husten.
»Das stimmt«, sagte Rodenstock gleichgültig. »Das ist ein winziges Detail, das irgendwann in einer Verhandlung eine Rolle spielen wird. Aber es spielt keine große Rolle.«
»Das denke ich aber schon.« Berner versuchte Punkte zu sammeln.
Stefan Hommes kam herein. Er schob einen Servierwagen vor sich her. »Ich habe Brote gemacht«, sagte er tonlos. »In dem Topf da sind heiße Würstchen. Sie müssen endlich etwas essen, Chef.«
»Stefan, mein Guter«, sagte der zittrig. »Das alles übersteigt dein Fassungsvermögen, ich weiß. Aber du bist solidarisch, du bist treu, ich werde dich belohnen.«
Stefan Hommes neigte betroffen das Haupt. Er sagte: »Danke schön, Chef.« Dann ging er wieder hinaus.
»Die Eifler sind wirklich wunderbar«, hauchte Berner. »Ich werde ihm eine lebenslange Beschäftigung geben.«
»Die könnte kurz sein«, sagte Rodenstock scharf. »Wird die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen über diesen Skandal stürzen?«
»Ich denke, ja. Erst der Finanzminister, dann der Justizminister, schließlich der Boß. Ja, das gibt Lärm.«
»Und wahrscheinlich werden Sie derweil auf Hawaii sitzen und die Zeitung lesen.« Emma klang bitter.
»Bestimmt nicht«, widersprach Berner. »Ich bin überhaupt nicht am Ausland interessiert. Als Finanzplatz, gut in Ordnung, aber nicht als Wohnsitz. Ich bin ein Deutscher, und ich bin stolz darauf, wenn ich das so formulieren darf ...«
»Und Ihre Frau?« fragte Emma.
»Die wird zu mir halten. Bis daß der Tod euch scheidet. Ich flüchte nicht, ich werde hierbleiben und meine Sache vertreten. Ich habe im Auftrag des Staates gehandelt. Der ermordete Präsident Kennedy hat mal gesagt, wir müßten überlegen, was wir für dieses Volk tun können. Ich habe sehr viel getan für mein Volk.«
Es verschlug mir den Atem, machte mir einen trockenen Mund.
»Hat denn Kleve Sie nicht informiert, daß er Cherie getötet hat?« fragte Rodenstock.
»Nein.«
»Aber Sie haben es geahnt, nicht wahr?«
»Ja, aber ich mußte schweigen.«
»Und wissen Sie, daß er Sie jetzt liebend gern erschießen würde?«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil Sie zuviel wissen«, murmelte Rodenstock. »Weil Sie zu redselig waren. Sie haben Cherie blind vertraut, und sie hat Sie verraten. Jeden Tag einmal. Mein Gott, Sie sind ein unmoralisches und bigottes Schwein, nichts sonst.«
»Ich denke, das reicht jetzt. Verlassen Sie mein Haus.«
»Warum denn?« fragte Emma scharf. »Das ist Ihnen unangenehm, nicht wahr? Richtig peinlich. Da bleibt von dem Strahlemann nichts übrig, da wird die Legende Berner zerstört. Was schätzen Sie, wieviel Geld hat Kleve mit Ihnen verdient?«
»Genug vermutlich. Da fällt mir ein: Kleve wird vermutlich ins Ausland gehen. Er ist der Typ dazu.«
»Verachten Sie ihn? Wieviele Hirsche haben Sie ihm geschenkt? Wissen Sie wenigstens das?«
»Ja, genau. Vierzehn waren es. Achtender, makellos. Er ist ganz verrückt danach.«
Wir mußten ihn zum eigentlichen Thema zurückbringen, ich fragte: »Noch einmal zu Narben-Otto. Hat er Sie eigentlich auch erpreßt?«
Berner wartete mit der Antwort ein paar Sekunden zu lang. »Ich weiß nicht, ob ich das Erpressung nennen soll. Er kam her, wenn ich hier war. Und er war geil darauf, mir indirekt mitzuteilen, was er alles wußte. Forderungen stellte er nicht. Er sagte so Sätze wie: Ich muß meinen Lebensabend auf Mallorca vorbereiten. Dann schob ich ihm einen Scheck rüber. Mehr war da nicht.«
»Was stand denn auf so einem Scheck?« fragte Emma.
»Mal zehn-, mal zwanzigtausend. Es läpperte sich, aber im Grunde war es Pipifax. Jetzt muß ich mal was fragen: Hat Narben-Otto wirklich Abtreibungen durchgeführt? Auch bei den Frauen meiner jugendlichen Clique?«
»Er nahm fünftausend pro Eingriff«, erklärte Emma nüchtern. »Und ich nehme einmal an, Sie haben das finanziert, ohne zu wissen, was Sie da bezahlten. Sehen Sie, Berner, ein Geistesriese sind Sie wirklich nicht. Und jetzt tun Sie doch nicht so. Warum sagen Sie nicht gleich, daß Sie es waren, der Narben-Otto bestraft hat? Sie haben plötzlich gerochen, was dieses Schwein Ihnen antat. Sie haben ihn in den Steinbruch geworfen! Nein, nein, suchen Sie nicht nach einem Ausweg. Der Fall Narben-Otto war immer etwas nebelhaft, der paßte irgendwie nicht. Jetzt paßt er.«
Das Prasseln des Feuers war das einzige, was zu hören war.
»Sie müssen es jetzt nicht zugeben«, murmelte Rodenstock väterlich. »Zwei Staatsanwaltschaften werden Sie ganz langsam weichkochen. Stundenlang, tagelang, über Monate hinweg. Sie werden nicht mehr wissen, ob Sie Weibchen oder Männchen sind. Ihre Frau wird Ihnen Luxusessen aus dem nächsten Vier-Sterne-Hotel bringen, und jeder Bissen wird Ihnen im Maul steckenbleiben, weil Ihnen wirklich niemand mehr glaubt, weil Ihnen Ihre Macht abhanden gekommen ist. Und weil die Clique Ihrer jungen Verehrer böse über Sie lästern wird. Die jungen Luxusleutchen werden Sie Stück um Stück verpfeifen.«
Es war wieder still. Ich stopfte mir die Savinelli, die mich so ungeheuer großväterlich macht. Emma schaute ins Feuer und machte den Eindruck, als würde sie gleich ein Nickerchen halten wollen. Rodenstock goß sich ein Bier ein und öffnete dann eine Flasche Champagner, um Emma etwas einzugießen. Dabei fragte er: »Sagen Sie, haben Sie Bitterschokolade im Haus? Kaffee, einen guten Kognak und vielleicht eine Havanna? Sie sind ein reicher Mann, reiche Männer haben immer eine Havanna.«
Berner sah Rodenstock etwas verwirrt an. »Natürlich habe ich das alles. Moment.« Er nahm einen Hörer von einem Telefon mit vielen Knöpfen. »Stefan, ich habe hier eine Bestellung ...«
Dann war es erneut still.
Rodenstock hatte mir einmal erklärt, daß beim Verhör sehr mächtiger Leute nichts so wirkungsvoll ist wie ein langes Schweigen. Er hatte gesagt: »Und du wirst an ihren Augen erkennen, daß es ihnen Streß bereitet, ungeheuren Streß.«
»Es war wie im Rausch. Narben-Otto hat meine kleine Geliebte kaputtgemacht, er hat sie versaut, er hat ihren Leib gesehen, nackt und schutzlos. Er hat, er hat ... er hat in ihr rumgefummelt. Er wollte wieder mal ein paar tausend Mark. Ich habe ihn zum Steinbruch bestellt, ich ...«
Schweigen. Ein Ast im Kamin knallte wie ein Schuß, vermutlich eine Wasserblase.
Stefan Hommes brachte auf einem Silbertablett alles, was Rodenstock erbeten hatte. Der Wildhüter lächelte: »Für einen Beamten hast du aber einen merkwürdigen Stil entwickelt.« Dann spürte er die Spannung im Raum, stellte das Tablett hastig ab und ging hinaus.
Rodenstock goß sich einen kräftigen Schluck Kognak ein, schnitt die Zigarre zurecht, tat einen Hauch Zucker in den Kaffee und begann mit einem kleinen Stückchen Bitterschokolade. Er schloß die Augen vor Wonne, als er erst vom Kognak trank und dann vom Kaffee. Endlich qualmte die Havanna. Emma betrachtete ihn mit funkelnden Augen.
»Ich nehme an«, sagte Berner endlich unruhig, »daß ich nun verhaftet werde.«
»Zunächst nicht«, sagte Emma und blies Rauch über den Tisch. »Zuerst müssen Sie uns einen Gefallen tun. Das heißt, eigentlich zwei Gefallen. Ich hätte gern einen Barscheck auf den Namen Stefan Hommes. Spenden Sie reichlich, er hat es verdient.«
Berner nickte sofort, wahrscheinlich wäre er auch von sich aus auf diese Idee gekommen. »Und Punkt zwei? Was ist Punkt zwei?«
»Sie müssen sich von Kleve erschießen lassen«, sagte Emma, und sie wirkte eindeutig erheitert.
Zehn Minuten später fuhren wir nach Brück. Es hatte nicht mehr aufgehört zu regnen, und ich fuhr langsam, weil ich den Eindruck hatte, daß mein Kreislauf schwankte.
Wir gingen ins Haus, und jeder suchte sich ein Versteck. Auf die aufgeregten Fragen von Jenny und Enzo, was denn geschehen sei, hatten wir nur einsilbige Antworten. Ich hatte die beiden schlicht aus meinem Bewußtsein verdrängt und hätte beinahe gefragt: »Was macht ihr denn hier?«
Ich zog mich nicht einmal aus, legte mich in Kleidern auf das Bett, und starrte gegen die Decke. Ich hatte meinen Anrufbeantworter nicht abgehört, wußte nicht, ob noch ein Stück Brot im Haus war, hatte meine Post nicht durchgesehen, und im Grunde war mir das alles gleichgültig. Ich weiß nicht, wann ich einschlief.
Um sieben Uhr stand Emma in der Tür: »Du mußt aufstehen, es wird ein heißer Tag. Ich hole jetzt Dinah aus dem Krankenhaus. Hast du ein paar Blumen im Garten?« Dann ging sie.
Ich konnte nicht ins Badezimmer, weil Rodenstock sich landfein machte. Also zog ich einen Trainingsanzug an und ging zunächst in den Garten. Erst hockte ich ein paar Minuten am Teich, dann schnitt ich Blüten der Kapuzinerkresse ab. Die legte ich in ein Wasserbad in eine breite Schüssel. Ich wußte, daß Dinah das mochte.
Endlich wurde das Badezimmer frei, und ich rasierte mich und starrte in mein müdes, teigiges Gesicht. Ich fand mich nicht sonderlich schön. In der Küche traf ich auf Rodenstock, der muffig einen Kaffee schlürfte.
»Die technische Ausrüstung wird gerade installiert. Die an der Jagdhütte. Sie hatten erhebliche Schwierigkeiten, einen leisen Generator aufzutreiben, da oben gibt es keinen Strom. Sie brauchen aber Strom. Ich frage mich, was schiefgehen wird.«
»Was soll denn schiefgehen?«
»Wir arbeiten mit drei nicht echten Leichen!« sagte Rodenstock heftig. »Das ist schon kein Trick mehr, das ist das reinste Lotto.«
»Wir haben keine Wahl. Wann erfolgt der erste Anruf?«
»Um neun Uhr ruft Berner Kleve in seinem Haus an. Um zehn Minuten nach zehn wird dann Hommes Kleve anrufen.«
»Und wie können wir das kontrollieren? Ich meine, Hommes hat doch keine Erfahrung.«
»Braucht er nicht, er braucht nur glaubhaft zu lügen. Wir werden bei ihm sein.«
»Kleve ist der erste Mörder, den ich jagen helfe, ohne ihn jemals persönlich gesehen zu haben«, sagte ich. »Wie machen wir das, wenn Kleve in der Eifel ist? Er wird von Berner aus direkt zu der Blockhütte fahren. Und wir können ihn schlecht bitten, uns mitzunehmen.«
»Wir bleiben bei Berner«, Rodenstock hatte das so entschieden. »Wir können nicht gleichzeitig überall sein. Wenn das hier vorbei ist, zelte ich ein paar Wochen irgendwo, um mich wiederzufinden.«
»Nimm meinen Garten«, sagte ich. »Dann kannst du bei Regen ins Haus flüchten.«
Er sah mich schief an und grinste dann. »Wir fahren um acht.«
Wir starteten pünktlich und waren vierzig Minuten später in Mürlenbach.
Stefan Hommes ließ uns ins Haus und war vor Aufregung blaß wie ein Grippekranker.
»Weiß Berner, daß er unter totaler Kontrolle ist?« fragte Rodenstock.
»Nein. Er ist nachdenklich, einmal hat er geweint, dann hat er geschrien, Kleve wäre eine Mistsau, Und er hat sich betrunken und nach Cherie gebrüllt wie ein Kind. Er ist fertig, einfach fertig. Es ist Mist, dabei zusehen zu müssen. Was machen wir jetzt?«
»Nichts. Warten bis neun Uhr«, sagte ich. »Wir gehen in die Küche.«
Er nickte und zeigte uns den Weg. Er sagte: »Da an der Kochmulde ist ein Lautsprecher. Ihr könnt mithören. Oder werdet ihr dabei sein?«
»Wir sind dabei!« sagte Rodenstock energisch. »Und wie wir dabei sind.«
Die restlichen Minuten verstrichen. Endlich gingen wir in den großen Raum. Berner saß in seinem Sessel und starrte auf ein Telefon.
»Es ist soweit«, sagte Rodenstock kühl und geschäftsmäßig. »Sie rufen an und lassen ihm keine Wahl. Wie besprochen.«
Kleve meldete sich sofort. Seine Stimme war hell und bellend, eine Stimme, die Befehle erteilt.
»Ich bin’s«, sagte Berner. Er wirkte ruhig und sehr zielstrebig. »Wir müssen reden.«
»Jaaa«, murmelte Kleve gedehnt. »Ich hoffe, du hast nichts gesagt.«
»Ich sage nie etwas«, sagte Berner. »Ich will ein Treffen. Heute nacht. Du mußt mir das mit Cherie erklären.«
»Was denn?« fragte Kleve.
»Frag nicht so dumm. Mitternacht hier.« Dann legte er den Hörer auf und sah uns an.
»Gut gemacht«, lobte Rodenstock. »Und jetzt gehen Sie am besten in Ihr Schlafzimmer und bleiben dort. Ist das klar?«
Berner nickte, sagte aber nichts mehr. Er schlurfte hinaus wie ein alter Mann, und als er die Tür erreichte, konnten wir sehen, daß Stefan Hommes ihm einen Arm um die Schulter legte und ihn wegführte.
»Wo sind denn die Bildschirme?« fragte ich.
»Im Weinkeller, soweit ich weiß«, erwiderte Rodenstock. »Aber erst einmal ist Stefan Hommes dran.«
In der folgenden Stunde gab es Telefonat um Telefonat. Mit Kischkewitz, mit dem Zöllner, mit einem Beerdigungsunternehmer aus Trier, der die Leichen herrichten und schminken würde. Es folgten endlose Tonproben, Bildproben der Videokameras, und zuweilen entstand der Eindruck, als würde nichts klappen. Männer brüllten sich wütend an und entschuldigten sich gleich darauf wieder – ein heilloses Durcheinander.
Um zehn Uhr betrat Stefan Hommes den Raum und setzte sich vor das Telefon. Um zehn Uhr acht hob er den Hörer ab. Er war jetzt ruhiger als zu Beginn der Aktion.
»Hier ist Hommes, der Wildhüter«, sagte er. Seine Stimme zitterte. Aber sie durfte zittern, schließlich war er in jedem Fall ein Amateur.
»Ach ja, Stefan, Sie sind es«, Kleve war freundlich.
»Ich hätte hier was für Sie«, murmelte Hommes.
»Ja und? Was ist es? Ein Achtender?«
»Nein, so was nicht«, sagte Hommes gänzlich humorlos. »Es ist wegen der toten Frauen, Sie wissen schon. Ich ...«
»Sie können mit mir offen sprechen«, ermunterte ihn Kleve.
»Es ist wegen Herrn Berner«, begann Hommes. »Ich verliere ja meinen Job wegen des Skandals, der hier ist. Und ich finde es auch scheiße, na ja ...«
»Was finden Sie scheiße? Sagen Sie es ruhig, ich werde es nicht weitersagen.«
»Ich finde es scheiße, daß Herr Berner alles kaputtgemacht hat mit dieser Sache. Hier bricht alles zusammen. Und ich wollte heiraten gegen Ende des Jahres. Ja, und da brauche ich Kapital. Und ich habe mir gedacht, ich dachte ... also, ich hätte was für Sie.«
»Reden Sie doch endlich, Stefan. Sie kennen mich. Was haben Sie denn für mich?«
»Also, da ist dieser Aktenkoffer voll Geld und ...«
»Sie haben das Geld?« Einen Sekundenbruchteil klang die Stimme Kleves schrill.
»Ja, das habe ich. Das habe ich bei dem Mann gefunden, der Sie gesehen hat, als Sie Cherie getroffen haben ...«
»Wo ist der Dr. Trierberg denn?«
»Also, das möchte ich nicht sagen. Jedenfalls nicht so einfach. Ich hätte gern etwas Hilfe, dann gebe ich Ihnen, was Sie sicher gebrauchen können. Die Million sowieso.« Endlich schien er sich aufzuraffen. »Ich möchte hunderttausend und eine Anstellung auf Lebenszeit.«
Das hatten wir genau überlegt. Natürlich hätte Hommes drei oder vier Millionen fordern können, aber er sollte den Eindruck eines höchst biederen Naiven erwecken, dem hunderttausend und eine gesicherte Zukunft vollauf genug sind. Und der dämlich genug ist, eine herrenlose Million zurückzugeben. Es war vorstellbar, daß Kleve jetzt grinste.
»Hunderttausend wofür denn?« fragte Kleve.
»Na ja, für die Million und für den Mann. Und dann ist da noch der andere Mann, dieser Angestellte von Ihnen, oder was der ist. Jedenfalls ein Bulle. Ich habe beide.«
»Sie haben was?«
»Na ja, ich habe beide. Sie können sie sehen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Was gibt es da zu verstehen? Wann können Sie denn hier sein?«
»Verstehe ich Sie richtig, daß Sie andeuten wollen, daß die beiden Männer ... nun, daß die nicht mehr leben?«
»Richtig«, sagte Hommes etwas zu stramm. »Aber da läuft nichts ohne die Hunderttausend und nichts ohne den Arbeitsvertrag. Meine Verlobte sagt auch, daß wir eine gute Bezahlung verlangen können. Wann sind Sie hier?«
Jetzt kam die wichtigste Antwort, jetzt kam es darauf an, ob er beide Termine miteinander verband. Tat er das, dann steckte er in der Falle.
Er tat es: »Ich treffe Sie, sagen wir mal, so dreißig Minuten nach Mitternacht bei Berner. Müssen wir dann noch weit?«
»Nein, ein paar Minuten. Und danke.« Stefan Hommes legte den Hörer auf die Gabel.
Jemand schellte an der Haustür. Ein Mann auf einem Fahrrad, der eine Leinentasche voll mit Handys bei sich hatte. Wir bekamen jeder eines; die jeweilige einstellige Nummer stand auf einer unter Klarsichtfolie aufgeklebten Liste auf der Rückseite der Geräte.
Rodenstock benutzte seines sofort. »Hör zu Kischkewitz, du hast mitgehört, den ersten Teil haben wir gewonnen. Ich denke, der Mann kommt. Wir verkrümeln uns jetzt und treten unseren Dienst hier im Haus heute abend gegen 23 Uhr wieder an. Sag mal, könntet ihr das einrichten, daß wir die Ereignisse später bei der Jagdhütte hier bei Berner auf dem Monitor verfolgen können?« – »Das geht? Gut, sehr gut.«
Zurück in Brück waren Emma und Dinah schon eingetroffen. Sie hockten in der Küche und frühstückten. Es tat richtig weh, sie zu sehen.
»Hallo«, sagte ich munter. »Ich hoffe, dir geht es gut.«
»Mir geht es gut«, nickte sie. Sie war verlegen. »Jedenfalls besser. Ich wollte noch sagen, daß ...«
»Das ist schon okay so«, wehrte ich ab. »Ich bin in meinem Arbeitszimmer. Oder sind Jenny und Enzo da oben?«
»Die beiden sind nach Düsseldorf zurück. Sie wollen sich verkriechen.« Emmas Stimme war ganz weich.
»Dann ist das Arbeitszimmer ja frei«, plapperte ich. »Ich leg mich aufs Ohr. Bis später.«
Ich legte mich wirklich auf die Liege, und ich war so erleichtert, daß ich zu dösen begann. Aber dann klopfte Dinah und kam herein, und ich brauchte sicherlich eine halbe Minute, bis ich sie ansehen konnte.
»Ich wollte dir danken«, sagte sie.
»Kein Problem«, sagte ich hastig.
Sie lächelte: »Ich werde nur vorübergehend hier bleiben. Ich werde in das Zimmer bei Emma und Rodenstock ziehen.«
»Ja, das ist gut. Wie geht es dem Arm?«
»Gut. Ich muß mich nur noch etwas in acht nehmen. Und wie geht es dir?«
»Beschissen. Überanstrengt, Streß und so. Kaum geschlafen.«
»Emma sagt, es sei ein aufregender Fall.«
»Das stimmt. Heute nacht werden wir zum erstenmal den Mörder sehen. Beziehungsweise einen der Mörder. Es ist gut, daß du nicht zu der Beerdigung gehst. Das wäre nichts als eine Quälerei. Und ihm hilft es nicht mehr.«
»Das ist richtig. Das sehe ich jetzt auch so. Vielleicht darf ich dir von ihm erzählen?«
Ich konnte nicht antworten, dazu fiel mir nichts ein. Ich war voll Wut und Trauer.
»Er war ein ganz Lieber«, sagte sie. Sie setzte sich vor meinen Schreibtisch und schaute mich an. »Er war ein großer Junge und irgendwie nicht erwachsen. Seine Eltern ließen auch gar nicht zu, daß er erwachsen wurde. Doch er wollte für mich sorgen.« Sie lächelte und strich sich das Haar aus der Stirn. »Wir machten Pläne, und wir wußten beide, daß das alles nichts werden würde. Es war irgendwie schrecklich sinnlos.«
Ich wurde wütend. »Mir kommen gleich die Tränen. Du hast mich beschissen, das ist Realität.«
»Das stimmt«, nickte sie. »Aber vielleicht können wir reden, wieso das so gelaufen ist. Wir müssen darüber reden.«
»Wir müssen durchaus nicht«, sagte ich. »Ich stehe nämlich vor dem Problem, nicht zu wissen, ob ich dir noch vertrauen kann. Verstehst du?«
»Ja.«
»Ich weiß ja nicht einmal, ob du von ihm schwanger bist.«
»Bin ich nicht. Und wenn, dann von dir. Ich habe nie mit ihm geschlafen. Ich konnte das nicht. Und jetzt lebt er nicht mehr.«
Nach einer Weile sagte ich: »Ich brauche Zeit, ich werde viel Zeit brauchen, und ich denke, ich werde hier im Arbeitszimmer schlafen, so lange wir nicht anders entscheiden. Du kannst bleiben. Erst mal. Bis wir entscheiden, daß wir es noch einmal versuchen. Oder bis wir uns trennen, weil wir glauben, daß das besser ist.«
Draußen regnete es schon wieder. Sie stand auf, nickte mir zu und sagte: »Dann wollen wir es der Zeit überlassen.« Schon in der Tür sagte sie: »Natürlich liebe ich dich. Dich allein.«
Ich horchte in mich hinein und fand zwei Gefühle. Ich liebte sie, und ich war mißtrauisch, und im Augenblick war mir das Mißtrauen lieber. Wer sagte denn, daß sie die Wahrheit sprach? Vielleicht verniedlichte sie die Geschichte, oder sie verlieh ihr nachträglich eine mildere Bedeutung. Menschen sind nun einmal so.
Ich blieb den ganzen Tag in diesem Zimmer, ging nur zum Mittagessen hinunter, das Rodenstock gekocht hatte, um sich abzulenken. Er hatte etwas in der Pfanne gebrutzelt, das gefährlich scharf schmeckte und so ein Mittelding zwischen Gemüsepfanne und Nudeltopf war, nicht eindeutig definierbar, aber herzhaft.
Als Emma, Rodenstock und ich am späten Abend in mein Auto kletterten, um dem Endspurt beizuwohnen, sagte Dinah: »Viel Glück und komm gut heim und mach dir keinen Kopf. Wir schaffen das schon irgendwie.«
»Irgendwie wird nicht reichen«, sagte ich. »Genau das hat zur Katastrophe geführt, deswegen bist du gegangen.«
Um Punkt 23 Uhr hockten wir vor sechs Bildschirmen im Weinkeller des Bernerschen Hauses, wir erlebten hektische letzte Proben. Wir konnten beobachten, wie die Bandmaschinen sich drehten, wie plötzlich Bilder aus der Jagdhütte aufflackerten, wie ein Techniker direkt in eine der winzigen Kameras reinblökte: »Wieso, verdammt noch mal, sind die Helligkeitswerte nicht besser? Und wieso habe ich hier so einen beschissenen Ton?«
Und dann rollte endlich der Mercedes von Martin Kleve auf den Hof.
Stefan Hommes baute sich neben der Fahrertür auf und sagte: »Ich muß Sie nach Waffen durchsuchen.«
»Wie bitte?« fragte Kleve verblüfft.
»Das ist Vorschrift heute abend«, beharrte Hommes. »Also los.« Er hob Kleves Arme und tastete ihn ab.
»Ich bin kitzlig«, sagte Kleve trocken. »Die Waffe habe ich links am Gürtel.«
»Sie haben zwei Waffen«, erwiderte Hommes trocken. »Die zweite sitzt im Schritt. Alter Trick. Nehmen Sie sie raus, dann muß ich Ihnen nicht an die Eier.«
Emma neben mir kicherte.
Nun hatte die Außenkamera Martin Kleve im Bild. Er war ohne Zweifel von beeindruckenderer Statur als der legere Berner. Straff wie ein Soldat, und er bewegte sich außerordentlich geschmeidig.
Hommes ging hinter ihm und fragte: »Was ist mit meinem Geld? Und dem Vertrag?«
»Habe ich bei mir. Wo ist der alte Knabe?«
»Im Livingroom«, sagte Hommes. »Wie immer. Sie kennen den Weg. Möchten Sie etwas Besonderes zu trinken?«
»Champagner wie immer«, sagte Kleve. Er trug einen eleganten hellbraunen Seidenanzug und darunter ein maßgeschneidertes T-Shirt. Der kleine Bildschirm bot keine Aufnahmen von Spitzenqualität, aber soweit wir sehen konnten, war Kleve ein schöner Mann, schmal, drahtig und arrogant.
Jetzt übernahm die erste Innenkamera, das Bild wurde wesentlich heller. Kleve ging stracks auf die Tür zum großen Raum zu, öffnete sie und sagte: »Grüß dich, mein Lieber. Kein Grund zur Aufregung, wenn du mich fragst. Das kriegen wir alles in den Griff.«
»Wir kriegen nichts mehr in den Griff«, schnauzte Berner. »Warum hast du Arschloch auch Cherie getötet, ohne mir etwas zu sagen?«
»Und warum warst du so blöde, diesen Penner, diesen Arzt in einen Steinbruch zu schmeißen?«
In diesem Augenblick entdeckte Kleve die Waffe. Der Colt Spezial lag auf dem Sideboard hinter dem Kopf Berners, und die Kamera fing das Funkeln der Patronen in der Trommel sehr gut ein. Kleve entschloß sich im Bruchteil dieser Sekunde. Er wollte nicht mehr warten, er wollte es jetzt tun, dreißig Sekunden nachdem er den Raum betreten hatte.
»Nimm Platz«, sagte Berner mit einer müden Handbewegung. »Laß uns reden.«
»Ja, ja«, nickte Kleve, der jetzt seitlich von Berner stand. Mit einem einzigen gleitenden Schritt war er bei der Waffe, nahm sie, drehte sich zu Berner und schoß ihm aus nächster Nähe in den Kopf. Sicherheitshalber schoß er zweimal, es klang mörderisch laut über die empfindliche Akustikanlage.
»Nicht zu fassen«, hauchte Emma.
Jetzt mußte Stefan Hommes kommen. Er mußte kommen, ehe Kleve sich großartig vergewisserte, daß sein Kumpel tot war. Und er verpaßte seinen Auftritt nicht, er riß die Tür auf und sagte erstickt: »Verdammte Scheiße, warum denn das?«
»Es mußte sein«, meinte Kleve. »Er war gefährlich, er wollte uns beide den Bullen ausliefern.«
»Oh Gott«, sagte Hommes zittrig. »Und mein Geld? Wo sind der Vertrag und mein Geld?«
»Im Wagen«, erwiderte Kleve. »Im Wagen. Wo ist mein Aktenkoffer? Und wo sind die Leichen?«
Genau an diesem Punkt sollte Hommes etwas begreifen. Er brauchte nicht einmal zu schauspielern. »Und dann bin ich dran, häh?«
»Niemals, mein Junge«, sagte Kleve. »Laß uns gehen. Das Haus ist nicht mehr sauber jetzt.«
Sie verließen den Schauplatz Haus, und die Kameras nahmen sie auf, wie sie in den Flur traten, durch die Haustür nach draußen gingen und in den Wagen stiegen. Sie fuhren vom Hof, Stefan Hommes saß am Steuer.
»Nicht zu fassen«, murmelte Rodenstock. »Es hat geklappt, es hat tatsächlich funktioniert. Wenn die Leichen jetzt ...«
Emma sagte: »Ich kann nur hoffen, daß Hommes dem Kleve nicht die Waffen zurückgibt.«
»So verrückt wird er nun wirklich nicht sein«, sagte ich. »Wo steht denn die erste Kameras bei der Hütte?«
»Unten an der Schneise, da wo sie ankommen«, antwortete Rodenstock.
»Ich kümmere mich um Berner«, meinte ich.
Ich lief hinauf und fand ihn im Sessel sitzend. Er hatte große Augen, als er murmelte: »Der hat nicht mal gezögert, der hat mich sofort umgenietet.«
»So ist das Leben«, nickte ich. »Gehen Sie jetzt in Ihr Schlafzimmer und verlassen Sie es nicht.«
»Ich verlasse es nicht«, sagte er voller Resignation.
Als ich in den Keller zurückkehrte, dauerte es keine zwei Minuten mehr, bis der Wagen von Kleve in das Blickfeld der ersten Außenkamera glitt. Eine zweite Kamera beobachtete die beiden Männer, wie sie die Schneise hochgingen. Die Bilder waren alle grün, mit Restlichtverstärker aufgenommen.
Dann betraten sie die Hütte, und Stefan Hommes zündete betulich zwei Öllampen an.
Die Leichen von Andreas Ballmann und Dr. Trierberg lagen nebeneinander auf dem Bauch.
»Genickschuß!« sagte Kleve. »Saubere Sache, wirklich saubere Sache.«
»Und hier ist die Million«, sagte Hommes und deutete auf den Aktenkoffer, der auf dem Tisch stand.
Und dann machte er etwas, das nicht im Drehbuch stand. Wahrscheinlich hatte er die Nase voll, wahrscheinlich konnte er diesen Kleve nicht mehr ertragen, wollte dessen Eiseskälte entkommen. Beiläufig sagte er: »Das mit dem Genickschuß habe ich von Ihnen gelernt.«
Das war reiner Spott, und Kleve hörte es.
Er wurde ganz steif, griff in das Jackett, holte den Colt Special mit den Platzpatronen heraus und schoß auf Hommes. Zweimal.
Hommes fiel nicht um, sondern er lachte.
Die beiden Leichen auf dem Fußboden saßen plötzlich aufrecht und hielten Waffen in den Händen.
»Du bist ein Arschloch!« sagte Hommes verächtlich. »Und dumm bist du auch.«
»Das war’s«, murmelte Emma. »Irgendwie geht es mir wie einem Luftballon, aus dem man die Luft abläßt.«
In diesem Moment explodierte der Schuß.
Der Schuß gehörte nicht zu den Videobildern, der Schuß war in diesem Haus gefallen, und wir dachten alle das gleiche.
Ich war als erster an der Tür und hetzte nach oben in den zweiten Stock.
Berner hatte von irgendwoher eine Schrotflinte hervorgeholt, die Hommes nicht entdeckt hatte. Er hatte den Lauf in den Mund genommen, und von seinem Kopf war nichts mehr übrig.
»Ich will nach Hause«, sagte ich erstickt. »Ich will nur noch weg.«