Zweites Kapitel
Erika Schallenberg, sechsundzwanzig Jahre alt, genannt Cherie, sehr gepflegt, sehr blond, sehr langbeinig, zu Hause in Düsseldorf, zu Hause bei denen, die Geld haben. Warum wirst du auf einem Waldweg in der Eifel getötet, hingerichtet?
Dann diese Jägerin Mathilde Vogt, zweiundvierzig Jahre alt und schwanger. Mutter zweier Kinder. Gab es einen Ehemann? Kischkewitz hatte es nicht erwähnt, ich hatte nicht gefragt. Ich hatte mich auch nicht für Spuren am Tatort interessiert, ich hatte etwas verkrampft gedacht: Eine zweite Leiche ist zuviel. Ich überlegte, wenn Kischkewitz etwas stark Auffälliges entdeckt hätte, dann hätte er es gesagt. Ich vergesse die Vogt und konzentriere mich auf Cherie.
Es war sechs Uhr morgens, der Himmel über dem Dach der Brücker Kirche war von rosaroten Streifen durchzogen, die aussahen wie die Reste von Kondensstreifen, Wolken gab es nicht. Von Heyroth tuckerte der erste Bauer mit einem Heulader die Straße hinunter, die ersten Autos zogen durch, die Mopeds knatterten, der Tag räkelte sich.
Die Katzen waren nicht da, wahrscheinlich bekam Satchmo bei Willi und Paul Unterricht im Mäusefangen. Ich könnte mich auf den Garten konzentrieren, endlich gründlich mähen, die Ecken und Kanten säubern, die Umrandung des Teiches aufschütten, Gras einsäen, den moorigen Teil des Beckens um ein Drittel vergrößern und das Grün auf der langen Mauer schneiden. Dann mußten ein paar Bruchsteine auf der Mauerkrone neu fixiert werden, weil ein paar gelangweilte Jugendliche sie in einer der vergangenen Nächte mutwillig heraus gebrochen hatten. Jemand hatte erzählt, sie seien stinkbesoffen gewesen und hätten anschließend auf dem neuen Kinderspielplatz an der Kirche herumgelärmt. Wahrscheinlich waren sie mehr als gelangweilt, wahrscheinlich waren sie total gefrustet, wahrscheinlich war ihr Leben öde.
Ich setzte einen Kaffee auf und rasierte mich. Paul kam ins Bad und inspizierte mich. Das macht er jeden Morgen, er schaut nach, ob alles okay ist.
»Ich bin okay«, sagte ich. Er sah mich eingehend an und maunzte leise. Natürlich hatte das damit zu tun, daß er Dinah suchte und nicht fand. Er machte kehrt, er würde weitersuchen.
Selbstverständlich begann ich nicht zu arbeiten, ich betrat den Garten nicht. Ich fuhr nach einer zweiten Tasse Kaffee los, um diesen Narben-Otto zu besuchen.
Ganz entfernt tauchte der Gedanke auf, daß es viel zu früh am Tage sei, aber ich dachte auch: Jemand, der im Wald lebt, wird schon wach sein.
Ich nahm den gleichen Weg wie am Vortag, machte in Gerolstein halt und kaufte mir zwei belegte Brötchen, die ich vor mich hin mampfte. Bevor sich die Straße steil über Eigelbach nach unten schraubt und die ersten Häuser von Kopp klein wie Spielzeug in den Falten der Höhen sichtbar werden, steht rechter Hand das Kreuz, ein seltenes Stück Eifler Frömmigkeit aus rotem Sandstein, das mit Flechten bewachsen ist. Am Fuß hat dieses Kreuz eine Höhlung, in der ein Mönch sitzt, der Jesus auf dem Schoß hält. Vielleicht ist es aber auch die Mutter Maria, gestiftet von einer Bauernfamilie.
An dieser Stelle führte ein Feldweg nach rechts in die Wiesen, vielleicht vierhundert oder fünfhundert Meter bis zum Waldrand. Dort mußte es sein, wenn Christian Reuter recht hatte. Ich war mißtrauisch, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß Forstbehörden es dulden, wenn jemand in einem alten Bauwagen haust und dazu noch ein leibhaftiger Penner ist. Ein Wald hat ordentlich und also ohne Bauwagen unter dem Eifelhimmel zu stehen.
Ich ließ den Wagen stehen und ging den Rest des Weges zu Fuß.
Der Wald war Mischwald, und der Bauwagen stand in einer Nische des Randes, die fünfzig Meter breit und zwanzig Meter tief war. Die Behausung war ein gutes, solides Stück, gefügt aus schweren Brettern, die wohl ursprünglich einmal blau gestrichen waren. Auf der Querseite stand in großen weißen Blockbuchstaben BERNER AG. Irgend etwas an diesem Anblick störte mich, ich konnte aber zunächst nicht ausmachen, was das war. Gegenüber auf der anderen Seite des Feldweges befand sich eine Wiese. Dort lag ein großer Bruchstein. Ich hockte mich auf ihn und begriff, daß mich die Perfektion störte. Es war reine Idylle, und Idylle bereitet mir immer Unwohlsein.
Normalerweise findet man Bauwagen im Wald der Eifel nur dort, wo im Forst ganz große Einschläge gemacht werden oder die SAG mit einer neuen Erdgasleitung durchzieht oder Industriegelände ausgebaut wird. Die Regel ist, daß die Bautrupps mit geradezu peinlicher Akribie auf Sauberkeit achten. Da liegt kein Papier herum, da wird man selbst nach Zigarettenkippen vergebens suchen, da wird jeder Restmüll in Säcke gepackt und mit nach Hause genommen.
Mir fiel auf, daß der Bauwagen auf einer großen Fläche Roter Fingerhut stand, der steil wie leuchtende kleine Fahnen seine Blütenstände empor reckte. Es gab nur eine ganz schmale Gasse, auf der keine Blume wuchs und die vor der Tür an der Stirnseite endete. Da stand eine breite kleine Leiter, drei Stufen bis zur Tür. Über der Schrift BERNER AG gab es zwei ausreichend große Fenster. Vor den Fenstern jeweils ein Blumenkasten mit feuerroten Geranien. Das wirkte sehr liebevoll gepflegt, das erschien noch normal. Nicht normal dagegen wirkten zwei große Plastiktanks, wie sie bei vielen Häusern für das Heizöl verwendet werden. Sie waren hinter einem Erdwall zu mehr als der Hälfte im Erdreich vergraben. Von dort führten Leitungen in den Bauwagen. Neben diesen beiden Tanks war ein Stahlbehälter in den Boden eingelassen, von dem ebenfalls eine Leitung in den Wagen führte: Flüssiggas. Vom Penner werde ich mich verabschieden müsse, dachte ich. Das alles ist zu schön und viel zu ordentlich, das alles ist viel zu sauber, da haust ein zwanghafter Bürokrat, der sich einbildet, ausgestiegen zu sein.
Ich ging weit rechts an dem Bauwagen vorbei in den Wald. Ich suchte den Lokus und glaubte auf einen Donnerbalken zu treffen. Ich fand keinen, statt dessen ein transportables Klo aus Stahl mit einer großen Schublade am Fuß. Ein Chemieklo. Unmittelbar daneben ein Gehäuse, das aussah wie aus Zink, einen Meter hoch, zwei Meter lang mit einer Klappe im oberen Bereich: ein Dieselmotor, ein Generator. Narben-Otto versorgte sich selbst mit Strom.
»Darf ich fragen, was Sie hier machen?« fragte er hinter mir.
Ich hatte ihn nicht kommen hören, hatte die Tür des Bauwagens nicht gehört; ich war der festen Überzeugung gewesen, daß niemand diesen Bauwagen verlassen konnte, ohne von mir gesehen zu werden.
Jetzt stand er da, knapp zwei Meter entfernt und sah mich freundlich an. Er war gut einen Kopf größer als ich, vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt, glatt rasiert mit dunkelbraunem Haar, das von silbernen Streifen durchzogen war. Seine Augen waren von einem hellen Blau, nicht wäßrig. Er trug einen Pullover, der nach Esprit aussah, dazu eine Kordhose über sehr massiven Bergschuhen. Die Schuhe waren frisch geputzt und wirkten völlig fehl am Platz, als habe er sich verirrt.
»Ich suche einen Mann mit dem Spitznamen Narben-Otto«, erklärte ich. »Aber da Sie keine erkennbaren Narben haben, nehme ich an, Sie sind es nicht.«
»Doch, ich bin es«, lächelte er. »Die Narben sind auf meinem Rücken, man sieht sie nicht. Und weshalb suchen Sie mich?«
»Wegen Cherie«, sagte ich.
»Sie sind kein Polizist«, stellte er fest.
»Richtig, bin ich nicht.«
»Also Journalist«, murmelte er. »Ja, ich nehme an, Sie sind Journalist. Es geht also um Cherie. Ach ja, sie war ein nettes Mädchen, die Gute.« Er starrte vor sich auf die Spitzen seiner Schuhe. »Komisch, daß es ausgerechnet sie erwischt hat, wirklich komisch. Haben Sie ihre Leiche gesehen?«
»Habe ich.«
»Dann sind Sie dieser Baumeister, Siggi Baumeister.« Er lächelte.
»Sehr erfreut.« Ich verbeugte mich etwas ironisch. »Woher kennen Sie mich?«
Er hatte plötzlich große runde Augen. »Ich kenne Sie gar nicht. Ein Bauer in Kopp hat mir gesagt, daß Sie gestern am Tatort waren. Zusammen mit dem Adamek von Radio RPR. Das ist doch so, oder?« Er sprach leise, er brauchte nicht laut werden, er strahlte eine sehr dichte Unnahbarkeit aus. Dann grinste er. »Sie wissen doch, wie das in der Eifel ist. Auch wenn Sie keinen Menschen sehen, Sie werden gesehen, und ziemlich schnell weiß das ganze Dorf, daß Sie durchgefahren sind. Und meistens wissen sie auch schon, was Sie zum Frühstück gegessen haben und ob Sie gutgelaunt sind, oder nicht. So ist das nun einmal.« Er lachte fröhlich und bespöttelte offen meine Unsicherheit. »Und jetzt wundern Sie sich über Chemieklo, Generator, Wassertanks und Flüssiggas. Sie fragen sich, wen ich bestochen habe.«
»Richtig«, nickte ich.
»Niemanden«, flüsterte er spielerisch. »Ich stehe unter dem Schutz einer mächtigen okkulten Gott-Vater-Figur.« Dann veränderte sich seine Stimme, und er fügte sachlich an: »Ich weiß wirklich nicht, wer Cherie ins Jenseits befördert hat. Und natürlich weiß ich auch nicht, wer Mathilde Vogt tötete. Ich weiß überhaupt erstaunlich wenig.«
Frag nicht nach, Baumeister, sei auf keinen Fall aufdringlich! Halt den Mund und hör zu!
»Tja, dann kann ich ja gleich wieder verschwinden und brauche Sie nicht weiter zu stören. Ich dachte, Sie könnten mir diese oder jene Kleinigkeit erzählen. Sie kennen ja die penetrante Art von Journalisten. Ich gehe mir zuweilen selbst auf den Wecker. Übrigens, wissen Sie, daß Sie hier in der Gegend als Penner aus Düsseldorf bezeichnet werden, der in einem früheren Leben Dr. med. war?«
Er lächelte irgendwohin. »Ja, das weiß ich. Und es ist richtig, daß ich einmal ein Penner war. Und daß ich Dr. med. bin, stimmt auch.«
Ich bemühte mich um ein freundliches Grinsen. »Sind Sie Frührentner?«
»Nein. Haben Sie Lust, mit mir zu frühstücken?«
Sicherheitshalber schaute ich auf die Uhr, um nicht den Eindruck zu erwecken, allzu gierig auf ein solches Frühstück zu sein. Vorsichtig sagte ich: »Eine Stunde Zeit hätte ich.«
»Das ist doch prima«, sagte er und ging vor mir her zu seinem Bauwagen. »Wissen Sie, ich kriege hier nicht oft Besuch.«
»Aber Cherie war doch schon hier«, bluffte ich.
»Oh ja, sie war hier. Mehrere Male. Wäre sie gestern gekommen, würde sie wahrscheinlich noch leben. Hat sie Ihnen gesagt, daß sie hier war?«
Das war ein entscheidender Punkt. Entweder bluffte ich mich durch, oder ich sagte ihm die Wahrheit. Ich sagte die Wahrheit, weil ich seine klaren Augen fürchtete und weil ich ihn als Informant nicht verlieren wollte.
»Ich habe sie nie kennengelernt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, weshalb sie in der Eifel war, weshalb sie getötet wurde. Bis gestern habe ich nicht gewußt, daß es sie gibt. Ein junger Förster hat mir geraten, zu Ihnen zu gehen und Sie zu fragen.« Ich schaute ihn an und dachte etwas trotzig: Friß es oder stirb dran!
Er nahm es mit Haut und Haar: »Endlich mal jemand, der nicht so tut, als habe er alles Wissen der Welt mit der Heugabel gefressen.«
Dann machte er die Tür auf und sagte: »Herzlich willkommen.«
Das Innere des großen, langen Wagens war erstaunlich gestaltet. Es gab eine Einbauküche, einen Küchentisch für sechs Personen, eine große Sitzecke mit Fernseher, ein abgeschlagenes Abteil, das Badezimmer wahrscheinlich. Alles war in Weißblau gehalten, alles wirkte gediegen.
»Die Unterkunft eines Penners ist das aber wirklich nicht.« Ich stand auf einem fast knöcheltiefen Teppichboden.
»Das war einmal«, meinte er. »Natürlich wollen Sie wissen, warum ich hier lebe ...«
»Ja, ja, und wen Sie bestochen haben.« Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen.
»Ich sagte schon, Gottvater hält die Hand über mich. Nein, im Ernst, ich habe einen sehr mächtigen Gönner, die Berner Aktiengesellschaft, genauer Julius Berner, Unternehmer aus Düsseldorf. Er hat mir den Wagen spendiert, er hat ihn ausstaffiert. Er ist der Jagdherr hier, und ich war einmal sein Hausarzt. So einfach ist das. Seit vier Jahren bin ich jeden Sommer hier, und wahrscheinlich werde ich in diesem Jahr damit beginnen, auch im Winter hierzubleiben. Mögen Sie zum Frühstück ein Ei? Tee? Kaffee?«
»Ein Ei wäre gut, ein Kaffee wäre genehm. Haben Sie Lust, mir von Cherie zu erzählen und wieso sie hier im Wald starb?«
»Die letzte Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich weiß es nicht.« Geschäftig räumte er Tassen und Teller auf den Tisch, setzte Wasser auf, einen Topf für die Eier. Er kramte Marmelade und Butter aus dem Eisschrank, rohen Eifler Schinken. Der Mann verstand zu leben, und er spielte die Rolle des Gastgebers perfekt.
»Tja, Cherie. Wie soll man sie beschreiben? Sie gehörte zu einer Gruppe junger Frauen, die in bestimmten Lokalen der Düsseldorfer Altstadt mehr zu Hause sind als in der eigenen Wohnung.« Er grinste schief. »Ich sage immer, das sind die Weiber der Fun-Generation. Ich will Spaß, und den will ich jetzt. Sie machen in den Klubs rum, sie machen im Karneval mit, sie stehen immer zur Verfügung.« Narben-Otto hob die Hand und seufzte: »Halt, mein lieber Kaiserswerth, du verwirrst dein Publikum. Das klingt so nach Edelnutte. War sie aber nicht, war sie durchaus nicht, denn ...«
»Darf ich mir ein paar Notizen machen?«
»Aber ja, kein Problem.«
»Sie reden von sich selbst als Kaiserswerth. Wieso? Wie der Düsseldorfer Stadtteil? Heißen Sie mit bürgerlichem Namen so?«
»Ich bin Dr. med. Markus Kaiserswerth. Der Kaffee und die Eier sind fertig.«
»Wann sind Sie denn ausgestiegen? Warum heißt es, Sie seien ein Penner?«
Er goß uns Kaffee ein. »Ich bin einer«, sagte er ruhig und setzte sich mir gegenüber an den Tisch, um sofort wieder aufzustehen. Er kramte in einem schmalen hohen Schrank herum, der voller Aktenordner und Papiere war, und legte die Kopie eines Zeitungsartikel vor mich hin. Es war der Kölner Express, eine Ausgabe von 1995, also drei Jahre alt.
»Statt Visitenkarte«, sagte er spöttisch.
Die Schlagzeile war groß und fett: Der Arzt, der ein Penner wurde. Der Vorspann begann mit den Worten: Der Mann ist seit Jahren ein Gerücht. Seit Jahren gibt es in der Düsseldorfer Altstadt unter den Stadtstreichern einen Mann, von dem behauptet wird, er sei in Wirklichkeit Arzt. Im Express bricht er zum erstenmal sein Schweigen. Narben-Otto heißt tatsächlich Dr. med. Markus Kaiserswerth.
Der Text war lang und schwülstig. Es war eine jener Sozialreportagen, die über 200 Zeilen die ganz und gar sensationelle Geschichte eines guten Herzens ausbreitet: Arzt verliert durch Unfall seine Familie, gerät in Kontakt zu Obdachlosen und beginnt, mit ihnen zu leben. Zitat: »Ich habe meinen Platz bei den Ärmsten der Armen gefunden. Dort lebe ich, dort will ich weiterleben.«
»Aha«, murmelte ich. »Und weshalb Narben-Otto?«
»Mein Rücken ist voller Narben. Eine Bullenpeitsche.« Er grinste flüchtig, setzte seinen Stuhl zurück und zog den Pulli aus. Über seinen kräftigen, muskulösen Rücken zogen schmale, lange Narben, parallel wie eine Schraffur. Er zog den Pulli wieder über, setzte sich zurecht und begann, Scheiben von dem Schinken abzuschneiden. »Es war eine wilde Zeit«, murmelte er.
»Ihre Familie kam um?«
»Nein, so war es nicht. Meine Frau betrog mich mit einem Kollegen. Jahrelang. Dann versuchten sie, mir die Praxis abzuluchsen, aber ich wollte nicht verkaufen. Ich geriet ... na ja, ich geriet in eine Krise. Ich machte ein halbes Jahr Pause, ich lebte wirklich bei den Pennern, ich geriet ans Saufen. Dann wurde ich zwangsweise in die Psychiatrie gesteckt, sie ließen mich entmündigen. Der Zustand dauerte nur vier Wochen, war aber lang genug, dem Geliebten meiner Frau offiziell die Praxis zu verkaufen. Als ich entlassen wurde, stand ich auf der Straße, meine Zulassung war mir genommen worden. Ich hatte den Unternehmer Julius Berner zwei Jahre lang behandelt, er hatte Probleme mit dem Kreislauf. Der tauchte plötzlich auf und verpflanzte mich hierher in den Bauwagen. Er ist der Jagdherr hier.«
»Was war mit der Bullenpeitsche?«
»Durch Zufall ließ ich in der Düsseldorfer Altstadt eine Dealer-Clique hochgehen. Sie schickten mir aus Amsterdam die Bullenpeitsche, ich lag acht Wochen im Krankenhaus. Dies ist jetzt der dritte Sommer im Wald. Langsam werde ich wieder gesund.«
»Aber Sie werden keine Zulassung mehr bekommen.«
Er nickte. »Das weiß ich. Möglicherweise bekomme ich eine Zulassung als Naturheiler. Irgendwie wird es weitergehen.«
»Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie das dritte Opfer des Mörders werden können? Ich meine, das ist doch nicht ganz von der Hand zu weisen.«
»Warum sollte jemand das tun? Ich lebe hier allein, und ich bin sehr friedlich. Ich hüte keine Geheimnisse. Warum also?«
»Cherie wurde erschossen. Die Leute von der Kripo sagen, es sah aus wie eine Hinrichtung. Bei Mathilde Vogt das gleiche Bild. Können Sie mir noch etwas erzählen über Cherie? Wenn sie Sie hier besucht hat, müssen Sie mehr wissen. Daß sie ein Spielmädchen war, dürfte nicht der Grund gewesen sein, sie zu töten.«
Er sah mich an und bekam schmale Augen. »Oh, doch«, widersprach er. »Sie war der Typ, Leidenschaften zu entfesseln. Früher hätte ich es wahrscheinlich so ausgedrückt: Sie war eine ganz heiße Nummer.«
»War Sie die Geliebte Ihres Unternehmerfreundes?«
»Julius Berner ist durch und durch Katholik«, antwortete er schnell. »Nein, das glaube ich nicht. Sie gehörte zu seiner Clique, das ist klar, aber Berner ist ein Mann um die Sechzig, der gern junge Leute um sich hat. Er hat Geld, er schwimmt drin und ...«
»Ehrlich gestanden scheint mir Ihr Bericht über Cherie irgendwie zu edel. Sie sagen, daß sie Leidenschaften entfesseln konnte. Das heißt doch, daß Sie so etwas erlebt haben, oder? Haben Sie selbst mit ihr etwas gehabt?«
»Nein, da ist nichts passiert.« Er lächelte wieder sein Nette-Leute-Lächeln. »Manchmal hat sie mich Papi genannt.«
»Man kann auch mit Papi schlafen«, sagte ich. »Sie hat ja nicht im luftleeren Raum gelebt. Also: Mit wem hatte sie was?«
»Das weiß ich nicht, das weiß ich wirklich nicht.«
»Aber wenn Sie von Leidenschaften sprechen, dann müssen Sie Phantasien in diese Richtung haben. Schildern Sie mir diese Frau, ich will doch nur versuchen, sie kennenzulernen.«
»Sie tanzte durch das Leben«, erklärte Narben-Otto und sah aus dem Fenster. »Ja, das ist die richtige Formulierung: Sie tanzte durch das Leben. Sie war eine schöne Frau, richtig schön. Und ob Sie es glauben oder nicht, sie war voller Unschuld. Sie war so, als könne sie eigentlich niemand berühren, niemand wirklich berühren. Ich glaube, sie konnte Männer total verrückt machen.«
»Haben Sie das einmal erlebt?«
»Ja. Da gibt es einen jungen Förster in der Nähe von Monschau. Verheiratet, zwei Kinder. Der hat beinahe seine Frau wegen Cherie verlassen. Er ist regelrecht ausgeflippt, hat sich benommen wie ein Minnesänger, total den Kopf verloren, ihr angeboten, mit ihr nach Australien zu gehen, den Mond vom Himmel zu holen ...«
»Also großes Gefühl?«
»Großes Gefühl«, bestätigte er. »Und Cherie war sich absolut nicht klar darüber, was sie da anrichtete.«
»Ich nehme mal an, jemand von der Mordkommission war gestern hier.«
»Richtig. Ein Mann namens Kischkewitz. Er wollte wissen, mit wem sie in die Eifel kam, mit wem sie lebte, wo sie schlief, wenn sie hier war.«
»Konnten Sie ihm helfen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Cherie in der Eifel war. Wenn Berner mit seiner Clique kommt, schläft sie in seinem Jagdhaus wie die anderen auch. Ich weiß nicht, mit wem sie dieses Mal gekommen ist. Mit Berner jedenfalls nicht, denn der ist in Düsseldorf. Kann sein, daß sie allein hier war und irgendwo ein Zimmer genommen hat, kann sein, daß sie wieder nach Düsseldorf zurückkehren wollte. Kann auch sein, daß sie ihren Mörder in die Eifel begleitete. Oder? Aber vielleicht haben Kischkewitz‘ Männer das längst herausgefunden, und wir wissen es nur noch nicht.«
Diese Überlegung war stichhaltig. Ich nahm das Handy und rief Kischkewitz an. Er meldete sich sofort.
»Wissen Sie inzwischen, wie Cherie in die Eifel gekommen ist?«
»Ja, mit einem Taxi. Und zwar vorgestern. Der Fahrer behauptet, er hat sie über die Autobahn nach Daun gefahren. Direkt nach Daun. Er hat sie abends gegen 18 Uhr in der Einkaufsmeile von Daun abgesetzt. Sie hat bar bezahlt. Den vorher ausgemachten Preis von 250 Mark. Wohin sie ging, ob sie jemanden traf, ob sie ein Zimmer gebucht hat, weiß der Fahrer nicht. Er sagt glaubwürdig aus, daß sie ungewöhnlich schweigsam war, daß sie kaum einen Satz gesprochen hat.«
»Woher weiß der Fahrer denn, daß sie normalerweise mehr redet?«
Kischkewitz lachte. »Wir wissen, daß es ihre Art war, übersprudelnd und viel zu reden. Und auf der Fahrt hat sie so gut wie nichts gesagt. Für sie ganz ungewöhnlich.«
»Was ist mit dieser Mathilde Vogt?«
»Ich stehe gerade vor ihrer Leiche, Sie haben mich in der Pathologie des Krankenhauses erwischt. Aber die Obduktion beginnt erst in einer Stunde. Jedenfalls kannten sich die beiden Frauen, also Cherie und die Vogt. Und zwar von Festen und gemeinsamen Jagden her.«
»Was erzählt denn dieser Julius Berner aus Düsseldorf?«
»Sind Sie allein?«
»Nein. Ich bin bei Dr. Kaiserswerth, bei Narben-Otto.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie allein sind. Bis später.« Kischkewitz trennte die Verbindung.
»Cherie ist mit dem Taxi gekommen. Vorgestern, also einen Tag vor ihrem Tod. Sie hat sich in Daun absetzen lassen. Wissen Sie, ob sie Freunde dort hatte oder Bekannte?«
Narben-Otto schüttelte den Kopf.
»Dann stelle ich die Frage anders: Wenn Cherie allein in die Eifel kam, wo wohnte sie dann, wenn sie keinen Schlüssel für das Jagdhaus hatte?«
»Das weiß ich nicht«, sagte er und starrte wieder aus dem Fenster. »Wirtschaftlich war sie unabhängig, schließlich war sie ein gefragtes Model.«
»Sie wird sicherlich auch Geld von den reichen Männern bekommen haben, oder?«
»Mag sein, das weiß ich nicht«, antwortete er. »Aber eigentlich glaube ich, daß sie kein Geld nahm. Wofür auch immer.«
»Mein Gott, Sie kennen nur Edelmenschen. Sind Sie selbst auch einer?«
»Durchaus nicht«, sagte er leicht lächelnd. Da war wieder das Zucken um die Augen und die Mundwinkel. »Aber wir sind eben eine große Familie hier in den Wäldern.«
»Wie groß ist diese Familie, wie viele Leute gehören dazu, abgesehen von Berner?«
»Ich denke, die Clique umfaßt alles in allem zwanzig Leute.«
»Und wem von diesen zwanzig Leuten trauen Sie zu, Cherie erschossen zu haben?«
»Keinem«, antwortete Narben-Otto schnell. »Ich denke ununterbrochen darüber nach. Für mich sieht das aus wie ein Verbrechen aus Leidenschaft. Das ist ja möglich, oder? Jemand liebt sie, jemand liebt sie ganz verrückt. Und weil er sie nicht kriegen kann, lockt er sie in die Eifel und tötet sie. Sieht das für Sie anders aus?«
»Ich habe noch kein Bild«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Zum Verbrechen aus Leidenschaft paßt aber Mathilde Vogt nicht. Die beiden Frauen kannten sich, sagte Kischkewitz mir eben. Wenn er das sagt, kann das heißen, daß sie sich gut kannten, einander also vertrauten. Vielleicht wußten beide etwas, das ihren Tod bedeutete.«
»Mathilde Vogt hat zusammen mit ihrem Mann und einem Zahnarzt die Jagd nebenan. Auch sie gehörten zu unserer Familie. Es gab keinen Streit zwischen den Familienangehörigen. Wir nannten die Familie den Club, und wir sagten immer, daß das der bestgelaunte Club der Welt ist. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß es große Geheimnisse gab. Vielleicht war der Tod von Mathilde Vogt ein Unglück.«
»Vielleicht«, murmelte ich. Ich wollte plötzlich raus aus diesem Bauwagen, ich konnte Narben-Ottos geballte Harmlosigkeit nicht mehr ertragen. Er redete seine Familie schön.
»Wann kommt denn Berner?« fragte ich.
»Der ist schon hier, der ist heute morgen sofort nach Wittlich gefahren, um seine Aussage zu machen. Er wird später hier vorbeikommen. Warten Sie doch einfach, dann können Sie gleich mit ihm reden.«
»Ich habe keine Zeit mehr«, log ich.
»Noch eine Tasse Kaffee zum Abschluß?«
»Nein, danke.« Ich stopfte mir die Bianco/Nero von Lorenzo und zündete sie an.
»Das riecht gut«, sagte er. »Was werden Sie tun? Mit wem werden Sie sprechen?«
»Das weiß ich noch nicht. Mit allen erreichbaren möglichen Leuten. Wie immer.«
»Sie dürfen wiederkommen«, sagte er etwas großspurig. In diesem Moment fuhr draußen ein Auto vor, der Motor erstarb.
Narben-Otto stand so heftig auf, daß sein Stuhl umkippte. Er murmelte »Entschuldigung« und stellte den Stuhl wieder auf. »Einen Augenblick bitte, das ist ein Kumpel.« Er ging hinaus und machte die Tür des Bauwagens hinter sich zu.
Es war ein Opel Omega, drei Liter Kombi, weinrot. Der Mann hinter dem Steuer stieg aus. Es war ein schlanker, kleiner Mann, etwa 170 Zentimeter groß. Er trug einen dunkelblauen einfachen Trainingsanzug, auf dem hinten Zoll stand.
Narben-Otto kam von links in mein Blickfeld und steuerte den Mann an, der an seinem Auto stehenblieb. Narben-Otto ging dicht an den kleinen Mann heran, und sie begannen augenblicklich heftig aufeinander einzureden. Ganz eindeutig hatten sie Streit, ihre Gesichter waren kantig, ihre Handbewegungen ruckhaft und wütend. Das dauerte dreißig Sekunden, dann wandte sich der vom Zoll ab und setzte sich wieder hinter das Steuer. Er fuhr sofort los, und zwar nicht zurück zur Straße, sondern weiter in die Wiesen und Wälder hinein.
Narben-Otto kehrte in den Wagen zurück und atmete etwas heftiger. »Ein Kumpel aus dem Dorf«, erklärte er ruhig. Dann sagte er ohne jede Betonung: »Da ist übrigens ein Fremder im Wald, das sollten Sie noch wissen. Ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, über einsachtzig groß. Mit einem Zelt. Er übernachtet mal hier und mal da, redet mit keinem, macht einen muffigen Eindruck, zieht immer die abgelegensten und dichtesten Stellen vor. Das haben mir Waldarbeiter gesagt. Komisch.«
»Na ja, kann doch ein Naturfreak sein«, sagte ich. »Haben Sie eigentlich eine Waffe?«
»Aber ja«, nickte er. »Sicherheitshalber. Wenn man allein im Wald lebt, sollte man so etwas haben.«
»Waffenschein?«
»Habe ich auch«, sagte er lächelnd. »Sie sind sehr mißtrauisch.«
»Das Leben hat mich so gemacht«, murmelte ich. »Machen Sie es gut, und lassen Sie keine Bösewichter an sich ran.«
Ich ging hinaus und schlenderte den Weg zur Straße zurück zu meinem Auto. Sofort rief ich Kischkewitz an. »Jetzt bin ich allein. Berner ist bei euch in Wittlich, oder?«
»Richtig«, antwortete er. »Ein Daddy-Typ. Geld wie Heu. Auf die Frage, wieviel Geld er besitzt, hat er geantwortet, das wisse er nicht genau. Und ich gehe jede Wette ein, daß er es wirklich nicht weiß. Er hat geweint.«
»Wie bitte?« fragte ich verblüfft.
»Er hat geweint, und er hat sich nicht dafür geschämt. Er sagt, er habe sie geliebt wie eine Tochter. Cherie meine ich. Auf die Frage nach Geschlechtsverkehr mit dieser Tochter hat er nur den Kopf geschüttelt. Er war beweisbar in Düsseldorf auf einer Tagung von Bauunternehmern, er hat sogar eine Rede gehalten, den Wortlaut habe ich hier. Er weiß nicht, wie Cherie in die Eifel gekommen ist, und er weiß vor allen Dingen nicht, weshalb. Er sagt, er habe Cherie im Monat fünftausend überwiesen, einfach so, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Er hat sie wirklich geliebt, ob das tatsächlich nur väterliche Liebe ist, weiß ich nicht. Was halten Sie von Narben-Otto?«
»Ich bin unsicher. Komischer Kauz. Gibt es eine Akte über ihn?«
»Sicher. Die kriegen wir aus Düsseldorf, das Material wird morgen oder übermorgen hier eintrudeln.«
»Kommt er als Mörder in Frage?«
»Auf Anhieb würde ich das verneinen. Aber ich habe schon Pferde kotzen sehen. Hat er Ihnen auch von dem unheimlichen Unbekannten erzählt, der durch die Wälder zieht und die Nächte im Zelt verbringt?« Kischkewitz lachte leise und vergnügt.
»Hat er. Haben Sie den Mann gefunden?«
»Negativ. Ich habe zu wenig Leute, ich kann keinen Mann entbehren. Wenn Sie ihn finden, sagen Sie ihm bitte, er soll sich bei mir melden.«
»Mache ich. Was ist mit der Obduktion von Mathilde Vogt?«
»Ich warte auf das Ergebnis. Das wird noch ein paar Stunden dauern. Ich habe keine Zeit mehr, machen Sie es gut.«
»Viel Glück«, sagte ich. »Aber etwas sollten Sie noch im Hirn speichern: Narben-Otto besitzt eine Waffe mit Waffenschein.«
»Ach nee«, erwiderte Kischkewitz gedehnt.
Langsam fuhr ich zurück und dachte über die tanzende Unschuld namens Cherie nach. Es mußte Menschen geben, die sie gut kannten und die anderes erzählten als der Verbreiter guter Nachrichten namens Narben-Otto. Diese Menschen mußte ich aufspüren.
In Büdesheim lenkte ich den Wagen Richtung Hillesheim. Ich wollte im Kerpener Steinbruch nach Molchen schauen und, wenn genug da waren, einige in meinen Teich umquartieren.
Das Biotop im Steinbruch war ohne einen Tropfen Wasser, Kolbenschilf stand grün und nicht angekränkelt drei Meter hoch. Irgend jemand hatte einmal behauptet, das Biotop werde kaputtgehen, weil Regenwasser sich nicht mehr halten konnte, irgendwo zwischen den Felsen versickerte. Aber Biotope erleben nur einen Strukturwandel, kaputtgehen können sie nicht, es sei denn, Menschen zerstören sie. Ich hockte mich in den Schatten der Krüppelweide, in dem ich immer hockte, wenn ich dort war. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber es gelang mir nicht. Ich war nervös, ich stand unter Dampf, keine Spur von Gelassenheit.
Am meisten ärgerte mich meine düstere Stimmung, ich kann Leute mit düsterer Stimmung nur schwer ertragen.
Ich fuhr heim über Kerpen, Niederehe und Heyroth und freute mich auf ein Käsebrot und eine Tasse Kaffee. Ich dachte daran, Dinahs Zimmer auszuräumen, die Möbel in den Keller zu stellen und mir Regale bauen zu lassen. Dann hätte ich keine Schwierigkeiten mehr mit den dreitausend Büchern, die ich zuviel besaß. Gleichzeitig wunderte ich mich, daß ich so kühl darüber nachdenken konnte. Wahrscheinlich hatte ich begriffen, daß der Mensch Beziehungskisten nicht so einfach steuern kann wie ein Auto. Sie hatte die Nase von mir voll, sie war gegangen. Sie hatte mich ein wenig beschissen, was immer hieß, daß unsere Geschichte nicht mehr taufrisch war, daß der Zahn der Zeit sie glattgeschliffen und eintönig gemacht hatte. Sie hatte jemanden entdeckt, der etwa so neu für sie war wie ich selbst vor einigen Jahren. Nun gut, ich würde überleben und irgendwann würde dieses Leben eine Frau an Land spülen, die ich mochte. Denn eines war ganz sicher: Alleinleben wollte ich nicht, konnte ich nicht.
Rodenstock war da. Er hockte im Garten auf der Hollywoodschaukel und rauchte eine Zigarre.
»Ich grüße dich«, sagte er und hielt den Kopf schräg. Das war das Zeichen, daß er mißtrauisch war. Er sah dann immer so aus wie eine alte Krähe mit weißen Federn. »Deinen Teich finde ich sehr schön. Du mußt nur aufpassen, daß die Entengrütze nicht überhand nimmt.«
»Ich fische sie ab«, erkärte ich. »Wie geht es Emma?«
»Gut. Sie ist in s’Hertogenbosch, sie muß arbeiten. Ich soll dich von Dinah grüßen.«
»Hör auf mit diesem Kuppel-Scheiß, ich bin schon eine Weile auf der Welt und kann ganz gut damit fertig werden.«
Er war verblüfft, zittrig sagte er: »Hör mal, ich bin dein Freund, falls du das vergessen haben solltest. Ich kann verstehen, daß du verletzt bist, aber du solltest mich nicht mit Leuten verwechseln, auf die du wütend bist.«
»Ja, entschuldige. Aber laß mich mit Dinah in Ruhe.«
Eine Weile herrschte eisiges Schweigen.
Dann sagte er: »Ich kenne das Leben ziemlich gut. Sie wird sehr bald die Nase von ihrem Ausflug voll haben und zu dir zurückkehren wollen.«
»Na prima, dann werde ich eine Girlande aufhängen. ›Willkommen zu Hause!‹ Magst du Kaffee, Kognak, Schokolade?«
»Arbeitest du an diesem Fall?« fragte er und blätterte eine Bild auf den Tisch. Die Schlagzeile lautete: Waldmörder! Zwei Frauen sind die Opfer.
»Das ist der Fall«, nickte ich. »Was steht drin?«
»Eigentlich nichts«, antwortete er und stand auf. »Ich hätte gern Kaffee und das andere auch.«
Wir gingen also in die Küche.
»Was weißt du über Jagd?« fragte ich.
»Das ist die eleganteste Form der Bestechung, sagt man. Ich kenne einige Geschichtchen, aber wirkliche Kenntnisse habe ich nicht.«
»Was sind das für Geschichtchen?«
Er überlegte eine Weile, nahm ein großes weißes Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über das Gesicht. »Sie haben alle den Charakter eines Witzes. Mach den Kaffee bitte nicht zu stark. Also, der olle Biersack war ein Apotheker an der Mosel und gleichzeitig ein Jäger. Er war einer, der dauernd vom deutschen Brauchtum redete und Jäger als die Leute hinstellte, die als einzige in der Welt begriffen haben, wie das Leben funktioniert und worauf es ankommt. Er wurde achtzig und äußerte nur einen Geburtstagswunsch: Noch einmal eine Wildsau schießen. Zu der Zeit war er bereits fast blind und konnte sich beim Rasieren im Spiegel nicht mehr erkennen, so daß jeden Morgen der Friseur kam, um ihn zu rasieren. Die Jägerschaft machte sich Gedanken, wie man dem alten Herrn zu einer toten Wildsau verhelfen könne, und man entwickelte einen Plan. Der Mann wurde auf einen Hochsitz bugsiert und mit seiner Lieblingsflinte ausgerüstet. Vorher war jede Menge Mais um den Hochsitz herum ausgestreut worden, so daß jedes Wildschwein auf zwei Quadratkilometern gar nicht anders konnte, als an dem Hochsitz vorbeizuschlendern. Dann kam endlich eine passende Sau, und der Jungjäger neben dem Alten gab ihm die Flinte und sagte: Da ist das ideale Stück für Sie. Sehen Sie es? Der Alte erwiderte, er sehe es völlig klar, hielt aber die Flinte in eine vollkommen falsche Richtung. Der Jungjäger sagte: Ich zähle auf drei und Sie schießen. Dann zählte er auf drei, und der Alte schoß. Gleichzeitig schossen noch drei Jagdfreunde auf die arme Sau, die programmgemäß augenblicklich im Wildschweinhimmel landete ...«
»Das ist wirklich so passiert?« fragte ich.
»Das ist wirklich passiert«, nickte Rodenstock. »Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Man bugsierte den Alten vom Hochsitz runter und brachte ihn zu der Sau. Er wollte unbedingt ein Foto von sich und dem erbeuteten Wild haben. Er konnte aber allein nicht stehen. Dabei wackelte er so hin und her, daß der Fotograf nicht arbeiten konnte. Ein Handwerker in der Hilfstruppe kam auf eine Idee. Sie sägten eine kleine Birke ab und fertigten aus dem Stamm ein Kreuz. Das brachten sie so neben der toten Sau an, daß der olle Biersack sich dagegen lehnen, der Fotograf die Stütze aber nicht sehen konnte. Dann wurde das Foto gemacht. Jetzt kam es zu einer Panne. Ein junger Helfer der Sautötungsgruppe ging zu dem Alten, sagte »Vielen Dank« und nahm das Birkenkreuz aus dessen Kreuz. Da fiel der hilflose Alte um und schlug mit dem Kopf auf den Kopf der Wildsau. Eine satte Gehirnerschütterung.«
»Und wieviel davon ist Jägerlatein?« fragte ich.
»Es war so«, antwortete er grinsend. »Und jetzt erzähle mir von den beiden Todesfällen.«
»Todesfälle sollte man das nicht nennen. In beiden Fällen war es Mord. Eindeutig und unwiderlegbar. Und diesmal ist ein sehr guter Mann dran, Kischkewitz heißt er, sitzt in Wittlich. Diese beiden Morde tragen für mich das Zeichen von geradezu erschreckender Perfektion. Kischkewitz sagt, es sind Hinrichtungen. Ich stimme ihm zu.«
Ich erzählte ihm das bisher Geschehene und bemühte mich, jede Kleinigkeit zu erwähnen. Rodenstock war ein Meister der kleinen Dinge, er konnte sie lesen wie der Normalverbraucher die Tageszeitung, er konnte sie einordnen, malte mit ihrer Hilfe ein Bild.
Ich erwähnte also auch, daß die tote Cherie ihr Haar in einem dicken blonden Zopf trug, und sofort schoß Rodenstock die Frage ab: »Frauen fixieren in der Regel solche Zöpfe. Wie hat Cherie den Zopf fixiert. Mit einem Kamm, mit einem Band?«
Ich war stolz, wie aus der Pistole geschossen antworten zu können: »Sie fixierte den Zopf an seinem Ende mit einem Band, mit einem bunten Band. Warum ist das wichtig?«
»Weil es Rückschlüsse zuläßt«, antwortete er. »Macht sie es mit einem Gummiband, geschieht es in Eile, oder aber es ist ihr wurscht. Macht sie es mit einem einfachen Ring, gehört sie zu denen, die praktisch sind. Macht sie es mit einem bunten Band, fuhr sie im Grunde frohgelaunt mit dem Taxi in die Eifel. Das wiederum läßt den Schluß zu, daß die Nachricht, die sie in die Eifel lockte, durchaus nicht deprimierend war. Das könnte eine Grundstruktur des Täters andeuten. Er holte sie mit einem ganz schlichten, einfachen Grund in die Eifel, er machte keine Sensation daraus, er gab nicht vor, jemand sei überraschend gestorben.« Rodenstock sah mich an. »Nehmen wir an, wir sind hier in der Sonntagsschule. Frage: Was folgt nun daraus?«
Ich bemühte mich um den Ton des sächsischen Gymnasialdirektors aus der Feuerzangenbowle, ich antwortete: »Das bedeutet für uns, daß wir es mit einem Profi zu tun haben, der niemals übertreibt und eher nach Minimallösungen sucht. Eine ganz schlimme Art von Täter.«
»Da gibt es noch etwas, das auf einen Profi hindeutet, der kühl und gezielt eine Minimallösung findet.«
»Richtig«, sagte ich. »Die Spur des Autos im Gras des Waldweges. Er steigt aus, sie steigt aus. Und offensichtlich hat sie keine Ahnung, was sie erwartet. Sie gehen nach vorn in die Richtung, in der das Auto steht. Sie treffen sich unmittelbar vor der Motorhaube. Und dann laufen sie noch ein paar Schritte, und er richtet sie hin, in dem er einfach mit der linken Hand die Waffe auf ihren Nacken setzt und leicht nach oben geneigt abzieht. Sehr sachlich, sehr gezielt. Ganz ohne jede Unsicherheit.«
»Der Schöler ist zu loben!« nickte er trocken. »Hast du Fotos von ihr?«
»Nein, ich habe sie nur fotografiert, als sie noch auf dem Bauch lag. Das Gesicht abzulichten, als sie sie umgedreht hatten, machte keinen Sinn, weil es kein Gesicht mehr gab. Dum-Dum-Geschoß, weicher Bleimantel, wahrscheinlich noch mit Kreuzschlitz. Aber es dürfte keine Schwierigkeit sein, Fotos zu bekommen, Kischkewitz wird uns welche geben. Schließlich war sie unter anderem ein begehrtes Model.«
»Etwa so schön wie Claudia Schiffer?«
»Schöner«, sagte ich. »Aber das mag daran liegen, daß Gesichter sich abnutzen, wenn man sie zu oft sieht. Ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, schlank mit vollem Busen, Beine bis in den Himmel und so weiter. Eine geradezu unheimliche Perfektion. Mich würde so etwas mißtrauisch machen. Steigst du ein?«
»Natürlich. Wie sieht es mit deiner Kondition aus?« Er fragte durchaus ernsthaft.
»Nicht gut«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Ein kaputtes Privatleben und ein Doppelmord sind wohl zuviel.«
Er nickte, sagte aber nichts. Dann machte er sich über den Kaffee her, aß Bitterschokolade, trank einen dreifachen Kognak und qualmte eine Brasilzigarre von Schornsteinformat. Es stank furchtbar, aber er strahlte, und ich dachte: Der wird noch hundertzwanzig!
»Was meinst du, wo sollen wir mit der Recherche beginnen?« fragte ich.
»Ich würde gern mit diesem Julius Berner sprechen, diesem reichen Zeitgenossen. Kommen wir an ihn heran?«
»Warum nicht? Er trauert ernsthaft, sagt Kischkewitz. Wahrscheinlich ist er in seinem Jagdhaus. Wann?«
»Heute abend«, bestimmte Rodenstock. »Je schneller wir ihn hinter uns bringen, desto klarer wird unsere Marschrichtung. Ich werde mich um einen Termin mit Berner bemühen.«
Ich ging hinein und schrieb auf drei Seiten auf, was ich über den Fall wußte. Meine Überlegungen ließ ich außen vor und auch alle Theorien, die ich gehört hatte. Dann nahm ich mein Verzeichnis mit den Adressen der Redaktionen, für die ich gelegentlich arbeite, und faxte ihnen die drei Seiten.
Schließlich wählte ich auch die Nummer der Redaktion in Hamburg und sagte ihnen, sie könnten meine Geschichte haben, wenn es eine Geschichte sei. Sie antworteten, sie würden es verfolgen und es im Gedächtnis behalten. Der Redakteur, mit dem ich sprach, hatte eine sehr gestelzte Ausdrucksweise und machte mit beinahe jedem Wort klar, welch eine Lebenschance es war, mit ihm persönlich zu sprechen. Ich stellte ihn mir als zerzausten Kampfhahn vor, der durch die Hühner staubt und dabei unablässig kräht: »Seht her, ich bin wichtig, ich bin wichtig, ich bin wichtig!« Und alle Hühnchen seufzen: »Oohhh!«
»Wir können jederzeit bei ihm eintrudeln«, teilte mir Rodenstock mit. »Er hat mir beschrieben, wo die Jagdhütte ist.«
»Sollen wir sofort fahren?«
Er nickte: »Wir müssen nach Mürlenbach und an der Bertradaburg rechts ab den Berg hoch auf Michaelshag zu. Letztes Haus linke Seite.«
»Der Mann hat sich den besten Platz ausgesucht, tiefster Kyllwald. Nehmen wir deinen?«
»Wir nehmen meinen.« Damit er im Zweifelsfall schneller bei Emma in Holland war, hatte sich Rodenstock einen kleinen, dunkelblauen Seat Ibiza gekauft, der mit 150 PS unter der Haube arbeitete und mühelos 220 Stundenkilometer schnell war.
Rodenstock fuhr auch jetzt sehr schnell, bremste die Kurven kaum an. Ein paarmal blieb mir die Luft weg, aber tapfer atmete ich weiter.
Im Abendschimmer lag die Bertradaburg wie aus dem Felsen gewachsen am Hang, die beiden Rundtürme wirkten solide, ewig wache Wächter, der Schiefer auf ihrem Dach schimmerte.
Rodenstock wurde unversehens langsamer. »Jetzt ein Interview mit Karl dem Großen!« sagte er versonnen. »Was glaubst du, was würde er sagen?«
»Er würde wahrscheinlich die bissige Bemerkung machen, daß wir die Erde versauen und sein Europa mit Hilfe von EU-Verordnungen strangulieren. Dann würde er sich besaufen. Achtung, du mußt rechts ab.«
»Der Karte nach sind wir jetzt zwischen dem Prümer Berg und den Steiniger Bergen. Deine Eifel ist wirklich ein Traumland.«
»Richtig«, murmelte ich zufrieden. »Als der liebe Gott den Landschaftsarchitekten gab, machte er hier sein Meisterstück.«
Das Haus des Julius Berner war nicht zu sehen. Zu sehen war nur ein sehr massiver, etwa drei Meter hoher Zaun, der rechts und links von der Einfahrt mit Videokameras bestückt war. Dahinter ragten Weymouthskiefern hoch.
Es gab eine Klingel an einem Pfosten, die Autofahrer betätigen konnten. Rodenstock drückte auf den Knopf, und jemand fragte metallisch: »Ja, bitte?«
»Besuch«, sagte Rodenstock. »Baumeister und Rodenstock.«
»Nehmen Sie die rechte Auffahrt. Herzlich willkommen.« Das Tor schob sich lautlos beiseite.
Das Haus war riesig und vollkommen aus Holz gebaut, mit extrem großen Fenstern. Vor der Gebäudefront ein mit Rasen bedeckter Parkplatz, auf dem nur zwei dunkelblaue Mercedes 300 GD standen. An der Haustür erwartete uns ein junger Mann. Er war schlank, sehr groß und trug Jägerkleidung, sein Gesicht war freundlich und gleichzeitig nichtssagend. Seine Haut war braungebrannt wie bei jemandem, der dauernd im Freien ist.
Er stellte sich nicht vor, höflich sagte er nur: »Guten Abend. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Es ging in einen sehr breiten, langen Flur, dann rechter Hand in einen hallenartigen Raum, der bis zum First hin nach oben offen war und sich im Dunkel der Hölzer ein wenig verlor. Die Balken sahen aus wie von Eichen und Buchen, sie waren massiv, wirkten aber gleichzeitig filigran, sparsam gesetzt. Ich blieb unbewußt stehen und atmete den Raum ein. Er war einfach schön, menschengemacht und von großer Eindringlichkeit – und es gab keinerlei Jagdtrophäen an den Wänden.
»Das hat mir ein Freund aus Finnland gebaut«, sagte ein Mann im Hintergrund, der nicht gleich auszumachen war, weil er klein und verloren in einem großen Ledersessel hockte. Er trug so etwas wie einen Trainingsanzug in Dunkelblau, war sicher nicht größer als 170 Zentimeter, und als er aufstand, erkannte ich Filzpantoffeln mit den brauen Karos der Urahnen an seinen Füßen. Es wirkte irgendwie rührend.
Er schlurfte uns entgegen: »Ich bin Julius Berner, guten Tag. Und das da ist mein Wildhüter Stefan Hommes aus Gerolstein.«
Der große Schlanke machte die Andeutung einer Verbeugung und sah seinen Arbeitgeber an.
»Vielleicht ein bißchen Wein, oder nein, eine Flasche Sekt, ich kann es vertragen. Wasser auch. Oder wollen Sie etwas Warmes?«
»Das ist in Ordnung so«, sagte Rodenstock liebenswürdig. »Wir bedanken uns. Wir wollen Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.«
»Nehmen Sie ruhig davon«, entgegnete der Hausherr mit trockenem Humor. »Zur Zeit habe ich viel auf meinem Zeitkonto. Ich kann nicht arbeiten, also versuche ich es nicht einmal.« Er hatte eine trockene, tiefe, angenehme Stimme, sein Gesicht war schmal mit hellen grauen Augen, seine Haare weiß und voll. »Setzen Sie sich doch.« Berner rutschte in seinen Sessel und war augenblicklich wieder klein und unscheinbar. »Was haben Sie gesagt? Sie seien Amateure? Was heißt das?«
Rodenstock lächelte. »Das heißt, daß wir uns rein privat um diesen Fall kümmern. Siggi Baumeister hier neben mir ist Journalist, ich bin Kriminalrat a. D. Wir sind Freunde und kümmern uns um solche Fälle. Herr Baumeister schreibt darüber, aber grundsätzlich erst dann, wenn unsere Informanten den Text geprüft haben. Wir vermeiden dadurch falsche Aussagen, die auf Kosten der Informanten gehen könnten.«
Er nickte und sah mich an. »Entschuldigen Sie, ich habe im Internet geblättert, Sie genießen den Ruf eines ziemlich harten Reporters. Sie sind spezialisiert auf Verbrechen und Sozialreportagen? Stimmt das?«
»So ist es«, sagte ich. Dann sah ich den großen Bilderrahmen auf dem Tisch genau vor ihm. »Ist das Cherie?«
Er nickte. »Ich habe ein Foto in den Rahmen gesteckt und grüble darüber nach, warum unser Herrgott zuweilen so brutal ist. Wenn Sie sie anschauen wollen, bitte sehr!« Er drehte den Rahmen herum, und Cherie sah uns an. Sie trug bis zu den Knien aufgekrempelte Jeans und war barfuß. Die Jeans wurden von einem gewaltigen genieteten Lederriemen gehalten, und ihr Oberkörper war unbekleidet. Sie lachte ein unbeschwertes, fröhliches Lachen, und hinter ihr war das Haus zu sehen, in dem wir saßen.
»Sie ist ... sie war schön«, murmelte Rodenstock höflich. »Herr Berner, wir wissen bereits, daß Sie ihr fünftausend Mark im Monat zahlten. Wie lange schon und warum? Und entschuldigen Sie diese direkten Fragen, aber das muß sein.«
Er warf beide Hände etwas nach vorn und antwortete: »Das ist eine Zuwendung. Da ich die Frage auch bei der Kriminalpolizei in Wittlich beantworten mußte, habe ich mich bei meinem Chefbuchhalter klug gemacht. Ich zahle ihr das seit ihrem 21. Geburtstag. Wir verbuchen es unter Ausbildungsbeihilfe.«
»Was hatte sie dafür zu liefern?« fragte ich.
Er kniff die Lippen zusammen, als habe ihn die Frage wie ein körperlicher Schlag getroffen. Zittrig murmelte er: »Sie gab dafür ihr Lachen.« Dann weinte er und zischte mehrmals hintereinander: »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
Stefan Hommes schob einen Teewagen voller Flaschen in den Raum und zuckte zusammen, als er seinen Arbeitgeber weinen sah. Den Bruchteil einer Sekunde lang hatte ich den Eindruck, er wolle auf uns losgehen, aber Berner sagte hastig: »Schon gut, schon gut.«
Er schniefte, und glücklicherweise entschuldigte er sich nicht. »Fragen Sie nur weiter.« Er preßte die Fingerspitzen gegeneinander und seine Finger wurden weiß. Väterlich sagte er: »Stefan, du brauchst nicht zu warten, du kannst gehen. Und grüß deine Mutter.«
Stefan Hommes musterte ihn aufmerksam, drehte sich um und marschierte zu einer Reihe von vier Stühlen, die etwas motivationslos an der Querwand aufgereiht waren. Der Wildhüter setzte sich und verschmolz fast mit dem Hintergrund aus dicken Balken.
Berner lächelte kurz. »Fragen Sie all das, was Sie fragen müssen. Vielleicht zu Cherie, weil natürlich jedermann annimmt, ich hätte sie mit Haut und Haar für fünftausend Mark im Monat gekauft. Sie ist die Tochter meines tüchtigsten Poliers in Firma Nummer sechs. Ich habe sechzehn Firmen und numeriere sie der Einfachheit halber. Nummer sechs heißt Sozialbau. Weil ich den Vater mochte, war sie schon als Kind dauernd in meiner Nähe, ich habe sie wachsen sehen. Anfangs sagte sie Opa Julius zu mir, später nannte sie mich Jules, französisch gesprochen. Sie war in dem Karnevalsverein, dessen Vorsitzender ich bin, sie tanzte als Funkenmariechen, sie raubte so ziemlich allen Männern den Verstand. Da war sie erst sechzehn. Ich erinnere mich an einen Oberstudienrat am Gymnasium, der sich versetzen ließ, weil sie für ihn zur Obsession wurde. Ich finanzierte ihr die Lehrgänge in New York und Miami Beach, in Paris und Hongkong, sie nahm ihren Beruf sehr ernst.«
»Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der Cherie erschossen hat?« fragte Rodenstock.
»Nein«, sagte er heftig. »Absolut nicht. Sie hatte keine Feinde, ich kann mir jedenfalls Feinde für Cherie nicht vorstellen. Es gab immer Männer, die sie anschmachteten wie geile Dackel – entschuldigen Sie –, und es mag hier und da einen Mann gegeben haben, dessen Liebe sich zu Haß wandelte. Aber ich denke, die meisten haben sich doch im Griff, oder?«
»Anscheinend nicht«, murmelte Rodenstock. »Haben Sie denn gar keine Idee, was da abgelaufen ist?«
»Nein!« Berner schrie fast. »Genau das ist es. Mir ist vollkommen unerklärlich, was da geschehen ist.«
»Und dann ist da ja auch noch die tote Mathilde Vogt«, sagte ich in die Stille. »Die beiden Frauen kannten sich nach Angaben des Kriminalbeamten Kischkewitz sehr gut. Wie paßt Ihrer Meinung nach Mathilde Vogt in diese traurige Szenerie?«
»Ich weiß, daß die beiden sich mochten.« Er sprach ganz langsam. »Frau Vogt hatte zusammen mit ihrem Mann und einem befreundeten Zahnarzt aus Wittlich die Nachbarjagd. Sie war eine der seltenen Jägerinnen und perfekt in der Hege und Pflege des Wildes. Und sie war eine Eiflerin, wie sie im Buche steht, eine Powerfrau. Der Mann besitzt eine kleine Hochbaufirma, und ich mag ihn, weil er genauso wie ich praktizierender Katholik ist. Ich gab ihm Aufträge noch und nöcher. Und er arbeitet verdammt gut und verantwortungsvoll. Und jetzt das. Fragen Sie mich nicht, weshalb die beiden Frauen tot sind, fragen Sie mich das nicht. Ich weiß es nicht, ich ahne es nicht, ich fühle mich vollkommen hilflos. Vielleicht mußte Mathilde Vogt sterben, weil sie den Mörder von Cherie gesehen hat. Beide Frauen wurden nicht weit voneinander entfernt gefunden ...«
»Das könnte sehr gut sein«, sagte ich elektrisiert. »Natürlich, das könnte sein.«
Eine Weile war es still.
Rodenstock begann behutsam: »Wie Sie wissen, ist eine Frage noch offen. Sie wissen, was ich meine: Wurde irgendwann männliche Liebe aus Ihren väterlichen Gefühlen für Cherie?«
Berner kroch noch mehr in sich zusammen, beugte sich vor, zog das Foto von Cherie an sich, drehte es um, so daß er in ihr Gesicht sehen konnte. »Ich habe mich für diese menschliche Schwäche gehaßt«, begann er. »Ja, ich mußte irgendwann akzeptieren, daß ich sie liebte. Das Verrückte ist nun, daß sie auch mich liebte und daß sie das für vollkommen normal hielt.«