Neuntes Kapitel
Ich habe nicht die geringste Ahnung, was sich in der nächsten halben Stunde in der Enge meines Autos abspielte, weil alles überlagert war von Hektik. Emma hinter mir telefonierte mit Kischkewitz, den sie – welch Wunder – doch noch in irgendeinem Bett gefunden hatte. Rodenstock redete per Handy mit Stefan Hommes. Ab und zu erwischte ich ein Funkloch, und dann reagierten beide, indem sie auf ihre Apparate einhämmerten und ständig lauter werdend brüllten: »Hallo, hallo, hallooohh!« In solchen Situationen fragt man sich, ob es ein Leben vor dem Handy gegeben hat.
Kurz vor Pelm wollte ein wildgewordener Jungeifler in seinem Golf unbedingt die Linkskurve ganz weit außen auf der falschen Fahrbahn nehmen. Er hatte seine Anlage so weit aufgedreht, daß wir kurz vor dem vermeintlichen Aufprall die Bässe hörten. Irgendwie schaffte er es, irgendwie schaffen sie es alle, irgendwie sind sie die Stütze der Automobilindustrie. Dieser Vogel rauschte im Rasierklingenabstand an uns vorbei. Friede seinem Hirn.
»Huch!« kommentierte Emma.
»Den zeige ich an!« brüllte Rodenstock. »Nein, nicht dich, Hommes.«
Endlich gediehen Rodenstocks Kommunikationsversuche soweit, daß er Auskunft geben konnte: »Hommes nimmt seinen eigenen Wagen. Er wartet an der Verbindungsstraße Hillesheim-Oberbettingen-Scheuern-Oos. Rechter Hand auf dem ehemaligen Eisenbahngelände. Weißt du, wo das ist?«
»Sicher.« Aber da waren wir schon über die Überführung der Bahngleise in Gerolstein, und ich mußte im Bereich der Ampel wenden, um den Berg hoch nach Müllenborn zu kommen. Ich hätte gnadenlos meinen Führerschein auf Lebenszeit abgeben dürfen, falls mich ein Polizist bei der Wende beobachtet hätte.
»Wieso fährst du um Gottes willen so extrem rechts?« fragte Rodenstock vorsichtig. »Willst du die Weltmeisterschaft im Pflügen gewinnen?«
»Wo wartet Hommes noch mal?«
»Auf der Landstraße Hillesheim-Oos. Er sagte, du sollst die Scheinwerfer abschalten, und wir sollen nicht losgehen, ehe unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben.«
»Ein kluger Mensch«, lobte Emma von hinten. Dabei ließ sie die Trommel ihres 38er Special rotieren. Sie war die einzige Frau in meiner Welt, der ich es zutraute, mit einem leibhaftigen Colt die Nudeln umzurühren und dabei zu singen: »Mariechen saß weinend im Garten, im Grase da schlummert ihr Kind ...«
In Büdesheim zog ich scharf nach rechts auf die Landstraße durch die Kalkmulde. Gleich rechter Hand liegt eine Gemarkung, die rührenderweise ›Auf Erden‹ heißt, wahrscheinlich eine Lobpreisung der alten Bauern wegen der ertragreichen Felder in diesem flachen Land am Oosbach.
Ich schaltete die Scheinwerfer ab, verscheuchte alle dümmlich philosophierenden Texte aus meinem Hirn und dachte daran, daß möglicherweise in zehn Minuten geschossen werden würde und daß ich nicht einmal ein Taschenmesser bei mir hatte.
In diesem Augenblick sagte Rodenstock neben mir: »Was ich jetzt tue, verstößt gegen sämtliche Regeln meines hochedlen Charakters. Ich gebe dir eine Beretta, mein Freund. Schön flach, schön handlich, schön im kaum vorhandenen Rückschlag. Wenn du schießen mußt, leg vorher den Sicherungshebel um. Du hast sieben Schuß.«
»Danke«, murmelte ich. »Eine Zigeunerin hat mir einmal prophezeit, ich würde durch eine Kugel sterben. Vielleicht ist das heute.«
»Nein, nicht heute«, widersprach Emma hinter uns trocken. »Das kann gar nicht heute sein, denn am Freitag müssen wir alle zusammen auf eine Beerdigung. Und zwar nicht auf unsere.«
Ich rollte jetzt ganz langsam dahin und richtete eine intensive Bitte an den alten Mann, mir keinen wild gewordenen Milchfahrer zu schicken, der die Bauern der Umgebung abgraste. »Seid gleich keine widerlich deutschen Helden. Denkt daran, ihr wollt demnächst heiraten.«
»Ha, ha, ha!« machte Rodenstock.
Emma widersprach sanft: »Also, ich finde das schön.«
Rodenstock konnte es nicht lassen: »Bestimmt wirst du bei der Trauung den Colt hinterm Strumpfband tragen.«
»Na sicher, du brauchst doch einen Salut!« erwiderte sie spitz. »Guck mal, da steht der Wagen von Hommes.«
Das Auto stand an der Mündung eines Feldweges, die Straßenlaternen von Oos zur rechten Hand sandten ein mageres Licht. Der Himmel war noch nachtblau, hatte aber schon Lichtspuren des kommenden Tages. Ich fuhr an Hommes Wagen vorbei in den Feldweg und parkte dann.
»Bitte, die Türen nicht knallen. Wo ist Hommes?«
»Er muß da auf dem Erdwall sein, direkt an der Straße.«
»Auf was für einem Gelände bewegen wir uns hier überhaupt?« fragte Emma.
»Büsche, ziemlich viele kleine Birken, kleine Eichen. Erst im Hintergrund Waldung. Kiefern, sehr hohes Gras, dichte Weiden, Ginster, massives Gestrüpp. Aber erst einmal kommt eine Art Schlucht. Steile Wände, ungefähr fünfzig bis sechzig Meter Sohlenbreite. Dann ein schwieriger Steilanstieg, dahinter erst das eigentliche Gelände. Sagt Hommes.« Rodenstock lud seine Waffe durch.
»Können wir Ballmann anrufen? Per Handy?« fragte ich.
»Besser nicht«, antwortete Rodenstock. »Wenn dieses Ding aufjault, haben seine Jäger einen Hinweis, wo er ist.«
Wir querten die Straße, stiegen durch den Graben und dann die kurze, steile Böschung hoch. Rechts wie links federartig stehende Ginsterbüsche, der Geruch von wildem Thymian war sehr dicht. Die Neigung bis zum Boden der Schlucht war fast senkrecht. Ich hatte irgend etwas davon gehört, und plötzlich fiel es mir wieder ein. Die Großväter der jungen Elterngeneration aus Oos hatten hier mit der Hand Kalk abgebaut, der als Zement auf die Eisenbahn verladen worden war.
Plötzlich tauchte Stefan Hommes links von uns auf und kam langsam auf uns zu.
Rodenstock atmete scharf ein, da war Entsetzen.
Hommes trug eine kleine Uzi in der rechten Armbeuge, eine Waffe, die in Lizenz in Israel hergestellt worden war und von der Abertausende schwarz in Europa kursieren. Die Waffe war sehr effektiv, konnte mit einem gebogenen 70er-Magazin geladen werden und war auf Distanzen unter dreißig Metern bei Streufeuer absolut tödlich. Kurz, das ist eine Waffe, bei der ich automatisch an Massaker denke.
Hommes deutete mit dem Kopf zurück auf die Straße, also schlichen wir die Böschung wieder hinunter.
»Er steckt wahrscheinlich im hinteren Bereich, da wo die Bäume dicht stehen und höher sind als auf der ersten Strecke.« Der Wildhüter flüsterte.
»Wieso setzt er sich nicht auf sein Mountainbike und verschwindet?« fragte ich. »Wieso läßt er sich auf so einen Scheiß ein? Das kann sein Tod sein.«
»Richtig«, nickte Hommes. »Das habe ich mich auch gefragt. Aber die Lösung ist ganz einfach: Er hat das so gewollt. Er wollte die Killer auf sich ziehen, er ist eben verrückt.« Er schaute Rodenstock an. »Ich habe keine Erfahrung. Wie gehen wir vor?«
»Wie lang erstreckt sich das Gelände? Und wie tief ist der Waldgürtel?«
»Ich würde schätzen, das Kernstück ist etwa vierhundert Meter lang, der Waldgürtel dreihundert Meter tief.«
»Wir müssen uns trennen«, entschied Rodenstock nach kurzem Überlegen. »Ich gehe links außen, du mit der Uzi bleibst in der Mitte, Baumeister folgt als dritter. Emma geht rechts außen. Und, bitte, schießt nicht ohne Not. Nur schießen, wenn ihr ganz sicher seid. Und wenn ihr unter Feuer geratet, nicht sofort zurückfeuern, erst versuchen, aus der Schußbahn zu kommen.«
»Wie heißt eigentlich der Heilige, der in so einem Fall zuständig ist?« fragte Emma.
»Der heilige Sebastian«, gab ich Auskunft. »Aber der hatte keine Uzi und ist auch nicht erschossen, sondern erschlagen worden.«
»Wie tröstlich«, flüsterte Emma.
»Das stimmt, das macht richtig Mut.« Rodenstock wies die Böschung hoch. »Also ab. Und achtet auf die Uhr. Wir gehen in genau drei Minuten von der Böschung aus in das Gelände. Und geht langsam!«
Wir trennten uns und hatten nach zwei Minuten eine breitgezogene Kette gebildet, nach drei Minuten gingen wir in das Gelände. Ich ließ mich bäuchlings über die Kante des Bruchs rutschen, bis ich auf die Sohle der kleinen Schlucht prallte. Stefan Hommes zu meiner Linken konnte ich ebenso wenig ausmachen wie Emma zu meiner Rechten. Ich bot vermutlich einen lächerlichen Anblick. Mit einer Waffe in der Faust durch den deutschen Wald zu schleichen im Jahre des Herrn 1998, das Ganze reizte meine Lachmuskeln. Aber ich hätte nicht lachen können. Ich befand mich in einem hochfiebrigen Zustand. Wer immer Andreas Ballmann jagte, er würde schießen und auch töten.
Langsam und fast betulich tauchten Fragen auf. Wieso hatten sie Ballmann hier geortet? Wie war das möglich gewesen? Zufall? Gibt es solche Zufälle? Ballmann hatte diesen Platz nach flüchtiger Berechnung bestenfalls gestern abend gegen 22 Uhr erreichen können. Hatten sie auf ihn gewartet? Gänzlich unmöglich, denn drei Stunden eher hatte er noch gar nicht gewußt, wo er sein Zelt aufstellen würde. Hatte vielleicht Hommes, der den Standort kannte, unbewußt irgend etwas verraten? So mußte es sein, entschied ich, und es mußte möglich sein, den Adressaten eines solchen Verrats dingfest zu machen.
Ich querte die Sohle der Schlucht sehr schnell, denn dort gab es nicht die Spur einer Deckung. Wenn jemand gegenüber in den Büschen hockte, konnte er uns abschießen wie die Tontauben. Ich begann den steilen Anstieg und schaffte ihn in einer verhältnismäßig kurzen Zeit, weil ein Weidenstamm mir die Möglichkeit bot, mich hochzuziehen.
Rechts neben meinem rechten Schuh entdeckte ich einen hellen großen Fleck. Ich ging in die Knie, es war blühender Mauerpfeffer. Als ich mich wieder aufrichtete, fuhr ein Birkenast durch mein Gesicht. Es war eine so unvermittelte Berührung, daß ich zusammenzuckte und vor Schreck erstarrte. Was mußte ich eigentlich tun, wenn jemand mich ausmachte und schoß?
Rechts von mir knackte ein Ast, der Verursacher des Geräuschs konnte vom Karnickel bis zur Wildsau alles mögliche sein. Nur nicht Emma, Emma mußte fünfzig Meter entfernt neben mir gehen, und das Geräusch war aus wesentlich weniger als fünfzig Metern gekommen.
Welche Tiere jagen nachts? Sicher, Igel zum Beispiel. Ich beschloß also, daß dort ein Igel war, der Gedanke war sehr beruhigend.
Schräg links vor mir blitzte etwas auf, und augenblicklich ging ich in die Knie. Ich hatte mal gelesen, daß nichts so wichtig ist, wie eine Unruhequelle direkt anzugehen, sich sofort zu vergewissern. Richtig, es hatte in einem Unterrichtsbuch für DEA-Agenten gestanden, deren Aufgabe es ist, Drogenfelder zu entdecken und zu kontrollieren.
Ich legte mich auf den Bauch und robbte vorwärts, wobei die Waffe elendiglich hinderlich war. Ich steckte sie über meinem Hintern in den Lederriemen, der die Hosen hielt. Dann ging es besser.
Es blitzte wieder, diesmal vielleicht zehn Meter entfernt hinter einer Ginstergruppe. Ich nahm die Waffe aus dem Gürtel, rollte mich dann in der Längsachse nach links, um in eine bessere Position zu kommen. Dann blitzte es erneut, und ich begriff, daß das Blitzen von meiner Kopfhaltung abhing – eine Coladose. Ich atmete durch, dreimal, viermal und drohte dabei, ins Husten zu geraten. Ich preßte mein Gesicht in das Gras und bekam den Hustenanfall in den Griff.
Plötzlich spürte ich, daß mein Handy vibrierte. Glücklicherweise ist es immer so programmiert, daß ich auf jeden beliebigen Knopf drücken kann, um die Verbindung aufzunehmen.
Ich hauchte: »Ja?«
»Ich kann dich sehen.« Ballmanns Stimme war wie lautes Atmen. »Halte dich rechts, Winkel ungefähr zwanzig Grad. Da sind zwei Männer. Entfernung von dir etwa dreißig Meter. Emma hat sie schon drauf.« Etwas klickte nahezu unhörbar.
Wieso konnte er mich sehen? Von wo aus konnte er mich sehen? Ich erkannte keinen Hügel, nur eine Böschung, sechzig bis siebzig Meter vor mir. Aber von dort konnte er mich unmöglich sehen.
Zwanzig Grad? Was zum Teufel ist ein Winkel von zwanzig Grad? Also, neunzig Grad wäre ein rechter Winkel, ungefähr ein Viertel davon wären dann zwanzig Grad, aber wenn ich zum Beispiel um einen Busch herumkriechen müßte, wären sämtliche Baumeisterlichen Winkelzüge im Eimer. Dreißig Meter? Um Gottes willen, das war ein Klacks, das war eine Entfernung, die unter Null gehandelt werden muß.
Ich plazierte mich erneut auf den Bauch und kroch vorwärts, ungefähr in die Richtung, die ich mir unter zwanzig Grad vorstellte. Ich habe bis heute keine Ahnung, wieso ich plötzlich einen Turnschuh in der rechten Hand hielt. Ich weiß nur noch, daß ich Emma fast über den Haufen kroch und sie mir eisenfest ihre Finger in die Schulter krallte. Dann lag ich lang ausgestreckt neben ihr, und sie deutete mit dem Lauf ihrer Waffe geradeaus.
Mir wurde kalt. Anfangs sah ich nichts, konnte nichts und niemanden ausmachen. Dann wurde das Licht etwas weicher. Der erste Mann stand hinter einer kleinen Schlehe, vollkommen bewegungslos. Er sah in die entgegengesetzte Richtung. Der zweite Mann befand sich rechts von dem stehenden Mann. Er kniete. Beide Männer hatten zu uns die gleiche Distanz, ungefähr fünfundzwanzig Meter. Sie schienen auf denselben Punkt zu starren.
Emma stieß mich sanft an und zeigte mit dem Lauf ihres Colts senkrecht in den Himmel. Da begriff ich, wieso Ballmann mich sehen konnte. Er hockte auf einer von den vier oder fünf starken Kiefern. Aber wie, zum Teufel, war er da hochgekommen? Kiefernstämme sind glatt, wenn sie hoch sind. Und es gibt sehr selten Geäst, das den Aufstieg ermöglicht.
Die beiden Männer vor uns waren so weit entfernt wie der Mond. Es war nicht vorstellbar für mich, daß wir in deren Nähe kommen konnten, ohne daß sie uns sofort abschießen würden.
Aber auch dieses Problem erwies sich Sekunden später als erledigt. Emma legte mir eine Hand auf die Schulter, deutete mit der Waffe auf sich selbst, dann auf die beiden Männer. Dann zeigte sie auf mich und wies in eine Richtung, die mich an einen Punkt führen mußte, der von den Männern aus gesehen scharf rechts war. Wenn also Emma zum Angriff startete, würden die Männer sich herumdrehen, und dann stünde ich in einem von ihnen nicht mehr steuerbaren Winkel, und wahrscheinlich müß-te ich so etwas Blödes wie »Hands up!« brüllen oder, wie man im Deutschen sagt: »Lang zum Himmel, Fremder!«
Zum Schluß deutete Emma auf die Waffe in meiner rechten Hand. Sie griff danach und legte den Sicherungshebel um, dann lächelte sie schwach, drückte noch einmal meine Schulter und nickte dazu. Ich war entlassen, der Soldat Baumeister hatte sich in den Kampf zu begeben. Ich hatte keine Ahnung, was die Frau eigentlich anstellen wollte, aber wahrscheinlich war das vollkommen unerheblich, denn in jedem Fall würden mich die beiden Männer zu irgendwelchen Heldentaten zwingen.
Ich kroch so langsam und so platt wie möglich in die vorgeschriebene Position. Es dauerte sicher nicht länger als drei oder vier Minuten. Dann hob ich die Hand, um anzudeuten, daß ich im Hafen sei. Ob Emma das sehen konnte, war nicht klar. Klar war nur, daß sie plötzlich aufrecht stand und ihre Waffe beidhändig nach vorn richtete.
Automatisch erwartet man so etwas wie »Hände hoch!«, aber sie sagte nichts. Sie machte zwei oder drei Schritte vorwärts, und ohne jede Warnung feuerte sie einmal.
Der Mann, der eben noch links von dem kniendem Mann gestanden hatte, fiel nach vorn und gab dabei ein hustenähnliches Geräusch von sich, das in ein Stöhnen und Wimmern überging.
Vielleicht hatte Emma insgeheim darauf gewartet, daß ich genauso wie sie agierte. Doch ich tat nichts, ich konnte auch nichts tun, denn der Mann, der dort wenige Meter entfernt gekniet hatte, war verschwunden.
Emma fegte wie ein Strich vorwärts.
Ich rannte los, weil Emma etwas Kostbares in meinem Leben ist und weil ich auf keinen Fall dulden wollte, daß jemand ihr etwas antat.
Ich lief also in Emmas Richtung und stieß auf den Mann, der gekniet hatte. Er kniete schon wieder, und er richtete eine Waffe auf mich, schwenkte sie dann schnell nach rechts. Er mußte Emma töten, wenn er jetzt schoß. Und er schoß.
Ich brüllte etwas und warf mich auf ihn. Ehe ich landete und sämtliche Knochen im Leibe spürte, hörte ich in unendlich weiter Ferne einen Schuß. Ich spürte, daß der Mann stoßweise atmete. Mein Knie befand sich dicht unterhalb seines Kopfes, und ich zog es mit aller Gewalt hoch. Er war augenblicklich bewußtlos.
Plötzlich kam Emma auf mich zu, lässig wie bei einem Spaziergang, und sagte: »Das war’s!«
Wie eine Detonation erklang die Stimme Andreas Ballmanns. »Alles klar, Leute. Der Dritte liegt hier.«
Da erkannte Stefan Hommes mit hoher, gequälter Stimme: »Oh Scheiße! Das sind Leute von uns«, und Rodenstock fragte augenblicklich nach: »Was sagst du?«
Rodenstock und Stefan Hommes holten den dritten Mann heran, der eine Schußverletzung im linken Wadenbein hatte und vor Schmerzen nicht gehen konnte. Der Mann, den ich unschädlich gemacht hatte, bewegte sich träge. Der Dritte, den Emma so kühl angeschossen hatte, hielt sich die linke Schulter fest.
»Jetzt muß ... jetzt muß mein Chef verhaftet werden«, sagte Stefan Hommes fast monoton. »Jetzt ist es wirklich zu Ende. Das sind Waldarbeiter von uns, Polen, die seit vielen Jahren bei uns arbeiten. Das da ist zum Beispiel Pjotr. Ein guter Arbeiter.« Dabei wies er auf den Mann, den Emma in die Schulter getroffen hatte. »Pjotr, du Arsch! Was hast du dir dabei gedacht?«
»Habe ich nichts gedacht«, sagte Pjotr muffig. »Habe ich Auftrag, mache ich Auftrag.« Er war ein kleiner, quadratisch gebauter Mann, er wirkte zugleich zäh und bärenstark. Sein Haar war lang und blauschwarz, seine Gesichtszüge freundlich, aber überlagert von Schmerz und einer tiefen Melancholie. Wahrscheinlich gehörte er wie Hommes zu den Menschen, die ihre Existenz einem Mann namens Berner verdankten und die jetzt begreifen mußten, daß auch ein Typ wie Berner mattgesetzt werden konnte.
»Notarzt?« fragte Rodenstock.
»Auf jeden Fall«, nickte Emma. »Und Kischkewitz. Das mache ich.«
Während sie telefonierten, schrie Stefan Hommes weiter aufgebracht: »Verdammt noch mal, Pjotr, du mußt doch wissen, auf was du dich da eingelassen hast. Hat Berner befohlen, den Mann zu töten? Nein, nein, antworte lieber nicht. Natürlich hat er das. Ich will es eigentlich nicht wissen, aber wie konntest du so ein Arschloch sein? Du bist ein kluger Mann, Pjotr, und du hattest das Geld für dein Haus zusammen. Mein Gott, bist du verrückt? Und was wird jetzt aus deiner Frau und den Kindern? Oh, Gott, bist du ein Arschloch.« Er wurde immer lauter und immer schriller, und trotz des nur langsam emporsteigenden Morgenlichtes war zu erkennen, wie bleich er war, und seine Hände zitterten stark, wenn er nicht mit ihnen herumfuhrwerkte und sie sekundenlang zur Ruhe kamen. Er war vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten.
»Beruhige dich«, sagte ich. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.« Ich bin scheinbar ein Spezialist für dämliche Sprüche, dachte ich in mattem Zorn.
»Mensch, die meisten Polen kommen an die Mosel und in die Eifel, um zu arbeiten wie die Wilden. Meistens kriegen sie fünf Mark die Stunde, schlafen auf Stroh und fressen Vierfruchtmarmelade von Aldi auf Wasserbrot, das kein Mensch sonst essen würde. Weißt du, wie es denen geht? Ich habe dafür gesorgt, daß Pjotr einen festen Job hat und anständig bezahlt wird. Berner unterstützt das. Und jetzt geht dieses Arschloch hin und ... Sag doch selbst, das ist doch eine Art Selbstmord.«
Die beiden anderen Polen waren jetzt auch wach, und ihre Augen waren hell und neugierig.
»Wer hat dir gesagt, du sollst Cherie töten?« fragte Hommes wieder. »Nein, keine Antwort. Ich flippe aus, ich flippe gleich wirklich aus. Warum Mathilde Vogt? Pjotr, wir sind doch hier nicht im Krieg, und du bist ein kluger Mann.«
Rodenstock drehte sich zu uns herum. »Die Leute von Kischkewitz kommen gleich, ebenso wie der Notarzt und der Rettungshubschrauber.« Er musterte die Polen aufmerksam. »Jetzt geht es euch beschissen, was?«
Pjotr nickte, sagte aber nichts. Er stand bewegungslos da, hob sich gegen den Himmel ab wie eine Statue, und die linke Seite seines hellen Hemdes war schwarz von Blut.
Ich hockte mich auf eine kleine Grasfläche und stopfte mir die Dänische Pfanne von Stanwell. Mir war kalt, und ich zitterte.
Emma setzte sich neben mich und zündete sich einen Zigarillo an. »Ich habe geschossen, weil wir absolut keine andere Chance hatten«, erklärte sie gelassen.
»Ich weiß, das habe ich begriffen. Es macht mich trotzdem fertig.«
Sie nickte und kommentierte das nicht. Sie betrachtete die drei Polen der Reihe nach sorgfältig, als gelte es, den Klügsten unter ihnen zu finden. »Was glaubst du, was konnte sie dazu treiben?«
»Geld«, sagte ich. »Bargeld. Sie leben in einem unendlich benachteiligten, kaputten Land, und sie sind Könige im Überleben. Ich gehe jede Wette ein, es war Bargeld.«
»Ich kann es nicht fassen. Wie kann Julius Berner so dumm sein?«
»Ich weiß nicht. Die meisten Dinge erweisen sich im nachhinein als unendlich trivial. Vielleicht ist Berner hysterisch geworden, fühlt sich verfolgt, was weiß ich. Wenn du auf einen Menschen schießt: Bist du sicher, daß du ihn dort triffst, wo du willst?«
»Ziemlich. Zugegeben, es immer kann schiefgehen. Aber in der Regel erziele ich die gewünschte Wirkung.«
Pjotr hatte bis jetzt regungslos gestanden. Jetzt sah er mich fragend an und deutete auf die Erde.
»Na, sicher, kannst du dich setzen.«
Er holte Tabak und Papierblättchen aus der Tasche und drehte nacheinander drei Zigaretten. Er zündete sie an und steckte sie zwischen die Lippen seiner beiden Freunde. Sie sprachen kein Wort miteinander.
Dann hörten wir den Hubschrauber, er kam niedrig über die Straße aus Büdesheim herangeflogen, ortete uns und tippte dann zweimal auf die Frontscheinwerfer. Neben einem Weißdorn ging er hinunter, und der Rotor erstarb.
Zwei Sanitäter liefen mit einer Trage herbei, aber Pjotr wollte nicht liegen. Ein Arzt tauchte atemlos auf und fragte: »Irgend etwas dringendes?«
»Nicht doch«, meinte Emma müde. »Das sind gute Jungen. Vielleicht Schock.«
»Pjotr«, sagte ich, »hilf uns ein bißchen. Wieviel Geld habt ihr bekommen?«
»Viel«, antwortete er.
»Wieviel?« fragte ich. »Sag es, es kommt sowieso heraus.«
»Zehntausend«, sagte er nahezu unhörbar. »Jeder zehntausend. Aber nicht Cherie und nix Mathilde und Narben-Otto.« Dann ging er davon, eine trotzig aufrechte Figur.
Der Mann, den ich bewußtlos geschlagen hatte, mußte auch mitfliegen.
»Sicherheitshalber«, wie der Notarzt sagte. Dann war der Hubschrauber auch schon wieder in der Luft.
Übergangslos kam das Deutsche Rote Kreuz mit Blaulicht die Straße entlang gesegelt, vorneweg ein schneller Omega mit dem Notarzt. Da die Leute nichts mehr zu tun hatten, folgte das, was ich einen Eifel-Klön nenne, was ungeheuer entspannend wirkt. Wir schwatzten über Gott und die Welt. Nicht lange, fünf Minuten vielleicht. Dann fuhren auch sie wieder, und erst jetzt fiel mir auf, daß sie nicht einmal gefragt hatten, wer denn da wen angeschossen hatte. Mir fiel eine mögliche Schlagzeile ein: ›Diskreter Schußwechsel in der Eifel‹.
Das Licht des neuen Tages machte sich breit. Wir hockten da in dieser von Menschen gemachten Landschaft, als gäbe es nichts besseres zu tun.
»Ich will endlich wissen, wie du auf diese hochstämmige Kiefer gekommen bist?« fragte ich Andreas Ballmann.
»Alter Waldläufertrick. Du nimmst eine kurze Kette oder ein kurzes Seil, legst das um den Stamm, und dann kannst du dich hochziehen, Stück für Stück. Du brauchst allerdings absolut rutschfeste Schuhe. Darf ich euch mal fragen, was ihr von der ganzen Aktion haltet?«
»Fragen darfst du, mit den Antworten wird es schwierig werden.« Rodenstock starrte in die Luft. »Sag mal, Stefan Hommes, woher hast du diese Uzi?«
»Von einem ordentlichen öffentlichen Trödelmarkt in Belgien«, antwortete er. »War nicht mal teuer und wurde als Andenken angepriesen. Die Waffe war zwar alt, aber durchaus verwendungsfähig. Ein bißchen Putzen, ein bißchen Waffenöl, das war es auch schon. Und die Munition hatte der Typ selbstverständlich auch unterm Ladentisch, rückte sie aber erst heraus, nachdem ich die Waffe bezahlt hatte.«
Emma bemerkte langsam und pointiert: »Ich weiß nicht, ob ich Julius Berner zutrauen soll, dreimal zehntausend Mark für einen Mordauftrag hinzulegen. Dabei fällt mir ein: Wo mögen die Polen das Geld versteckt haben?«
»In ihrem Quartier«, gab Hommes Auskunft. »Das Einzige, was zählt, ist Bargeld. Banken sind unsicher, Freunde sind unsicher, Bargeld ist beruhigend. Julius Berner muß knietief in der Scheiße sitzen. Und ohne Julius Berner konnte das Ding hier nicht laufen. Ballmann, was ist? Wußten die, daß du hier bist?«
Ballmann nickte. »Aber ich weiß nicht, von wem. Ich habe mit keinem Menschen gesprochen außer mit dir. Sie wußten es, sie kamen mit drei Mopeds von Büdesheim her und bogen am Ende dieses Geländes nach links ein. Das, was mich rettete, war die Tatsache, daß ich mein Zelt aufgebaut hatte, aber nicht drin war. Und daß sie sich unendlich viel Zeit nahmen, an das Zelt heranzukommen.«
»Woher konnten Sie den Standort kennen?« fragte Emma.
Andreas Ballmann meinte bedächtig. »Pjotr könnte mir gefolgt sein, ohne daß ich es merkte. Pjotr kann mich schon im Kammerwald am Adenauer-Haus entdeckt haben. Ihm traue ich das zu.«
Stefan Hommes wandte sich an Emma: »Was ist jetzt mit meinem Chef?«
»Die Kripo in Düsseldorf kassiert ihn gerade. Anschließend wird er zu Kischkewitz’ Truppe nach Wittlich gebracht. Das wird ein Eiertanz. Er wird garantiert zwei oder vier Millionen bieten, damit ihn die Staatsanwaltschaft auf freiem Fuß läßt. Und wahrscheinlich kommt er damit durch. Direkte Beweise gibt es ja nicht. Außerdem stellt sich die Frage: Beweise wofür?«
»Daß er die Polen bezahlt hat«, bemerkte ich.
»Das glaubst du doch selbst nicht«, polterte Rodenstock. »Wenn er sie wirklich bezahlt hat, dann bezahlte er sie niemals direkt. Er muß einen Dritten zwischengeschaltet haben. Emma hat recht, das wird ein Eiertanz werden. Ein Fressen für die Rechtsanwälte. Laßt uns heimfahren, ich habe die Nase voll von Natur.«
Eine gute halbe Stunde später waren wir zu Hause, aßen eine Kleinigkeit und beschlossen dann wütend, uns auf keinen Fall davon abbringen zu lassen, den Ehemann der toten Mathilde Vogt zu besuchen. Emma sagte, sie würde mit Jenny erst zu Dinah fahren und dann zu Enzo, denn Morde hin, Morde her, so etwas wie ein Familienleben sei lebenswichtig, während die Wichtigkeit von Leichen schon durch begrenzte Haltbarkeit stark eingeschränkt sei.
Kischkewitz meldete sich und berichtete, er werde mit den Vernehmungen der drei Polen beginnen und dann mit Spannung auf Julius Berner warten.
Rodenstock sagte zu mir: »Wir können kommen. Ich habe mit Vogt telefoniert, er ist zu Hause. Er hat Migräne, aber er ist zu Hause.«
Wir warteten, bis Emma und Jenny vom Hof rollten, um Dinah und Enzo zu besuchen, dann fuhren auch wir.
Der Bauunternehmer Vogt, von dem ich bis jetzt nur wußte, daß er so katholisch war wie Julius Berner, wohnte auf einem paradiesischen Grundstück hinter dem Wittlicher Krankenhaus. Der Bungalow war flach und riesig, offenbar wie ein großes U gebaut. Rechts vom Haus drei Garagen mit angeberisch breiten Toren. Davor ein überdimensionaler Drahtkäfig, in dem zwei Schäferhunde herumlungerten, die mächtig Lärm schlugen.
Auf unser Klingeln öffnete eine ältere Frau, die eine weiße Schürze auf einem schwarzen Kleid trug. »Die Herren werden erwartet«, sagte sie und ging vor uns her.
Der Wohnraum mit einer großen Fensterfront zum Garten raus lag in einem beinahe mystischen Dunkel. Jemand sagte: »Entschuldigung, ich kann bei Migräne kein Licht vertragen.«
Vogt saß in einem Sessel neben einem Schreibtisch, der aus gewaltigen Balken gefügt war, und schien einen Hut auf dem Kopf zu tragen. Doch es war kein Hut, es handelte sich um einen Beutel mit Eis, und der Mann sah grotesk aus. Sicher war er mehr als ein Meter achtzig groß und trug das grüne Wams der Jäger zu Kniebundhosen aus Wildleder, derben Kniestrümpfen und schweren Halbschuhen. Irgend etwas war mit seinem Kopf, und ich konnte erst nicht sagen, was es war. Dann merkte ich, daß er einen im Vergleich zu seiner massigen Figur erstaunlich kleinen Schädel hatte. Das Gesicht wirkte fade wie ein frisch angerührter Sauerteig, ungesund und im Bereich der Wangen hochrot, wie man es nur bei Leuten findet, die einen zu hohen Blutdruck haben. Aber vielleicht war er einfach nur ein Choleriker.
»Wollen Sie etwas zu trinken? Kaffee oder Kognak vielleicht?«
»Nein, danke schön«, sagte Rodenstock artig. »Wir bringen nur einige Fragen mit, da wir uns um den tragischen Tod Ihrer Frau kümmern wollen. Journalistisch, versteht sich.«
»Wissen Sie, ich sage, daß wir es hier mit dem Gott des Alten Testamentes zu tun haben.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Rodenstock sachlich.
Die ganze Wand hinter dem Sessel war behängt mit Reh- und Hirschgeweihen, und zwischendrin hockten ausgestopfte Raubvögel auf Asthölzern, und ein Marder wand sich einen Stamm hinauf. Es wirkte widerlich muffig und leblos.
»Was ich meine? Nun ja, der Gott des Alten Testamentes ist ein strafender, ein kriegerischer, ein hassender Gott. Wie heißt das? ›... und er schlug die Hethiter!‹.« Seine Stimme hatte etwas aufdringlich Trompetendes, es war schwer vorstellbar, daß er auch leise sprechen konnte.
»Wollen Sie etwa andeuten, daß Ihre Frau vom lieben Gott bestraft worden ist? Und wenn es so war, wofür wurde sie bestraft?« Seine Eröffnung machte mich fassungslos.
»So meine ich das nicht«, sagte Vogt und hob den rechten Zeigefinger. »Ich meine vielmehr, ich sollte bestraft werden. Und jeder, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Was glauben Sie, wie furchtbar das ist, die Frau beerdigen zu müssen. Wie soll ich da durchkommen? Was tue ich mit den Kindern? Den ganzen Krempel hier verkaufen?«
»Wofür kann der Gott des Alten Testamentes Sie denn bestrafen?« wollte Rodenstock wissen.
»Ich weiß es nicht«, murmelte er und faßte an den Eisbeutel auf seinem Kopf. »Vielleicht habe ich ihn erzürnt, wahrscheinlich habe ich ihn erzürnt. Da schlug er zu.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
Ich wollte die Spannung lockern und fragte: »Als Ihre Frau frühmorgens erschossen wurde, waren Sie hier, nicht wahr?«
»Genau.«
»Kam es häufig vor, daß sie allein im Revier unterwegs war? Ich meine, es war tiefe Nacht, und es gab kein Büchsenlicht. Da ist ein Schuß über eine große Distanz beinahe ausgeschlossen ...«
»Oh, Mann«, Vogt winkte ab. »Sie haben keine Ahnung von Jagd, was? Wir haben längst Zielfernrohre, die mit Restlichtverstärker arbeiten. Wenn die Augen das Ziel erfassen können, kann man die Kugel sehr genau plazieren.«
»Und Sie haben keine Vorstellung, wer das getan hat?«
»Nein!« sagte er scharf. »Meine Frau war ein braves Eifler Mädchen, sehr fromm, sehr religiös und sehr hoch angesehen.«
Und sie trug das Kind eines anderen, dachte ich. »Sie haben in der Jagd einen dritten Partner, den Zahnarzt. Dr. Trierberg, ebenfalls aus Wittlich. Was ist das für ein Mann?«
»Na ja, kein echter Jäger, eher so ein Hobbyschütze. Kam auch sehr selten ins Revier, hielt sich fast immer raus. Man muß aber sagen, daß er immer pünktlich bezahlt hat, was zu bezahlen war.«
»Vielleicht war ja Dr. Trierberg auch im Revier und hat Ihre Frau, nun sagen wir, versehentlich erschossen?«
»Ausgeschlossen.« Erheitert begann er zu lachen. »Ich sage immer, Trierberg ist ein Jäger, der das Walddunkel fürchtet. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Würden Sie sich die Mühe machen und uns berichten, wie der Abend vor der Tat ablief, was Ihre Frau zu Ihnen sagte, was überhaupt gesprochen wurde, wann sie das Haus verließ?« Rodenstock hatte eine gefährliche Ruhe in der Stimme.
»Das habe ich der Mordkommission schon x-mal erklärt. Es gab nichts außer der Reihe, nichts Ungewöhnliches. Mathilde sagte, sie würde nachts ins Revier gehen. Das tat sie in der letzten Zeit oft, sie sagte, das sei gut für ihre Nerven. Sie müssen wissen, daß sie es mit den Nerven hatte.«
»Was heißt das, sie hatte es mit den Nerven?« Rodenstock wirkte penetrant.
»Na ja, sie kriegte Beruhigungspillen, jede Menge. Erst vor ein paar Monaten hat unser Arzt festgestellt, daß sie schwer depressiv war. Das legte sich aber dann, weil sie Tabletten nahm, sogenannte Aufheller, wie der Arzt sagte. Ich verstehe davon nichts. Außerdem hat sie geraucht, und manchmal hat sie sogar Schnaps getrunken. Ich habe sie immer gewarnt: Du machst dich kaputt damit!«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihre Frau nachts aufgestanden, hat sich für das Revier fertiggemacht, ist in ihr Auto gestiegen und losgefahren? Und Sie blieben hier?« Rodenstock blieb beharrlich.
»Ich blieb hier, ich kriegte davon nichts mit. Wenn ich schlafe, schlafe ich.«
»Meinen Sie, daß der Gott des Alten Testamentes Ihre Frau für die Zigaretten und den Schnaps bestraft haben könnte?« fragte ich.
»Nicht nur dafür«, sagte er energisch. »Sie fing auch an, schmutzige Bemerkungen zu machen.«
Ich sah, wie Rodenstock die Luft anhielt. »Was denn für schmutzige Bemerkungen?«
»Sie sagte komische Sachen.«
»Was sind komische Sachen?« fragte ich.
»Das sind schlechte Bemerkungen über den Zeugungsakt«, erklärte Vogt ruhig.
»Können Sie ein Beispiel nennen?« bohrte ich weiter.
»Nicht gern, nicht so gern.« Er legte die Fingerspitzen aneinander und hielt die gefalteten Hände unter das Kinn. »Sie wissen doch, welche Sauereien heutzutage schon im Fernsehen zu sehen sind.«
»Nennen Sie uns ein Beispiel«, beharrte Rodenstock. Dann wurde seine Stimme unvermittelt weich. Anscheinend hatte er jetzt seinen Zugang zu Vogt gefunden. »Sehen Sie, wir wollen Sie in Ihrer Trauer nicht stören, aber wir wollen verstehen, was da nachts in diesem Wald abgelaufen ist. Und ich finde es mutig von Ihnen, daß Sie dieser flachen, harten Welt ein eindeutiges moralisches Signal geben. Ein Beispiel wäre wirklich sehr gut, damit wir nachempfinden können, was Sie meinen.«
Großer Gott, dachte ich, er wickelt ihn ein. Und das arme Schwein merkt es nicht.
»Beispiel, ja, ein Beispiel.« Vogt trommelte mit allen zehn Fingern auf die Lehnen seines Sessels. »Schweinische Andeutungen. Ich habe mal fallen lassen, daß ich stolz auf unsere beiden Kinder bin, und Mathilde antwortete, sie fände es ganz erstaunlich, daß wir die überhaupt zustande gebracht hätten. Zustande gebracht! hat sie gesagt. Wir müssen moralische Maßstäbe setzen. Wenn nicht wir, wer dann? Sie versündigte sich, sie versündigte sich dauernd. Sie hat zum Beispiel behauptet, unser Herr Kaplan habe eindeutig mit ihr schlafen wollen. Ich schrie sie an, daß ein Mann Gottes so etwas niemals tut, und sie lachte. Sie lachte wie eine Hure.«
»Und Sie haben dann Ihre Frau gewarnt, nehme ich an.« Rodenstocks Stimme war immer noch weich wie Seide. »Das mußten Sie tun, das waren Sie Gott schuldig.«
»Richtig!« nickte er erfreut. »Endlich mal jemand, der so denkt wie ich.«
»Wie lautete Ihre Warnung?« fragte ich.
»Ich sagte nur: Gott wird dich strafen!« Vogt stand auf und ging zu einem schweren Schrank mit Glastüren, von der Art, die von Möbelhäusern immer als altdeutsch bezeichnet werden. Er nahm eine Kognakflasche heraus. »Auch einen?«
»Nein, danke«, sagten wir gleichzeitig.
»Sie ist mit einer Winchester erschossen worden«, meinte ich.» Haben Sie so eine Waffe?«
»Nein«, sagte er. »Die Winchester ist eine gute Waffe, aber ich besitze keine. Meine Frau hatte mal eine, aber das war vor zehn Jahren oder so.« Er goß ein Wasserglas halbvoll und stürzte den Kognak hinunter. Er brauchte ihn, er war sehr erregt.
»Da fällt mir ein«, murmelte Rodenstock hinterhältig. »Sie werden die Stelle kennen, an der Ihre Frau getötet wurde. Wie beurteilen Sie diesen Ort? War es ein Lieblingsweg von ihr? Ging sie ihn oft? Hatte sie vielleicht erwähnt, daß sie die Cherie treffen wollte? Wenn Dr. Trierberg nicht im Revier war, wer könnte dann im Revier gewesen sein?«
Rodenstock benutzte einen sehr alten Verhörtrick. Er stellte möglichst viele Fragen, um dann zu beobachten, welche Frage sich der Verhörte herauspickte.
»Sicher, es kann gut sein, daß sich die beiden Frauen getroffen haben. Die hatten immer was miteinander zu mauscheln. Ich habe mal mitbekommen, wie sie zwei Stunden lang über Unterwäsche geredet haben. Das muß man sich einmal vorstellen!«
»Das ist wirklich schlimm!« attestierte ich. »Sie meinen nicht Unterwäsche, Sie meinen sicherlich Reizwäsche.«
»Genau, das meine ich.«
»Ist es richtig, daß Ihre Frau sich in der letzten Zeit stark verändert hat?«
Vogt überlegte gelassen, die Hände wieder unter dem Kinn gefaltet. »Ich habe mit Sorge feststellen müssen, daß dieses katholische Haus verkam. Mathilde kochte kein Essen mehr, sie sagte: Hol dir was aus der Kühltruhe. Ich bitte Sie, wo kommen wir hin? Sie wurde irgendwie ...«
»Sie müssen sich nicht schämen«, sagte ich schnell, »Sie meinen sicher, Ihre Frau wurde immer sündhafter.«
Er sah mich an und war mir dankbar. »Genau! Genau das war es.« Jetzt hatte er ein hochrotes Gesicht und seine Augen standen nicht still, glitten hin und her wie ein schnelles Uhrpendel. Er goß sich erneut von dem Kognak ein.
»Und? Sie hat nicht auf Ihre Warnungen gehört?« fragte ich.
»Nein. Sie hat gelacht. Sie hat einfach gelacht.«
Dann herrschte Stille, eine tiefe, aufdringliche Stille. Rodenstock wollte eine Unterbrechung, und er fragte: »Dürfte ich jetzt um einen Kognak bitten?«
»Wie? Oh ja, selbstverständlich.« Vogt holte ein zweites Glas aus dem Schrank und goß es randvoll.
»Danke sehr«, murmelte Rodenstock und nippte daran. Dann lächelte er. »Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, weil Sie so außerordentlich kooperativ sind. Sagen Sie, wie stehen Sie eigentlich zu Julius Berner?«
»Sehr gut«, antwortete Vogt zufrieden. »Es ist eine richtige Männerfreundschaft. Manchmal arbeiten wir auch an gemeinsamen Projekten. Er hat die gleichen Ansichten wie ich, er ist halt noch von echtem Schrot und Korn. Nur das mit der jungen Frau, das ist ihm aus dem Ruder gelaufen. Da hat Gott die Frau gestraft, denke ich. Gott mußte eingreifen, es konnte nicht so weitergehen.«
»Auch sie war sündhaft, die Cherie, nicht wahr?« fragte Rodenstock ganz leise.
»Ja, in ihrem Leib wohnte der Teufel persönlich. Sie war eine Hure, sie hat hurenhaft gelebt, sie hat ihren Leib für Geld hergegeben.« Sein Gesicht war bedrohlich rot.
»Haben Sie der Cherie das einmal persönlich gesagt?«
»Aber sicher. Sie kam abends her, und die beiden Frauen haben miteinander geredet und dreckig gelacht. Und ich bin zu ihnen gegangen und habe ausgeführt, Gott werde sich das nicht gefallen lassen. Ich habe gesagt, daß dieser Gott ein strafender Gott ist und daß sie damit rechnen müssen, zur Salzsäule zu erstarren wie Lots Weib.«
»Das war an dem Abend vor dem Tod Ihrer Frau, nicht wahr?« Rodenstock sah ihn nicht an, als er diese Frage stellte.
»Richtig«, nickte Vogt. »Das war an dem Abend.«
»Wie lange war Cherie denn hier?«
»Nicht allzu lange. Vielleicht ein, zwei Stunden. Ich habe ihr sogar noch gesagt, sie möge bitte dieses Haus verlassen, weil sie es besudelt.«
»Warum, um Gottes willen, haben Sie das nicht der Mordkommission gesagt?« sagte ich.
»Das sind Beamte, die nicht über den Tellerrand blicken, einfache Geister, das wissen wir doch.« Er machte großartig wedelnde Handbewegungen.
»Wieviel Uhr war es wohl, als Cherie ging?« fragte Rodenstock.
»So um Mitternacht.«
»Und Cherie ging allein weg, und Ihre Frau blieb hier?«
»So ist es. Mathilde führte sich auf wie ein unartiges Kind. Sie warf mir vor, ich hätte Cherie beleidigt. Stellen Sie sich das mal vor! Ich versuche, dieses Haus sauberzuhalten, und sie macht daraus eine Beleidigung.«
»Sind Sie zusammen ins Bett gegangen? Also, ich meine, schliefen Sie im gleichen Raum?«
»Nein, seit dem Vorfall damals nicht mehr.«
»Was für ein Vorfall?« fragte Rodenstock.
»Das war im Frühjahr. Da sagte sie zu mir, sie wünsche sich sehr, daß ich ihren Schoß küsse. Ich konnte es nicht fassen, ich finde das pervers. Ich sagte, ich wolle ruhige Nächte haben. So war das. Seitdem hatten wir getrennte Schlafzimmer, und unser Pfarrer hat mir im Vertrauen gesagt, ich hätte natürlich recht. Meine Frau wäre pervers. Ich habe beim Bischof in Trier angefragt, ob er mir einen Teufelsaustreiber schickt.«
»Und? Macht er das?« fragte ich.
»Ja«, sagte er mit einem Lächeln. »Dieses Haus ist jetzt ein Teufelshaus. Das muß sich ändern.«
Rodenstock sah mich an und sah mich doch nicht. Er war weit entfernt mit seinen Gedanken. Schließlich seufzte er: »Wenn Sie doch die Moral auf Ihrer Seite haben, warum haben Sie sie im Wald getötet? Warum nicht hier im Haus?«
»Gott wollte das Opfer im Wald!« meinte Vogt bestimmt. Dann schlug er die Hände vor das Gesicht, rutschte nach vorn von der Sitzfläche des Sessels und begann zu schreien. Er schrie im höchsten Diskant, und seine Augen flackerten irre, während er da auf dem Teppich kniete. Plötzlich zog er seine rechte Hand wie eine Klaue durch das Gesicht, und die tiefen Striemen füllten sich augenblicklich mit Blut. Er wollte nicht aufhören zu schreien. Sabber quoll aus seinem Mund, die Haushälterin stand plötzlich mit aschfahlem Gesicht in der offenen Tür.
»Oh nein!« sagte Rodenstock erstickt. Er glitt nach vorn und traf Vogt erst an der rechten Kopfseite, dann an der linken.
Den Bruchteil einer Sekunde wirkte Vogt so, als sei er dankbar für die Schläge. Er lag auf dem Bauch und vergrub das Gesicht in der Armbeuge. Er atmete stöhnend.
»Ruf Kischkewitz!« meinte Rodenstock lapidar. »Wir liefern ihn frei Haus.«