Erstes Kapitel

Eric Clapton hat auf einer CD einen mörderischen Blues gespielt: Blues before sunrise. Den hatte ich, der dröhnte in meinem Herzen, der machte mich krank, der nahm mir den Atem. Natürlich konnte man das auch ganz kühl einen resignativ-depressiven Zustand nennen und kiloweise Antidepressiva ins Hirn schütten, aber ich bin nicht von dieser Art. Am liebsten, das gebe ich zu, hätte ich geheult. Aber das Heulen war mir irgendwann in den vergangenen zwei Jahrzehnten verlorengegangen, war von dem Flüßchen meines Lebens fortgespült worden, stand mir einfach nicht mehr zur Verfügung.

Dinah hatte mich verlassen.

Oh nein, einen Krach hatte es nicht gegeben, keine lautstarke Auseinandersetzung nach dem Motto: »Du hast das gesagt, damals schon, du hast immer noch nicht begriffen ...« Nichts dergleichen. Statt dessen bei einer Scheibe Brot mit Leberwurst die Feststellung: »Ich gehe, ich verlasse dich.« Ganz sanft und so hart wie Glas.

Ich hatte zwei Möglichkeiten der Rückfrage. Erstens: »Wie heißt er denn?« Und zweitens: »Hast du dir das auch gut überlegt?« Ich stellte die erste Frage, weil eine unglaubliche Wut wie eine Stichflamme in mir hochschoß und weil ich dieser Wut die Spitze abbrechen wollte, ehe sie irgend etwas mit mir tat, was nicht zu verantworten war.

Sie antwortete ganz kühl: »Diese Reaktion habe ich erwartet. Ich frage mich, wieso Männer immer zuerst auf die Idee kommen, daß dahinter ein anderer Mann steckt.«

»Ganz einfach«, sagte ich. »Das kriegen wir vom Leben so beigebracht. Meistens schon von unseren Müttern. Wann gehst du? Und wohin?« Ich dachte fiebrig: Du wirst mich nicht winseln sehen.

»Ich gehe heute abend noch. Und wohin ich gehe, werde ich dir sagen, wenn ich weiß, wo mein Bett steht. Das ist alles noch nicht entschieden.«

Vielleicht brauchte ich sechzig Sekunden, um mich unter Kontrolle zu bringen, vielleicht einhundertzwanzig. Nach einer Ewigkeit murmelte ich: »Gut. Wenn du so entschieden hast, will ich nicht darüber diskutieren. Du wirst deine Gründe haben. Vermutlich läßt du deine Sachen erst einmal hier.«

»Ich wollte dich darum bitten«, sagte sie leise.

»Oh ja, kein Problem«, nickte ich. »Laß sie so lange hier, wie du magst. Es ist ja Platz genug da. Und außerdem hast du einen Schlüssel und kannst das Zeug jederzeit holen.«

»Den Schlüssel wollte ich dir eigentlich zurückgeben. Ich brauche ihn nicht mehr.« Sie machte eine Pause und legte den Kopf schief. Dann schloß sie die Augen und begann zu weinen. »Fühlst du dich nicht auch beschissen?«

»Leck mich am Arsch«, sagte ich. Ich stand so heftig auf, daß der Küchenstuhl hinter mir umfiel. Das war gut so, denn das Geräusch brachte mich auf die Erde zurück. Ich bückte mich, hob den Stuhl auf, stellte ihn bedachtsam an den Tisch zurück, drehte mich und ging in den Flur und von dort auf den Hof, dann durch das Gartentor bis an den Teich. Ich fischte mir einen widerlich braunen Plastikstuhl und stellte ihn auf die Erdaufschüttung, gleich vor das Wasser.

Ich hatte dort einen alten Baumstumpf in das Wasser gelegt, der einer Unmenge kleinerer und größerer Wassertiere Schutz und Schatten bot. Dort hockte ich im ausgehenden Licht des Abends und starrte auf eine Gruppe von Taumelkäfern, die in ausgesprochen lustigen Arabesken umherschossen und dabei gelegentlich aufblitzten. Dann war ich erneut sehr wütend und fragte mich, was zum Teufel mich bewogen haben könnte, diesen fast hundert Quadratmeter großen Teich anzulegen. Na sicher, ich hatte geglaubt, Dinah eine Freude zu machen, und plötzlich erstickte mich das Gefühl, daß ihr das alles schrecklich gleichgültig gewesen sein könnte, daß sie zu allem ja und amen gesagt hatte, um sich einfach in Ruhe auf ein neues Leben vorzubereiten. Klar, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

Der Gelbrandkäfer tauchte auf und schoß mit seinen mächtigen Beißwerkzeugen unter ein abfaulendes Blatt des großen Rohrkolbens. Wahrscheinlich würde er im Herbst das Wasser verlassen und sich im Erdreich einbuddeln, wohlversorgt in einem dichten Kokon.

Weit im Westen färbte das letzte Licht den Himmel in eine schrecklich kitschige Angelegenheit, mein Kater Paul kam herangeschnürt und rieb sich an meinem Bein. »Hallo, Kumpel«, sagte ich, »jetzt kommt eine Scheißzeit, jetzt müssen wir zusammenhalten.«

Ich hockte da bis etwa Mitternacht, und ich sah sie in den hellerleuchteten Räumen umhergehen, Schränke öffnen und schließen. Dann hörte ich die Haustür zuklacken. Das wiederholte sich viermal. Sie schleppte wohl die Koffer heraus und verstaute sie im Auto. Als sie zu mir kam, war es zwanzig Minuten nach Mitternacht.

»Fühlst du dich auch so furchtbar?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, wie ich mich fühle.«

»Ich will dir bestimmt nicht weh tun.«

»Sieh mal einer an.«

Sie drehte sich herum und ging wieder. Dann fuhr sie vom Hof.

Ich konnte diese Stille nicht mehr aushalten, ich ging in das Haus, hinauf in mein Arbeitszimmer und schaltete die kleine Anlage auf Disc-Betrieb. Ich wollte Sinatra hören, nur Sinatra. Wenn schon Schmalz, dann bitte ein Doppelzentner. Er fing mit New York, an und so etwas wie flüchtige Hoffnung tauchte auf. Man muß Krisen umfunktionieren, zu Chancen machen, aber spätestens bei Strangers in the night hatte ich einen überdimensionalen Kloß im Hals, und ich dachte, das Atmen könne plötzlich aufhören, einfach so. »And now the end is near ...« röhrte Old Blueeye. Scheiße!

Natürlich hatte ich geglaubt, es reicht für ein Leben. Aber für ein Leben reicht es eben nie. My way verklang in einem Haufen süßlich agierender Streicher. Bei Summerwind überlegte ich, es sei das Beste, die Eifel für immer zu verlassen, aus und vorbei. Es folgte Moon River, und irgendwie wurde es triefig und ging mir gewaltig auf den Geist. »What’s now my love?« fragte Sinatra ziemlich fröhlich, und ich mußte ihm recht geben. Andere Mütter haben auch schöne Töchter.

Endlich konnte ich weinen, und meine erste Reaktion war: Sieh an, ich lebe noch! Und weil Paul und Willi neben der Couch hockten, auf der ich bäuchlings lag, sagte ich schniefend: »Also, daß das klar ist, hier ist ab sofort das Paradies für Junggesellen. Weiber sind nur noch erlaubt, wenn sie vorher schriftlich hinterlegen, daß sie spätestens nach drei Tagen und zwei Nächten kommentarlos die Segel streichen!« Ich hörte wieder zu, als Blueeye Fly me to the moon sang und war zufrieden. Ich hatte gewußt, daß irgend etwas in dieser Art geschehen würde.

Als Sinatra bei I’ve got you under my skin angelangt war, hatte ich die Nase von mir selbst voll. Ich rupfte die kleine Anlage aus dem Bücherregal und schmetterte sie gegen die Wand. »Das mußte einfach sein«, erklärte ich meinen Katzen, die längst in Panik aus dem Raum gewischt waren.

Ich konnte nicht schlafen und saß morgens um fünf Uhr wieder am Teich. Es hatte keinen Tau gegeben, die Luft war lau, der Himmel wolkenlos. Das Licht fiel schräg über das Kirchendach auf das Wasser, und ich konnte fast auf den Grund sehen. Die weiße und die rote Seerose hatten ihre ersten Blätter ins Helle geschickt, die Binsen standen ernsthaft wie kleine Soldaten, Schlupfwespen landeten auf dem Moorstreifen, ein Kohlweißling taumelte lebenstrunken über der Wasserfläche. Die blauschimmernde Königslibelle hatte ihren Motor aufgeheizt und ging daran, ihr Revier zu verteidigen, ihre Metallic-Lackierung schimmerte wie eine edle Rüstung.

Satchmo erschien auf der Bildfläche, gefolgt von Paul und Willi, die mit weiten Augen im Stil zweier netter Onkels auf den Kleinen achteten und dabei so behutsam auftraten, als könne Satchmo jederzeit wie eine Fata Morgana verschwinden.

Satchmo war nicht älter als neun Wochen, eine Handvoll Eifler Scheunenkatze mit zwei fast schwarzen Streifen parallel zum Rückgrat. Sein Köpfchen wirkte viel zu groß und plustrig für den spärlichen, dünnen Hals, von hinten sah das so aus, als würde er gleich vornüberfallen. Paul schien Willi zuzublinzeln, als wolle er sagen: »Schau dir den Dreikäsehoch an!« Dann verschwanden sie in Richtung Kellerfenster, weil Satchmo eben zum Kellerfenster wollte. Auf dieser Strecke war das Gras nicht gemäht und sicher zwei Monate alt. Von Satchmo war absolut nichts mehr zu sehen, nur wenn er eine Fliege oder etwas ähnlich Furchterregendes zu haschen versuchte, kam er bei seinen Bocksprüngen in Sicht, um dann wieder in die grüne Hölle zu tauchen.

Ich hatte Satchmo von Sabine und Thomas vom Wagnerhof in Niederehe geschenkt bekommen, und mit Sicherheit hatte ich Dinah damit entzücken wollen, was wohl auch gelungen war. Vielleicht würde sie eines Tages fragen, ob sie Satchmo denn mitnehmen könne. Und ich hörte mich antworten: »Selbstverständlich. Satchmo ist dein Kater.«

Nur kein Streit bei etwas so lächerlich Zerbrechlichem wie einer Beziehungskiste, nur keine Auseinandersetzung. Lohnt nicht. Ich wurde wieder wütend auf mich selbst. Wieso läßt du dich mit immerhin 46 Jährchen eigentlich noch auf Partnerschaft ein? Wieso nimmst du nicht, was dir ins Haus schneit, genießt und schweigst? Ich wußte zugleich, daß dieser Vorwurf geradezu lächerlich ist, denn mein Leben wäre nur ein halbes Leben, könnte ich nicht mit einem anderen Menschen und für ihn leben. Ich bin ein Herdentier, und ich bin es gern.

Ich hockte da an meinem Teich und überließ mich meinen scheußlichen Phantasien. Ich überlegte, was denn Dinah jetzt wohl machte, und natürlich suchte ich mir in meinem gottverdammten Narzißmus das Übelste aus, was ich mir antun konnte: Dinah, frisch eingetroffen, im Bett eines wahrscheinlich hageren, dunkelhaarigen Erfolgsbumsers, der unentwegt betont: »Ich will Genuß! Jetzt!« Auf so Typen stand sie, und es konnte durchaus passieren, daß sie ihnen vorübergehend sogar begeistert glaubte. Dann hörte ich sie sagen: »Siggi war ja richtig rührend bemüht, aber irgendwie auch langweilig.« Und natürlich hatte der Kerl den knackigen Arsch eines durchtrainierten Jungfußballers, die ungeheure Intelligenz eines direkt von Einstein gezeugten Wesens und die Lebenserfahrung eines erfolgreichen sechzigjährigen Managers nebst angehängtem Vermögen an Investment-Zertifikaten und LBS-Bausparverträgen. Wahrscheinlich würde er Mercedes fahren, weil BMW und Audi etwas für Newcomer und Seiteneinsteiger sind.

Mit derartigen Quälereien hielt ich mich auf, während die Sonne mich wärmte, in dem Wasser zu meinen Füßen Schnecken trieben und an den Lanzetten des Wilden Reis knabberten. Schwalben kamen im Sturzflug aus dem Schatten des Kirchenschiffs hinuntergeschossen, um einen Morgenschluck Wasser aufzunehmen und ihn ihren Kindern zu bringen. Ein Bild des tiefen Friedens in der Provinz. Um Punkt sechs Uhr läuteten die Kirchenglocken den Tag ein, für die Bauern die Zeit, aufzustehen, das Vieh zu versorgen, auf die Felder zu fahren. Aber Bauern gibt es hier kaum noch, nur sehr viele Eifler, die von dieser Selbstverständlichkeit träumen und sich Geschichten aus einer Zeit erzählen, da der Weg der Sonne den Tagesrhythmus angab.

Ein Zitronenfalterpärchen taumelte schwerelos über das langgeschossene Gras und ahnte nichts von der tödlichen Gefahr. Satchmo hatte die Falter gesehen, Paul und Willi natürlich auch. Als gute Pädagogen wollten sie dem kleinen Satchmo nahebringen, daß Schmetterlinge keine fetten Bissen sind, aber immerhin eine gute Möglichkeit bieten, Muskeln zu stählen, die Beweglichkeit zu erhöhen, das Raubtier erfolgreich zu machen.

Paul lief links von Satchmo, Willi rechts. Satchmo keckerte lauthals und schlug unglaublich schnell nach den grellgelben Schönheiten. Er hatte keinen Erfolg, und ich hörte Paul erklären: »Mach es nicht so hektisch, mach es gezielter!« Und Willi setzte hinzu: »Mach dich platt, warte den günstigsten Moment ab. Du schießt dann hoch und schlägst mit beiden Pranken! Da ist die Fehlerquote kleiner!«

So kamen sie auf mich zu, bis Satchmo seinen winzigen Körper fest in das Gras preßte und mit einem Arschwackler die Hinterläufe in den Grasboden krallte. Seine Augen waren ungewöhnlich starr und hellgrün. Die Zitronenfalter taumelten ein Stück über die Steine der Teicheinfassung hinaus auf das Wasser und dann sofort wieder zurück.

Satchmo sprang auf und dehnte sich weit durch, während er gleichzeitig mit beiden Vorderläufen zuschlug. Erfolglos fiel er zurück und war offensichtlich wütend, daß die Schmetterlinge sich nicht totschlagen ließen. Er landete elegant und weich und gab Vollgas. Die Falter flüchteten auf das Wasser hinaus, und Satchmo flog ihnen nach. Mit einem satten, saugenden »Pflaatsch« landete er zwei Meter jenseits der Steinumrandung und stand dann bis zur Mitte seines winzigen Körpers in Schlamm und Wasser, genau auf zwei ganz neuen Schlangenwurzgewächsen, frisch gekauft im Kloster Maria Laach. Paul und Willi standen mit den Vorderläufen auf den Steinen, und ich gehe jede Wette ein, daß sie sich halbtot lachten.

Den Hauch einer Sekunde lang wollte ich in den Morast steigen, um Satchmo zu retten, aber mir kam der Gedanke aller fehlgeleiteten Erzieher zu Hilfe, der da lautet: Soll er selbst zusehen, wie er da wieder rauskommt!

Zwei Dinge passierten gleichzeitig: Satchmo wurde von Panik und reinem Entsetzen gepackt und machte einen Satz vorwärts zur Teichmitte hin. Das endete damit, daß er runde acht Zentimeter zurücklegte, den Kopf nur noch mühsam über Wasser halten konnte und augenblicklich zu schreien begann. Es klang, als quieke ein Ferkel um sein Leben.

Wieder dachte ich, ich müsse mit einem Sprung meinem Jungkater das Leben retten, aber der hatte längst beschlossen, sich selbst zu helfen. Er wandte sich nach links, querte in bravouröser Hundepaddelmanier einen etwa vierzig Zentimeter breiten und ebenso tiefen Wassergraben und versank dann erneut in Schlamm und Modder. Er vernichtete gekonnt ein Büschel Wasserminze und ein kleines blühendes Vergißmeinnicht.

Ich hatte plötzlich einen trockenen Mund, weil mir einfiel, daß Satchmo sich mit aller Gewalt an das Leben krallte. Und das bedeutete, er krallte sich mit aller Gewalt in der Teichfolie fest. Das wiederum bedeutete bei seinen rasiermesserscharfen Krallen ...

Ich hauchte ein mannhaftes: »Oh Gott!« und hüpfte in die Pampe.

Da Teichfolie, wenn denn knappe fünf Zentimeter Moorerde darüberliegen, sehr glatt ist, schlug ich lang neben meinen Jungkater in den Modder und hatte augenblicklich den Mund mit einem großen Flatschen Schwimmfarn und einer guten Prise Entengrütze voll – eine Mischung, die ich seither selbst bei Hungersnot nur stark eingeschränkt empfehlen kann.

Mein eleganter Hechtsprung ins Biotop hatte selbstverständlich Folgen für Satchmo. Der erlitt nämlich den Schock seines jungen Lebens und bekam durch meine Biomasse den notwendigen Schub, den Teich zu verlassen. Schnurstracks erreichte er die Rankende Kapuzinerkresse (Prachtmischung, bis zu drei Meter lang) an der jungen Eßkastanie und benutzte sie samt der feurig orangefarbenen, roten und gelben Blüten als provisorisches Handtuch. Laut maunzend kletterte er auf die Umrandungssteine und sah auf mich herab, der ich schambedeckt in dem blasenwerfenden Morast lag.

Gerade, als ich dachte: Wie gut, daß niemand zuschaut, hörte ich das unterdrückte Lachen meines Nachbarn Rudi Latten, der seinen Kopf ganz vorsichtig über die Mauerkrone schob. Dämlicherweise fragte ich schrill und empört: »Ja, und? Was ist?«

Rudi antwortete nicht, lachte nur lauter, bis auch ich lachen mußte. Dann rauchte ich eine Pfeife und er seine Zigarette, und irgendwann ließ ich höchst geschickt einfließen: »Tja, Dinah ist in der Nacht noch zu ihren Eltern verschwunden. Ihr Vater ist wohl sehr krank.«

Etwas elegisch reflektierte Rudi: »Irgendwann erwischt es uns alle mal.«

Ich hatte panische Angst davor, in mein leeres Haus zu gehen. Wenn ich ein Oberhemd aus dem Schrank fische, dachte ich etwas wirr, werde ich auf die leeren Regale starren, die sie hinterlassen hat. Ein Tag ganz ohne sie, eine Woche, ein Monat, ein Jahr. Sie ließ mich in einer großen Fassungslosigkeit zurück und nichts, aber auch gar nichts war Trost.

Ich betrat dann doch das Haus, säuberte mich und flüchtete in mein Arbeitszimmer. Die Tür schloß ich ganz schnell hinter mir, als lauere im Treppenhaus eine höllische Gefahr.

Ich kannte mich einigermaßen und wußte, daß jetzt nichts so gefährlich sein würde wie ins Grübeln zu geraten. Ich mußte irgend etwas tun, mit irgendwem telefonieren, lange aufgeschobene Briefe schreiben, mir Gedanken um mögliche Reportagen machen, etwas in Bewegung setzen, was mich ablenken würde, plaudern. Plaudern? Grauenhafte Tätigkeit, etwas für Dummschwätzer, etwas nach dem Motto: »Mein Gott, geht mir das Wetter auf die Nerven!« Mit wem konnte ich reden? Wem konnte ich sagen: »Dinah ist mir abhanden gekommen!«?

Es war elf Uhr, als ich Emmas Volvo auf den Hof fahren hörte. Emmas Volvo ist nicht zu überhören, da sie ständig mit zuviel Gas in einem zu kleinen Gang fährt.

Ich mußte eingeschlafen sein und rappelte mich mühsam hoch, ehe ich steif wie ein alter Mann die Treppe hinunterzitterte. Ich fühlte mich körperlich verprügelt, mir war übel, ich steckte noch immer im Blues. Einen Moment lang hatte ich die Hoffnung, Emma habe Rodenstock mitgebracht, aber sie war allein, stand neben ihrem Wagen in der Sonne und sagte kein Wort.

»Wo ist Rodenstock?« fragte ich, nur um irgend etwas zu sagen und die aufdringliche Stille zu verscheuchen.

Sie antwortete nicht und malte mit der Spitze ihres rechten Schuhs wirre Linien auf das Pflaster. Dann kam sie auf mich zu: »Er ist zu Hause und kümmert sich um Dinah. Wie geht es dir?«

»Mir? Oh, eigentlich gut, denke ich.«

»Du hast schon intelligenter gelogen.« Ihre Stimme war trocken. »Hast du einen Kaffee?« Sie ging an mir vorbei ins Haus.

Ich setzte eine Maschine Kaffee auf, und sie hockte am Küchentisch und riskierte nicht einmal ein kleines Lächeln.

»Sie ist zu euch gekommen?«

»Ja, heute nacht. So gegen drei. Sie war völlig durch den Wind, wie ihr Deutschen sagt. Also, wie geht es dir?«

»Ich weiß es nicht genau. Mir geht es wie einem Mann, der auf der Flucht ist und nicht genau weiß, wovor er flieht.«

»Da kann ich behilflich sein. Du flüchtest vor deinen Gefühlen. Sie übrigens auch.«

»Sie kann mir mit ihrem hehren Freiheitsdrang gestohlen bleiben. Und wenn ich ehrlich bin, so möchte ich nicht einmal darüber diskutieren.«

»Ich will dich nicht zwingen«, sagte sie. Und jetzt war ein schmales Lächeln in ihrem Gesicht.

»Ich bin zu alt für diese Mätzchen.«

»Ja, ja.« Sie schien demütig und kleinlaut, sie senkte sogar angemessen dramatisch erst den Kopf und dann die Stimme. Doch sie schlug scharf zurück: »Stell dir vor, du wärst tatsächlich zu alt, stell dir vor, du könntest das alles nicht mehr in dir spüren. Stell dir vor, du wärst wie tot.«

»Das brauche ich mir nicht vorzustellen«, bellte ich.

Sie sah mich an und nickte mit geschlossenen Augen. »Deswegen bin ich hier.«

Mit ein paar aufdringlich lauten Schlürfgeräuschen beendete die Kaffeemaschine ihre Tätigkeit. Emma stand auf, kramte zwei Becher aus dem Küchenschrank, dazu den Süßstoff und Milch. Sie goß uns Kaffee ein, ihre Bewegungen waren langsam, erinnerten extrem an slow motion. Der einzige Schmuck an ihr war die Piaget, die Rodenstock ihr geschenkt hatte.

»Wie geht es denn deinem Macker?« fragte ich.

»Danke, gut. Er sagt, er lebt gern. Natürlich soll ich dich grüßen. Er schickt dir vom Uwe Kreuter und Stephan Treis an der Mosel je eine Kiste trockenen Riesling, damit deine Gäste es gut haben. Er nimmt an, daß du dich schlimm fühlst.«

»Sag ihm, er hat recht.«

»Wann hast du das letzte Mal gegessen?«

»Ich weiß es nicht. Gestern morgen, oder so. Warum?«

»Weil du aussiehst wie jemand während einer Hungersnot.«

»Ich kann nichts essen, mein Magen macht nicht mit.«

Sie sah mich aus schmalen Augen an. »Dann brauchst du drei bis vier Spiegeleier. Ich war mal mit einem Mann verheiratet, der bei allen grundsätzlichen Schwierigkeiten drei Spiegeleier aß. Meistens half es wirklich.«

»Ist das die einzige Erinnerung an ihn?«

Sie strahlte mich an. »Bis auf diese Kleinigkeit war er tatsächlich sehr farblos. Das heißt, er war mein Allergietyp. Er war allergisch gegen schlichtweg alles. Hausstaub, Hunde, Katzen, Aspirin und Gänseschmalz. Er war jemand, der 24 Stunden am Tag der Frage nachging: Wie geht es mir heute eigentlich?«

»Wie kann man so einen Menschen denn heiraten?«

Sie verzog ihren Mund ganz breit. »Das buche ich auf das Konto Unfälle im Haushalt. Also, drei oder vier Spiegeleier?«

»Du mußt mich nicht bekochen.«

»Oh!« erwiderte sie giftig. »Deshalb fühle ich mich noch nicht als eine unterdrückte, ausgenutzte Hausfrau. Dein Edelmut macht mich schamviolett. Also, drei oder vier oder fünf?«

»Drei. Wie oft warst du eigentlich verheiratet?«

»Viermal«, erwiderte Emma munter. »Rodenstock ist der fünfte Mann, mit dem ich lebe. Ich bin sechsundfünfzig und habe noch regelmäßig Sex, und er macht mir auch noch regelmäßig Spaß.« Sie lachte. »Das eigentlich Widerliche an mir ist, daß mir keiner der vier Männer leid tut.« Mit viel Gefühl zerschlug sie ein Ei. »Ich bin Holländerin, ich habe eine gehörige Portion Liberalität mitbekommen. Und ich bin ein guter Bulle. Und wir haben letzte Nacht beschlossen, daß ich mich im nächsten Jahr pensionieren lasse. Dann werde ich die Geschichte der Kripo in Holland schreiben, ein katastrophal vernachlässigtes Thema. Soll ich Bratkartoffeln dazu machen?«

»Das wäre gut, ich schäle die Kartoffeln. Was hat Dinah eigentlich gesagt heute nacht?«

Das letzte Ei landete in der Pfanne. »Die stellen wir dann warm. Tja, was hat sie gesagt? Im Grunde gar nichts. Sie hat Rotz und Wasser geheult und sich an die Brust von Rodenstock geflüchtet.« Emma grinste. »Er war natürlich angetan. Was hat sie dir gesagt?«

»Nichts. Nur, daß sie geht. Sie hat erwähnt, es ginge ihr schlecht, sonst nichts.«

»Sie wird zurückkommen.« Das klang wie eine Selbstverständlichkeit.

»Oh, bitte nicht« sagte ich hastig. »Ich weiß gar nicht, ob ich sie wiederhaben will.«

»Sieh einer an!« erwiderte sie verblüfft. »Riechst du die Freiheit?«

»So könnte man es formulieren.«

»Aber sie ist kaum weg.« In ihrer Stimme war leichte Empörung.

Ich begann die erste Kartoffel zu schälen. »Seit wann weißt du denn, daß sie gehen wollte? Ihr habt doch miteinander telefoniert.«

»Seit einem Vierteljahr etwa. Sie wurde immer unruhiger, sie sagte oft, daß sie etwas auf die Beine stellen müsse. Sie sagte wörtlich: Auf die Beine stellen. Sie wolle eigenes Geld verdienen, auf keinen Fall mehr von dir abhängig sein. Ich habe ihr gesagt, du lebst nicht in einem luftleeren Raum, aber sie wollte das nicht hören. Soll ich Speck für die Bratkartoffeln nehmen oder Schinken?«

»Schinken. Was wird sie tun?«

»Ich vermute, sie wird sich einen Job suchen und versuchen, auf die Beine zu kommen. Sie hat gar keine andere Möglichkeit. Außer, Rodenstock nimmt sie als Tochter an.« Sie lachte erneut und schälte eine Zwiebel. »Nimm Distelöl für die Bratkartoffeln. Du hast gedacht, deine Welt bricht zusammen, oder?«

»Ja, das habe ich gedacht. Würdest du doch auch, wenn Rodenstock plötzlich sagt: Ich gehe, oder nicht?«

»Das wäre schlimm«, nickte sie.

»Was soll ich denn machen, wenn sie wieder vor der Haustür steht?«

»Ich würde dir dringend anraten, energisch zu werden. Manche Frauen mögen das. Jetzt laß uns von anderem reden.«

Also sprachen wir über anderes, während die Bratkartoffeln erst glasig und dann braun wurden. Gegen ein Uhr sagte Emma erschrocken: »Ich muß heim, Rodenstock wird sich schon wundern, wo ich bleibe.«

Das Telefon schrillte, und Emma murmelte: »Das wird er sein.« Sie ging hinüber ins Wohnzimmer, und ich hörte sie sagen: »Bei Baumeister.« Dann wurde sie lebhaft. »Oh nein, es geht ihm gut, mein Lieber.« – »Ja, ich wollte gerade fahren. Ist Dinah noch da?« – »Ach so. Nun gut, bis später.«

Sie kam in die Küche zurück. »Ich soll dich grüßen, er wird sich noch melden. Dinah ist zu irgendwelchen Freunden weitergefahren.«

»Wie schön für sie«, entgegnete ich teilnahmslos. »Grüß mir meinen Rodenstock.«

Ich dachte darüber nach, wie ich die Frage formulieren sollte. Der Erfolg hing ausschließlich von der Formulierung ab und von der Glaubwürdigkeit einer gänzlich unwichtigen Nebensache, die ich daraus machen wollte.

Emma lief vor mir her in den Flur und dann auf den Hof hinaus. Ich wartete, bis sie den Volvo angelassen hatte und mir zulächelte.

»Weißt du was?« murmelte ich geistesabwesend und gedankenschwer. »Ich würde für mein Leben gern wissen, was sie an dem Kerl findet.«

Augenblicklich explodierte sie und sagte heftig in ihrem niederländischen Deutsch: »Gar nix! Der ist doch nur der Pausenfüller. Sie mußte sich beweisen, daß sie noch begehrenswert ist.«

Dann bekam sie große kugelrunde Augen, weil ich grinste. Sie schrie: »Scheiße!« und schlug wütend auf das Lenkrad. »Das war nicht fair, Baumeister. Du hast mich gelinkt.« Sie hatte ihre edle Blässe verloren, sie hatte ein gerötetes Gesicht, und ihre Augen waren schmal.

»Das ist mir scheißegal«, sagte ich und ging ins Haus zurück.

Eine beunruhigende Stille war in mir, eine mich tief verunsichernde Erleichterung, und ich war sogar unfähig, Dinah zu verfluchen. Und: Ich hatte eine Antwort auf die Frage, warum uns das geschehen war. Sie lautete: Wir haben uns verloren, weil wir in unserem Alltag ertrunken sind. Die Chinesen sagen: Glück ist immer nur ein Augenblick. Wir hatten alle diese Augenblicke verloren, wir hatten übersehen, daß es sie gab.

Ich legte die Videokassette Casablanca ein.

In der Mitte des Streifens klopfte jemand an das Fenster, und ich zuckte zusammen.

Es war Kalle Adamek von Radio RPR, und er schickte ein lautloses Grinsen zu Humphrey Bogart. Ich stoppte den Film und öffnete ihm die Tür.

Er war eilig, sagte »Hei!« und ging an mir vorbei in das Wohnzimmer. Ein merkwürdiges Zucken dominierte sein schartiges Gesicht unter den hellen Augen. Er hockte sich auf das Sofa und erklärte: »Nicht, daß du glaubst, ich will dich verscheißern, aber im Wald liegt eine Leiche.«

»Wieso sagst du das mir?«

»Ganz einfach: Ich denke, du kennst Leute bei den Bullen oder bei der Staatsanwaltschaft. Du kannst mir helfen, wenn du ein bißchen Zeit hast.«

»Wie sieht die Leiche denn aus?«

Er lächelte. »Das weiß ich noch nicht. Es soll eine Frau sein, ziemlich jung.«

»Das Geschlecht müßte man ja eigentlich unschwer feststellen können. Und wo liegt sie rum?«

»Auf dem Weg zwischen Kopp und Weißenseifen. Aber eigentlich dürften wir davon gar nichts wissen. Die Staatsanwaltschaft Trier hat ein absolutes Schweigegebot ausgegeben. Die Pressestelle sagt, sie weiß nix von einer Frauenleiche.«

»Und woher weißt du das trotzdem?«

»Ich kenne jemanden bei den Bullen, der mir ab und zu einen Tip gibt.«

»Und wer, bitte, ist das?«

»Informanten sind heilig«, murmelte er trocken. Das war typisch für ihn.

»Was soll ich jetzt tun?«

»Vielleicht ein bißchen rumtelefonieren? Und ich fahre dorthin. Dachte ich mir so.«

»Das finde ich nicht so gut«, sagte ich. »Ich würde mir gern selbst die Dame an Ort und Stelle ansehen. Das Fleisch zu der Story kann ich hinterher einsammeln, oder?« Erleichtert dachte ich, daß genau das mir gefehlt hatte, daß genau das mich kurieren könnte.

»Wo ist Dinah?« fragte er.

»Bei ihren Eltern. Ihr Vater ist krank. Durch was ist die Leiche denn zur Leiche geworden?«

»Mein Informant hatte nur Sekunden Zeit. Aber tot ist tot.«

»Na ja«, murmelte ich skeptisch. »Laß uns fahren. Wir nehmen beide Wagen mit. Wer ist am Tatort, wenn es denn der Tatort ist?«

»Die Wittlicher Kripo mit Staatsanwälten aus Trier.«

»Weißt du, wie lange schon?«

»Bestenfalls alles in allem eine Stunde. Der Laborwagen ist jedenfalls noch nicht am Tatort eingetroffen.«

»Du hast einen verdammt guten Informanten.«

Adamek lächelte. »Kann man sagen«, nickte er.

Eine Minute später fuhren wir, und wir fuhren schnell. Der Himmel hatte eine vierfünftel Bewölkung, klare weiße Schäfchen ohne Regendrohung, Temperatur um die 25 Grad, mein Land wirkte sommerlich, Grün in allen Schattierungen bis zum Blau der Kiefern. Endlich gab es Schmetterlinge, und glücklicherweise hatte die Straßenverwaltung es versäumt, sämtliche Gräben zu mähen. Die nicht gemähten waren ein Blütenmeer, aber natürlich nicht gut deutsch-sauber.

In der Rechtskurve bei der Einfahrt nach Hohenfels-Essingen kamen zwei Motorräder mit hohem Speed so dicht an Kalles Fiesta heran, daß er sich glücklich schätzen durfte, sie nicht im Motorraum wiederzufinden. Und in der Linkskurve aus Essingen heraus rutschte eine Honda-CBR auf der falschen Seite einer Verkehrsinsel vorbei, wischte zwischen Kalles und meinem Wagen durch, bremste dann brav, und der Fahrer tat so, als habe er das genauso geplant. Fehlte nur noch, daß er in die Luft guckte und den River-Kwai-Marsch pfiff.

Durchfahrt Pelm, Talstraße Gerolstein mit dem Langzeitblick auf die Hinterhöfe der Stadt, die öde und betongrau über den Parkplätzen thronen, weil in der Brunnenstadt anscheinend niemand über einen Eimer freundlicher Farbe verfügt. Die Bundesstraße 410 um die Burg in Lissingen herum, dann endlich die Abzweigung nach Kopp – eine der schönsten Straßen in der Eifel mit grandiosen Aussichtspunkten in ein weites, bergiges Land. Aber weder Kalle noch ich konnten die Aussicht genießen, wir bemühten uns vielmehr um eine gleichmäßige, etwas zu hoch liegende Geschwindigkeit. Adamek schoß vor mir die Straße zum Weiler Eigelbach hinunter, als werde er dafür bezahlt, und mir fiel ein, daß er dafür bezahlt wird. Einfahrt nach Kopp, die scharfe Linkskurve im engen Tal, den Hang hoch, an der Kneipe Kopper Eck vorbei, dann nach links in die Weißenseifener Straße – Tip für Wanderer, traumhafte Eifel.

Sie hatten den Streifenwagen ungefähr am letzten Haus aufgebaut. Das Fahrzeug stand leicht quer auf der schmalen Fahrbahn, die Besatzung lehnte am Blech und lächelte uns freundlich entgegen. Ungefähr zehn Einheimische beiderlei Geschlechtes standen um sie herum.

»Hallo«, sagte Kalle. »Wieso ist hier gesperrt?«

»Hier darf zur Zeit niemand durch. Kein Wanderer, kein Fahrzeug.« Der Beamte räusperte sich und setzte hinzu: »Anweisung des Herrn Oberstaatsanwaltes.«

»Ich hatte ja eigentlich gefragt, warum das so ist.« Kalle war die Freundlichkeit in Person.

»Das können wir Ihnen nicht sagen.«

»Wie sieht das von Weißenseifen her aus? Ist da auch gesperrt?«

»Alles dicht«, nickte der Beamte. »Das Beste ist, Sie fahren zurück und dann über Birresborn.« Er war ein netter Mensch mit einem stattlichen Bierbauch.

Ich zog Kalle beiseite, wollte gerade Wichtiges von mir geben, da grinste er mich an: »Ich weiß schon, was du vorhast.«

»Das ist aber praktisch«, sagte ich.

Wir wendeten und fuhren zurück, aber nur bis zu einem Weg, der nach rechts in die Felder führte, querab in ein wunderschönes Tal und dann rechts an einem Bach entlang. Für recherchierende Journalisten ist die Eifel ein zweifellos ideales Feld, denn es gibt keinen Punkt, der nicht durch Wirtschafts- und Feldwege erreicht werden kann, und jeder hart arbeitende Redakteur kennt den verquälten Gesichtsausdruck von Polizisten, wenn man wie ein Waldschrat auftaucht und fröhlich: »Einen guten Tach auch!« brüllt. Das hebt die Arbeitsmoral ungemein.

Der Weg verließ den Bach und stieg leicht nach links den Hang hinauf in eine Weißtannenkolonie, deren Ränder mit Mooreichen besetzt waren, mit Birken und dem leuchtenden Rot der Vogelbeere.

Dann sahen wir sie rechts unten auf dem Talboden, dessen dichter Grasbewuchs von einem strahlenden Grün war. Fünf Autos und ein kleiner Zweieinhalb-Tonner, wahrscheinlich der Laborwagen.

Kalle stoppte sofort und kam zu mir. »Ich denke, wir gehen getrennt, so müssen sie uns auch getrennt verarzten.«

»Das ist sehr gut. Du gehst direkt hin, und ich komme aus der Gegenrichtung. Dann denken sie, daß sowieso alles zu spät ist.«

Er fummelte an seinem Aufnahmegerät herum, sagte »Horridoh!« und begann den sanften Abstieg zu einer Leiche, von der wir nicht genau wußten, ob es sie überhaupt gab und ob sie tatsächlich weiblich war.

Ich ging den Weg weiter, der leicht bergan führte und sich dann teilte. Ich blieb auf dem talnahen Stück und kam an einen Punkt, von dem aus ich die Wagen sehen konnte und einen Trupp Männer, der sich um irgend etwas scharte. Sie diskutierten miteinander.

Kalle betrat die Szene, und ich hörte, wie er fröhlich »Guten Tag, die Herren!« wünschte.

Jemand rannte höchst panisch auf ihn zu und hob beide Hände, als sei das Gelände verseucht.

Das war mein Zeichen, ich lief ebenfalls den Hang hinunter, und als ich den Talboden erreicht hatte und vor einem gewaltigen Wald von Pestwurz stand, sagte ich: »Sieh einer an, das blöde Radio ist auch schon da. Guten Tag, allerseits.«

Die Köpfe fuhren zu mir herum, und ein zweiter Mann löste sich aus der Gruppe und stürmte auf mich zu.

»Das geht so aber nicht«, sagte er, ohne zu erklären, was denn so nicht gehe. »Wir haben doch die Straße dicht gemacht.«

»Das mag ja sein«, sagte ich. »Aber wir benutzen halt so popelige Straßen nicht. Das kann ja jeder, oder?«

Ich hatte schon gesehen, daß da ein Mensch im Gras eines Waldweges lag. Und der Mensch hatte blonde Haare und war, soweit ich das erkennen konnte, sittsam in Jeans und ein Trapperhemd gekleidet.

»Das hier ist aber nichts für die Öffentlichkeit«, sagte der junge Mann vor mir gequält.

»Ich bin die Öffentlichkeit, und ich bin hier.« Ich war ausgesprochen gut gelaunt.

Kalle sagte empört: »Ich bitte Sie, Herr Staatsanwalt. Sie können doch nicht von uns verlangen, daß wir eine Leiche verschweigen.«

Der junge Mann vor mir trug ein himmelblaues kurz-ärmeliges Hemd, das in Bauchhöhe ein gewaltiger Kaffeefleck zierte. Die Tatsache, daß er Einweg-Gummi-handschuhe trug, machte ihn durchaus nicht attraktiver. Aber er war tapfer und wiederholte: »Also, meine Herren, das geht einfach nicht.«

»Wie siehst denn du das, Siggi?« krähte Kalle vergnügt. »Wir können doch nicht so tun, als hätten wir das alles hier nicht gesehen, oder?«

»Können wir nicht«, stellte ich fest.

Erst jetzt reagierte der leitende Staatsanwalt, ein kurzer, knubbeliger Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren. Er seufzte laut und sagte etwas sehr Kluges: »Können wir uns wenigstens darüber unterhalten, wie Sie über den Fall berichten? Und werden Sie uns nicht bei der Arbeit stören?«

»Wir stören nie! Oder, Siggi?«

Ich meinte zu dem jungen Mann vor mir: »Nehmen Sie es nicht tragisch, auch für Sie schlägt noch mal die Stunde.« Dann ging ich an ihm vorbei auf die Gruppe zu, die sich um die Leiche versammelt hatte.

Nach etwa drei Schritten brüllte ein Mann links von mir: »Verdammte Hacke, Sie laufen in der einzigen verwertbaren Spur, Mann. Haben Sie Spiegeleier auf den Augen?«

»Tut mir leid«, sagte ich und blickte auf die Spur – der deutliche Abdruck eines Autoreifens.

Der Mann, der gebrüllt hatte, sagte zornbebend: »Diese gottverdammten Schreiber habe ich gern. Alles wissen sie besser und benehmen sich wie der Elefant im Porzellanladen. Merken Sie sich, mein Name ist Kischkewitz, Hauptkommissar. Und Sie versauen den Tatort, Sie Klugscheißer!«

»Kischkewitz!« sagte der rundliche Oberstaatsanwalt milde.

»Scheiß drauf!« sagte Kischkewitz. »Ich kann die Presse nun mal nicht leiden.«

Ich stand stocksteif da und bewegte mich nicht. »Wo darf ich jetzt hintreten, Herr Hauptkommissar?«

Kischkewitz starrte mich wütend an, mußte dann grinsen und erklärte: »Links von der Leiche ist ein Zwei-Meter-Streifen Gras. Nur da, sonst nirgendwo. Andernfalls mache ich Rambazamba. Und Sie«, er deutete mit einem anklagenden Zeigefinger auf Kalle, »Sie gehen auch auf diesen Streifen. Und sonst nirgendwohin!«

»Jawoll«, sagte Kalle brav und baute sich neben mir auf.

Der Oberstaatsanwalt meinte süffisant: »Fragen können Sie später stellen, erst einmal müssen wir arbeiten. Zum erstenmal in meinem Leben darf ich zwei leibhaftige Redakteure schweigend erleben. Leute, das ist ein historischer Moment.«

Sie lachten alle pflichtschuldig, aber nicht überzeugend.

»Also, Doc, was liest du aus diesem Bild?« fragte der Oberstaatsanwalt.

Ein baumlanger dürrer Kerl referierte: »Ich würde sagen, sie kam von unten. Von dem Talweg da. Sie ging die zwanzig Meter bis hierher. Dann traf sie der Fangschuß. Der Tod trat sofort ein. Näheres werde ich sagen können, wenn ich den Schußkanal ausgemessen habe. Aber es ist ziemlich sicher, daß es sich um eine Art Hinrichtung gehandelt hat. Achtet mal auf ihre Schuhe. Die befinden sich jetzt an dem Punkt, an dem deutlich sichtbar ist, daß bis dorthin jemand neben ihr herlief. Und zwar rechts von ihr. Wahrscheinlich ist der Täter also Linkshänder. Er hat die Waffe, ich vermute das Kaliber neun Millimeter, am zweiten Halswirbel aufgesetzt. Der Einschuß ist glatt, die Umgebung des Einschusses stark schwarz eingefärbt, also wurde der Lauf aufgesetzt. Die Spurenleute sind noch nicht fertig, doch ich prophezeie: Wenn wir sie herumdrehen, werden wir einen Kugelaustritt mitten im Gesicht finden. Wahrscheinlich ist das Gesicht also zerschmettert. Ich habe eine Temperaturmessung im Ohr gemacht. Danach zu urteilen, ist sie seit etwa zwölf bis sechzehn Stunden tot. Das werde ich nach der Autopsie präzisieren können. Die vermutliche Tatzeit ist somit heute morgen zwischen zwei und sechs Uhr. Jedenfalls war es Nacht, als sie starb. Mehr kann ich noch nicht sagen.«

»Gut«, nickte der Oberstaatsanwalt. »Peter, du bist dran. Was sagen die Spuren?«

Der Mann, der mit Nachnamen Kischkewitz hieß, begann etwas leiernd: »Etwa zehn Meter von der Leiche entfernt Richtung Straße, ist deutlich auszumachen, daß ein Auto gehalten hat. Wahrscheinlich Pirellireifen. Wir werden die Spur ausgießen, wir hoffen, daß das etwas bringt. Ich nehme an, daß die Tote nicht geahnt hat, daß sie ... na ja, daß sie getötet werden sollte. Denn an der Stelle, an der der Wagen hielt, stieg sowohl nach rechts ein Mensch aus als auch nach links. Beide Spuren sind schwach erkennbar, aber eindeutig. Vor dem Auto trafen sie sich und gingen dann nebeneinander weiter bis zu der Stelle, an der sie jetzt liegt. Nach Art des Einschusses tippe ich ebenfalls auf ein Neun-Millimeter-Geschoß. Beide Beine sind locker langgestreckt, was darauf hindeutet, daß sie im Augenblick des Schusses starb. Mit anderen Worten, sie konnte nicht einmal mehr zappeln, kein Bein an den Körper ziehen. Die Haltung der Arme unter dem Körper läßt den Schluß zu, daß sie nicht einmal die Arme nach vorn bringen konnte, um sich instinktiv vor dem Fall zu schützen. Wenn man es übertrieben ausdrücken will, starb sie schon, bevor sie auf die Erde fiel. Wir wissen noch nicht, was sie in den Taschen hat, wir müssen noch warten. Ich bin der Meinung, daß Jonny mit seinen Kameras loslegen sollte. Das Labor könnte schon mal eine Erdprobe von ihren Schuhen nehmen, damit wir unter Umständen herausfinden können, wo sie vorher war. Wir sollten den groben Überblick vervollständigen. Karlheinz, du gehst in alle Häuser an der Straße in Kopp, und du, Meier, machst dasselbe in Weißenseifen. Vielleicht hat jemand das Auto gesehen, in dem sie saß, vielleicht finden wir heraus, wer sie ist, wo sie herkam, wer mit ihr zusammen war. Los, Jungs.«

»Der ist richtig gut«, murmelte Kalle neben mir.

Abgesehen von dem häßlichen Einschußloch im Nacken machte die Tote einen sehr gepflegten Eindruck. Sie trug handgenähte Slipper, Jeans von Trussardi, ein lang-ärmeliges T-Shirt, das ebenfalls teuer wirkte, und ein Herrensakko im braun-roten Karo. Das rechte Handgelenk war neben ihrem Körper sichtbar, daran hing eine viereckige Cartier-Uhr aus Gold. Das Haar der Toten war lang und blond, sie trug es in einem langen Mittelzopf.

Ich fotografierte die Leiche, und niemand hinderte mich daran.

Der Fotograf der Kommission arbeitete sehr konzentriert, wechselte profihaft seine Objektive und stieg sogar auf eine niedrig wachsende verkrüppelte Eiche, um den Tatort von oben ins Bild zu bekommen. Die Aktion dauerte eine gute halbe Stunde, während der die Männer meistens schwiegen, vor sich hinstarrten, rauchten und allesamt den Eindruck machten, als seien sie nicht ganz bei der Sache. Von Rodenstock, dem Kriminalrat a. D., wußte ich, daß genau das Gegenteil der Fall war. Sie konzentrierten sich alle auf den Moment, in dem die Tote umgedreht werden würde. Rodenstock hatte es so formuliert: »Dann machst du dein Hirn sperrangelweit auf, damit du nie die geringste Kleinigkeit vergißt.«

Der Oberstaatsanwalt fragte mich: »Wer hat Sie informiert?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nämlich nicht, wer es war.«

Er starrte mich an, und seine Augen waren schmale Schlitze. Überraschend kommentierte er: »Das glaube ich Ihnen sogar.«

Kalle fragte Kischkewitz: »Ist es nicht möglich, daß das Auto, das hier anhielt und aus dem zwei Personen ausstiegen, gar nichts mit der Toten zu tun hat? Daß das gewissermaßen zwei getrennte Ereignisse waren?«

Kischkewitz grinste leicht. »Der Advokat des Teufels, häh? Aber Sie haben recht, das ist schon möglich.«

Mein Handy fiepste, es klang unangenehm und aufdringlich. Ich trat ein paar Meter zur Seite. »Ja, bitte?«

Dinah. Sie sagte etwas atemlos: »Können wir heute abend reden?«

»Nein«, antwortete ich knapp.

»Aber wieso nicht?«

»Weil ich in einer Reportage stecke, weil ich Kalle Adamek ein wenig helfen will, weil ich weiß, daß du mich beschissen hast, weil ganz sicher ist, daß ich nicht reden will, und vor allem möchte ich mich nicht mehr mißbrauchen lassen. Ich stehe für den Kindergarten nicht mehr zur Verfügung.« Dann unterbrach ich die Verbindung, weil ich roch, daß mir gleich alle Pferde durchgehen würden.

Sie drehten die Tote um.

»Oh, Scheiße!« hauchte einer der Männer.

Es war so, wie der Mediziner es vorausgesagt hatte, das Gesicht der Frau war zerstört, es war ein klaffendes Loch, eine Nase gab es nicht mehr.

»Geht mal zur Seite«, murmelte der Arzt und kniete neben der Leiche nieder. Es war totenstill, niemand sprach ein Wort.

»Wir haben einen Geschoßaustritt«, sagte der Arzt. »Schreibt jemand mit? – Gut. Also wir haben einen Geschoßaustritt. Ziemlich hoch an der Nasenwurzel mit einer Gesamtzerstörung des Gesichtes unterhalb einer Linie, die beide Augenunterränder verbindet. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir das Geschoß suchen sollten. Ich denke, der Winkel, in dem es liegen könnte, beträgt 30 bis 35 Grad in der Verlängerung der Linie, die die Lage des Opfers vorgibt. Nach meiner Erfahrung ist wohl ein Weichmantelgeschoß verwendet worden. Blei oder eine sehr nahe an Blei heranreichende Legierung. Möglicherweise war die Spitze des Geschosses in X-Form angeritzt, was dazu führt, daß der Einschußkanal dem benutzten Kaliber entspricht, der Ausschuß jedoch so aussieht, als habe jemand mit einer Faust durch das Gewebe geschlagen. Es ist noch nicht mal mehr zu erkennen, ob sie hübsch war. Ich würde sagen, daß der oder die Täter absolute Profis sind. Sie wurde hingerichtet.«

»Stützt der Zustand der Wunde im Gesicht deine Ansicht vom Zeitpunkt der Tat?« fragte Kischkewitz.

»Ja, irgendwann zwischen zwei Uhr und sechs Uhr heute morgen. Ihr könnt ihr jetzt an die Figur.«

»Sämtliche Taschen leeren«, ordnete Kischkewitz an. »Udo, das machst du mit deinen Pianistenhänden. Und sei vorsichtig und hole auch Staub aus den Taschen, ich will wissen, wie ihre Wohnung aussieht, welche Teppiche dort liegen und so weiter. Es ist anzunehmen, daß sie ihren Mörder mit dem Jackett berührt hat. Dort müßten Gewebefasern zu finden sein, aus denen hervorgeht, was der Täter trug.«

»Er ist wirklich gut«, sagte ich über die Schulter zu Kalle.

Jemand meinte nachdenklich: »Ich möchte wissen, ob sie aus der Eifel ist.«

»Wahrscheinlich nicht«, mutmaßte Kischkewitz. »Sie sieht aus wie eine gepflegte Stadttussi. Die Sorte, die dauernd flötet, wie ungeheuer schön die Eifel ist und dabei ihrem BMW Z 1 die Sporen gibt.«

Der Oberstaatsanwalt drängte: »Taschen ausleeren, damit wir weiterkommen.« Etwas klingelte an ihm, und er zog ein Handy aus der Tasche und bewegte sich abseits.

Der junge Mann mit den Pianistenhänden kniete neben der Toten nieder und legte einige kleine Plastikbeutel in das Gras. »Schreibst du mit, Gerd? Ich fange mit der linken Innentasche des Sakkos an. Nichts. Ich nehme unten in den Ecken Flusen auf und tüte sie ein. Jetzt die andere Innentasche, also rechts. Hier ist etwas. Moment mal.« Er zog einen Reisepaß heraus, rot und neu, und schlug ihn auf.

»Sie war eine Schönheit. Sie heißt Erika Schallenberg und ist sechsundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Düsseldorf. Beruf Mannequin. Was, zum Teufel, tut die hier im Eifler Busch?«

»Wenn wir gut sind, werden wir es herausfinden«, sagte Kischkewitz. »Nimm auch dort Flusen mit. Wie lautet die genaue Adresse?«

»Immermannstraße 112. Das dürfte in der Innenstadt sein, ziemlich nahe an der Altstadt und der Kö. Ich spüre neben Flusen noch etwas. Tabakreste, jedenfalls sieht das so aus.«

»Eintüten«, nickte Kischkewitz. »Ich rufe jetzt Düsseldorf an.« Er ging hinunter auf die Straße.

»Offensichtlich war es dem Mörder scheißegal, wie schnell sein Opfer identifiziert wird«, murmelte Kalle. »Er hätte die Papiere doch nur in irgendeinen Gully zu schmeißen brauchen.«

»Das sieht nach dem Alptraum aller Mordkommissionen aus, das riecht nach einem Auftragskiller.« Der Oberstaatsanwalt kratzte sich am Kopf.

»Ich muß direkt auf Sendung«, sagte Kalle. »Was darf ich sagen und was nicht?«

»Nehmen Sie die Tatsache, daß wir eine Frau gefunden haben. Erschossen. Lassen Sie Namen und Adresse weg. Körpergröße 173 Zentimeter, Alter ungefähr 25, sehr gepflegte Erscheinung. Wir haben einen Ermittlungsvorsprung, wenn wir so tun, als wüßten wir nicht, wer sie ist.«

»Da fällt mir ein«, mischte ich mich ein, »daß wir noch nicht wissen, wer sie gefunden hat.«

»Ein Bauer aus Kopp, der zum Heuen fuhr. Es wäre gut, wenn Sie erwähnen könnten, daß wir alle Fahrer von Pkws und auch alle Motorradfahrer suchen, die zwischen gestern abend und heute morgen diese kleine Straße zwischen Kopp und Weißenseifen benutzt haben.«

»Ich fasse jetzt in die Taschen der Jeanshosen«, sagte der junge Mann mit den Pianistenhänden monoton. »In der rechten ist ein Lippenstift. Margret Astor. Dann ist da noch ein Zettel, weiß, unsauber abgerissen. Moment mal, da steht ein Name drauf. Harry steht da, mit einem Ypsilon am Schluß. Und einem Ausrufezeichen. Nun die linke Jeanstasche. Darin befindet sich nichts. Ich nehme Staub auf.«

Kalle lief hinunter auf die schmale Straße, wo Kischkewitz noch immer mit irgend jemandem in Düsseldorf telefonierte.

Ich fragte: »Deutet eigentlich etwas darauf hin, daß der oder die Mörder die Gegend hier kennen?«

»Soweit ich sehe, nicht«, sagte der Junge mit den Pianistenhänden. »Es hätte wahrscheinlich jeder Waldweg hier in der Gegend sein können.«

»Einspruch, Euer Ehren«, sagte der Fotograf namens Jonny. »Wenn wir schon von Profiarbeit ausgehen, dann war es dem Mörder mit Sicherheit wichtig, daß er entweder Weißenseifen oder aber Kopp nur einmal durchqueren mußte. Das heißt, er fuhr durch, um hierher zu kommen, aber er brauchte denselben Weg nicht zurück zu benutzen und sich dabei der Gefahr der Wiedererkennung auszusetzen.«

»Sehr gut«, sagte ich anerkennend. »Wirklich, sehr gut. Wieso, zum Teufel, ist ein Auftragskiller der Alptraum jeder Mordkommission?«

Der mit den Pianistenhänden antwortete: »Weil der Auftrag selbst fast nie nachzuweisen ist, weil alles über Kontaktleute abgewickelt wird. Der Mörder kommt von wo auch immer, erledigt den Auftrag, kassiert und taucht für ewig ab. Zwischen Auftraggeber und Mörder ist eine direkte und persönliche Verbindung in der Regel nicht nachweisbar. Du drehst dich im Kreis und kommst keinen Millimeter voran. Dieser Mörder hier kann aus Berlin kommen, aus Zürich oder meinetwegen aus den Sümpfen Floridas. Er hat ein Foto von seinem Opfer, das er sich einprägt und schon wegwirft, bevor er hier eintrudelt. Er erschießt die Frau, fährt zum Flughafen zurück, steigt in eine Maschine und fliegt weg.«

»Aber dann braucht er einen Leihwagen«, sagte ich.

»Irrtum. Irgendwelche Helfer des Auftraggebers sorgen dafür, daß der Killer ein Auto besteigt, das irgendwer zur Verfügung stellte. Dieser Irgendwer hat keine Verbindung zum Auftraggeber, zum Mörder oder zum Opfer. Und dieser Irgendwer ahnt nicht einmal, daß sein Auto für einen Mord gebraucht wird. So geht das.«

»Das klingt aussichtslos.«

»So ist es«, sagte der Mann mit den Pianistenhänden höchst befriedigt. »Fehlt noch die Brusttasche des Sakkos. Da spüre ich ... da ist was.« Seine Finger fuhren hinein und brachten drei rautenförmige blaue Tabletten an den Tag. »Viagra«, sagte er mit hoher Stimme. »Schau einer an, das berühmte Viagra. Wahrscheinlich hat sie einen Lover, der Schwierigkeiten mit seiner Potenz hat, oder so. Darunter sind Flusen und Staub, die ich eintüte ...«

»Macht sie eigentlich auf euch den Eindruck einer Nutte?« fragte ich.

»Nein«, sagte der Mann, der die ganze Zeit protokollierte. »Entschieden zu gepflegt. Kann natürlich sein, daß sie eine Edelnutte ist, wir werden das bald wissen.«

Kalle kehrte zurück und sagte: »Ich fahre mal los, die Meldung haben wir schon gebracht. Tauschen wir aus?«

»Sicher«, nickte ich. »Grüß deine Andrea.«

»Machst du was für das Käseblättchen?«

»Ja«, sagte ich. »Aber noch nicht. Erst will ich abwarten, was draus wird. Ich gebe dir alles, was ich herausfinde.«

Er nickte und lief den Hang hinauf zu seinem Auto.

Ich wartete, bis Kischkewitz sich wieder zu seiner Truppe gesellt hatte, und fragte dann, ob sein Gespräch mit den Kollegen in Düsseldorf etwas ergeben habe.

»Bis jetzt nichts«, gab er Auskunft. »Sie kennen Erika Schallenberg. Das Mädchen wird in Düsseldorf Cherie genannt. Sie ist wohl keine Nutte. Aber sie treibt sich mit Männern herum, die viel Geld haben. Die Kollegen machen ihre Wohnung an der Immermannstraße dicht.«

»Ist sie vorbestraft?«

»Nein, es existiert keine Akte, und ihr Leumund ist einwandfrei.«

»Dann verschwinde ich mal.«

»Aber vergessen Sie zunächst den Namen der Dame.«

»Ich schreibe noch nicht«, beruhigte ich ihn. »Noch ist kein Fleisch an der Story.«

»Da haben Sie recht«, nickte er. »Noch ist es nichts anderes als ein häßlicher Mord aus unbekannten Gründen. Ich bilde mal die Arbeitshypothese, daß die Tote über Wissen verfügt hat, das andere gefährdete.«

»Das klingt nach Skandal.«

»Ich bin davon überzeugt, daß wir es hier mit einem Fall zu haben, der zum Skandal wird.« Er sagte das so, als erzähle er sich es selbst. Dann setzte er seufzend hinzu: »Die Regel ist, daß das mit Hunderten von Überstunden verbunden ist. Meine Frau wird mich hassen.«

»Ich habe zur Zeit keine«, entgegnete ich. »Ich rufe Sie an, wenn ich darf.«

»Kein Problem«, sagte er. »Ich gebe Ihnen meine Karte mit der Handynummer. Rufen Sie bitte auch an, wenn Sie etwas herausfinden.«

»Aber klar«, sicherte ich ihm zu.

 

Ich rollte gerade am Kopper Eck vorbei, als das Handy sich meldete.

»Ich bin stinksauer«, rief Rodenstock heftig. »Emma hat mir eben berichtet, du hättest sie mit einer Fangfrage gelinkt. Von wegen eines Ersatzlovers von Dinah.«

»Habe ich«, erwiderte ich trocken. »Tut mir leid, ich werde mich bei ihr entschuldigen, weil sie Fangfragen nicht verdient hat. Aber ich wette mit dir, daß du es auch versucht hättest. Verdammte Hacke, Rodenstock, Emma weiß seit einem Vierteljahr, daß Dinah mich verlassen will, und vermutlich weiß sie auch seit einem Vierteljahr von diesem Macker. Ich hatte die Schnauze voll von dieser Unsicherheit. Und jetzt kommst du und spielst den edlen Ritter. Das ist doch Edelkitsch. Du hast doch wahrscheinlich auch davon gewußt.«

»Habe ich nicht«, sagte er erregt. »Und ich finde es zum Kotzen, daß Dinah dich anruft, um mit dir zu sprechen, und du drehst ihr einfach den Hahn ab. Das hat sie nicht verdient.«

»Die Geschichte mit ihr ist meine Geschichte. Laß mich entscheiden, wie ich mich verhalte und was sie verdient und nicht verdient hat.«

»Du bist ein gottverdammter engstirniger Kotzbrocken«, sagte er leise.

Für Sekunden hatte ich den Eindruck, als mache er einen Scherz. Aber er meinte es so.

»Außerdem stand ich, als sie anrief, neben einer Leiche«, erklärte ich. »Tu mir den Gefallen, und halte dich da raus.« Ich unterbrach die Verbindung und gab wütend Vollgas.

Bei der Einfahrt nach Gerolstein war er wieder dran und fragte sachlich: »Würdest du mir denn Auskunft darüber geben, was das für eine Sorte von Leiche ist?«

Ich mußte lachen und erzählte ihm alles, was notwendig war.

»Du sagst, sie kommt aus Düsseldorf und verkehrte bei reichen Männern? Hast du schon mit den Jägern bei Kopp gesprochen?«

»Nein. Wieso?«

»Ganz einfach. Reiche Männer jagen häufig. Wenn sie also im Wald hingerichtet wurde, dann kann das etwas mit der Jagd in der Eifel zu tun haben. Das ist jedenfalls das erste, was mir nach deinem Bericht einfällt.«

»Du hast recht«, erwiderte ich. »Ich werde mich darum kümmern. Und sag Emma, daß ich mich entschuldige. Bis demnächst.« Diesmal schaltete ich das Handy aus.

Als ich auf den Hof rollte, war ich todmüde. Ich bückte mich, um die Katzen zu streicheln, und mein Kreuz tat weh.

Dann fiel mir Christian Reuter ein. Ihn mußte ich anrufen, wenn ich etwas über die Jagd in der Eifel wissen wollte. Doch ich vergaß diesen Einfall wieder, weil ich mich auf dem Sofa im Wohnzimmer ausstreckte und augenblicklich einschlief. Irgendwann wurde ich kurz wach, weil sich erst Paul auf meinem Rücken zurechtlegte und dann Satchmo. Ich registrierte auch noch, daß Willi sich auf dem Teppich zusammenrollte. Ich schlief weiter.

Es war elf Uhr nachts, als ich wach wurde, die Welt draußen war dunkel, und im Garten zirpten Grillen. Paul und Satchmo räkelten sich, machten aber keine Anstalten, meinen Rücken zu verlassen, bis ich sie schubste. Ich gab ihnen eine Dose Katzenfutter, schnappte mir dann das Telefon und rief Christian Reuter in Hillesheim an.

Christian Reuter, rund dreißig Jahre alt, war Förster von Beruf. Jemand hatte mir erzählt, er habe einen Job in Luxemburg gefunden. Ich erinnerte mich, ich versuchte, mir ein Bild zu machen. Ein bäuerliches Gesicht unter kurzem blonden Haar, kluge helle Augen, etwa einsachtzig groß, Figur wie ein Kleiderschrank.

»Ich bin’s, Baumeister«, sagte ich. »Tut mir leid, es ist spät, aber ich brauche deine Hilfe. Da wurde eine Frauenleiche gefunden, und ich bitte dich, das meiste sofort nach diesem Gespräch zu vergessen. Es besteht die Möglichkeit, daß das etwas mit der Jagd in der Eifel zu tun hat. Ort der Handlung ist eine schmale Straße zwischen Kopp und Weißenseifen, im Kyllwald. Ich sage dir jetzt, was ich weiß, und ich frage dich, ob du weißt, wer die Jagd dort gepachtet hat ...« Ich spulte so sachlich wie möglich die Ereignisse des Nachmittags ab.

»Hm«, sagte er nachdenklich. »Ich kenne mich da nicht so aus, außer, daß ich weiß, daß dort Mufflonwild steht. Ich weiß nicht mal, was die Jagden dort kosten. Aber da gibt es jemanden, der das alles wissen müßte. Der Mann heißt Narben-Otto.« Reuter lachte.

»Narben-Otto?«

»Ja. Das ist ein Penner, der da im Sommer in einem ausgedienten Bauwagen haust. Soweit ich weiß, wird das von dem Jagdherrn dort geduldet, aber wer das ist, weiß ich nicht. Und wo dieser Bauwagen steht, weiß ich auch nur ungefähr. Wenn du von der Höhe auf Eigelbach und Kopp runtersehen kannst, geht es nach rechts auf einen Waldrand zu. An diesem Waldrand steht der Bauwagen. Wieso kennst du eigentlich Narben-Otto nicht? Ich dachte, du kennst alle schrägen Vögel in der Eifel.«

»Meine Sammlung ist noch nicht vollständig«, erklärte ich. »Wie kommt ein Penner in einen Bauwagen?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Angeblich kommt er aus Düsseldorf. Und angeblich ist er gar kein echter Penner, sondern Arzt.«

»Arzt? Willst du mich verscheißern?«

»Nein«, sagte er. »Das wird erzählt, in der Jägerschaft ist das rund.«

»Kannst du mich über Jagd aufklären, falls ich Fragen habe?«

»Jederzeit«, versprach Reuter. »Viel Vergnügen bei Narben-Otto. Das soll ein witziger Typ sein.«

Ich machte mir ein Brot zurecht und aß lustlos. Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen. Natürlich dachte ich sofort an Dinah, dann an Emma und Rodenstock. Aber es war Kischkewitz, der Kriminalist.

Er entschuldigte sich wortreich, daß er so spät noch störe. Aber es sei dringend und wichtig, und er müsse mich unterrichten, um zu verhindern, daß ich in die falsche Richtung marschiere.

»Wir haben eine zweite Leiche«, erklärte er trocken. »Wieder eine Frau. Eine Jägerin, und davon gibt es ja nicht viele. Sie heißt Mathilde Vogt, ist zweiundvierzig Jahre alt und Mutter zweier Kinder. Sie starb auf einem Waldweg. Aber dieses Mal sieht es nicht wie eine Hinrichtung aus. Sie ist über eine große Distanz erschossen worden. Kopfschuß. Wahrscheinlich mit einer alten 44er Winchester. Das Bedrückende ist, daß zwischen den beiden Leichen eine Entfernung von nicht mehr als einem Kilometer liegt. Und ich denke, daß das kein Zufall ist. Hallo, hören Sie überhaupt noch zu, gibt es Sie noch?«

»Ja, ja«, murmelte ich verwirrt. »Danke für die Nachricht. Weiß Kalle Adamek das schon?«

»Aber ja, ich habe ihn eben informiert, und er bringt gleich eine aktuelle Nachricht. Ich dachte, daß Sie das auch interessiert.«

»Ja, ja. Woher stammt diese Mathilde Vogt?«

»Aus Wittlich«, sagte er. »Und noch etwas wissen wir schon: Sie war schwanger.«

»Wann ist die Obduktion?«

»Eins nach dem anderen«, entgegnete er. »Nicht vor morgen nachmittag.«

»Vielleicht sollte man die Bevölkerung aufrufen, die Gegend um Kopp zu meiden und dort die Häuser zu verrammeln«, murmelte ich. »Haben Sie eine Ahnung, aus welcher Distanz die Frau erschossen wurde?«

»Ja, ungefähr. Wir haben das Projektil gefunden. Die Distanz betrug etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter. Wer, um Gottes willen, bringt einen derartigen Präzisionsschuß zustande?«

»Aber wieso sind Sie dann überzeugt, es handele sich nicht um eine Hinrichtung? Das sieht doch verdammt nach einer zweiten Hinrichtung aus.«

»Das war mein Wunschdenken«, gab er knötterig zu. »Ich wüßte gern, ob die beiden Frauen sich kannten ...«

»Das dürfte doch herauszufinden sein. Dank jedenfalls für die Information. Und wer hat die zweite Tote entdeckt?«

»Same procedure as every day. Ein Bauer, der Holz aus dem Wald weggefahren hat. Wir hören voneinander.«

»Ja«, sagte ich, aber er hatte schon unterbrochen.

Satchmo wälzte sich auf dem Teppich herum, und ich hielt ihm einen Vortrag: »Da gibt es eine 42jährige schwangere Mami, die aus dreihundert Metern Entfernung mit einem Schuß aus einer 44er Winchester getötet wird. Sage mir keiner, in der Eifel sei nichts los.«

Satchmo schnurrte ganz laut, er hatte null Bock auf Verbrechen.