Elftes Kapitel

»Scheiße«, sagte Rodenstock leise. »Wir sind hier am Ende. Er ballert, und er ballert nicht schlecht. Hilf mir mal, ihr den Pullover auszuziehen. Oder nein, hast du dein Messer bei dir?«

Ich gab es ihm.

Er wählte die kleine Schere und schnitt Emma den Pullover vom Leib. Es dauerte quälend lange, und weil Rodenstock wütend und ungeduldig war, geriet er mit dem Messer in Streit und schnibbelte herum, als habe er noch nie im Leben eine Schere in der Hand gehabt. Ich nahm ihm das Instrument ab und vollendete sein Werk.

Trierberg hatte mit Schrot geschossen, vier Kugeln, vier niedliche Schrotkörner, hatten vier tiefe Rinnen in Emmas Oberarm gerissen. Es blutete stark.

Sie begann stoßweise zu atmen, tauchte aus der Bewußtlosigkeit auf. Ich hielt sie eisern unten und tupfte derweil mit den Resten des Pullovers an dem Blut herum.

»Das schaffen wir nicht, wir haben nicht mal ein Pflaster. Ruf Kischkewitz an. Und vielleicht einen Notarzt. Es kann sein, daß es noch jemanden erwischt. Rodenstock! Bist du abgetreten, oder was ist? Wir müssen Emma hier wegbringen.« Ich bemerkte, daß ich Emma mit meiner rechten Hand den Mund zuhielt. Ihre Augen waren ruhig und starrten mich an. Da ließ ich sie los.

Sie betrachtete die Striemen an ihrem Oberarm.

»Kannst du den Arm bewegen?« fragte Rodenstock.

»Sicher«, nickte sie. »Sicher. Wieso hast du ...«

»Es mußte sein«, sagte er und schaute auf die Jagdhütte. »Also, was ist? Ich bringe dich erst einmal nach unten. Du mußt hier weg.«

»Muß ich nicht. Wieso?«

»Die Profis müssen her, die werden die Bude stürmen müssen. Und wir brauchen für den Fall der Fälle einen Arzt und einen Krankenwagen.«

»Nimm mein Hemd«, sagte sie. »Nimm mein Hemd, Rodenstock. Zerreiß es und mach mir einen Verband. Sieh mal, da blüht eine wilde Akelei. Ziemlich selten.«

Die Akelei war violett, und sie leuchtete intensiv wie eine kleine Laterne.

»Du bist verrückt«, murmelte Rodenstock.

»Na, sicher«, lächelte sie. »Deshalb hast du mich ja geheiratet.«

»Dann muß ich auch verrückt sein«, brummte er nicht sonderlich leise.

»Das bist du auch, mein Liebling«, versicherte sie. »Nimm jetzt dein Handy, hol Kischkewitz und die Sanitäter, ach, von mir aus eine ganze Krankenhausbesatzung.« Dann biß sie sich auf die Unterlippe. »Wir schaffen das mit unserer Zimmerflak nicht. Rodenstock! Bitte, starre keine Löcher in die Luft. Zieh mir das Hemd aus, zerreiß es und verbinde mich damit.«

Rodenstock sagte: »Dann wirst du aber frieren.«

Wie eine Explosion überfiel mich ein Lachen, ich konnte absolut nichts dagegen tun. Und es schallte mörderisch laut über die Lichtung.

»Nicht schlecht«, lobte Emma.

Ich erkannte an ihren Augen, daß sie etwas plante, und geriet einen Augenblick lang in Panik. »Rodenstock. Telefonier gefälligst. Warte, meine Freundin. Ich helfe dir.«

»Du bist richtig nett«, keuchte sie. »Jetzt fängt es an zu schmerzen. Wie tief sind die Rinnen?«

»Bestimmt einen Zentimeter. Zwei von den Scheißdingern sind garantiert noch drin. Leg die Arme nach oben, ich muß dir das Hemd runterfummeln.«

»Wie aufregend«, sagte sie trocken.

»Ich möchte wissen, wann dir mal die Sprüche ausgehen.«

»Wenn mein zukünftiger Mann mich das nächste Mal k. o. schlägt«, antwortete sie.

Es war ein einfaches Baumwollhemdchen, und es ergab einen guten Verband. Ganz nebenbei stellte ich fest, daß meine Freundin Emma jugendliche Brüste hatte, wie eine Dreißigjährige. Und als sie merkte, daß ich es merkte, grinste sie diabolisch.

Rodenstock telefonierte derweil und bemühte sich zu flüstern, was ihm absolut mißlang, was auch lächerlich war, da Trierberg ohnehin wußte, daß wir auf der Schneise steckten.

»Du gehst auf die andere Seite in den Schutz der Bäume«, sagte ich zu Emma. »Ich will dich hier weg haben. Wie ist das, hast du den Eindruck, daß du unter Schock stehst?«

»Nein«, sagte sie. Aber sie kam meiner Bitte nach, drehte sich in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und bewegte sich langsam von der Hütte fort.

Rodenstock hatte zu Ende telefoniert: »Kischkewitz schickt ein paar Leute von einer SEK. Er hat auch diese Spezialisten vom deutschen Zoll in Trier um Hilfe gebeten. Sie kommen, genauso wie ein Arzt und ein Krankenwagen.« Er wirkte gemütlich wie ein Tourist, der sich vorgenommen hat, endlich mal in einem Wald zu hocken und an seine Kinderzeit zu denken.

»Du bist erleichtert, daß es sie auf diese Weise erwischt hat, nicht wahr?«

»Ja«, gab er zu. »Das hätte ganz anders schiefgehen können.«

»Du solltest zu ihr hingehen und bei ihr bleiben. Sie hatte so ein merkwürdiges Funkeln in den Augen. Vielleicht plant sie etwas Gemeines, und wir wissen nichts davon, bis es passiert ist. Ich decke die Hütte ab.«

»Gut«, sagte er. »Aber keine Heldentaten.«

»Nicht die Spur«, versicherte ich.

Das Licht wurde immer schwächer, die Sonne hatte sich verkrochen. Was mochte dieser Trierberg in der Hütte denken? War er panisch, war er kühl? Zumindest schoß er gut. Wie würde er reagieren, wenn man ihm vorwarf, Menschen getötet zu haben? Aus reinem Haß. Diese Frage machte mich unruhig. Es war richtig, seine Motivation mochte so aussehen: Jemand erschießt seine Frau, und er erschießt die, von denen er glaubt, daß ihre Welt seine Frau getötet hat. Die Frau, nach der er so lange gesucht und die er endlich gefunden hatte.

Doch plötzlich dachte ich: Da stimmt was nicht, da stimmt vieles nicht. Ich will mit ihm reden. In meinem Kopf hörte ich Rodenstock mich einen Hornochsen schimpfen, und Emma hörte ich sagen: Du bist bodenlos leichtsinnig! Dann tauchte Dinah auf und bemerkte in reinem Spott: Also doch ein Macho mit Waffe!

Ich machte mich auf den Weg. Es würden etwa dreißig schwierige Meter werden. Weil es unmöglich war, die Linie direkt zu nehmen, würden es wahrscheinlich neunzig Meter sein, wenn ich dort war, wohin ich wollte. Ich kroch hangaufwärts, möglichst flach. Das erste, was mir auffiel, war eine Kolonie wilder Walderdbeeren ganz dicht vor meinen Augen. Dann stieg mir der Modergeruch eines absterbenden Fichtenstammes in die Nase. Es roch gut. Über ein grünes Moospolster kroch ein kleiner, funkelnder Käfer, sehr schnell, sehr wendig. Als mein Atem ihn traf, ließ er sich einfach von dem Moos fallen, landete auf dem Rücken und lag vollkommen still. Er mimte den toten Mann.

Nun begann es zu regnen. Erst sanft, aber es steigerte sich rasch. Nach etwa drei Minuten war ich vollkommen naß. Ich erinnerte mich an den reinigenden Sommerregen in meinem Garten. Aber diese Erleichterung, dieses Gefühl wirklicher Frische wollte sich hier auf der Schneise nicht einstellen.

Ich kroch weiter, da feuerte er plötzlich. Er konnte mich nicht meinen, denn unterhalb meines Standpunktes, sicherlich mehr als dreißig Meter entfernt, peitschten zwei Schüsse in die wild gewachsenen Büsche der Schneise. Der Wind kam aus dem Tal und drückte einen feinen Nebel den Hang hoch. Lange würde das Licht nicht mehr reichen.

Ich bewegte mich schräg links weiter den Hang hinauf, und nach einigen Metern konnte ich die Seitenwand der Hütte sehen. Dort gab es ein Fenster. Auf der Rückseite würden wahrscheinlich wie auf der Vorderfront zwei Fenster sein, denn als Trierbergs Vater die Hütte errichten ließ, hatte er sie auf eine Lichtung gebaut und vermutlich Sicht nach allen Seiten haben wollen.

Ich mußte schnell an die Hütte heran, schnell und konzentriert. Und ich wollte mir dabei keine Schußverletzung einhandeln, wenngleich das unmöglich schien, denn die Büsche an der Schneise endeten gut zehn Meter vor der Hütte, und der Wald hinter ihr zeigte keinerlei Unterholz.

Ich riskierte es, Rodenstock über das Handy anzurufen.

»Wo bist du, verdammt noch mal«, schnauzte er.

»Gib mir mal eine Ablenkung«, sagte ich. »Und schimpf nicht rum. Ich komme hangwärts runter auf die Hütte zu und will in den toten Winkel zwischen der Tür und dem ersten Fenster. Es reicht, wenn du in die Schneise hineinspringst und schießt. Also los, mach schon.« Ehe er losbrüllen konnte, schaltete ich das Handy wieder aus. Dann wartete ich.

Selbstverständlich war Emma nicht zu bremsen und machte bei der Ablenkung mit. Sie rannte wild feuernd in die Schneise hinein, bis sie nach vorn hechtete und irgendwo in der Deckung verschwand. Rodenstock folgte, er startete mindestens zwanzig Meter unterhalb von Emma und setzte eindrucksvolle Schüsse in die Jagdhütte; einmal splitterte Glas. Die beiden wiederholten das Spiel, und ich begann zu rennen. Trierberg schoß, aber er ließ sich ablenken und schoß nicht auf mich.

Plötzlich überfiel mich Angst, sie war übermächtig, und für den Bruchteil einer Sekunde wollte ich vor dem letzten Busch abstoppen und mich in Sicherheit bringen, doch hier gab es keine Deckung mehr. Also rannte ich wie verrückt auf den schießenden Trierberg zu, erreichte die Bohlen der schmalen Veranda vor der Hütte, kam ins Straucheln, schlug auf die rechte Schulter und rutschte an die Wand. Es knallte dumpf.

Ich brauchte einige Zeit, um zu Atem zu kommen.

»Trierberg? Hören Sie mich? Ich bin hier. In einem toten Winkel. Sie können mich nicht erwischen. Und wenn Sie rauskommen, sind Sie tot. Wissen Sie das eigentlich, Trierberg?«

Er reagierte nicht, aus der Hütte war kein Laut zu hören.

»Man hat gesagt, Sie seien ein höflicher Mann. Sie könnten jetzt so höflich sein, mir zu antworten.«

Der Regen rauschte gleichförmig. Die Stämme, aus denen die Hütte gefügt war, hatten von weitem alt und vermodert ausgesehen, aber das war eine Täuschung gewesen. An einigen Stellen waren neue Stücke eingefügt, und auf der schmalen Veranda waren alle Bretter erneuert worden. Dies war wahrscheinlich Trierbergs und Mathildes Versteck gewesen, schoß mir durch den Kopf. Hier hatten sie das Kind gezeugt, hier hatten sie nachts geträumt und sich geliebt und den katholischen Vogt auf den Mond gewünscht.

»Trierberg, Sie hatten hier eine schöne Zeit mit Mathilde. Es endete furchtbar. Ich weiß das. Aber warum hocken Sie da drin, statt herauszukommen und zu erzählen, was war? Da war doch etwas, Trierberg, oder?« Während ich sprach, fiel mir auf, daß wir mit einer geradezu lächerlichen Automatik davon ausgegangen waren, daß Trierberg sich gerächt hatte. Woher nahmen wir diese Sicherheit? Und wenn es so gewesen war, was war dann für diesen Mann noch wichtig? Hockte er in der Hütte, weil er Angst hatte? Weil er damit rechnete, getötet zu werden? Und wenn er mit seinem Tod rechnete, wer würde ihn töten?

Natürlich nur ...

»Trierberg, hören Sie mir bitte zu. Ich bin allein, und die Waffe, die ich habe, lege ich so, daß Sie sie sehen können. Ist das okay?« Ich nahm die Beretta und schubste sie vor das Fenster. Dort waren zwar hölzerne Läden vor, aber er mußte die Waffe durch die Spalten, die er für die Gewehre freigelassen hatte, sehen können.

»Ich nehme an, Sie sehen die Waffe. Weitere Waffen habe ich nicht. Ich würde Ihnen gern ein Foto zeigen. Das Foto ist zwar von schlechter Qualität, nur eine Kopie, aber es zeigt einen Mann, der wahrscheinlich Cherie getötet hat. Und Sie sind mit ziemlicher Sicherheit der einzige Mensch auf der Welt, der diesen Mann identifizieren kann. Ich glaube nämlich, daß Sie ihn gesehen haben. Sie müssen ihn gesehen haben, wenn Sie in jener Nacht hier waren. Und Sie waren wohl hier. Sie haben auch gesehen, wie Ihre zukünftige Frau erschossen wurde, nicht wahr? Lieber Gott, seien Sie doch endlich so höflich, mir zu antworten, schließlich habe ich kein Maschinengewehr in der Schnauze. Ich will Ihnen helfen. Und ich will mir selber helfen. Verstehen Sie das denn nicht?«

Keine Reaktion, der Regen rauschte weiter. Ich konnte weder Rodenstock noch Emma sehen, aber wie ich sie kannte, betrug ihr Abstand zu mir im Augenblick nicht mehr als zwanzig Meter. Und ich hoffte, sie würden Trierberg nicht erschießen, wenn er herauskam.

»Würden Sie mir das Bild zeigen?« fragte er.

Es klang, als stünde er neben mir. Seine Stimme war erstaunlich gelassen und sehr sonor. Eine Vaterstimme.

»Natürlich. Soll ich es irgendwo vor den Fensterladen halten?«

»Nein. Ich öffne Ihnen. Jetzt muß Schluß sein. Greifen Sie mich aber nicht an, ich habe nichts mehr zu verlieren, ich habe alles verloren.«

»Warum sollte ich Sie angreifen?«

»Sie könnten der Mann sein, der mich töten will.«

»Es gibt einen Mann, der Sie töten will?«

»Aber ja.« Das klang immer noch gelassen.

»Ich bin nicht dieser Mann.«

Aus dem Innern der Hütte hörte ich jetzt gedämpften Lärm. An der Tür neben mir wurde etwas verändert, wahrscheinlich hob Trierberg einen Sperrbalken ab. Dann knarrte das Holz, und die Tür öffnete sich.

»Kommen Sie herein«, sagte er.

Er stand an einem mit Waffen und Munition bedeckten Tisch und zündete eine Öllampe an.» Als sie noch lebte, brannte diese Lampe immer«, erklärte er.

Trierberg war ein großer Mann, zweifellos ein gut aussehender Mann. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr rasiert, wahrscheinlich auch seit Tagen nicht mehr richtig gewaschen – er stank. Er trug einen grünen, dicken Pullover, Kniebundhosen aus Wildleder, schwere Schuhe über dicken grünen Wollstrümpfen. Sein Gesicht war lang und schmal und wettergegerbt, seine Augen rauchig grau, wenngleich das im matten Licht der Ölfunzel nicht genau auszumachen war.

»Das ist der Mann«, sagte ich und gab ihm die Kopie des Fotos von Martin Kleve.

Er nahm es, hielt es nach unten, so daß die Öllampe ihm Licht gab. Dann nickte er. »Ohne Zweifel. Das ist der Mann, der Cherie erschossen hat.«

»Haben Sie das beobachtet?«

»Ja«, sagte er einfach.

»Wie weit waren Sie entfernt?«

»Vielleicht fünfzehn, zwanzig Meter. Nicht mehr.«

»Und dieser Mann hat Sie bemerkt, nicht wahr?«

»Ja. Er mußte mich bemerken. Er hat versucht, mich zu erschießen, aber er verfehlte mich. Er wollte auch Mathilde töten, aber die rannte ein paar hundert Meter entfernt ihrem Mann über den Weg. Da hat der das erledigt.« Trierberg sah sich in der Hütte um. »Die Behausung hier hat mich gerettet. Ist Mathilde ... ist Mathilde schon beerdigt?« Er wollte gar keine Antwort, er verlor die Beherrschung, fing an zu weinen. Unter Schluchzen kramte er einen Hocker unter dem Tisch hervor, setzte sich darauf, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf in die Arme. Er weinte hemmungslos.

Als Emma und Rodenstock in der Tür auftauchten, schaute er kurz auf, aber sie interessierten ihn nicht.

»Das sind Freunde«, sagte ich hastig. Ich hatte Angst, er würde wieder dichtmachen, nichts mehr sagen. »Er hat gesehen, wie Martin Kleve Cherie erschoß.«

»Haben Sie einen Verbandskasten hier?« fragte Rodenstock grob. »Schließlich haben Sie meine Frau angeschossen.«

»Da hinten«, sagte ich. »Auf dem Regal.«

Trierbergs Kopf kam unendlich langsam hoch. »Das tut mir leid«, sagte er tonlos. »Soll ich Ihnen eine Schmerzspritze setzen?«

»Das wäre nicht schlecht«, murmelte Emma. Sie wirkte nicht einmal unfreundlich.

Dann entdeckte sie das Bett. Sie sagte: »Oh!« und betrachtete es, als entstamme es einer ihr befreundeten Kultur. Es war das Bett eines Jägers, gebaut neben dem Kamin, der eine große Fläche an der Stirnseite der Hütte einnahm. Die Bretter waren handverschraubt, das war deutlich zu sehen, und die Bettwäsche war aus rot-kariertem Bauernstoff.

»Ihre Spritze«, sagte Trierberg schüchtern.

»Machen Sie mal«, antwortete sie aufmunternd. »Nehmen Sie aber die richtige Schulter. Wer hat das Bett gebaut?«

»Ich«, sagte er. »Das alte Bett haben wir verbrannt. Dann haben wir dieses gebaut, meine ... Mathilde und ich. Sie hat das Bettzeug selbst genäht, die Tagesdecke auch. Wir wollten etwas Eigenes.«

Er gab ihr die Spritze in den Oberarm, er wirkte sehr geschickt dabei. Dann murmelte er: »Sie werden mich natürlich anzeigen, und selbstverständlich komme ich für alles auf. Auch für die Arztkosten und so.«

»Ich zeige Sie nicht an«, sagte Emma hell. »Man soll niemanden anzeigen, der ein solches Bett gebaut hat. Sie hatten viel Angst, nicht wahr?«

Er nickte. Sein Gesicht war grau.

Rodenstocks Handy meldete sich. Er sagte: »Ich gehe schnell. Die Leute von Kischkewitz sind da.« Er drehte sich zu Trierberg. »Sie werden einige Auskünfte geben müssen.«

»Natürlich«, sagte Trierberg mechanisch. Dann wandte er sich an Emma. »Es war die schönste Zeit meines Lebens. Und sie war verdammt kurz, viel zu kurz.«

»Sie sind uns etwas schuldig«, erwiderte Emma. »Sie müssen uns erzählen, was in jener Nacht passierte.«

»Das tue ich ja. Jetzt? Hier?«

»Jetzt und hier«, bestimmte Emma. Dann schaute sie hinauf an die Decke. Über dem Kamin baumelte ein Schinken. »Haben Sie auch ein Brot da?«

»Ja, Schwarzbrot aus der Dose. Und gesalzene Butter.« Trierberg holte sich einen Stuhl, stieg hinauf und holte den Schinken vom Haken.

»Ich mache einen Kaffee oder Tee«, sagte ich. »Sagen Sie, Trierberg, haben Sie einen Menschen getötet? Irgendeinen?«

»Jede Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. Und ich habe nie nachts geschlafen.« Dann hielt er inne und sah mich scharf an. »Sie meinen das wörtlich, nicht wahr?«

»Ich meine das wörtlich«, nickte ich. Ich fand Becher, Kaffee und Teebeutel. »Und wie komme ich an kochendes Wasser?«

»Das dürfte schwierig werden«, sagte er. »Dazu brauchen wir ein Feuer. Ich habe keine volle Gasflasche hier. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, ich habe keinen Menschen getötet. Sollen wir nicht einfach Quellwasser trinken?«

»Aber ja«, nickte ich. »Können wir diese verdammten Schießeisen mal wegräumen? Und wir sollten warten, bis Rodenstock zurück ist. Er stellt immer die besten Fragen.«

»Das stimmt«, nickte Emma zufrieden. »Das sehe ich auch so. Haben Sie ein Messer hier, mit dem wir den Schinken abschneiden können?«

»Ich mache das schon«, Trierberg holte ein Klappmesser aus der Hosentasche. Dann zögerte er, lächelte und fragte: »Darf ich denn wenigstens erfahren, wer Sie eigentlich sind?«

»Ach, du lieber Gott«, Emma war erheitert. »Selbstverständlich.« Sie stellte uns vor, vergaß bei niemandem einen bissigen Kommentar, auch nicht bei sich selbst. Und als Kischkewitz gemeinsam mit einem Zöllner und Rodenstock in die Hütte trat und einigermaßen verwirrt Trierberg beguckte, sagte sie: »Und das ist die Spitze einer ziemlich miesen Einrichtung, der Mordkommission. Dahinter folgt die Fahndung des Zolls in Trier, eine höchst effiziente Ansammlung von Mannsbildern, die naturbedingt ihre Familien vernachlässigen müssen, damit die Eifler ruhiger schlafen können. Setzt euch, Jungs.«

Der Zöllner war ein kleiner, durchtrainierter, hagerer Mann mit einem Schnäuzer. Er nickte mir zu, als kenne er mich, aber ich konnte ihn nicht unterbringen, bis mir einfiel, daß ich ihn des öfteren in der Gegend von Gillenfeld gesehen hatte, das letzte Mal bei einem Jazzabend mit der Oyez-Bluesband in Tonis Disco. So trifft man sich wieder.

»Wir haben nicht viel Zeit«, murmelte Kischkewitz ungemütlich.

»Aber wir müssen seinen Bericht hören«, beharrte Rodenstock.

»Richtig«, nickte ich. »Also los, Trierberg. Ihr Solo.«

Wir bedienten uns am Schinken und am Schwarzbrot.

»Es fällt mir schwer«, sagte Trierberg und räusperte sich. »Eigentlich habe ich noch immer nicht verstanden, in was ich da hineingeraten bin. Mathilde hatte das besser begriffen. Sie ... sie war ein Teil dieser Geschichte. Sie war ein Teil, weil sie eine Freundschaft mit Cherie begonnen hatte. Ich habe Cherie anfangs abgelehnt. Sie war die Sorte Frau, von der ich glaubte, sie paßt nicht zu uns in die Eifel. Ich dachte, sie ist eine Großstadtpflanze mit vordergründigen, hirnlosen Bedürfnissen. Ich weiß jetzt, daß ich eifersüchtig war, nichts als eifersüchtig.« Er spielte mit seinem Klappmesser herum, nahm ein Stückchen Schwarzbrot und aß es.

»Wir brauchen die Nacht«, mahnte Kischkewitz sanft. »Die Nacht, Dr. Trierberg.«

Er nickte, er konnte sich nur sehr schwer von den Bildern lösen, die in seiner Seele waren. »Also, die Nacht. Erst war nichts Besonderes. Mathilde rief bei mir an und fragte mich, ob ich im Dauner Zentrum Cherie aufsammeln könnte. Ich sollte sie zu Vogts nach Wittlich bringen, in der Nähe absetzen. Sicher, sagte ich. Ich fragte gar nicht, warum Cherie, wenn sie schon in Daun war, nicht selbst zu Mathilde nach Wittlich fuhr. Die Freundschaft zwischen den beiden war für jeden Außenstehenden schwierig zu begreifen. Sie trafen sich und redeten stundenlang miteinander. Und manchmal hielten sie sich dabei an den Händen und sahen sich an. Ich denke, daß Cherie in mancher Beziehung eine jüngere Schwester für Mathilde war. Jedenfalls sagte ich selbstverständlich zu und machte mich auf die Socken. Ich fuhr nach Daun, Cherie stand vor der Post, stieg ein, und das war es dann. Hundert Meter vor dem Haus der Vogts setzte ich sie ab. Mathilde und ich hatten ausgemacht, daß ich etwa ab Mitternacht hier in der Hütte sein würde, sie wollte dann auch kommen. Sie kam oft mitten in der Nacht. Ihr Mann trank abends oft viel. Manchmal neigte er unter Alkoholeinfluß dazu, sie zu schlagen ...« Er schüttelte bedachtsam den Kopf, als könnte er das noch immer nicht fassen.

»Hat Cherie nichts zu Ihnen gesagt, als Sie sie nach Wittlich fuhren?« fragte Emma.

Er zog die Schultern hoch. »Jedenfalls nichts, was mir sofort auffiel. Erst später ging mir auf, daß sie doch etwas sehr Wichtiges gesagt hatte. Sie plauderte vor sich hin, sie war eine regelrechte Plaudertasche. Plötzlich sagte sie, sie würde jemanden treffen, der für Julius Berner eine Lebensbedrohung wäre. Und sie sei gespannt auf dieses Treffen.« Trierberg schüttelte wieder den Kopf. »Ehrlich gestanden habe ich das für eine belanglose Bemerkung gehalten, ich habe gedacht, sie will sich interessant machen. Ich bin nicht darauf eingegangen. Wir haben weiter über Belanglosigkeiten geredet, bis ich sie absetzte. Ich wußte, sie würden miteinander reden, dann würde Mathilde Cherie mit ihrem Auto irgendwo hinbringen und anschließend hier hinaufkommen. Aber an diesem Abend war alles anders. Ich war längst hier in der Hütte, als Mathilde anrief und sagte, ihr Mann habe Cherie aus dem Haus geworfen, Cherie sei gegangen und würde auf sie warten, und sie würde Cherie in die Hütte mitbringen.« Er atmete zischend aus. »Diese Hütte war unser Geheimnis, unser Heiligtum. Ich wollte protestieren, aber ich protestierte nicht. Ich dachte: Wenn Mathilde das tut, hat sie einen Grund ...«

»Zwischenfrage«, unterbrach ich. »Wußte Vogt von dieser Hütte?«

»Mathilde behauptete immer, nein. Aber ich bin sicher, daß er davon wußte. Ich wartete also auf die beiden Frauen. Und sie kamen auch. Ich kann Ihnen die genaue Uhrzeit nicht sagen, weil ich selbstverständlich nicht dauernd auf die Uhr geschaut habe. Ich weiß nur, daß es weit nach Mitternacht war, als sie hier auftauchten. Die beiden waren sehr aufgeregt und kicherten ständig. Cherie sagte mehrmals: Wenn das klappt, bin ich eine reiche Frau. Und Mathilde antwortete: Dann pumpst du mir etwas Betriebskapital, oder? Und dann lachten sie wieder. Sie saßen hier am Tisch. Ich hatte mir eine zweite Öllampe angezündet und lag auf dem Bett und las. Ich wollte mich nicht einmischen, ging mich ja alles nichts an. Aber ob ich wollte oder nicht: Ich kriegte natürlich alles mit. Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht, in welcher Reihenfolge die Bemerkungen fielen, die mich dann ganz verrückt gemacht haben. Aber ich kriege die Reihenfolge nicht mehr ganz hin, ich kann nur sagen, was sie miteinander besprachen. Es fing damit an, daß Cherie mich fragte: Weißt du, wo die Gemarkung ›Auf Bungert‹ liegt? Na klar, sagte ich. Was willst du dort? Sie antwortete: Da treffe ich jemanden. Um drei Uhr dreißig. Daran erinnere ich mich genau: drei Uhr dreißig. Ich sagte: Nachts um drei Uhr dreißig ›Auf Bungert‹ ist aber eine komische Zeit. Sie antwortete: Ist ja auch eine komische Sache. Dann lachten sie wieder beide. Das ging eine Weile so weiter, und anfangs glaubte ich, sie machen irgendein Spiel. Bis ich dann merkte: Das war kein Spaß. Sie sprachen über Narben-Otto, und Cherie meinte, sie könnten ihm locker seinen Anteil von Hunderttausend abgeben, weil er ja keine Ahnung hätte, daß es um eine Million ginge. Die eine Million, sagte Cherie, würde ausreichen, sie unabhängig zu machen, obwohl es eigentlich blödsinnig wäre, Julius Berner zu verlassen. Aber der sei leider nun mal auch ein Schwein. Und was für eins. Ich lag hier, und mir wurde mulmig. Schließlich stand ich auf und setzte mich zu ihnen. Ich fragte: Was kocht ihr aus? Das sagen wir dir lieber nicht, sagte meine Mathilde. Ich fragte: Warum wollt ihr mir das nicht sagen? Daraufhin sagte Mathilde: Es ist so, daß Cherie was ganz Wichtiges rausgekriegt hat. Das kann Julius Berner und Martin Kleve die Existenz kosten. Wer ist Martin Kleve? fragte ich. Berners Partner, antwortete Cherie. Ich wußte bis dahin nur das, was alle wissen: Berner besitzt eine Unternehmensgruppe, viele Firmen. Also kam mir das mit dem Partner ganz normal vor. Irgendwie wollte ich den Frauen signalisieren, daß ich kapiert hatte. Ich fragte: Ihr wollt also diesen Partner von Berner zwingen, eine Million rauszurücken? Was heißt das, wir wollen? sagte Cherie. Die Sache ist gelaufen, ich treffe ihn gleich ›Auf Bungert‹, und er bringt das Geld mit. Ich wußte, daß Julius Berner endlos Geld besitzt, auch wenn ich sonst wenig über ihn weiß. Aber ich weiß, wie ... wie mächtig diese Leute mit viel Geld sind. Ich sagte: Seid ihr wahnsinnig? Das geht schief! Das muß schiefgehen! Kann nicht schiefgehen, antwortete Cherie. Kann einfach nicht schiefgehen. Er kann mir nichts tun. Wenn er mir was tut, wird Berner ihn töten beziehungsweise töten lassen. Dann grinste sie: Er liebt mich nämlich, er liebt mich ehrlich, er kann gar nicht ohne mich. Und was machst du mit der Million? Fragte ich. Hunderttausend kriegt Narben-Otto, sagte sie. Der ist auf den Plan gekommen. Den Rest lege ich erst mal auf die hohe Kante. Ich kassiere Zinsen und überlege, was ich damit mache. Und ich sagte: Wieso, um Gottes willen, läßt du dir nicht eine Million von Berner schenken? Das ist doch Briefmarkengeld für den. Da sagte Cherie: Das ist mir zu einfach. Die fetten Ficker sollen bluten. Wörtlich: die fetten Ficker. Und ich bekam einen Schreck, als ich sah, daß Mathilde darüber lachte und das ehrlich gut fand. Ich lenkte ein, sagte: Okay, dann laß mich wenigstens mit ›Auf Bungert‹ gehen und dafür sorgen, daß dir nichts passiert. Das wollte ich eigentlich machen! sagte Mathilde. Bist du wahnsinnig? fragte ich. Sie wurde wütend, sagte: Julius Berner hält Cherie wie seine leibeigene Nutte! Sie muß was unternehmen, sonst kommt sie noch um bei der Schweinerei. Da wurde ich natürlich auch wütend und brüllte: Sieh doch erst mal zu, daß du von deinem eigenen Mann loskommst. Das ist auch ein Irrer, der wird dich töten, weil er sich für den lieben Gott hält. Ich habe versucht, ihnen das mit der Erpressung auszureden, und Cherie gewarnt: Wie geht das denn weiter, wenn du die Million hast? Dieser Geschäftspartner wird glauben, daß die nächste Erpressung kommt, die nächste Million. Die beiden Frauen schrien vor Lachen, als Cherie antwortete: Eine Million reicht mir erst mal für ein Jahr. Die beiden fanden das toll. Jedenfalls bin ich um zehn vor drei losgegangen. Ich habe gesagt, ich würde nicht zu sehen sein und nicht eingreifen. Aber ich nahm die doppelläufige Mauser mit, damit ich notfalls auf den Mann schießen konnte. Ich ging die Schneise runter, dann über den Bach und den Hang hinauf. War ja nicht weit, nur zwanzig Minuten. Ich ging bis zu der kleinen Straße nach Weißenseifen und sah mich erst einmal um. Cherie tauchte auf, sie blieb zweihundert Meter entfernt oberhalb von mir Richtung Kopp stehen. Dann kam der Mann. In einem schwarzen Mercedes Geländewagen. Er hielt neben Cherie, sie stieg ein, und er fuhr auf mich zu und bog dann nach links in den Waldweg ein. Ich ließ die Flinte an einem Baum gelehnt und rannte rüber, um zu sehen, was passierte. Sie stiegen beide aus, er hatte einen Aktenkoffer in der Hand. Sie gingen ein paar Schritte, dann hob der Mann die Hand und erschoß Cherie. Einfach so. Er starrte auf sie runter und stellte den Koffer ab. Ich schrie: Nein! Da drehte er sich zu mir um. Er rannte die paar Schritte zu seinem Wagen, schaltete die Scheinwerfer ein. Ich weiß nicht, wahrscheinlich hat er damit gerechnet, daß ich loslaufe, oder irgend so etwas. Aber ich lief nicht weg, ich stand da wie versteinert. Ich schätze mal, ich war rund zwanzig Meter von ihm entfernt. Als er den Wagen wendete, erwischte er mich voll. Er muß mich klar gesehen und klar erkannt haben. Ich bewegte mich erst, als mir einfiel, daß er den Wagen wieder verlassen und mich mit seiner Pistole töten würde. Ich wischte zwischen die Bäume und verschwand aus seinem Blickfeld. Da gab der Mann Gas, er fuhr Richtung Weißenseifen. Aber ich hatte seine Autonummer.«

»Her damit«, sagte Kischkewitz schnell.

»Ich kann Ihnen die Nummer geben, aber die ist gefälscht. Ich habe mich erkundigt. Jedenfalls wollte ich plötzlich mit aller Gewalt und so schnell wie möglich zu Mathilde. Vorher ging ich rüber zu Cherie und sah sie mir an. Nur kurz. Dann nahm ich den Aktenkoffer, der da immer noch rumstand. Ich holte die Flinte und rannte, so schnell ich konnte, hierher zurück. Doch Mathilde war nicht mehr da. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Mir wurde kalt und heiß, und ich konnte ... ich konnte nicht mehr atmen. Ich lief wieder los, ich wußte ja, wo sie immer ihren Wagen abstellte. Und der stand da auch unten am Ende der Schneise zwischen zwei Fichten. Aber keine Spur von Mathilde.« Trierberg begann wieder zu weinen, und niemand sagte ein Wort.

»Na klar, dachte ich. Sie wollte wissen, wie das mit Cherie und der Million gelaufen ist, sie hat sich auf den Weg gemacht und ist Cherie und mir langsam über den normalen Weg entgegengegangen.« Er wischte sich durch das Gesicht, aber es nahm ihm nur die Tränen, nicht den Schmerz. »Ich fand sie auf dem Weg Richtung Kopp. Sie war tot. Jemand hatte ihr in den Kopf geschossen. Zuerst dachte ich, das sei auch der Mörder von Cherie gewesen, aber das konnte schlecht sein, der war ja in entgegengesetzter Richtung verschwunden. Dann sprang der Motor eines Auto an, und ich konnte gerade noch zwischen die Bäume rutschen. Vogt fuhr vorbei.«

Unvermittelt begann Trierberg wie ein Verrückter mit beiden Fäusten auf den Tisch zu schlagen. Und er schlug in sein aufgeklapptes Messer. Immer wieder und mit aller Gewalt.

Kischkewitz und der Zöllner hielten ihn fest, sie mußten alle Kraft aufwenden. Plötzlich hielt der Zahnarzt das Messer in der blutenden rechten Hand. Er starrte es an, und es schien ihm die einzige Lösung zu sein. Der kleine, schmale Zöllner schlug ihm heftig ins Gesicht, links, rechts, links, rechts.

Wie aus einem Nebel tauchte Trierberg wieder auf und schluchzte wie ein Kind, das keinen Atem mehr hat. Dabei hielt er Kischkewitz umfangen und stammelte: »Ich kann nicht mehr, ich kann wirklich nicht mehr.«

»Das Treffen der Mörder«, sagte ich. »Das gab es also wirklich.«

»Wo ist dieser Aktenkoffer?« fragte Rodenstock unerbittlich.

Trierberg machte sich von Kischkewitz frei und ging zu dem Bett, das er gebaut hatte. Er bückte sich und zog einen dunkelbraunen eleganten Aktenkoffer unter dem hölzernen Gestell hervor. Er ging damit zum Tisch und klappte den Koffer auf. Er war voll Geld.

»Genau eine Million«, sagte der Arzt. »Sie brauchen nicht nachzuzählen.«

»Ich muß noch eine Frage stellen«, sagte Emma in die Stille. »Hat dieser Martin Kleve Sie identifizieren können?«

»Ja, natürlich«, antwortete Trierberg hohl. »Er rief mich auf meinem Handy an. Erst bot er mir eine Million, dann zwei, dann drei. Er sagte, ich könne alles haben, was ich will. Wer ist der Mann?«

»Ein Polizeibeamter«, gab Rodenstock Auskunft. »Aber er hatte keine Ahnung, wo Sie sind?«

»Nein. Nach dem Gespräch habe ich das Handy weggeworfen und mir eines von einer meiner Sprechstundenhilfen geliehen.« Er sah aus wie ein Schwerkranker.

»Holt mal den Arzt von unten«, murmelte Kischkewitz. Er wandte sich an den Zöllner: »Was denkst du?«

»Julius Berner ist in seinem Haus in Mürlenbach. Bewacht, wenn ich das richtig verstanden habe.« Der kleine, schmale Mann hatte Augen wie Schlitze. »Beide sind sehr reich, unermeßlich reich. Und beide haben viel Dreck am Stecken. Da stellt sich die Frage, wieviel Berner weiß oder ahnt. Dieser Kleve scheint mir ein eiskalter Killer zu sein, der tatsächlich über Leichen geht, egal wieviel es sein müssen.« Der Zöllner dachte über etwas nach. »Es sieht doch so aus, als müßte dieser Kleve darüber nachdenken, seinen Kumpel Julius Berner zu töten. Oder ist das falsch?«

»Das ist richtig«, nickte Emma langsam. »Sollen wir ihn damit in die Falle locken?«

»Zu einfach!« widersprach der Zöllner schnell. »Viel zu einfach. Was wird dieser Kleve tun? Er wird Julius Berner sang- und klanglos erschießen. Und dann? Er wird aus dem Haus gehen und sich in seinen Wagen setzen, er wird unter allen Umständen versuchen, den ersten und einzigen Augenzeugen zu finden, also den Doktor Trierberg. Richtig? Richtig! Und den würde er auch erschießen, kurz und schmerzlos. Wenn Berner und Trierberg tot sind, kann er sich relativ sicher fühlen, oder? Ach nein, da gibt es ja noch den Fahnder Andreas Ballmann. Den müßte Kleve natürlich auch noch töten. Verdammt noch mal, eigentlich ist es doch ganz einfach, oder?« Der kleine Mann strahlte uns alle an, als seien wir schwer von Begriff.

»Ihr seid übermüdet, Leute, ihr steckt zu tief in dem Fall, ihr seht nicht klar. Wir lassen Kleve den Julius Berner erschießen. Dann liefern wir ihm hier zwei Leichen und die Million. Die Leichen sind natürlich Dr. Trierberg und Andreas Ballmann. Wir müssen nur noch entscheiden, wer Martin Kleve erpressen soll. Und da gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit: der Wildhüter Stefan Hommes. Der fürchtet um seine Zukunft, will heiraten und hat alles zu verlieren, und er hat die Schnauze von seinem Chef gestrichen voll. Der biedert sich an, will sich absichern, der verlangt drei Millionen in bar und bietet dafür zwei Leichen. Und sein Wissen, daß er die Verbindung zwischen Julius Berner und eben Martin Kleve kennt. Das wird der gute Polizist Kleve schlucken. Das muß er schlucken. Er muß einfach kommen, weil dieser kleine Wildhüter ihm alles liefern kann, was Kleve braucht.«

Rodenstock hatte ganz schmale Augen. »Fehler«, sagte er schrill. »Fehler. Wieso brauchen wir zwei zusätzliche Leichen in der Blockhütte, wenn eine Leiche namens Berner reicht?«

Der Zöllner biß sich auf die Unterlippe und grinste dann dreist. »Ich bin Beamter, ich sichere mich gern ab. Wenn irgend etwas in Berners Haus schiefgeht, sollte Kleve auf seinem Killertrip bleiben. Er wird todsicher Hommes zu töten versuchen, oder?«

»Wann?« fragte Emma sachlich.

»In der kommenden Nacht«, sagte der Mann vom Zoll. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Trödelt nicht, Leute, macht euch auf die Socken.«