Sechstes Kapitel
»Mit anderen Worten: Wir müssen so schnell wie möglich nach Düsseldorf«, murmelte Emma.
»Oh nein«, widersprach Rodenstock heftig. »Verdammt noch mal, nein. Es macht überhaupt keinen Sinn, nach Düsseldorf zu fahren, wenn wir hier in der Eifel unsere Hausaufgaben nicht erledigt haben. Erstens: Wir wissen, daß dieser verfluchte Botaniker nicht Botaniker ist, und wir müssen ihn identifizieren. Zweitens: Wir müssen endlich mit dem Ehemann der toten Mathilde Vogt reden. Drittens: Wir müssen herausfinden, warum Narben-Otto Besuch vom Zoll bekam. Wenn wir diese Antworten nicht haben und nach Düsseldorf gehen, werden wir Fehler machen, die wir nicht mehr korrigieren können. Und noch etwas: Baumeister, du mußt Kalle Adamek anrufen, er muß wissen, was läuft. Er kann mit Hilfe von Radio RPR die Ermittlungen beeinflussen. Er kann zum Beispiel nach dem orangefarbenen Opel Kombi fragen.«
»Gute Idee«, lobte ich. »Ich rufe ihn sofort an.«
Ich ging ins Haus und wählte Adameks Privatnummer. Doch es lief ein Band, auf dem es hieß: »Kalle und Andrea bedanken sich für den Anruf. Aus Gründen der Nahrungsaufnahme sind wir zwei Stunden nicht erreichbar und gegen 22 Uhr wieder da.«
»Hallo«, sagte ich, »hier ist der Siggi. Es gibt Neues im Fall Cherie. Ruf mich bitte zu Hause oder auf dem Handy an. Egal wann.«
Es wäre besser gewesen, die letzten zwei Worte nicht zu sagen. Er rief gegen Mitternacht an, als wir alle längst schliefen oder vor uns hindösten. Adamek hatte eine ausgesprochen fröhliche Stimme und erklärte: »Also, einen Grappa gab es da! Einen Grappa! Ich sage dir ...« Er kicherte und wurde dann unvermittelt ernst. »Was ist los?«
»Willst du duschen oder einen Kaffee trinken, bevor du zuhörst?«
Er verstand sofort und sagte: »Ich habe einen grauenhaften amerikanischen Instant im Regal. Ein Becher davon, und ich tanze zwei Stunden am Rande des Abgrundes. Zehn Minuten.«
Mir selbst war nach Erschöpfung, und so schlurfte auch ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Das ging zunächst schief, weil Emma und Jenny beim Schein einer Kerze zusammensaßen und sich unterhielten.
»Ich wollte nicht stören.«
»Du störst nicht«, sagte Emma. »Wir verziehen uns ins Wohnzimmer.«
Ich hatte einen halben Becher Kaffee getrunken, als Kalle Adamek sich wieder meldete. Ich erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, was wir herausgefunden hatten und was wir planten. Dazu brauchte ich eine volle Stunde. »Und es wäre sehr, sehr gut, wenn wir diesen orangefarbenen Opel Kombi finden würden und diesen komischen Messer werfenden Botaniker.«
»Ist am Horizont denn immer noch kein Mörder in Sicht?«
»Kein Mörder«, bestätigte ich. »Die ganze Geschichte ist wie Stochern im Nebel.«
Er sagte, er werde sowohl in die Frühnachrichten damit gehen wie auch in den regionalen Teil. Dann trennten wir die Verbindung.
Ich hatte das Bett neu beziehen müssen, weil Enzos Blut alles verschmutzt hatte. Ich mußte auf Dinahs Seite liegen, auf meiner waren sogar die Matratzen versaut.
Als Rodenstock hereinkam und sich beschwerte, seine Frau tauche überhaupt nicht mehr auf, war ich erleichtert. Es war drei Uhr.
»Sie redet mit Jenny. Jenny braucht Hilfe.«
»Komisch, ich auch«, grinste er schief. »Aber ich kann sowieso nicht schlafen.«
»Und woher hast du gewußt, daß ich wach bin?«
»Während so eines Falles schläfst du selten«, sagte er einfach. »Und meistens tagsüber.«
Ich überlegte, er hatte recht. »Glaubst du, wir werden einen Mörder finden?«
»Ja, das glaube ich. Oder vielleicht findet ihn auch Kischkewitz, nicht wir. Oder Adamek. Das ist mir wurscht. Die Zeit läuft uns weg, er wird wieder töten.«
»Woher nimmst du die Sicherheit, daß es ein Mann ist?«
»Ich bin nicht sicher, natürlich kann es auch eine Frau sein. Aber das wäre ein Fall gegen die Regel. Frauen benutzen keine Schußwaffen, zumindest wesentlich seltener als Männer. Sie richten auch nicht hin. Wenn du so argumentierst, daß es sich um eine Frau mit erheblichen psychischen Störungen handelt, finde ich kaum Gegenargumente. Eine Frau ist also denkbar. In diesem Fall spielen Jäger eine Hauptrolle, also kann es eine Jägerin sein. Jägerinnen sind denkbar, sie sind aber auch selten.«
»Und wenn es eine Frau ist, wer könnte es sein? Welcher Typ Frau?«
»Es könnte dann nur eine Frau sein, die die moralischen Werte dieser Gesellschaft verteidigt. Also eine Frau, die der Meinung ist, daß Cherie und die anderen jungen Leute massive Sünder sind, daß sie den edlen Jäger Julius Berner verführen, daß sie seelischen Schmutz in die Reihen der Nimrods tragen. Aber dann paßt Narben-Otto nur in das Geflecht, wenn die Täterin auch von den Drogen und den Abtreibungen weiß. Und genau das halte ich für unwahrscheinlich.«
»Hast du mal darüber nachgedacht, daß vielleicht Mathilde Vogt die Mörderin der Cherie sein könnte?«
»Selbstverständlich. Aber dann müßte jemand Zeuge gewesen sein und später die Mathilde erschossen haben. Sehr unwahrscheinlich. Die Frauen waren eindeutig befreundet, nichts deutet bei der Vogt auf massive neurotische Störungen hin, das hätte uns Kischkewitz gesagt. Außerdem begann die Mordserie mit Cherie. Egal, wie das Motiv genau aussieht, der Mörder muß einen für ihn selbst überzeugenden Grund gehabt haben, sie zu töten. Also müssen wir uns zuallererst fragen: Warum Cherie? Bis jetzt geht meine Theorie dahin, daß Cherie etwas gewußt oder erfahren hat, was sie auf keinen Fall erfahren oder wissen durfte. Und wahrscheinlich betrifft das Julius Berners Leben, denn Berner ist bisher der einzige, der vieles zu verbergen hat, zum Beispiel geschäftliche Brutalität, Lügen, jede Menge kaputter Seelen in dieser unseligen Clique. Und dann würde auch Narben-Otto in das Geflecht passen. Der hatte was mit dem Zoll zu tun, der besorgte Drogen, der machte Abtreibungen.«
»Was ist, wenn wir es mit drei Tätern zu tun haben? Mit dem Mörder Cheries, mit dem Mörder der Vogt, mit dem Mörder von Narben-Otto.«
Rodenstock schwieg eine Weile. »Ehrlich gestanden ist das eine bedrückende Vorstellung«, murmelte er schließlich. »Ich mache mir ein Butterbrot, Unsicherheiten machen mich immer hungrig.«
»Ehrliche Leute nennen das Frustfraß«, entgegnete ich. »Ich esse auch etwas.«
Wir hockten uns an den Küchentisch, der inzwischen verwaist war, die Katzen kamen, gähnten und streckten sich und warteten auf eine Morgengabe. Aus dem Wohnzimmer hörten wir gedämpftes Gemurmel.
»Emma redet Jenny müde«, erklärte Rodenstock. »Es ist ganz erstaunlich, was diese beiden jungen Menschenkinder bisher erreicht haben. So etwas nennt man wohl Liebe.«
»Und wie schätzt du diesen C 22-Fall ein?«
»Ich habe überlegt, daß möglicherweise das Finanzamt mit Hilfe von Steuerfahndern die Unternehmensgruppe des Julius Berner jagt. Sie belegen die Fahndung mit einem absoluten Schweigegebot. Das bedeutet, daß außer einer Handvoll hoch angesiedelter Beamten und ein oder zwei Fahndern niemand weiß, was tatsächlich läuft. Sie lassen die gesamte Akte inklusive der Steuernummer von Berner aus dem Computer verschwinden. Interessant wäre zu wissen, seit wann das so ist. In diesem Zusammenhang kam mir die Idee, daß Cherie vielleicht getötet worden ist, weil sie völlig unbewußt etwas über Berner gesagt hat, was den Fahndern des Finanzamtes entscheidend weitergeholfen hat, eine ganz wichtige Wissenslücke schloß. Du lieber Himmel, ist das ein Chaos!«
»Noch mal genau: Nehmen wir mal an, ich bin Abteilungsleiter des Finanzamtes und zuständig für besonders wichtige Steuerzahler, wie Julius Berner einer ist. Aus irgendeinem Grund will ich wissen, was er im vergangenen Jahr als persönliches Einkommen erklärt hat. Ich schaue also im Computer nach und kriege als Antwort C 22. Was passiert dann?«
»Du fragst den Vorgesetzten, der die C 22-Fälle verwaltet, der genau weiß, welche Fälle unter diesen Code fallen. Du fragst ihn, was damit ist, und er wird sagen: Das kann ich nicht sagen.« Rodenstock grinste bösartig.
»Wie bitte?«
»Richtig«, sagte er. »Du hörst ganz richtig. Es geht zu wie bei einem Geheimdienst. Die Regel ist ›need to know‹. Das heißt, jeder weiß nur das, was ihn beruflich persönlich betrifft, und das ist immer nur ein ganz schmaler Ausschnitt des vorhandenen Wissens. Der Verwalter der C 22-Fälle weiß nicht, weshalb Berner ein C 22-Fall ist. Dieser Verwalter wiederum könnte in einem dringlichen Fall den zuständigen Vorgesetzten fragen, wieso Berner ein C 22-Fall ist. Aber ich bezweifle, daß er eine Auskunft bekommen würde. Mit anderen Worten: Wir stehen vor einer Wand. Wir werden sehr wahrscheinlich nicht einmal in Erfahrung bringen können, wer der Verantwortliche ist.«
»Kann der kleine Computer-Freak nicht noch einmal einbrechen? Dann könnten wir vielleicht wenigstens herausfinden, seit wann der Berner C 22 ist, oder?«
»Diese Idee macht mir Magenschmerzen«, murmelte er. »Aber ich gebe zu, daß ich auch schon daran gedacht habe. Allerdings verstößt allein der Gedanke gegen meine Beamtenseele.«
»Dann decke ein Tuch über deine Seele«, riet ich ihm. »Womit fangen wir an?«
Er lächelte und verkündete: »Ich fange mit Schinken an. Im Ernst, wir suchen den Opel und seinen Fahrer, wir machen einen Termin mit dem Zoll und mit dem Ehemann der Vogt. Die Reihenfolge halte ich für nicht so wichtig, nur sollte es bald passieren. Ich halte es allerdings für sehr wichtig, daß wir Kischkewitz umfassend über alles informieren, was wir bisher wissen. Er muß auch von dem C 22-Fall erfahren, damit er nicht in die große Bärenfalle tappt. Mit Emma können wir heute kaum rechnen, sie wird mit Jenny in die Klinik nach Wittlich fahren, um Enzo zu besuchen. Stefan Hommes wird heute wohl entlassen werden. Den dürfen wir nicht vergessen, denn wahrscheinlich wird er wieder riechen, wohin sich dieser blöde Botaniker zurückgezogen hat.«
»Was ist, wenn der inzwischen verschwunden ist?«
»Glaube ich nicht«, schüttelte Rodenstock entschieden den Kopf. »Der Mann wird nach seinem bisherigen Verhalten die Eifel nicht verlassen, denn der Fall spielt hier. Und er wirkt wie jemand, der auf etwas wartet.«
»Und wenn er der Killer ist?«
»Unwahrscheinlich, sage ich dir, sehr unwahrscheinlich. Aber begründen kann ich das nicht, es kommt einfach aus dem Bauch.«
»Für einen beamteten Mörderjäger eine unwahrscheinliche Begründung.«
»Die einzig mögliche«, sagte er leichthin. »Beamte ohne Bauch sind schlechte Beamte, ganz egal, was ihre Aufgabe ist. Bleibst du gleich wach, oder versuchst du noch einmal zu schlafen?«
»Ich bleibe wach, ich kenne mich. Wenn es dir recht ist, rede ich mit Kischkewitz, du könntest endlich mit dem Zoll sprechen.«
Ich ging in mein Arbeitszimmer und zog einen großen Bogen Packpapier über ein Bücherregal. Dann versuchte ich systematisch aufzuzeichnen, was wir bisher wußten, was wir vermuteten, was wir miteinander in Verbindung bringen konnten. Ein chaotisches Diagramm entstand, weil die meisten Begebenheiten einfach nicht zuzuordnen waren. Ich riß das Packpapier wieder herunter und warf es in den Papierkorb.
Um acht Uhr bekam ich eine Verbindung zu Kischkewitz, der mit den Worten begann: »Falls Sie schlechte Nachrichten haben, rufen Sie bitte in einer Stunde an, dann bin ich fort.«
»Berner ist ein C 22-Fall«, sagte ich.
Er schwieg unerträglich lange, ehe er bedächtig antwortete: »Das weiß ich schon seit gestern. Und ich denke, über diese Mauer können wir nicht steigen.«
»Aber warum nicht, Sie sind Leiter einer Mordkommission?«
»Weil irgendein hoher Beamter, dessen Name ich nicht kenne und von dem ich nicht weiß, wo sein Schreibtisch steht, entschieden hat, daß diese Mordfälle damit, daß Berner ein C 22-Fall ist, absolut nichts zu tun haben. Er sagt, es handelt sich um streng abgetrennte Problemkreise.«
»Und? Glauben Sie das?«
Kischkewitz antwortete nicht sofort, er atmete schwer. »Nein, das glaube ich nicht. Ich vermute eher, daß es ein untrügliches Zeichen ist, daß wir das Zentrum der Schweinereien in Düsseldorf suchen müssen. Im Moment gehe ich auf dem Diplomatenweg vorwärts, ich habe den leitenden Oberstaatsanwalt eingeschaltet. Der versucht es über interne Verbindungen. Haben Sie Radio RPR gehört? Nein? Nun, Adamek hat eben den orangefarbenen Opel Kombi ins Spiel gebracht. Wir rechnen damit, daß ihn sehr schnell jemand meldet. Wenn es soweit ist, rufe ich Sie an. Nun erzählen Sie mal, was ihr wißt und was ich nicht weiß.«
Ich erzählte alles, was wir von Enzo und Jenny erfahren hatten. Ich ließ auch den Computer-Hacker nicht aus.
Er lachte. »Manchmal ist es ganz gut, von Kleinkriminellen zu lernen. Ach übrigens, Sie können sich wahrscheinlich die Kontaktaufnahme zum Zoll sparen. Das ist auch ein C 22-Fall. Nur heißt der da nicht C 22, sondern SK 1. SK bedeutet Sonderkommission, und die Numerierung deutet an, daß der Fall Narben-Otto höchste Priorität hatte. Auch da bemühe ich mich um Informationen.«
»Irgendwo muß ein Nest sein«, murmelte ich. »Wir wollen versuchen, noch heute mit dem Ehemann Vogt zu sprechen. Müssen wir dafür etwas wissen, was wir noch nicht wissen?«
»Nein. Der gehört in die Schublade verantwortungsvoller Mitbürger, der macht nicht die geringsten Schwierigkeiten. Aber wie lange noch? Das Kind, das Mathilde Vogt erwartete, war nämlich nicht sein Kind. Das weiß ich selbst erst seit zwei Stunden. Wir haben einen Gentest gemacht. Kein Zweifel, der Ehemann ist nicht der Vater. Seien Sie vorsichtig, Baumeister, das klingt wie eine Sensation, aber es braucht keine zu sein.«
»Weiß der Ehemann schon davon?«
»Das ist mein Problem. Er weiß es nicht, und eigentlich bin ich nicht gewillt, es ihm zu sagen. Wenn Sie also mit ihm sprechen, verschweigen Sie diesen Punkt.«
»Einverstanden.«
Wir trennten uns, und ich ging zu Rodenstock, der im Garten hockte und sein Handy bediente. Ich berichtete ihm, daß auch Narben-Otto einem Code unterliege, und er antwortete bedacht: »Das wundert mich eigentlich nicht. Doch ich denke, diese Nuß kann ich knacken. Wir haben um zehn Uhr einen Termin beim Hauptzollamt in Trier. Emma und Jenny schlafen endlich, wir können also los. – Übrigens solltest du dir wirklich ein paar Goldfische zulegen. Trotz der Katzen. Das macht den Teich bunter. Aber wahrscheinlich bin ich nur hoffnungslos konservativ und halte einen Teich ohne Goldfische für keinen richtigen Teich. Weißt du übrigens, was ein Goldfisch ist?«
Wahrscheinlich machte ich nur ein dummes Gesicht.
»Eine reich gewordene Sardine«, sagte er. »Der Scherz ist so alt wie meine Urgroßmutter. Jetzt hoffe ich, daß ich den Stefan Hommes im Krankenhaus erreiche.«
Als ich ihn fragend ansah, erklärte er trocken: »Wenn du einmal überlegst, daß Cherie vielleicht getötet wurde, weil sie etwas wußte, was sie nicht wissen durfte, wirst du zugeben, daß Stefan Hommes möglicherweise das Gleiche weiß, ohne daß es ihm selbst bewußt ist.«
Ich mußte ihm nicht recht geben, er hatte recht.
Zehn Minuten später hatten wir einen Zettel für Emma geschrieben, wo wir seien und was wir vorhatten, und saßen in Rodenstocks kleinem, schnellem Wagen. Im Südwesten zog eine tiefschwarze Gewitterwand auf, und die Luft war zum Schneiden.
Wir sprachen kein Wort, bis wir nach Trier hineinrollten, und dann sagte Rodenstock nur: »Wir müssen uns auf einen kleinen Krieg einrichten, und wir dürfen uns auf keinen Waffenstillstand einlassen.«
Ich wußte zwar nicht, was er genau meinte, aber ich fragte ihn nicht.
Wir saßen dem hohen Beamten noch nicht einmal einhundertzwanzig Sekunden gegenüber, als ich begriff, was Rodenstock gemeint hatte.
Rodenstock eröffnete freundlich: »Es tut richtig gut, dich einmal wiederzusehen. Und du brauchst mir nicht zu erzählen, daß Narben-Otto unter der Codierung SK 1 läuft. Das wissen wir längst.«
Der Mann hieß Jentsch, war ungefähr fünfzig Jahre alt und ein pummeliger, äußerst friedlich blickender Mann mit einer wilden Mähne ergrauter Haare. Er antwortete: »Wenn du Sauhund das schon weißt, brauche ich dir nicht zu erklären, weshalb wir darüber nicht reden können.«
Rodenstock machte eine unwillige Handbewegung. »Jupp, du sollst einen alten Fahrensmann nicht verscheißern. Dein SK 1 ist mausetot. Also, was ist da gelaufen?«
Jentsch griff nach einem Bleistift, zupfte ein Blatt Papier aus einem Stapel und schrieb etwas auf. Dann nahm er das Papier hoch und zeigte es uns. NEIN! stand da.
»Moment mal«, griff ich ein. »Es gibt ein paar Dinge, die wir bereits wissen. Narben-Otto hat mit Drogen gedealt. In einem ziemlich großen Umfang. Etwa zwanzig Abnehmer kennen wir mit Namen und Adressen. Sämtliche in Düsseldorf. Außerdem war ich Zeuge, als Narben-Otto Besuch vom Zoll bekam. Ein weinroter Opel Omega Kombi mit einem Fahrer, der einen Trainingsanzug trug, auf dem hinten Zoll aufgedruckt war. Diesen Mann ausfindig zu machen, dürfte kein Problem sein, wenn man sich vor der Arbeit nicht drückt. Und noch etwas zur Erläuterung: Wir haben ein Wunder enttarnt. Narben-Otto hat einen Flüssiggastank einbauen lassen. Runde zehntausend Liter Volumen. Kostenpunkt etwa 30.000 Mark ohne Mehrwertsteuer. Dieses Geld ist dem Installateur in bar gezahlt worden. Von einem Vertreter des deutschen Zolls. Ort der Handlung: das schöne Birgel in der schönen Vulkaneifel. Und jetzt wiederhole ich unsere Bitte: Helfen Sie uns.«
Jentsch saß an seinem Schreibtisch, hatte die Arme auf die Ellenbogen gestützt und die Hände unter dem Kinn gefaltet. Er sah weder Rodenstock noch mich an, sondern starrte irgendwohin, wahrscheinlich in Richtung des Bundespräsidenten an der Wand. Dann fragte er: »Bist du noch der Alte, ist auf dich Verlaß?«
»Aber ja«, beruhigte ihn Rodenstock.
»Gut. Verdammte Scheiße, ich wußte, daß das eines Tages ein Fiasko geben wird. Also gut, ich rede mit dem zuständigen Mann. Geht mal zehn Minuten auf den Flur.«
Wir standen auf und waren schon in der Tür, als er lauthals keuchte: »Oh, Kacke, Mann!«
»Du warst gut«, sagte Rodenstock draußen anerkennend zu mir.
»Ich war nur wütend«, antwortete ich.
Jentsch brauchte keine zehn Minuten, er brauchte nur vier. Wir durften wieder vor seinem Schreibtisch Platz nehmen und saßen dort artig wie folgsame Schüler.
»Was für Fragen?« begann er.
»Ich nehme an, Narben-Otto war ein Doppel«, Rodenstock betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand.
»Richtig.«
»Ich nehme weiter an, der Code SK 1 ist nicht gerade neu. Wie lange läuft diese Aktion?«
»Fast zwei Jahre, nein, genau zwei Jahre.«
Rodenstock grinste sardonisch. »Du hast die Tankanlage bezahlt.«
»Keine Auskunft!« Jentsch hatte ein Pokergesicht.
»Wenn er ein Doppel war, heißt das, er arbeitete für euch, und er arbeitete für die Dealer. Richtig?«
»Richtig.«
»Habt ihr euch an ihn gewandt oder er sich an euch?«
»Wir an ihn. Wir stießen auf ihn im Zuge von Fahndungen und entschlossen uns, ihn zur Zusammenarbeit zu bitten. Er ging ohne Schwierigkeiten darauf ein, er war richtig geil auf den Job.«
»Was habt ihr außer dem Gastank noch finanziert?«
»Ein monatliches Zubrot und den kleinen Suzuki Jeep.«
»Wie hoch war das sogenannte Zubrot?«
»Rund viertausend, das schwankte, das richtete sich nach unserer Kriegskasse. Mal mehr, mal weniger.«
»War er geldgeil?« fragte ich.
»Ja, eindeutig. Für Geld machte der alles, wirklich alles.«
»Und Julius Berner wußte nichts davon?«
»Nicht das geringste.«
»Narben-Otto war also Teil einer Undercover-Recherche?« fragte Rodenstock.
»Richtig.«
»Wieviele Leute sind noch daran beteiligt?«
»Keine Auskunft. Diese Leute sind in Gefahr, wenn ich das beantworte.«
»Verstanden«, nickte Rodenstock.
»Wenn ich mir vor Augen führe, daß Narben-Otto in der Nähe des Jagdhauses Büdesheim in tiefer Stille hauste, dann muß er seine Funktion dort oben erfüllt haben. Mit anderen Worten: Kontrollierte Narben-Otto einen Drogenweg?« Diese Idee war sehr plötzlich über mich gekommen.
»Scheiße!« kommentierte Jentsch knapp. »Richtig.«
»Und er kontrollierte den Drogenweg mit Hilfe des kleinen Geländefahrzeugs?«
»Auch richtig.«
»Dann nehme ich an, daß er an einem Kontrollpunkt getötet wurde, daß der Steinbruch ein Treffpunkt war«, fragte ich weiter.
»Wieder richtig.« Der Zollmann fuhr fahrig mit den Händen über die Schreibtischplatte. »Ich sage euch, was war. Dieses Frage- und Antwortspiel geht mir auf den Geist.«
Umständlich fummelte er in seinem Jackett herum und brachte endlich eine zerknautschte Schachtel Zigaretten zum Vorschein. »Meine Nerven«, erklärte er, als die Zigarette brannte. Er paffte wie jemand, der noch nie im Leben geraucht hatte, es wirkte irgendwie trotzig.
»Eine schnelle Frage noch«, sagte Rodenstock. »Also glaubst du, daß Narben-Otto im Zuge dieser Drogenarbeit getötet wurde?«
Er nickte. »Für uns ist das eigentlich ganz einleuchtend: Irgend jemand auf der Gegenseite muß ihn enttarnt haben und ließ ihn dann umbringen. So einfach ist das.«
»Ich werde dir gleich erklären, daß das nicht so einfach ist«, versprach Rodenstock. »Aber erkläre uns deine Nummer.«
»Wir arbeiten in dieser Sache eng mit dem Hauptzollamt in Düsseldorf zusammen, aber auch mit sämtlichen Zolleinheiten, die an den Grenzen zu den Niederlanden, zu Luxemburg, zu Belgien und zu Frankreich stationiert sind. Das ist eine Riesennummer.«
»Um wieviel Geld geht es denn?« fragte ich.
»Um einen Straßenverkaufswert von mindestens dreihundert Millionen Mark pro Jahr«, erklärte Jentsch und ließ das ein wenig sacken, ehe er fortfuhr. »Wir kamen vor rund drei Jahren auf die Spur von Belgiern und Niederländern, die sich auf den Drogenexport in die Bundesrepublik spezialisiert haben. Unsere mobile Fahndungseinheit hier in der Eifel, die die effizienteste ganz Deutschlands ist, war mehrere Male auf Holländer und Belgier gestoßen, die Drogen als Touristen transportierten. Sinnigerweise immer zusammen mit ihren Kindern, manchmal auch mit Oma und Opa. Die ganze Palette von Kokain über Heroin bis hin zu Ecstasy und Amphetaminen. Das war eine geradezu unheimlich gut gemachte Geschichte. Sie lief nicht über Autobahnen und nicht über Bundesstraßen ab, in der Regel ging es über die grüne Grenze und dann über winzige Landstraßen, zum Teil über Wirtschaftswege, Feldwege, Waldwege. Ich deute euch die generelle Richtung an: Der Weg führte aus dem Gebiet der belgischen Gemeinde Bertrath an der Our Richtung Grenze. Von dort nach Hallschlag, Ormont und Roth bei Prüm. Die hatten unheimlich raffinierte Tricks drauf. Zum Beispiel fuhren sie mit den Drogen einen Parkplatz an und ohne Drogen weiter. Die wurden von Wanderern mitgenommen, manchmal zwanzig Kilometer, manchmal nur zehn, aber manchmal auch dreißig Kilometer weit. Und die Wanderer gaben das Zeug an Landwirte weiter, die es per Trecker die nächsten Kilometer mitnahmen, bis irgendein Autofahrer auftauchte und die Ware abnahm, um sie weiter zu transportieren. Zum Teil wußten die Treckerfahrer gar nicht, was sie transportierten, und die Wanderer hatten oft keine Ahnung, was sie im Rucksack trugen. Und niemals glich eine Route einer anderen oder wurde ein Kurier zweimal eingesetzt. Sie bewegten sich kreuz und quer durch den gesamten Naturpark Nordeifel nach Steffeln, Duppach, Schwirzheim, Weinsheim, Wallersheim. Dann bündelte sich das und lief wie in einem trompetenförmigen Trichter auf Kopp zu. Niemand in diesen Orten hatte damit zu tun, alle waren sie fremd. Oberhalb von Kopp, etwas höher als Eigelbach, saß Narben-Otto. Er thronte dort oben genau am Einlauf der Zielgraden sämtlicher Kuriere. Es war wie ein göttliches Wunder, als er sich bereit erklärte, mitzumischen.«
»Aber er zweigte gleich eine Menge von dem Zeug ab«, mahnte Rodenstock.
»Mit unserer Einwilligung«, sagte Jentsch grinsend. »Wir wissen, daß er die Clique um Julius Berner versorgte. Wir wissen auch, daß er die Clique als Kuriere benutzte, mal diese, mal jenen, mal ein Pärchen. Narben-Otto arbeitete sich für uns ganz langsam in den Dealerring hinein. Und das machte er klasse, er ist der geborene Undercover-Mann gewesen. Wir haben inzwischen Personalien inklusive Fotos und Filmaufnahmen von 56 Beteiligten, wir haben die Treffs fotografiert, die Wege aufgezeichnet. Es fehlten nur noch die fünf wichtigsten Manager des Ringes, da wurde Narben-Otto getötet.«
»Und dein Partner in Düsseldorf war das Hauptzollamt?« fragte Rodenstock.
»So ist es.«
»Und wer auf der Seite der Polizei wußte davon?«
Jentsch verzog das Gesicht. »Das geht nun wirklich zu weit.«
»Geht es nicht«, widersprach Rodenstock. »Sag es uns gleich, wir werden es sowieso herausfinden.«
»Das Landeskriminalamt in Düsseldorf.«
»Und welche Abteilung und welcher Abteilungsleiter? Nein, halt, da wirst du passen müssen. Vermutlich die Drogenfahndung und die Abteilung Wirtschaftskriminalität. Vielleicht auch Organisierte Kriminalität. Richtig?«
»Stimmt«, sagte der Zollmann. »Der Mann heißt Martin Kleve, Alter ungefähr Sechzig, Kriminaloberrat und verschlossen wie eine Auster. Den knackt ihr nie.«
»Das kommt immer darauf an wie gut unsere Argumente sind«, murmelte Rodenstock. »Eine letzte Frage: Wen wollte Narben-Otto am Steinbruch bei Balesfeld treffen?«
»Ganz ehrlich, das wissen wir nicht. Wir nehmen an, er traf den Mann, der die nächste Kurierroute ausbaldowert hat. Aber der wird Narben-Otto nicht getötet haben, das ist nämlich ein Rentner, der für den deutschen Wald schwärmt und von tränenblinder Naivität ist. Noch etwas: Das Undercover-Objekt läuft weiter, wir werden die Dealergruppe weiter observieren, und wenn wir die fünf Spitzenleute haben, soll der ganze Verein hochgehen. Besteht also die Möglichkeit, daß Narben-Otto in diesem Zusammenhang nicht genannt wird?«
»Das wird schwierig«, sagte ich. »Eure Aktion können wir verschweigen, nicht verschweigen können wir den Mord an Narben-Otto. Und letztlich können wir auch nicht verschweigen, daß Narben-Otto mit Drogen dealte und Abtreibungen durchführte.«
»Das würde uns reichen.«
Rodenstock nickte: »Dann sind wir klar. Ich danke dir.«
»Nichts zu danken«, erwiderte Jentsch trocken. »Eure Position war schlicht zu stark. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem du Sauhund nicht so vorbereitet warst, daß man dir nicht geben mußte, was du wolltest. Dein Nachfolger ist erfreulich schlechter.«
»Der Sauhund bedankt sich«, strahlte Rodenstock. »Das tut richtig gut.«
»Du sollst mit einer Holländerin zusammen sein?«
»Viel schlimmer. Sie ist Holländerin und Polizeichefin.«
Die beiden flachsten noch eine Weile herum, ehe wir uns verabschiedeten.
Dann rief ich Kalle Adamek in der Trierer Redaktion von Radio RPR an, und er warf mit einer einzigen Bemerkung unsere Tagesplanung über den Haufen.
»Die Nachricht, daß wir einen orangefarbenen Opel Kombi mit Münchner Kennzeichen suchen, ist dreimal gesendet worden. Wir wissen jetzt, wo er steht. Da kannste mal sehen, wie gut Regional-Radio ist.«
»Und, wo steht er?«
»Zwischen Kopp und Birresborn, rechter Hand. Hinter Kopp steht ein verlassener Bauernhof, ziemlich verfallen. Das Haus hat die Nummer zehn. Vor diesem Haus steht der Opel, aber das Haus ist leer und der Fahrer nicht aufzufinden. Der kann überall sein. Etwas ist komisch. Er hat den Wagen so geparkt, daß man von der Straße aus das Heck sehen muß. Wäre er zehn Meter weiter gefahren, wäre der Wagen verschwunden gewesen.«
»Was ist daran komisch?«
»Ich habe das Gefühl, daß dieser Botaniker namens Manfred Boll wollte, daß man das Auto findet.«
»Warum soll er das gewollt haben?«
»Ich weiß es nicht, es ist nur ein Gefühl. Der SWR und RTL haben je ein Team dort, die Aufnahmen von dem Wagen machen. Was hat der Zoll ergeben?«
»Nicht über Telefon.«
»So heiß?«
»So heiß«, ich unterbrach die Verbindung und instruierte Rodenstock.
»Na, denn fahren wir mal«, sagte er gemütlich. »Endlich tut sich was, endlich Bewegung im Karton.«
Er nahm die Autobahn 48 bis zur Ausfahrt Manderscheid und zeigte mir dann, wie schnell der Wagen ist, wenn ein erfahrener Mann ihn steuert. Rodenstock war gut gelaunt, er summte die ganze Zeit irgendwelche schnulzigen Operettenmelodien nach dem Motto ›Schenkt man sich Rooohsen in Tirooohl ...‹
In Birresborn bog er nach links ab und zog den Berg hinauf nach Kopp. Dann brach hinter uns das Gewitter los, und es zog sehr schnell heran, der Regen schüttete wie aus Eimern, Blitz und Donner folgten immer schneller aufeinander, bis nach zehn Minuten das Unwetter genau über uns war. Rodenstock hielt auf einem Parkplatz, ein Weiterfahren war nicht möglich.
»Scheißwetter!« sagte er.
»Das Wetter in der Eifel ist noch handgeschnitzt«, sagte ich. »Darauf sind wir stolz. Ein richtiges Gewitter, ein richtiger Sommerregen – das sind die Sachen, die ich so mag. Du stehst irgendwo rum, bist naß bis auf die Haut und fühlst dich klasse.«
»Bis zum Ausbruch der Erkältung«, fügte er trocken hinzu.
»Wärst du jetzt lieber im Süden?« fragte ich.
»Oh nein«, gab er zu. Er starrte durch die Windschutzscheibe in das unendliche Grün der Hügel jenseits der Straße. »War hier eigentlich immer Wald?«
»Nach menschlichen Begriffen von Zeit ja. Hier haben schon die römischen Kaiser gejagt. Die saßen damals in Trier. Viel später gehörte das Gebiet der Abtei in Prüm, die den Wald dann Bertrada schenkte, der Mutter Karls des Großen. Der jagte hier auch. Dann war es ein kurfürstliches Jagdrevier, ein napoleonischer Wald, anschließend ein preußischer Forst. Der halbe Adel Europas hat hier den Hirsch gehetzt. Der Kyllwald ist seit zweitausend Jahren nachweislich Jagdrevier, und die Eifler standen daneben und hatten Hunger und durften nur von Zeit zu Zeit die Treiber spielen. Das Hochwild war dem Hochadel vorbehalten: Hirsche, Sauen. Hochwild nennt man es deshalb, weil es eben dem Hochadel zustand. Das Niederwild war entsprechend für den niederen Adel − Hasen, Fasane und Enten. Wurde ein Nicht-adeliger beim Jagen erwischt, drohte ihm der Tod.«
»Baumeisters Lehrstunde«, spottete er.
Ungerührt setzte ich hinzu: »Die Eifler haben gelernt, unter strenger Herrschaft zu leben. Und sie haben überlebt. Und das, verdammt noch mal, ist ihre herausragende Leistung. Du kannst übrigens weiterfahren.«
Die starken Windböen waren eingeschlafen, der Regen fiel dicht und gleichmäßig, und wie immer bei starker Nässe war das Grün des Waldes so intensiv wie Neonlicht.
Rodenstock zog gemächlich die Straße hoch, und wir sahen die Lkws linker Hand sofort. RTL und SWR prangte da auf den Bordwänden. Kein Mensch war zu sehen. Rodenstock bog in den kurzen Weg zum Haus ein, und wir blickten auf den orangefarbenen Opel mit dem Münchner Kennzeichen.
Rodenstock fuhr daran vorbei und hielt dann an. Sie standen alle zusammen in der offenen Scheune, rauchten und froren ein bißchen. Aber sie waren offensichtlich gut gelaunt, und ihre Gesichter waren offen und hungrig nach einer guten Story. Es waren fast zehn Leute, und die Hälfte von ihnen waren junge Frauen.
Wir stiegen aus, sagten artig: »Guten Morgen« und betrachteten eingehend das Innere des Opels. Der Wagen war wirklich ein altes Schätzchen, und möglicherweise würde er nicht mehr durch den TÜV kommen.
»Da ist nichts von Bedeutung drin«, murmelte Rodenstock. »Wirklich gar nichts. Ein alter Kölner Express, ein Stück Butterbrotpapier oder was das ist. Der Botaniker hat wahrscheinlich gründlich aufgeräumt, ehe er die Karre hier abstellte. Sieh mal, sogar der Aschenbecher ist geputzt, und es würde mich nicht wundern, wenn er seine Fingerabdrücke weggewischt hätte.«
Wir stellten uns zu den beiden Aufnahmeteams, und niemand fragte uns, wer wir seien und für wen wir recherchierten. Es wurde deutlich, daß sie einfach eine Zigarettenpause zum Abschluß der Aufnahmen machten, ehe sie zum nächsten Dreh weiterfuhren. Sie sagten gleichfalls artig: »Wiedersehen« und »Schönen Tag noch«, hockten sich in ihre Wagen und verschwanden. Dann waren wir allein.
»Hast du die Nummer vom Handy des Stefan Hommes?«
»Habe ich. Soll ich ihn fragen?«
Als Rodenstock nickte, wählte ich die Nummer, und Hommes meldete sich sofort.
»Sind Sie schon zu Hause? Oder noch im Krankenhaus?«
»Schon zu Hause«, sagte er gutgelaunt. »Was liegt an?«
»Eine komische Szene«, erklärte ich. »Wir stehen an der Straße zwischen Kopp und Birresborn. An der Hausnummer 10. Das ist ein altes, leerstehendes Bauernhaus, das langsam zusammenbricht. Und hier wurde der Opel Kombi mit der Münchner Nummer abgestellt. Von dem Mann selbst ist nichts zu sehen. Fällt Ihnen dazu etwas ein? Ich meine, Sie sind der einzige, der praktische Erfahrung mit unserem Messerwerfer hat. Wo könnte der stecken, falls er überhaupt noch in der Gegend ist?«
»Ist er garantiert«, sagte er trocken. »Sie müssen sicherstellen, daß der Mann nicht in dem Gebäude ist. Ich kenne das Gebäude da genau. Die Vorder- und die Hintertür sind fest verrammelt, aber von der offenen Scheune führt ein ziemlich großes Loch in das Gebäude. Seien Sie aber vorsichtig, daß Sie nicht abstürzen oder sich die Haxen brechen. Ich werde überlegen, was mir noch einfällt und rufe Sie in ein paar Minuten zurück.«
»Wir müssen in das Haus«, sagte ich.
»Also los«, seufzte Rodenstock. »Übrigens kümmert sich noch irgend jemand um diesen Besitz. Schau mal da, da ist der Garten. Und schau mal auf die Johannisbeerbüsche.«
Jemand hatte über ein Erdbeerbeet und über vier Johannisbeerbüsche blaue Plastiknetze gegen den Vogelfraß gebreitet. Es wirkte seltsam fröhlich.
»Seit ich pensioniert bin, geht es richtig rund«, bemerkte Rodenstock sarkastisch. Dann kletterte er über einen Stapel Buchenholz auf das Loch in der Bruchsteinwand zu. »Sag meiner Frau, ich hätte stets das Wohl der Bürger im Auge gehabt.« Dann verschwand er und schrie sofort: »Scheiße!«
»Wieso Scheiße?« fragte ich.
»Ich stehe drin«, antwortete er dumpf. »In der Eifel ist wirklich was los.«
»Sage ich doch.« Ich kletterte hinter ihm her.
Den Botaniker fanden wir nicht, dafür aber deutliche Spuren von mindestens vier Generationen Eifelbauern, eine schier unglaubliche Menge an Kreuzspinnen. Und im Erdgeschoß gab es eine abgesperrte Tür mit einem neuen Vorhängeschloß.
»Dahinter ist wahrscheinlich die Küche. Der Besitzer wird sie hergerichtet haben, damit er eine Unterkunft hat, wenn er hier herumwerkelt. Das findet man oft in der Eifel.«
Wir stiegen in den Keller hinunter, der im Grunde kein Keller war, sondern einfach ein kleiner, sehr niedriger Gewölberaum, der früher sicher einmal dazu gedient hatte, im Sommer die Milch und den Käse und das Gemüse zu kühlen. Die Bauern hatten trickreich Bausand im Keller aufgeschüttet, um Gemüse und Kartoffeln darin zu verbuddeln. Diese Methode war sehr wirkungsvoll. Das Grünzeug hielt sich viele Monate lang, ohne zu faulen.
»Ich denke an den Mord an Mathilde Vogt«, murmelte Rodenstock. »Gibt es hier viele schwarze Waffen?«
»Man schätzt, daß man zwei ganze Kompanien damit ausrüsten könnte. Illegale Langwaffen und illegale Faustfeuerwaffen, Revolver wie Pistolen. Noch und nöcher. Einige Leutchen bei uns machen den Jagdschein nur, um die Erlaubnis zu bekommen, so viele Langwaffen zu kaufen, wie sie wollen. Es gibt Jäger, die auf einem ganzen Arsenal sitzen und damit angeben wie ein Sack Seife. Ein ehemaliger Forstmann ist berühmt dafür, daß er in seinem einsam gelegenen Forsthaus hockt und sich ausmalt, wie es einem Einbrecher ergeht, der versucht, bei ihm Beute zu machen. Er erträumt sich die Szene so: Der Einbrecher kommt rein und befiehlt: Hände hoch. Ich nehme die Hände hoch. Er nimmt meine Waffe weg. Und dann denkt er, ich sei wehrlos, hat sich aber geschnitten. Mein zweiter Revolver liegt unterm Kopfkissen. Hahahaha! Außerdem kommst du in Belgien wesentlich einfacher an Waffen als in Deutschland. Und eine Grenze gibt es nicht mehr. Warum die Frage?«
»Weil ich vergessen habe, Kischkewitz zu fragen, ob eine der Waffen anhand der Geschosse identifiziert werden konnte.«
»Ruf ihn doch an.«
Er nickte und beschäftigte sich mit seinem Handy, während wir im Halbdunkel des uralten Hauses standen und den Geruch von Verfall in der Nase hatten. Rodenstock erreichte Kischkewitz nicht, aber der Mann, der am Telefon war, wußte offenkundig, wer Rodenstock war. Er gab eine knappe Antwort, und Rodenstock bedankte sich.
»Weder die Waffe, mit der Cherie getötet wurde, noch die, mit der Mathilde Vogt erschossen wurde, ist registriert. Das hätte mich auch sehr gewundert. Profi ist eben Profi.«
Als wir gerade dabei waren, durch das Loch in der Außenmauer in die Scheune zurück zu klettern, fiepste mein Handy. Es war Stefan Hommes.
»Ich habe nachgedacht, und ich habe eine Idee. Vermutlich hat er den Wagen extra so hingestellt, daß der Kombi von der Straße aus sichtbar ist. Und natürlich steckt der Mann nicht in dem alten Gemäuer. Gehen Sie mal bitte zur Rückseite des Hauses, also hangwärts.«
»Mache ich. Hier hinten ist eine große, blühende Wiese, die bis zu einem Waldrand reicht, der ist ungefähr vierhundert Meter entfernt.«
»Genau. Und was ist vor dem Waldrand?«
»Was soll da sein?«
»Na ja, da ist doch ein kreisrundes Gebüsch, oder? Ein Riesengebüsch sozusagen, mit einem Durchmesser von vielleicht fünfzig Metern. Es besteht hauptsächlich aus Krüppeleichen, Weißdorn und ein paar junge Birken. Und starren Sie nicht so auffällig dorthin.« Er lachte. »Oben hinter dem Waldrand verläuft der Wanderweg, der zu den Birresborner Eishöhlen führt. Und genau diese Anbindung braucht der Schweinehund. So kann er sich unauffällig unter die Wanderer mischen. Er wird sein Zelt mitten in dem kreisrunden Gebüsch aufgeschlagen haben. Und er hat den Wagen unten am Bauernhaus stehenlassen, um zu signalisieren: Hier bin ich auf keinen Fall.«
»Gute Theorie«, gab ich zu. »Da paßt alles. Aber wieso fünfzig Meter vor dem Waldrand in einem Gebüsch? Das isoliert ihn doch.«
»Falsch! Das Gegenteil ist der Fall. Er kann in jede Richtung entkommen, und er hat immer einen sehr genauen Überblick, ob ihm Gefahr droht oder nicht. Der Junge ist einfach gut, und ich möchte wissen, woher er das hat.«
»Und was sollen wir jetzt tun? Etwa einfach dahin marschieren und guten Tag sagen?«
»Warum nicht?« fragte Hommes ironisch. »Das wäre doch mal etwas anderes. Im Ernst, wenn Sie ihn dort suchen wollen, dürfen Sie nicht vom Bauernhaus stracks auf ihn zu marschieren. Ich würde von oben, vom Wald aus starten, und zwar erst gegen Abend, mit dem letzten Licht. Toi, toi, toi für euch!«
»Danke schön«, erwiderte ich lahm und erklärte Rodenstock, was Hommes gesagt hatte.
Rodenstock starrte den Hang hinauf, wandte dann den Kopf und meinte: »Wir müssen jetzt entscheiden, was wir tun. Wir können nicht einfach in die Büsche marschieren und ihn festnageln. Bestenfalls schmeißt er mit Küchenmessern oder ähnlichen Gegenständen, und ich gehe jede Wette ein, daß er über Schußwaffen verfügt.«
»Was schlägst du vor?«
»Laß uns Kischkewitz anrufen und um drei, vier Leute bitten. Selbst wenn wir Gefahr laufen, daß der Mann gar nicht in den Büschen steckt und wir uns bis auf die Knochen blamieren. Wenn die Leute von oben kommen, während wir von hier langsam hochmarschieren, hätten wir möglicherweise eine Chance. Was sagst du?«
»Du hast recht. Ruf Kischkewitz an, vielleicht ist es am hellichten Tag so überraschend, daß wir an ihn herankommen, ohne daß er zur Artillerie greift. Und laß uns hier verschwinden. Er muß uns nicht unbedingt sehen.«
»Er hat uns garantiert schon gesehen.« Rodenstock grinste. »Wenn er tatsächlich in den Büschen steckt, liegt er jetzt auf dem Bauch und späht durch ein erstklassiges Fernglas auf uns hinunter. Die Fernsehteams haben ihn aufgescheucht, und er wird mit Vergnügen registrieren, daß die Journalisten das getan haben, was sie immer tun: Sie haben ihren Auftrag erfüllt, sie haben den Wagen gefilmt und sind wieder abgehauen, ohne Eigeninitiative zu entwickeln.«
Rodenstock verschwand durch die offene Scheune zur Vorderfront des Hauses, und bald hörte ich ihn beschwörend sprechen und dann leise lachen.
»Kischkewitz macht sich auf die Socken. Er nimmt zwei Männer mit und kommt von oben vom Wanderweg. Wenn er dort ist, ruft er an. Ich will mal hören, wo meine Frau sich herumtreibt. Ich denke, es wird eine Stunde dauern, bis die drei hier sind.«
Warten ist journalistischer Alltag. Du wartest immer auf irgend etwas und sehr oft vergebens. Ich hockte mich in den Wagen nach hinten und legte die Beine hoch. Ich döste, und wahrscheinlich schlief ich sogar für einige Minuten fest ein. Längst hatte es aufgehört zu regnen, die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Ein Bussardpärchen über uns stieß gellende Schreie aus, ein paar Krähen wurden neugierig, flogen vorbei, waren offensichtlich der Meinung, das sei viel Lärm um nichts und verschwanden über dem Berg.
Ich gebe zu, ich hätte gerne Dinah angerufen. Um sie zu fragen, wie es ihr geht, ob der gebrochene Arm schmerzt, was sie treibt, wie sie ihre Zukunft sieht.
Rodenstock setzte sich auf den Beifahrersitz. »Emma fährt mit Jenny noch bei Dinah vorbei, dann kommen sie heim. Enzo geht es sehr viel besser, sie haben ihn nicht einmal unter Medikamente setzen müssen. Der Junge ist wirklich ungewöhnlich. Er hat Emma gefragt, ob wir schon wissen, daß Julius Berner viermal Firmen in die Pleite geführt hat, ehe er zum strahlenden Star wurde und alle Konkurrenten schlug.«
»Viermal? Das ist heftig. Wann war das?«
»Enzo sagt, das müßte sechzehn bis zwanzig Jahre zurückliegen. Er läßt uns übrigens grüßen und entschuldigt sich für das Ausflippen.«
»Wer könnte über diese Pleiten Genaues wissen?«
»Das Finanzamt Düsseldorf«, seufzte Rodenstock. »Ich bezweifle allerdings, daß diese Pleiten etwas mit dem Mord an Cherie zu tun haben, denn vor sechzehn bis zwanzig Jahren war Cherie ein kleines Mädchen ... Halt, stop, ich vergesse die Industrie- und Handelskammer. Vermutlich haben die ja so etwas im Archiv. Doch die IHKs sind viel zu vornehm, die werden uns auch keine Auskunft geben. Emma sagte übrigens, daß sie die Telefonnummer und Adresse des Hackers hat, der in den Computer des Finanzamtes eingedrungen ist.« Er grinste.
»Und jetzt denkst du an den Rechner der Industrie- und Handelskammer, du Schweinehund.«
»Träume sind gestattet«, meinte er. »Was ist, wenn du dir die Telefonnummer der Industrie- und Handelskammer besorgst und dort anfragst, was es mit den Pleiten des ehrenwerten Julius Berner auf sich hat?«
»Das könnte hinhauen«, nickte ich.
Ich besorgte mir die Nummer von der Auskunft der Telekom und rief an. »Bitte, die Pressestelle«, verlangte ich.
Eine Frau meldete sich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin ein Kollege«, sagte ich. »Ich arbeite an einer Geschichte über Julius Berner.«
»Oh, unser Tycoon. Er wird immer mehr zum Thema. Aber Sie haben mit diesen merkwürdigen Todesfällen nichts zu tun, oder? Ich meine, diese angeblichen Morde da im Wilden Westen, in der Vulkaneifel oder Schneifel oder Hocheifel, weiß der Geier, wie das richtig heißt.«
»Oh nein, so ein Pipifax interessiert mich nicht. Es geht mir um den Unternehmer Berner und seinen geradezu sagenhaften Aufstieg. Ich begegne allerorten nur ungehinderter Bewunderung. Es ist so, als habe der Mann nicht den geringsten Webfehler, als gäbe es keinen Punkt der Kritik. Ehrlich gestanden, liebe Kollegin, ist mir das ein wenig unheimlich. Nun weiß ich definitiv, daß er vor sechzehn bis zwanzig Jahren vier Pleiten hingelegt hat. Jetzt würde ich gern wissen, mit welchen Firmen in spezifisch welcher Branche er die hinlegte und woher eigentlich sein Grundvermögen stammt?«
»Also, das Grundvermögen stammt von seinem Vater. Der war ein erfolgreicher Bauunternehmer. Und von den Pleiten habe ich auch gehört, aber das war wohl während Berners Lehrlingszeit, wenn Sie wissen, was ich meine. Moment mal, ich schau im Computer nach.« Es war deutlich zu hören, daß sie die Tastatur bediente. »Da fällt mir ein, daß ich gar nicht nach Ihrem Namen und Ihrer Redaktion gefragt habe.«
»Ich bin Siggi Baumeister und arbeite in dieser Sache für ein bekanntes Nachrichtenmagazin aus Hamburg.«
»Ähhh«, murmelte sie gedehnt.
Vor mir meldete sich Rodenstocks Handy. Er meldete sich sehr leise, drehte den Kopf und deutete nach draußen.
»Ich sehe gerade, ich kann in dieser Sache keine Auskunft geben. Das unterliegt dem Datenschutz.«
»Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, das ist gelogen. Aber so etwas hatte ich erwartet. Vielen Dank.«
»Warten Sie, ich muß noch wissen ...« Jetzt war sie richtig aufgeregt, doch sie sprach ins Leere, weil ich das Gespräch abgebrochen hatte.
»Da ist was faul«, teilte ich mit. »Vermutlich hat auch die IHK Düsseldorf einen Code für Julius Berner, vermutlich ist er auch für die Gottvater, vielleicht bezahlt er sie. Also los, auf zu Manfred Boll, der eigentlich tot ist.«
Wir machten es so, wie Rodenstock es mit Kischkewitz abgesprochen hatte. Gemütlich gingen wir den Hang hoch und unterhielten uns dabei laut über Belanglosigkeiten. Etwa so: »Ich habe leichte Kopfschmerzen.«
»Ich auch.«
»Und außerdem ist mir leicht schlecht.«
»Ja, ja, mir auch.«
Gelegentlich warfen wir einen Blick auf das große, kreisrunde Gebüsch vor uns, aber wir konnten absolut nichts entdecken. Das schwarze abweisende Geäst des Weißdorns vor uns schien undurchdringlich. Ich erinnerte mich an eine Bemerkung des Jungförsters Christian Reuter, der mal gesagt hatte: »Jeder Förster hat in seinem Revier Ecken, in die er nicht gerne geht, weil dort einfach nichts los ist, nicht einmal für das Wild. Es sind einfach abweisende Stellen.« Wahrscheinlich war dies vor uns eine abweisende Stelle, und wahrscheinlich war der Botaniker aus eben diesem Grund dort.
»Er liegt rechts unter der Krüppeleiche«, nuschelte Rodenstock.
Dann sah ich ihn, das heißt, ich sah sein Fernglas aufblitzen. »Halali!« murmelte ich. »Und jetzt?«
»Jetzt heißen wir ihn willkommen«, quetschte Rodenstock durch die geschlossenen Zähne.
Wir schlenderten dicht an ihm vorbei. Dann hob Rodenstock den Kopf, als habe er den Mann soeben erst entdeckt, und sagte laut und sichtlich erfreut: »Sieh einer an! Unser heißgeliebter Botaniker! Stehen Sie doch auf, Sie brauchen nicht vor uns auf dem Bauch zu kriechen. Und das Messer können Sie auch stecken lassen.«
Der Mann stand auf, und sein hageres Gesicht war voll Überraschung. Vielleicht war er dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte ungewöhnlich helle Augen, bei denen schlecht zu entscheiden war, ob sie grau oder eisblau waren. Er trug einen dicken grünen Pullover und Kniebundhosen mit derben Wollstrümpfen in derben Halbschuhen. Mit tiefer Stimme sagte er: »Das war ein sehr guter Trick.«
»Und nicht der einzige«, sagte Kischkewitz hinter ihm. »Haben Sie eine Waffe?«
»Was glauben Sie?« fragte der Botaniker lächelnd.
»Sie haben eine«, sagte ich.
»Stimmt«, nickte er.
Einer der Männer von Kischkewitz glitt hinter den Mann und holte eine Waffe aus dem Gürtel der Bundhose. Es sah aus wie eine 38er Special, und zufällig wußte ich, daß die Fluggeschwindigkeit der Geschosse bei 385 Metern pro Sekunde lag. Emma hatte die gleiche Waffe.
»Wer sind Sie?« fragte Kischkewitz ohne jede Aggression in der Stimme.
»Aber das ist doch bekannt«, er tat erstaunt. »Ich bin Botaniker, fotografiere Waldblumen, und ich schreibe ein Buch.«
»Und ich bin Robert Redford und treffe gleich Julia Roberts am Bratwurststand in Gerolstein«, sagte ich. »Mann, hören Sie mit dem Scheiß auf.«
»Manfred Boll ist seit Jahren tot«, sagte Rodenstock freundlich. »Wieso waren Sie so dämlich, diesen Namen anzunehmen?«
Er kniff die Augen zusammen. »Kein Kommentar.«
»Ich kann Sie verhaften.« Kischkewitz sagte es so, daß deutlich wurde, daß er nicht das geringste Interesse daran hatte.
»Na, sicher können Sie das«, nickte der Mann, der sich Boll nannte, gelassen. »Tun Sie, was Sie tun müssen.«
»Wie heißen Sie denn wirklich?« Kischkewitz schien eine ungeheure Geduld zu haben.
»Habe ich vergessen.«
»Nicht doch«, erwiderte der Kriminalist leicht angewidert. »Das ist ja viel zu dümmlich, um wahr zu sein. Was treiben Sie hier in der Eifel?«
»Sehr schöne Landschaft«, sagte er heiter. »Ausgesprochen gut für die Seele. Phantastisches Klima. Wußten Sie, daß das Champagnerluft genannt wird? Und daß die Luft in der Eifel die mit Abstand wenigsten schädigenden Schwebeteilchen in Europa enthält? Und daß man hier nachts wegen fehlenden Smogs den Sternenhimmel noch mit bloßem Auge beobachten kann, und ...«
»Nun ist aber gut, Männeken«, brummelte Kischkewitz. »Haben Sie eigentlich einen Waffenschein?«
»Aber natürlich«, antwortete er, und merkwürdigerweise schien niemand von uns daran zu zweifeln.
»Lautet der auch auf den Namen Manfred Boll?« fragte Rodenstock.
»Selbstverständlich nicht.«
»Sie waren am Steinbruch, als Narben-Otto in den Tod gestürzt ist«, sagte ich munter. »Brannte der Wagen da noch?«
»Der brannte noch«, nickte der Mann. »Das mußte ich mir ansehen. Wissen Sie, wir sind hier in der finstersten Provinz, und ich hätte nie gedacht, daß hier so viel los ist ... in den Wäldern.«
»Und warum schmeißen Sie mit Messern auf ehrbare Wildhüter?«
Er lachte leise. »Also, ob der so ehrbar ist, das wage ich zu bezweifeln. Auf jeden Fall schlich er sich äußerst dumm an mich heran, und er hatte eine Waffe. So was macht man nicht.«
»Das ist wahr«, bestätigte Kischkewitz knapp. »Ist da drin das Zelt und Ihr sonstiges Gepäck?«
Er nickte: »Bitte, kommen Sie doch herein.«
Kischkewitz bedeutete seinen beiden Männern, sich darum zu kümmern, und sie verschwanden zwischen den kleinen Bäumen.
»Wollen Sie nicht lieber damit aufhören, uns zu verscheißern?« fragte ich. »Sehen Sie, es kostet soviel Zeit und Energie, und wir brauchten beides eigentlich für andere Dinge.«
»Ja, die Erika ...« Nachdenklich schaute er auf das Gras zu seinen Füßen.
»Die wer, bitte?« fragte Rodenstock.
»Erika Schallenberg«, erklärte der Botaniker. »Oder Cherie, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Sie waren hinter Narben-Otto her, nicht wahr?« fragte ich.
»Das auch.« Er nickte.
»Und was war Ihr eigentliches Ziel? Julius Berner?«
»Nein, kann man nicht sagen.«
»Verdammte Hacke, was machen Sie hier?« platzte Kischkewitz heraus.
»Urlaub«, gluckste er vor unterdrücktem Lachen. »Ich mache Urlaub in der Eifel.«
»Ich möchte ernst genommen werden«, sagte Rodenstock neben mir. »Sie haben Cherie gekannt, nicht wahr?«
»Habe ich.«
»Und? Haben Sie sie gemocht?«
Das irritierte ihn, das machte ihn aus irgendeinem Grund unsicher. Er kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Endlich antwortete er: »Ja, ich glaube schon.«
»Unterlagen?« bellte Kischkewitz. Er meinte seine beiden Helfer, die vollbeladen aus dem Busch kamen.
»Hier ist eine Windjacke mit einer Brieftasche. Die ist eingenäht, Chef.«
»Auftrennen!« befahl Kischkewitz.
»Macht aber die Jacke nicht kaputt, Jungs«, sagte der Mann, der nicht Manfred Boll hieß. »Das ist ein teures Stück.«
Vorsichtig trennten sie mit einem Taschenmesser eine Naht auf und fummelten die Brieftasche heraus. Sie reichten sie Kischkewitz weiter, der sie aufschlug und in die einzelnen Fächer schaute. Er holte einen Reisepaß heraus, dann einen Personalausweis. Das Gesicht des Kriminalisten drückte maßlose Verblüffung aus. Er hielt eine rosafarbene kreditkartengroße Plastikscheibe in den Händen, und eine weitere in grün.
»Er hat einen Waffenschein«, sagte er tonlos. »Er heißt Andreas Ballmann, er ist Kriminalbeamter, der Dienstausweis besagt, daß er gegenwärtig als Fahnder unterwegs ist. Anlaufstelle ist das Landeskriminalamt Düsseldorf.«
»So ist es«, nickte der Kandidat.
»Warum dieses blöde Versteckspiel?« fragte Rodenstock.
»Ich mache Urlaub, ich mache tatsächlich Urlaub.« Der Fahnder lächelte dabei nicht, und es gab keinen spöttischen Unterton.
»Was passiert, wenn ich im LKA Düsseldorf anrufe und nach Ihnen frage?« Kischkewitz war wütend.
»Man wird Ihnen sagen, daß ich Urlaub habe. Fragen Sie, wen Sie wollen.«
»Das tue ich.« Kischkewitz ging ein paar Meter abseits und telefonierte. Als er zurückkehrte, waren nicht mehr als dreißig Sekunden vergangen. »Er hat Urlaub, sagen sie.« Dann ließ er etwas verzweifelt beide Arme weit ausschwingen. »Verdammt noch mal, weshalb kriechen Sie hier durchs Gehölz? Gut, Sie kannten Cherie. Dienstlich?«
»Nein, eher privat.«
»Eher privat«, wiederholte Rodenstock. Er lauschte diesen Worten nach. »Sie kannten sie also zuerst privat. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Und dann wurde es dienstlich. Ist das auch richtig?«
»Kann man so sagen«, nickte Ballmann.
»Ich habe die Schnauze voll, ich lasse mir seine Akte schicken. Ich bin doch nicht sein Leo!« Kischkewitz war plötzlich kompromißlos.
»Das würde ich nicht tun«, meinte Rodenstock leise und nachdenklich.
»Und warum nicht?«
»Weil dann die Möglichkeit besteht, daß er nicht mehr lange lebt.«
»Das ist doch verrückt!« schnappte ich.
»Na ja«, sagte Ballmann gelassen. »So ganz falsch ist das nicht. Ich möchte gern mit Ihnen unter vier Augen sprechen.« Er sah Kischkewitz an.
»Einverstanden. Sie fahren mit nach Wittlich. Aber ich warne Sie, führen Sie mich nicht hinters Licht.«
»Das würde ich niemals tun«, sagte der Fahnder fromm.
Die Beamten verabschiedeten sich von uns und verschwanden.
»Wieso glaubst du, daß er getötet werden könnte?«
»Weil er etwas jagt«, erwiderte Rodenstock mit großer Sicherheit. »Er ist hier, um etwas herauszufinden, sonst würde seine Anwesenheit wenig Sinn machen. Und Jäger leben hier zur Zeit ziemlich gefährlich. Egal, auf was die Jagd machen.«
»Du scheinst etwas zu sehen, was ich nicht sehe.«
»Ich sehe etwas, aber ich sehe es nicht klar, und ich kann keine Verbindungslinien zwischen einzelnen Ereignissen ziehen. Aber alles in allem sieht es für Julius Berner ziemlich düster aus. Er ist ein ehrenwerter Kaufmann, behandelt aber seine Konkurrenten und Opfer mit nachweislicher Gnadenlosigkeit. Er geht über Leichen, wie man so schön sagt. Er ist ein ehrenwerter praktizierender Katholik, der keinerlei Ahnung hat, daß Narben-Otto mit Drogen dealt, für den deutschen Zoll tätig ist und gleichzeitig Abtreibungen durchführt. Berner hat nicht die geringste Ahnung, was die Clique der Jugendlichen treibt. Und er behauptet, er kenne keinen Grund, weshalb Cherie getötet worden sein könnte. Glaubst du das alles, glaubst du diese geballte Harmlosigkeit?«
Ich antwortete nicht auf diese Feststellungen. Statt dessen fragte ich: »Und wer, glaubst du, kann uns auf das Pferd helfen?«
»Stefan Hommes vielleicht. Ruf ihn bitte an, ob er zu Hause ist. Sag ihm, wir kommen jetzt vorbei.« Rodenstock setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und ließ den Motor an. »Mein Gott, wir platzen vor Wissen, jede Menge Einzelheiten. Aber wir wissen nicht, wie eines zum anderen paßt.«
»Das nennt man einen Informationsstau«, bemerkte ich. »Und wenn du Pech hast, erstickst du dran.«
Hommes hatte gesagt, er sei zu Hause und freue sich, uns zu sehen. Er wohnte in Gerolstein im zweiten Stock eines Hauses gegenüber vom Rondell. Er bat uns in ein Wohnzimmer, das mit sehr altem, massiven Mobiliar vollgestellt war.
»Das ist noch von meinen Großeltern«, sagte er. »Ich kann das Zeug nicht wegwerfen. Was kann ich tun?« Er trug einen grünen Trainingsanzug.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Rodenstock bekümmert. »Wir hoffen einfach, daß Ihnen zu einigen unserer Fragen etwas einfällt.«
»Wenn es nicht gegen meinen Arbeitgeber geht, ist jede Frage okay«, sagte er offen.
»Genau das ist aber der springende Punkt«, gab ich zu. »Wir knabbern an einigen Problemen herum. Eines haben wir allerdings gelöst. Narben-Otto war ein Drogendealer. Wußten Sie das?«
»Ich habe es geahnt, hatte aber keine Beweise und wollte keinen Stunk machen. Es ist nämlich so, daß in der Clique ziemlich viele Sachen laufen, von denen Herr Berner keine Ahnung hat. Und er will auch gar keine Ahnung haben. Er hat mir mal gesagt: Ich will in der Eifel in der Natur und mit der Natur leben. Ich will in der Eifel nichts von geschäftlichen Problemen wissen und schon gar nicht von irgendwelchem privaten Knatsch. Das ist sein Standpunkt, und ich halte mich dran. Und ich weiß genau, wo die Musik spielt.« Das letzte sagte er trotzig.
»Sie mögen die Clique nicht?« fragte ich.
»Nein«, sagte er. »Aber das habe ich ja schon mal gesagt. Das sind alles Spielmädchen und Spieljungen.«
»Enzo Piatti und Jenny kennen Sie auch, nicht wahr?« fragte ich.
»Sicher. Zwei ganz schräge Vögel. Der Enzo ist schwul, und die Jenny ist schwul. Da haben sie sich zusammengetan, damit es nicht so auffällt.«
»Warum haben die die Clique denn verlassen?« wollte Rodenstock wissen.
»Haben sie gar nicht«, antwortete der Wildhüter. »Herr Berner hat ihnen gesagt, sie sollen gehen, er wolle sie nicht mehr sehen.«
»Sieh einer an«, Rodenstocks Stimme war hoch.
»Vermutlich, weil sie beide schwul sind?« fragte ich.
»Das nehme ich stark an«, nickte Hommes.
Betulich erkundigte sich Rodenstock: »Wie läuft das eigentlich so ab, wenn Berner Industrielle einlädt, wenn er mit Leuten auf die Jagd geht, nach welchen Grundsätzen sucht er die Leute aus? Sie waren dabei, als er uns sagte, daß auf seiner Jagd Geschäfte gemacht werden, also ist das hoffentlich keine unfaire Frage.« Er lächelte wie ein Großvater, der seinem Enkel imponieren will.
»Na ja, er ruft mich an und fragt, wo was steht. Also wo welches Wild steht. Dann erscheint Berner mit seinen Gästen, oder er kommt allein und die Gäste kommen aus allen Himmelsrichtungen nach. Das ist eigentlich die einzige Gelegenheit, bei der ich nicht im Haus in Mürlenbach bin. Die Geschäfte gehen mich ja nichts an. Ich hole dann die Gäste ab, wenn sie auf den Hochsitz wollen. Meistens sind das Leute, die wirklich was von der Jagd verstehen und die selbst eine Jagd haben. Klar, es gibt auch die Bierbäuche, die ständig über die Jagd reden und die es nicht schaffen, zwei Minuten bergauf zu gehen. Sie geraten dann so außer Puste, daß du glaubst, es wäre besser, eine rollende Intensivstation dabei zu haben.« Er kicherte.
»Eine sehr persönlich Frage«, sagte Rodenstock gefährlich beiläufig. »Haben Sie niemals versucht, Julius Berner darüber aufzuklären, daß die Jugendlichen alle möglichen Drogen nehmen?«
»Klar habe ich das anfangs versucht, aber er hat mir zu verstehen gegeben, daß er so etwas nicht wissen wolle und daß ihn das auch nichts angehe.«
»Hat Cherie eigentlich Drogen genommen?«
Er lächelte. »Ich verstehe jetzt, auf was Sie hinaus wollen. Aber die Frage kann ich trotzdem beantworten. Sie nahm keine, sie sagte immer, es wäre nicht gut für den Teint. Ich denke, sie hat in drei Jahren keine drei Joints geraucht.«
Rodenstock starrte aus dem Fenster, als sei etwas da draußen höchst interessant. »Hat Cherie auch bei Narben-Otto abtreiben lassen?«
Er war sofort empört. »Wollen Sie sie in den Schmutz ziehen?«
»Nicht die Spur«, sagte Rodenstock gelassen. »Sie müssen aber zugeben, daß die Frage naheliegend ist. Andere haben das schließlich gemacht, oder?«
Der Wildhüter legte die Hände ineinander und rieb sie, als wolle er sie auswringen. »Narben-Otto war gar nicht gut. Nicht gut für den Chef und nicht gut für die jungen Leute. Für keinen war der gut.«
»Kennen Sie eigentlich die Industriellen, die bei Ihrem Chef zu Gast sind?« Rodenstock betrat jetzt dünnes Eis.
»Einige kenne ich, andere nicht.«
Ich übernahm: »Gibt es auch Geschäftspartner, die alleine kommen? Wichtige Männer, die Berner allein empfängt und allein bewirtet?«
»Ja, aber nur ganz, ganz wenige.« Dann setzte Hommes schnell hinzu. »Aber die kenne ich nicht. Ich weiß nicht, woher sie kommen und wer sie sind.« Er lächelte flüchtig. »Und selbst wenn, würde ich nicht darüber reden.«
»Das ist klar«, nickte Rodenstock und zwirbelte sich am rechten Ohrläppchen. Es war das Zeichen, daß wir aufhören sollten. »Sie sind wirklich sehr loyal. Sagen Sie, führen Sie uns mal durch den Wald?«
»Aber ja«, sagte er. »Wann immer Sie wollen. Wenn nicht gerade der Chef da ist.«
»Ist der jetzt in Düsseldorf?«
»Ist er.«
»Wir rufen Sie an«, sagte Rodenstock. »Ach ja, noch etwas. Sie kannten doch vermutlich Mathilde Vogt gut. Haben Sie eine Ahnung, weshalb jemand ihren Tod gewünscht haben könnte?«
»Nein«, sagte er, und das klang vollkommen aufrichtig. »Sie war eine gute Frau, einfach ein Klassetyp. Und sie war eine wirklich gute Jägerin.«
»Was ist mit ihrem Mann?« fragte ich.
»Der? Ob er sie getötet hat, meinen Sie? Niemals. Der ist stockkatholisch, genauso wie sie. Nein, nein.« Hommes schüttelte betrübt den Kopf. Dann gab er uns die Hand, war aber nicht bei der Sache. Plötzlich, schon vor der Wohnungstür fragte er: »Glauben Sie, daß mein Chef irgendwie in Gefahr ist?«
Ich drehte mich leicht zur Seite, um anzudeuten, daß ich dazu keine Meinung hatte. Auf diesem Feld war Rodenstock der Meister.
Er räusperte sich, legte den rechten Ellenbogen in die linke Handfläche und rieb sich das Kinn. »Ehrlich gestanden, ja«, antwortete er. »Aber darüber können wir ja reden, wenn Sie uns den Wald zeigen, oder?«
»Ja«, sagte der Wildhüter tonlos. »Rufen Sie einfach an, wann Sie Zeit haben. Irgend etwas, was Sie besonders interessiert?«
»Oh ja«, sagte Rodenstock. »Mich interessiert der Filz der frühen Jahre, das Adenauer-Haus in Duppach.«
»Das ist eine leichte Übung«, murmelte Hommes, und er war meilenweit entfernt.
Auf der Straße meinte Rodenstock: »Das wird an ihm nagen, das wird ihn weichkochen.«
»Du bist ein Scheusal«, sagte ich befriedigt. »Und wann soll er dir den Wald zeigen?«
»In zwei Tagen etwa, dann wird er reden.«