Drittes Kapitel

Sein Gesicht war sehr grau, und eine Weile herrschte ein fast verbissenes Schweigen. Dann setzte er hinzu: »Ich habe das bei der Kripo entschieden abgestritten. Ich muß die Leute anrufen und denen das sagen. Geht ja nicht, die müssen das wissen, oder?«

»Sie sollten das wissen«, nickte Rodenstock. »Aber vielleicht spielt diese Tatsache überhaupt keine Rolle. Was glauben Sie, was Ihre Rolle in diesem brutalen Spiel ist? Und seit wann gibt es diese Liebesgeschichte?«

»Ganz genau seit dem 1. Mai 1996.« Die Antwort kam schnell und sicher. »Wir waren hier in diesem Haus, wir waren allein.« Er drehte sich leicht zu Stefan Hommes. »Selbst mein Stefan war nicht da, obwohl er sonst immer da ist. Ich erinnere mich, daß ich den Tag über dauernd sagte: Kind, das geht nicht, das bringt Unglück! Doch sie lachte: Sei froh, daß es so ist, und nörgel nicht herum. Sie sagte immer: Nörgel nicht rum!, wenn mir etwas auf der Seele lag. Ich habe keine Rolle in diesem Spiel, glaube ich. Da ist etwas abgelaufen, von dem ich nicht den Hauch einer Ahnung habe.« Er zuckte mit den Achseln. »Wissen Sie, es kommt mir vor, als wäre da eine Art Leben neben meinem Leben gewesen.«

»Haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?« fragte ich.

»Natürlich.« Ein flüchtiges Lächeln tanzte in seinen Augen. »Meine Frau hörte sich alles an und sagte: Da mußt du durch! Kein Vorwurf, nichts.« Wieder das flüchtige Lächeln. »Es gibt Leute, die behaupten, meine Frau sei ein harter Besen. Ist sie auch irgendwie. Aber wenn es um solche Sachen geht, ist sie absolut solidarisch. Und ich bin ihr dankbar.«

»Also keine Bedrohung von Seiten Ihrer Frau?« fragte Rodenstock.

»Keine!« antwortete Berner. Dann begriff er, was die Frage bedeutete, und er zuckte zusammen und wiederholte: »Absolut keine!«

»Was ist mit Konkurrenten?« sagte ich.

Der Unternehmer überlegte lange. »Die Welt der Geschäfte ist immer hart und meistens sehr rücksichtslos. Ich bin in Düsseldorf wahrscheinlich der Erfolgreichste. Und es gibt Neider. Wahrscheinlich wünschen sie mir pro Tag zehnmal die Pest an den Hals, aber es ist mir nicht vorstellbar, daß sie Cherie töten, um mich zu treffen. Nein, das glaube ich nicht.«

»Kann es sein, daß Cherie und Mathilde Vogt etwas in Erfahrung gebracht haben, was sie nicht wissen durften?« Rodenstock machte eine schnelle Handbewegung, als wolle er sich für die Frage entschuldigen.

»Natürlich. Aber was sollte das sein?« Er drehte sich wieder zu Stefan Hommes. »Was glaubst du?«

»Nein«, antwortete er sicher. »Dann hätte sie etwas gesagt, oder jemand aus der Clique hätte etwas gesagt.«

»Was ist mit Narben-Otto?« fragte ich.

Stefan Hommes bewegte sich unruhig.

»Der?« fragte Berner erstaunt. »Niemals. Das kann man ausschließen. Er ist ein sehr guter Arzt, er würde so etwas nicht einmal denken.«

»Sie haben ihm ein richtiges Paradies geschenkt«, erklärte ich nebenbei.

Er nickte. »Der Mann hat das verdient. Das Leben hat ihm übel mitgespielt, sehr übel.« Berner schaute Rodenstock an. »Wann kriege ich sie? Wann können wir sie beerdigen?«

»Das wird noch eine Weile dauern«, erwiderte Rodenstock. »Es ist möglich, daß die Obduktion Fragen aufwirft, es ist sogar möglich, daß in drei Wochen entschieden wird, gewisse Details noch einmal zu prüfen. Nicht in den nächsten vier Wochen, denke ich. Das führt mich zu einer Frage, die ich nicht vergessen darf: Wann wollte die Clique das nächste Mal zusammenkommen?«

»Am kommenden Wochenende«, sagte Stefan Hommes.

»Können Sie die Einladung aufrechterhalten? Wir würden gern mit jedem sprechen.«

»Selbstverständlich«, nickte Berner.

»Dann noch etwas«, fuhr ich fort. »Da gibt es angeblich einen jungen Unbekannten, der durch die Wälder streift und in einem Zelt nächtigt. Kein Mensch weiß, wer das ist.«

»Doch«, sagte Stefan Hommes. »Ich. Der Mann heißt Boll und schreibt eine Arbeit über Waldblumen in der Eifel. Botaniker. Ein richtiger Freak, ein Eigenbrötler. Manfred Boll aus Wuppertal. Ich habe mir den Personalausweis zeigen lassen.«

Ich notierte mir den Namen. »Und Sie lassen ihn weiterarbeiten?«

»Aber sicher. Jedes Buch aus der Eifel nutzt der Eifel. Und der Mann ist eher ein Waldmensch. Man sieht es, wie er sich bewegt.«

»Hat er eine Waffe bei sich?«

»Ich habe keine bemerkt. Und ich denke, der braucht auch keine. Ich habe beobachtet, wie er vollkommen lautlos ein steiniges Bachbett durchquerte. Nichts war zu hören, nicht einmal sein Atem. Vollkommen lautlos. Beim nächsten Mal frage ich ihn, wo er das gelernt hat. Ein harmloser Zeitgenosse.«

»Dann wollen wir jetzt verschwinden«, meinte Rodenstock.

»Halt«, warf ich ein, »ich habe noch eine Frage. Herr Berner, Sie sind Jäger. Ich denke mal, ein leidenschaftlicher. Ich verstehe nichts von der Jagd. Aber die Tiere haben doch gegen Jäger nicht die geringste Chance. Ist das so?«

»Das ist so. Auch wenn immer geschwafelt wird, das Wild hätte eine faire Chance. Von fair kann keine Rede sein, und von Chance erst recht nicht. Ich kenne jemanden, der Schwarzwild mit Hilfe von Maisfeldern jagt. Je von der Methode gehört? Nein. Nun gut. Der Mann läßt in seinem Revier zwei, drei große Maisfelder anlegen. Jahr um Jahr. Natürlich werden die eingezäunt. Dann, zur Jagdzeit, wird der Zaun auf einer Schmalseite geöffnet. Die Tiere wischen in das Maisfeld. Und sie bleiben tagelang drin, wenn man sie nicht stört. Aber man stört sie. Sie werden abgeschossen wie in einer Schießbude. Wir nennen das Massaker!«

Stefan Hommes nickte energisch.

»Ist das nicht eine merkwürdige Meinung für einen leidenschaftlichen Jäger?« fragte Rodenstock.

»Richtig«, antwortete Berner. »Aber ich bin jetzt sechzig, und ich will nicht mehr jagen. Ich habe die Nase voll. Ich behalte die Jagd, weil es mir Freude bereitet, durch die Wälder zu gehen. Die Abschüsse, die ich pro Jahr frei habe, verschenke ich. Neulich habe ich mich dabei erwischt, daß ich mit einer Schrotflinte loszog und die Munition vergessen hatte. Cherie sagte auch immer: Ach, laß die Tiere doch leben. Stefan fischt manchmal die kranken Tiere aus den Rudeln. Das muß einfach sein, das gehört zur Hege.«

»Was ist denn das für ein Gefühl, ein Tier zu töten?« fragte ich weiter.

»Da gibt es verschiedene Ansichten. Manche sagen, das ist das Ausleben des Machtanspruchs des Menschen. Andere meinen, der Jäger befriedigt sich und seine Triebe. Bei mir war es so, daß ich Verantwortung für meine Jagd habe und einfach dafür sorgen muß, daß mein Haus bestellt ist.« Er horchte in sich nach. »Nein, da war niemals das Gefühl der Befriedigung, da war überhaupt wenig Gefühl.«

»Eine Frage abseits der Norm«, bemerkte Rodenstock. »Was kostet Sie die Jagd pro Jahr?«

»Das ist kein Geheimnis«, antwortete Berner leichthin. »Es ist eine sehr große Jagd, und sie kostet hier im Kyllwald 150.000 Mark. Dann kommen noch die Geldgeschenke an die Möhnen, an die Freiwillige Feuerwehr, an den Sportverein, an den Männergesangverein, an den Adventsnachmittag für die Senioren, an den Anglerverein und schließlich auch noch die Fußballmannschaft Theke e. V. Sie können davon ausgehen, daß ich die Jagd mit runden 200.000 Mark ansetze.«

»Warum ein solcher Haufen Geld?« fragte Rodenstock etwas verzweifelt. »Ein paar Schüsse auf Hirsche und Rehe und Wildschweine sind doch kein Gegenwert.«

»Das ist schlicht falsch, mein Lieber. Ich denke, daß diese Jagd mir pro Jahr etwa fünfzig bis einhundert Millionen Umsatz einbringt.« Er starrte uns an, als hätten wir die Pflicht erstaunt zu sein. Und wir waren es.

Gleichzeitig fragten wir: »Wie bitte?«

»Stefan, erklär das diesen Greenhorns.«

Hommes räusperte sich. »Also, es ist so, daß sehr viele Geschäfte beim Golfen gemacht werden. Das ist jedermann klar, kein Mensch denkt darüber nach. Die Jagd ist älter und die ...«

»... eleganteste Form der Bestechung«, warf ich ein.

»Genau!« Er lächelte. »So geht der Spruch. In der Baubranche gibt es sehr viele Jäger, die keine Jagd haben, die nur manchmal Gäste in einer Jagd sein können. Und diese Leute haben viel Einfluß.« Er machte eine sehr wirkungsvolle Pause. »Genau die lädt der Chef dann eben ein, damit sie ihren Rehbock kriegen und die Wildsau und das Stück Mufflonwild und so weiter. Kein Mensch redet dabei über Geschäfte, aber die Aufträge folgen mit Sicherheit.«

»Sie sind aber sehr offen«, lobte Rodenstock.

»Das ist eben so«, sagte Berner matt, als sei ein uralter Witz erzählt worden. »Stefan, bringst du unsere Gäste zu ihrem Auto?«

»Na, sicher, Chef.« Stefan Hommes sprang auf.

Ich gab Berner die Hand und bedankte mich. Ich hörte, wie Rodenstock sagte: »Hören Sie mal, junger Mann. Sie haben gesagt, daß Sie sich wegen Ihrer Liebe zu Cherie gehaßt haben. Warum? Es ist ein großes Geschenk, es war eine große Sache in Ihrem Leben. Glauben Sie etwa, daß Ihr Lieber Gott Ihnen Liebe übel nimmt? Schaffen Sie doch um Gottes willen Ihr abendländisch katholisch schlechtes Gewissen ab.«

Berner antwortete nicht sofort, dann stammelte er: »Glauben Sie? Glauben Sie das wirklich? Dann ... dann danke schön.« Er wirkte wie ein kleiner Junge, dem Papa erlaubt hat, ein paar Scheiben einzuschmeißen.

 

Als ich auf die Talstraße nach links in Richtung Gerolstein einbog, sagte Rodenstock versonnen: »Das ist ein richtig netter Kerl, nicht wahr? Und du solltest mit meinem Auto etwas vorsichtiger fahren.«

»Ja, er macht einen guten Eindruck. Mir ging allerdings schon bei Narben-Otto die Heile-Welt-Malerei auf die Nerven. Glaubst du im Ernst, daß Berner seine eigene Rolle bei Cheries Tod überhaupt nicht sieht?«

»Sei fair, Baumeister. Mir ist allerdings aufgefallen, daß wir ihn in einer Extremsituation kennengelernt haben. Wie ist er im Alltag? Er ist extrem reich. Und genau das spricht eben nicht für den netten Kerl, das spricht für äußerste Härte. Ich habe das Gefühl, daß er etwas verschweigt. Er deutet es nicht einmal an. Er tut so, als existiere es gar nicht. Auf jede Frage antwortet er, ist erstaunlich ehrlich und offen und kooperativ. Aber irgend etwas ist da. Vielleicht übertreibe ich auch, vielleicht ertrinkt er einfach in seiner Trauer.«

Rodenstock griff nach seinem Handy und wählte eine lange Nummer. »Wie geht es dir?« – »Du bist unterwegs? Wir auch. Sehen wir uns?« – »Gut, bis gleich.«

Er seufzte. »Emma ist auch gleich in Brück.«

»Das ist gut. Wer ist als nächstes an der Reihe?«

»Wir sollten versuchen herauszufinden, was mit Mathilde Vogt geschehen ist. Über sie wissen wir noch gar nichts. Sie ist neben Cherie richtig untergegangen. Aber möglicherweise hat der Täter bei ihr einen Fehler gemacht. Hast du zu Hause noch was zu essen?«

»Weiß ich nicht. Wir könnten vielleicht bei Markus noch einen Salat kriegen oder einen Happen in den Vulkanstuben in Dreis. Ich glaube einfach nicht, daß dieser Täter Fehler macht.«

»Jeder Täter macht Fehler. Und wenn es der Fehler ist, daß er keine Fehler macht«, stellte Rodenstock trocken fest.

Es war neun Uhr abends, ich war hundemüde und wollte eigentlich nur noch ins Bett. Das Licht über der Landschaft erschien blau, und im Westen war immer noch ein Rosaschimmer des Tages. Sehr hoch über uns bewegte sich ein Keil großer Vögel durch den Himmel. Graureiher wahrscheinlich, von nirgendwoher nach nirgendwohin. Vor Hohenfels-Essingen schnürte rechter Hand am Bach ein Fuchs, dreihundert Meter weiter den Hang hinauf stand eine Gruppe Rehwild und bewegte sich, gelassen äsend.

»Fahr mal rechts ran«, bat Rodenstock plötzlich. »Mir fällt da etwas ein. Der Name war Manfred ... Manfred ...?«

»Manfred Boll aus Wuppertal«, murmelte ich und hielt bei einem Bauernhof, der Apartments an Touristen vermietet. »Stefan Hommes hat sich den Personalausweis zeigen lassen.«

Rodenstock zeigte eines seiner Zauberkunststückchen. Er wählte wieder mit großer Sicherheit eine lange Telefonnummer, wartete einen Moment und erklärte dann: »Hier ist Rodenstock, der Bulle. Grüß dich, mein Lieber. Ich nehme an, du hockst noch immer im Einwohnermeldeamt, oder?« – »Gut, dann nehme ich weiter an, du hast die Liste der Wuppertaler auf deinem Heimcomputer.« – »Auch gut. Ich brauche Hilfe bei einem Mann namens Boll, Vorname Manfred, hat seinen Wohnsitz in deiner schönen Großgemeinde und ist von Beruf Botaniker.« – »Nein, es geht um einen Doppelmord, ich habe mich selbst reaktiviert.« – »Also, Manfred Boll, Botaniker. Hast du noch diese aufregende Frau?« – »Zu Ende? Wieso gehen Beziehungskisten immer so schnell zu Ende. Ihr streitet nicht um Fortsetzung, ihr jungen Leute.« – »Richtig. B-o-l-l.« – »Ja? Wie bitte? Das ist aber komisch. Vor fünf Jahren?« – »Du sagst es. Ja, und vielen Dank für deine Hilfe.« – »Ja, natürlich kannst du einen Vermerk machen.«

Rodenstock schob das Handy in die Tasche seines Jacketts. »Wir können weiterfahren«, murmelte er.

Als ich an Betteldorf vorbei mit Vollgas die langgestreckte Rechtskurve anging, bemerkte ich säuerlich: »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Güte hättest, etwas von deinem unvergleichlichen Wissen an mich weiterzugeben.«

Er war ganz versunken, in Gedanken sehr weit weg und zuckte zusammen. »Natürlich«, entgegnete er hastig. »Also, es gab einen Manfred Boll, Botaniker, in Wuppertal. Aber der ist vor fünf Jahren gestorben. Und einen anderen mit dem gleichen Namen gibt es nicht.«

»Also sollten wir den Waldfreak unter die Lupe nehmen.«

»Du sagst es. – Halt doch einfach bei den Vulkanstuben, wir können Emma sagen, daß wir dort sind. Ich habe Hunger.«

Während ich auf den Parkplatz glitt, gab Rodenstock Emma Bescheid.

»Sie kommt gleich«, sagte er. »Wer mag dieser Manfred Boll sein, der nicht Manfred Boll ist?«

»Vielleicht der Mörder«, überlegte ich. »Und inzwischen ist er über alle Berge.«

Wir hatten Glück, das Haus war bereit, uns mit einem Salat und warmen Putenbruststreifen zu versorgen, gekrönt mit dem guten Dressing des Meisters. Wir bestellten gleich drei Portionen.

Als Emma hereingekommen war, bemerkte sie: »Ihr seht beide aus wie zwei trübe Tassen. Wieso?«

»Weil wir gerade erfahren haben, daß ein Toter durch den Kyllwald streift, in einem Ein-Mann-Zelt unter Bäumen schläft und an einem Buch über Waldblumen in der Eifel schreibt.« Ich gähnte.

»Ei der Daus!« rief sie hell und sehr holländisch. »Ich habe Zeitung gelesen. Zwei Frauen, eh?«

»Und es sieht trist aus«, sagte Rodenstock mißmutig. »Es könnte ein Auftragsmord gewesen sein.«

Emma hob theatralisch den rechten Arm und den Zeigefinger. »Wenn es um Morde geht, ist ein Mörder nicht weit!« sagte sie.

»Für den Spruch kriegst du drei Tage frei«, sagte ich.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie spöttisch. »Hat Dinah dich erreicht?«

»Oh, oh«, mahnte Rodenstock schnell.

»Hat sie nicht«, sagte ich einigermaßen gefaßt. »Wollte sie?«

»Sie wollte«, nickte Emma. »Es geht ihr nicht so gut.« Sie betrachtete mich aufmerksam. »Ich weiß, daß dir das im Moment gar nicht paßt, aber sie ist nun mal meine Freundin, und ich vertrete ihre Interessen.«

»Laß mich einfach in Ruhe«, sagte ich ohne jede Betonung. »Versuch nicht zu kuppeln und versuch auch nicht, von Weisheit durchtränkt, all die menschlichen Schwächen zu trivialisieren. Sie hat mich beschissen, und damit basta. Und glücklicherweise ist sie anschließend gegangen.« Ich hörte mir erstaunt selbst zu. »Bestell ihr also schöne Grüße, und sag ihr, ich hätte im Augenblick keinen Termin frei.«

»Wow!« sagte Rodenstock trocken.

Emma preßte die Lippen fest aufeinander. »Glaubst du, du kannst das mit links erledigen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Aber du solltest dich raushalten, dich mag ich nämlich sehr.«

»Das ist doch schon was«, erklärte sie spitz. »Sag mal, Rodenstock, erzählst du mir die Geschichte der beiden toten Frauen?«

»Aber ja«, nickte er. Er wartete, bis er seinen Salat bekommen hatte, bestellte ein zweites Bier und konzentrierte sich. Er vergaß nicht die geringste Kleinigkeit und referierte nahezu monoton. »Mit anderen Worten, sie hat sich von einem Taxi in die Eifel fahren lassen, und kein Mensch weiß, warum. Weiß man denn, weshalb Mathilde Vogt durch den Wald pirschte?«

»Bei Cherie hast du recht, über Mathilde Vogt wissen wir noch zu wenig. Das kommt noch, hoffe ich.« Er erledigte den letzten Streifen Putenbrust und ging daran, eine seiner Brasilzigarren anzuzünden.

»Ich würde gern mit dem Ehemann der Vogt einen Termin machen«, schlug ich vor.

»Und ich würde mir gern die Wohnung der Cherie in Düsseldorf ansehen«, murmelte Emma.

»Wenn man sich was wünschen darf, dann hätte ich gern den Botaniker Manfred Boll aus Wuppertal. Vielleicht kann er uns darüber aufklären, wieso er vor fünf Jahren gestorben ist. In der Regel nimmt man an der eigenen Beerdigung teil.« Rodenstock qualmte mächtig vor sich hin, und als Gegenwehr stopfte ich mir die uralte Commodore von Oldenkott und stank gegen ihn an.

»Mein Gott, sind das Nebelwerfer!« sagte jemand an der Theke laut.

Unsere Unterhaltung erstarb, wir zahlten und verdrückten uns.

Rodenstock und Emma erklärten lapidar: »Wir verziehen uns« und verschwanden in ihrem Zimmer.

Ich stand am Fenster im dunklen Schlafzimmer und starrte hinaus auf den Teich. Nach einer Weile machte ich Willi, Paul und Satchmo aus. Ich dachte: Ich habe sie vernachlässigt, und ging hinaus in den Garten. Dort legte ich mich auf die Hollywoodschaukel und schaute in den Himmel. Dann kamen sie, ließen sich auf meinem Bauch nieder und schnurrten um die Wette, bis sie einzuschlafen drohten. Im letzten Moment hüpften sie hinunter ins Gras und suchten sich dort einen Platz. Zuweilen sind Katzen in Beziehungskisten seltsam spröde. Irgendwann schlief ich ein.

Ich wurde wach, als Emma sagte: »Schimpf bitte nicht, aber ich möchte Frieden mit dir schließen.« Dann baute sie ein Frühstück mit Eiern, Speck und Kaffee vor meiner Nase auf.

»Das ist Erpressung«, nörgelte ich.

»Selbstverständlich«, nickte sie. »Es ist elf Uhr, und du bist ein fauler Hund.«

»Es ist was? Elf? Um Gottes willen, ich müßte längst unterwegs sein.«

»Unterwegs wohin? Die Leichen laufen uns nicht weg. Rodenstock hat das Badezimmer unter Wasser gesetzt und singt ganz furchtbare Lieder aus irgendwelchen Wiener Operetten.«

»Wenn du mir jetzt einen Kaffee eingießen würdest, brauchte ich meine Augen nicht aufzumachen. Und dann würde ich gern erfahren, welcher Wochentag heute ist.«

»Es ist Freitag«, sagte sie. »Um die Mittagszeit sollen es 37 Grad werden, hat eben der Südwestrundfunk behauptet. Und in den Nachrichten haben sie gemeldet, daß Mathilde Vogt im zweiten Monat schwanger war und daß ihr Ehemann vorsorglich wegen seines Schockzustandes in eine Klinik in Wittlich eingeliefert wurde.«

»Ich muß Matthias anrufen«, meinte ich.

»Wer, bitte, ist das nun schon wieder?«

»Ein Psychiater und Freund. Oder nein, ein Freund und ganz nebenbei auch noch Psychiater. Ich möchte etwas über Jäger wissen.«

»Du werkelst an einem Profil, nicht wahr?«

»So kann man das nicht ausdrücken, ich bin ein Laie, ich erstelle keine Täterprofile.«

»So ist es recht«, nickte Emma und stellte den Becher mit Kaffee genau vor meine Nase. »Immer hübsch bescheiden. Ich hole das Telefon.«

Als sie zurückkehrte, hatte ich immerhin zwei Schluck Kaffee getrunken und konnte mich als weiß, männlich und ungefähr fünfundvierzig Jahre alt definieren. Und mein Name war mir eingefallen.

»Hör zu, du Seelenkenner«, begann ich, als ich Matthias in der Leitung hatte. »Ich möchte etwas über Jäger wissen. Was treibt sie dazu, Tiere abzuschießen? Ist es ein Mächtigkeitsfimmel? Hat es neurotische Strukturen?«

Matthias überlegte eine Weile. »Da würde ich vorsichtig sein. Was, bitte, ist neurotisch? Vergiß nicht, daß das eine Definitionsfrage ist. Es ist so, daß die meisten Menschen den Jägern einen starken Tötungstrieb unterstellen. Aber man muß sagen, daß die meisten Menschen in diesem Punkt irren. Jäger sind sehr nette Leute, wenigstens aus meiner Sicht. Sie betrachten Hege und Pflege im Wald als ihre ureigenste Aufgabe.«

»Hat das auch mit der Stellung als Familienchef zu tun?«

»Durchaus«, antwortete er. »Jäger fühlen sich verantwortlich, was in dieser Gesellschaft im Grunde sehr wünschenswert ist, weil diese Form von Verantwortung ganz allgemein verloren geht. Jäger sind also im allgemeinen Familienmenschen. Natürlich gibt es garantiert auch welche unter ihnen, die hemmungslos der eigenen Allmacht frönen, die mit Lust töten. Aber für die meisten trifft das eben nicht zu. Es ist eine subtile und sehr kontrollierte Art, Ordnung zu schaffen, Übersicht zu beweisen und letztlich auch zu töten, wenn es dem Wald und dem Leben dort dient. Ich nehme an, du recherchierst die beiden Morde an den Frauen im Salmwald.«

»So ist es. Weißt du etwas darüber?«

»Wahrscheinlich nicht so viel wie du. Jemand im Fernsehen oder im Hörfunk hat gesagt, daß es sich vermutlich um eiskalte Hinrichtungen handelte. Und das läßt eigentlich nur zwei Tätertypen zu.«

»Ich höre«, sagte ich, plötzlich aufgeregt.

»Typ Nummer eins will ich den Rächertyp nennen. Er ist jemand, der gottgleich richtet und absolut nicht fragt, ob er sich irren könnte oder ob er überhaupt ein Recht zu einem solchen Schritt hat. Er betrachtet sich vermutlich als Sendbote, der das Böse hinrichtet, hinrichten muß. Angesichts der ja wohl wunderschönen Cherie kein Wunder.«

»Also ist sein Handeln krank?«

»Vorsicht mit dem Begriff krank! Wir mögen das so bezeichnen, aber es kommt zunächst allein darauf an, wie er sich sieht. Und er sieht sich nicht krank, im Gegenteil: Er sieht sich als Einzigen mental vollkommen gesund in einer Umgebung von Kranken, die moralische und ethische Werte nicht mehr beachten.«

»Und der zweite Tätertyp?«

»Der Kühle«, erläuterte Matthias sachlich. »Ein kühler Killer. Schwer zu fassen, weil er sich perfekt verbirgt ...«

»Moment, verbirgt sich der Rächertyp denn nicht?«

»Doch, unbedingt, wenngleich wahrscheinlich niemand auf die Idee kommen würde, daß er es ist. Der zweite Typ auf jeden Fall verbirgt sich perfekt. Er lockt diese Cherie in die Eifel. Ich wette sogar, daß er das ganz undramatisch machte. Er behauptet nicht so Sachen wie: Deine Oma ist tot! Statt dessen sagt er einfach: Wir müssen dringend miteinander reden. Eben kühl. Wie ein Steuermann, der zwischen Felsklippen die Ruhe wahrt. Das wird eine schwere Nuß für dich.«

»Haben die Täter unterschiedliche Familienhintergründe?«

»Ja, auf jeden Fall. Der Rachetyp wird verheiratet sein, sehr konservativ, sehr strikt, sehr, sehr Macho. Der kühle Typ wird ebenfalls verheiratet sein. Aber im klassischen Sinn nicht als Familienoberhaupt. Das interessiert ihn nicht sonderlich, aber wahrscheinlich interessiert ihn Geld. Von Geld war bisher keine Rede, aber konzentriere dich auf die Suche danach.«

»Was ist mit Vorstrafen?«

»Bei beiden würde mich das wundern. Beide Typen haben die Erfahrung gemacht, daß man sich gegen das Gesetz vergehen kann, ohne bestraft zu werden. Steuerhinterziehung wäre typisch, illegale Preisabsprachen, so etwas in der Richtung.«

»Und das Alter?«

Matthias schwieg eine Weile, sammelte sich. »Auf den ersten Blick würde ich nach allem, was ich weiß, bei beiden Tätern auf ein Alter von über fünfzig Jahren tippen. Die Art der Hinrichtung verrät Erfahrung, Lebenserfahrung. Insbesondere der Schuß auf diese Vogt aus relativ großer Entfernung. Der Rächertyp könnte unter Umständen auch jünger sein; derartige Obsessionen sind auch in jüngeren Lebensjahren möglich. Allerdings verrät die technische Durchführung große Erfahrung mit Schußwaffen. Der Mann kann nicht unter vierzig sein und ...«

»Moment, bitte. Könnte denn dieser Unbekannte ein Großstadttyp sein?«

»Durchaus. Aber wenn er aus einer Großstadt kommt – ich nehme an, du spielst auf Düsseldorf an – dann ist er jemand, der sich oft im Wald aufhält. Die Verbrechen deuten an, daß der Täter den Wald kennt, insbesondere das Umfeld der Tatorte. Sowohl der Rächertyp wie der absolut Kühle sind sehr flexibel, können sich anpassen. Du mußt bei beiden Typen auf einen Punkt achten: Beide sind mit Sicherheit in leitender Position, besitzen entweder Unternehmen oder regieren ein Unternehmen. Das ist eindeutig.«

»Kann es sich auch um eine Frau handeln?«

»Unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich.«

»Meinst du, der Täter macht weiter?«

»Unbedingt. Der kühle Typ aus sachlichen, wahrscheinlich gut begründbaren Motiven. Bei dem Rächertyp würde ich sogar ein Massaker nicht ausschließen. Er kann jederzeit in eine offenliegende Psychose gleiten, also total durchdrehen.«

»Noch etwas, du Seelenheiler. Besteht die Möglichkeit, daß die Tatorte vorher ausgesucht wurden?«

»Ja. Der Coole wußte auf den Zentimeter genau, wo er zuschlagen würde. Der Rächertyp ist in dieser Beziehung nicht so präzise, aber immerhin genau genug, um es durchzudenken.«

»Spielt Frauenhaß eine Rolle?«

»Beim coolen Typ nicht, denn er hat eine Motivation, die er sachlich hinnimmt und deren Folgen er durchzieht. Der Rächertyp wird Frauen hassen. Er wird sie hassen, weil er sie fürchtet. – So, jetzt muß ich aber zurück zu meinen Patienten. Mach es gut, mein Lieber.«

»Ich danke dir«, sagte ich.

Ehe ich dann mit Emma ins Haus ging und ihr und Rodenstock erzählen konnte, was Matthias gesagt hatte, rief ich Kischkewitz an und erklärte ihm, was wir über diesen seltsamen Botaniker namens Manfred Boll herausgefunden hatten.

»Wie bitte?« fragte er schrill. »Wir haben den doch mittlerweile aufgetrieben. Er ist mit einem uralten Opel Caravan unterwegs, der in München auf den Namen Manfred Boll angemeldet ist. Also, irgend etwas stimmt da wirklich nicht.«

»Das ist aber sehr vorsichtig ausgedrückt«, murmelte ich. »Wo erfahren wir Einzelheiten über Mathilde Vogt?«

»Lesen Sie den Trierischen Volksfreund«, lachte Kischkewitz. »Die wissen alles. Ob sie alles schreiben, ist eine andere Sache. Nein, Quatsch, Sie können unsere Pressemitteilungen haben. Ich faxe sie Ihnen. Alles, was fehlt, können Sie dann mich fragen. Okay?«

»Okay. Und dieser Boll, wo ist der jetzt?«

»Nach München zurück, denke ich mal. Er sagte, er schreibt ein Buch über irgendwelche Blumen. Ich selbst habe nicht mit dem gesprochen. Das hat ein junger Kollege gemacht. Boll hat wohl erzählt, er sei wohnhaft in Wuppertal, aber gegenwärtig an irgendeinem Institut in München tätig. Das alles klang einleuchtend. Und Manfred Boll ist vor fünf Jahren gestorben? Na, prima. Das hat gerade noch gefehlt, daß wir es mit Zombies zu tun haben. Wie nennt man diese Typen? Untote, glaube ich. Klasse, so einen Fall wollte ich immer schon mal bearbeiten. Werden Sie ihn suchen?«

»Muß ich wohl«, entgegnete ich.

Rodenstock setzte nach wie vor mein Badezimmer unter Wasser, und ich reichte ihm sein Handy rein: »Boll hat einen auf seinen Namen lautenden Opel Caravan in München angemeldet. Also steht er dort möglicherweise auch in der Einwohnerliste.«

»Also, gut«, sagte er und riß mir das Handy aus der Hand. Ohne Frage hatte er auch in München einen Spezi, der ganz legal in die Datennetze marschieren konnte. Und mit Sicherheit hatte Rodenstock dessen Telefonnummer im Kopf.

Wenig später kam Rodenstock splitterfasernackt in das Wohnzimmer marschiert und äußerte zerknautscht: »Den Kerl müssen wir unbedingt kennenlernen. Er hat den Wagen tatsächlich ordentlich in München zugelassen. Auf den Namen Manfred Boll. Er hat seine Adresse mit Allacher Straße Nummer 13 angegeben. Das Merkwürdige ist nun, daß in der Allacher Straße 13 kein Manfred Boll wohnt. In ganz München wohnt kein Manfred Boll im Alter um die Dreißig. Aber das ist nicht das Aufregendste.«

»Du wirst uns mit deinem köstlichen Wissen benetzen«, sagte Emma nach einer Weile.

»Wie? Wieso? Ach so. Ach ja. Diese Informationen stammen aus einem Computer, der unfehlbar auf die eigenen Fehler hinweist. Das bedeutet: Wenn jemand ein Auto anmeldet und seine Adresse in München angibt, aber tatsächlich nicht in München wohnt, dann sagt der Computer nach einem Abgleich nach wenigen Sekunden: Halt! Stop! Fehler! Und genau das tut der Computer im Fall unseres Manfred Boll nicht.« Rodenstock blickte an sich herunter, stellte offensichtlich fest, daß er nackt war, runzelte die Stirn und eilte im Geschwindschritt hinaus.

»Passiert ihm so etwas öfter?« fragte ich.

Emma lachte. »Sei froh, er ist hier zu Hause.« Und nach einer Weile: »Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich, daß er hier mehr zu Hause ist als zu Hause. Vielleicht müssen wir die Mosel aufgeben und hier etwas kaufen oder mieten.«

»Und was willst du? Ich meine, lebst du lieber hier oder an der Mosel?«

»Ich lebe da, wo er lebt«, sagte sie einfach. »Das ist nicht wortreich begründbar, aber so ist es. Wir Frauen lernen das seit vielen Jahrhunderten so und irgendwie hat unser Unterbewußtsein es geschafft, daß es stimmt. Also, wozu soll ich das diskutieren ...«

»... aber du diskutierst es gerade mit dir selbst«, unterbrach ich sanft.

»Das ist richtig.« Sie lachte wieder leise und sehr kehlig. »Ich finde mich schon komisch, weißt du, wenn ich so großartige Weisheiten über Männer und Frauen absondere und gleichzeitig weiß, daß ich Stuß rede. Reduzieren wir das Problem, das keines ist, mal auf die Holländerin Emma: Ich würde immer dort leben wollen, wo Rodenstock sich zu Hause fühlt. Wenn Alice Schwarzer mich jetzt hören würde, könnte sie wütend werden. Und ich würde antworten: Mädchen, halt die Klappe, ich liebe diesen Mann!« Eine Sekunde lang hatte sie den breiten Mund eines traurigen Clowns, der mit den Tücken des Lebens nicht zurechtkommt. »So, Siggi Baumeister, und was treiben wir jetzt?«

»Wir werden diesen Manfred Boll suchen.«

»Ich denke, der hat sich nach München verpieselt.«

»Sagt man. Doch ich glaube es nicht. Ich glaube auch nicht, daß er ein harmloser Blumensammler ist. Ich glaube gar nichts mehr. Und wahrscheinlich ist Rodenstock meiner Meinung.«

Weil er gerade zur Tür hineinkam, fragte Emma: »Bist du der Meinung, daß wir den Blumensammler auftreiben sollten?«

»Unbedingt. Das ist wichtig. Die Frage ist nur, wo wir ihn finden. Die Eifel ist groß und wild.«

Ich holte eine Reliefkarte des betreffenden Gebietes und pappte sie an die Wohnzimmerwand. »Die einzige Achse, nach der wir uns richten könnten, ist die Straße von Gerolstein über Birresborn, Mürlenbach, Densborn, Zendscheid, St. Thomas, Kyllburg – eine Nord-Süd-Achse. Links davon liegt der Staatsforst Salmwald, rechts der Staatsforst Gerolstein. Die Morde sind also streng genommen nicht im Salmwald verübt worden, sondern im Staatsforst Gerolstein. Das ganze Gebiet hat den Namen Kyllwald, weil es sich rechts und links der Kyll, und damit der Talstraße, erstreckt. Wenn ihr euch das anseht, dann wißt ihr, daß wir ohne Hilfe nicht weiterkommen. In diesem Gelände könnte sich eine Armee verstecken, ohne entdeckt zu werden. Und wer hilft?«

»Der Wildhüter Stefan Hommes«, sagte Rodenstock sofort. »Ich rufe Berner an und laß mir die Nummer von Hommes geben.« Bevor er zur Tür hinaus ging, fragte er: »Irgendwelche Bedenken gegen Hommes?«

»Keine«, sagte ich.

Eine halbe Stunde später hatten wir uns mit Jeans, Turnschuhen und Holzfällerhemden der Natur ein wenig angeglichen und brachen auf.

Rodenstock erzählte: »Hommes wollte natürlich wissen, was wir mit Manfred Boll vorhaben. Ich habe gesagt, wir wollen nur etwas nachprüfen, aber Hommes hat meine Unschuld nicht geglaubt. Er muß jedoch schon länger diesen Boll direkt oder indirekt überwachen, weil er auf meine Frage, wo der denn stecken könne, wie aus der Pistole geschossen antwortete. Wir sollen auf der Talstraße an der Kyll entlang bis St. Thomas fahren. Dann geht es rechts hinauf nach Neidenbach. Nach ungefähr sechshundert Metern geht ein einigermaßen ausgebauter Waldweg nach links den Steilhang hoch, bis auf fast 500 Meter Höhe. Wir sollen den Wagen stehenlassen und zu Fuß gehen. Oben auf dem Bergrücken gibt es eine schmale Straße von Neidenbach nach Mohrweiler. Kurz bevor wir die erreichen, ist nach links ein scharfer Einschnitt im Wald. Da wird Boll sein. Meint Stefan Hommes.«

»Wir nehmen meinen Wagen«, entschied ich. »Eure Karren sind zu zierlich.«

»Ich verstehe da einiges nicht«, sagte Emma. »Wieso meint ihr, daß dieser Stefan Hommes Manfred Boll beschattet oder ausspioniert. Leidet ihr da nicht ein wenig unter Verfolgungswahn?«

»Daß Hommes den Boll beobachtet, dem liegen streng beachtete Berufsrituale zu Grunde, wenn ich das richtig kapiert habe. Da tobt ein Krieg im Geheimen, der manchmal skurril ist und manchmal einfach brutal. Und zwar die Wildhüter der Jagdherren gegen die staatlichen Forstbeamten. Die Jagdherren werden oft durch ihre festangestellten Wildhüter vertreten. Die Jagdherren haben in der Regel für viel Geld pro Jahr die Jagd gepachtet, unterstützen Vereine in den Gemeinden, die örtliche katholische Bibliothek und so weiter. Da fällt auch schon mal ein halbes neues Kirchendach ab, da wird der Ortsbürgermeister in seinem Amt unterstützt ...«

»Moment mal«, unterbrach mich Emma. »Wem gehört der Wald denn eigentlich? Er gehört doch nicht den Jagdherren, oder?«

»Nein. In der Eifel ist in der Regel die Jagdgenossenschaft Eigentümer. Die Genossenschaft wiederum ist die Versammlung der Waldeigentümer. Das können Bauern sein, aber auch Privatleute, die durch Erbschaft an ein Stück Wald gekommen sind, das kann die Gemeinde selbst sein, aber auch ein Vertreter der jeweils örtlichen Staatsforste. An diese Genossenschaft richten die Jagdherren ihre Angebote, und die Genossenschaft sucht sich den Menschen als Pächter aus, der ihr am meisten bringt. Es geht also einfach um Geld. Damit ist die Seite der Jagdpacht zunächst erledigt, und das Normale ist, daß der Jagdpächter, wenn er sich gut mit der Genossenschaft verträgt, über Jahre hinweg die Pacht immer wieder bekommt, bis er das Interesse verliert und ein anderer an seine Stelle rückt. Damit die Jagdherren ständig im Forst vertreten sind, kommen die Wildhüter ins Spiel, die die Interessen der Pächter vertreten. Und die Wildhüter bolzen nun auf die staatlich bestellten Förster. Es gibt hier einfach automatisch große Differenzen in den Interessen. Der Jagdpächter will in der Regel gut jagen können, der Wildbestand soll so hoch wie möglich sein, so daß er seinen Geschäftsfreunden eine breite Palette Abschüsse bieten kann. Dafür zu sorgen, das ist die Aufgabe seines Wildhüters. Ein Förster aber hat ganz andere Aufgaben. Vom Holzeinschlag über die Anpflanzung junger Bäume muß er immer auch im Kopf haben, daß der Forst eine möglichst gewinnbringende wirtschaftliche Unternehmung ist. Der Förster muß unter anderem auch das Waldwegnetz erneuern und instand halten. Und weil Wild, nahezu alles Wild, junge Bäume frißt, also verbeißt, ist für den Förster zuviel Wild eine regelrechte Plage. Es zwingt ihn dazu, Anpflanzungen einzuzäunen, doch der Jagdpächter haßt diese Einzäunungen, weil sie sein Jagdgebiet zerstückeln. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß in deutschen Wäldern genügend Zäune stehen, um zwei- oder dreimal die Erde zu umrunden.«

»Und wer gewinnt in der Regel?« fragte Rodenstock.

»Die Position der Jäger ist stärker, weil sie in der Regel das Geld haben und mit diesem Geld sehr viel Druck auf Ortsbürgermeister und Bürgermeister ausüben. Selbstverständlich muß der Jagdherr dem zuständigen Forstamt alle Verbißschäden entschädigen. Und das ist der nächste Punkt im erbitterten Streit, denn eigentlich will kein Jagdpächter jährlich Tausende löhnen, weil seine Rehe an Schößlingen herumknabbern.«

»Und dieser Stefan Hommes ist also der Wildhüter des reichen Julius Berner?« fragte Emma.

»So isses«, nickte ich. »Nach meiner Kenntnis gibt es Wildhüter, die schlichtweg den Napoleon-Komplex pflegen. Es hat einen Fall gegeben, in dem ein Wildhüter viel benutzte Waldwege einfach abgesperrt hat, um zu zeigen, wie mächtig er ist. Daraufhin haben wütende Bauern dem Wildhüter jeden Tag die Reifen seines Autos zerstochen. Bis der Wildhüter dann aus dem Wald kam und einen gebrochenen Unterkiefer hatte. Am nächsten Sonntag morgen nach der Messe hat er ein Bier mit dem getrunken, der ihm den Unterkiefer gebrochen hatte. Der Wildhüter wußte: Wenn ich so weitermache, werde ich bald keinen heilen Knochen mehr im Leib haben. Selbstverständlich haben auch die Förster subtile Formen des Widerstandes entwickelt. Wenn zum Beispiel sich Jäger aus gesellschaftlichen Gründen, sprich: um zu saufen, im Wald zusammenfinden, dann schreit der Förster schon mal nach der Polizei, weil die Autos der Jäger wie an einer Schnur aufgereiht auf einem Feldweg geparkt sind. Das dürfen die aber nicht, also bekommt jeder sein Knöllchen und hält sich vierzehn Tage fern. Dann fängt das Spiel von vorne an. Es ist immer was los, und es geht richtig spießig-ekelhaft zu. Jeder hat recht, und der andere ist immer das Schwein. Wenn also Stefan Hommes den Botaniker Manfred Boll kontrollierend im Auge behält, dann tut er nur seine Pflicht. Schließlich muß er sich selbst beweisen, daß er alles weiß, was im Revier seines Brötchengebers vor sich geht. So, jetzt habe ich genug geredet, und umfassendere Kenntnisse kann ich euch nicht vermitteln. Es ist nur das, was ich im Laufe der Jahre als Eifelbewohner mitgekriegt habe. Vielleicht sollten wir einen Hirsch interviewen.«

»Also zahlt der Jagdpächter die Pacht an die Jagdgenossenschaft?« vergewisserte sich Emma.

»Richtig. Und die leitet die Gelder dann anteilig an die Waldbesitzer weiter.«

»Welcher Jagdpächter wäre denn nun ideal?« fragte Rodenstock.

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich der, der die Eifel aufrichtig mag und nicht bloß zum Schießen zu Gast ist. Den lieben zumindest die Leute auf jeden Fall am meisten.«

»Gibt es viele Jägerinnen wie die Mathilde Vogt?«

»Nein, auf keinen Fall. Sie sind selten, und die meisten von ihnen standen als Ehefrauen wohl vor der Frage, ob sie, um die Ehe lebenswert zu machen, ihrem Mann in die Jagd folgen sollen. Sie haben sich so entschieden. Die Regel ist aber immer noch, daß die Ehefrauen sich raushalten; Jagd ist eine Männerdomäne.«

»Sag mal, könntest du auf ein Tier schießen?« fragte Rodenstock.

»Nein«, erwiderte ich. »Wozu auch? Ich kaufe meine Würstchen, ich mache sie nicht.«

Ich zog den Wagen über die Bahnbrücke in Gerolstein. Es war sehr heiß, obwohl ich die Kaltluft voll aufgedreht hatte. Das Hemd klebte mir am Rücken, Rodenstock wischte sich einmal pro Kilometer den Schweiß aus dem Gesicht. Nur Emma strahlte unbewegt vornehme Kühle aus, ein Mädchen aus gutem Haus schwitzt einfach nicht.

»Da ist eine Tankstelle, da gibt es Eis am Stiel«, bemerkte Rodenstock plötzlich.

Also hielt ich an, damit er sich versorgen konnte. Rodenstock kam mit einem ganz glücklichen Jungengesicht zurück und überreichte feierlich jedem von uns ein Eis. Dummerweise ließ ich mich darauf ein, und schon in Höhe der Burg Lissingen tropfte die Pampe langsam, aber beharrlich auf das Lenkrad, auf meine Hose und letztlich auch über meine rechte Hand. Spätestens in Birresborn hatte ich das gesamte Cockpit verklebt, und Rodenstock grinste schäbig.

Das Wochenende lag vor uns, und die Zahl der durch die Eifel rollenden Holländer, Belgier und Luxemburger war beeindruckend. Beeindruckend auch der hohe Anteil der Süddeutschen aus dem Stuttgarter und dem Münchner Raum, wobei die Münchner eine Arroganz zur Schau stellten, als hätten sie ein Abonnement auf Gehirnlosigkeit im feindlichen Ausland. Aber wahrscheinlich war das nichts als hinterhältige Tarnung.

»Ich frage mich, ob sie Berner in die Mangel nehmen werden«, murmelte Rodenstock.

»Wieso?« fragte ich.

»Weil er der Verdächtige Nummer eins ist, ganz einfach. Ich weiß, er hat ein wasserdichtes Alibi. Aber könnte das nicht der Hommes für ihn erledigt haben? Oder ein Fremder? Bis zum Gegenbeweis bleibt er der Verdächtige Nummer eins. Fragt sich nur, was die Mordkommission daraus macht.«

»Eurer Meinung nach ist er aber unschuldig«, mahnte Emma.

»Dazu stehe ich«, nickte Rodenstock.

Unsere Unterhaltung erstarb, es war einfach zu heiß. In St. Thomas bog ich in der Ortsmitte scharf nach rechts ab und fuhr das enge Tal des Heilbaches hoch in Richtung Neidenbach. Es ist eine hinreißende Landschaft, die in tiefen Wäldern schwelgt und ganz still ist. Unten an der Kyll war der Verkehr rege gewesen, hier war buchstäblich nichts los.

»Caspar David Friedrich hat solche Wälder gemalt«, sagte Emma sinnend. »Natürlich in der politischen Absicht, den deutschen Wald zu verherrlichen.«

»Das hat Herr Göring zur Hitlerzeit auch getan.« Ich konnte mir das einfach nicht verkneifen. »Ihm verdanken die Jäger ein gut Teil ihres schrecklich überladenen Brauchtums. Und die Waschbären verdanken wir ihm wohl auch. Der Schweinehund zelebrierte die Herrenrasse als Jagdgesellschaft.«

»Amen«, sagte Rodenstock. »Da ist der Weg.«

Ich schaltete auf Vierradantrieb um. Langsam und beharrlich ging es den Wald hinauf. Der Höhenmesser zeigte zweihundert Meter an, als ich den Wagen zwischen die Bäume lenkte und sagte: »Schluß jetzt. Auf, auf zum fröhlichen Jagen.«

»Müssen wir uns jetzt anschleichen wie die Indianer?« fragte Emma.

»Warum das?« fragte Rodenstock. Dann klagte er: »Ich schwitze jetzt schon wie ein Ferkel. Wie wird das erst nach zehn Metern sein?«

Wir folgten dem Weg bergan, gingen leicht vornübergeneigt, wie das Bergbewohner so tun. Und wir sprachen nicht miteinander, was nicht gerade für das Volumen unserer Blasebälge sprach.

Nach etwa einer Viertelstunde sahen wir den dunkelblauen Mercedes GD 300 in der Randzone einer Weißtannenschonung stehen. Der Fahrer hatte ihn sehr geschickt geparkt, so daß wir ihn vom Auto aus wahrscheinlich gar nicht gesehen hätten.

»Stefan Hommes«, Rodenstock hatte eine vor Verwunderung helle Stimme. »Sieh einer an. Und wo ist er?«

»Vermutlich bei dem Botaniker, oder?« sagte Emma. Sie war die entschieden Fitteste von uns, sie atmete nicht einmal schneller.

»Richtig«, nickte ich. »Hommes wollte ihn sowieso fragen, wo er gelernt hat, sich so lautlos zu bewegen. Also weiter.«

Wir hatten es nicht mehr weit, nach zwei Wegkehren befand sich rechter Hand etwa fünfzig Meter waldeinwärts eine kleine Lichtung, deren Ränder mit Adlerfarn besetzt waren. Dazwischen Buschbirken und junge Vogelbeerbäume, die leuchtend rot ihre Zeichen setzten.

»Der Botaniker hat aber Geschmack«, murmelte Rodenstock und blieb stehen, um diese Lichtung zu bewundern.

»Still«, zischte Emma. Sie griff irgendwohin und hatte plötzlich einen 38er Colt Special in beiden Händen. Sie bedeutete uns mit einer Handbewegung, stehenzubleiben und in die Hocke zu gehen. Dann wischte sie nach rechts unter einige Eichen und von dort aus in einem weiten Bogen um den rechten Halbkreis der Lichtung.

»Oh, verdammte Scheiße!« flüsterte Rodenstock. »Sieh mal den alten Buchenstamm vor uns. Oh, nein!«

Jetzt sah ich es auch. Mit dem Rücken zu uns saß an dem modernden Stamm der Buche ein Mann. Er bewegte sich nicht, sichtbar war nur sein Kopf.

»Nicht schon wieder«, stöhnte ich matt.

»Pst«, zischte Rodenstock.

Emma war verschwunden.

Rodenstocks Zeigefinger wies senkrecht auf die Lichtung, und ich begriff, was er meinte.

Nach einer unendlich langen Zeit tauchte hinter einer Partie mannshohem Ginster Emma auf. Sie bewegte sich extrem langsam und hielt die Waffe immer noch in beidhändigem Anschlag. Sie ging breitbeinig, vermutlich weil sie im Bruchteil einer jeden Sekunde losspringen können wollte und bei jedem Schritt das Körpergewicht verlagerte, um die jeweils optimale Standfestigkeit zu haben.

Plötzlich veränderten sich ihre hochkontrollierten Bewegungen, und sie sackte zusammen. Dann rief sie erleichtert: »Er lebt noch« und stürzte nach vorn auf den Mann zu, der sitzend an der Buche lehnte.

Rodenstock war schon losgegangen, und es war typisch für ihn, daß er nicht wie wild auf seine Partnerin zustürmte, sondern den zweiten Halbkreis nach links um die Lichtung nahm, so, als wolle er sagen: Man kann nie wissen!

Aber da war niemand.

Der Mann an der Buche war Stefan Hommes. Sein Gesicht war wachsbleich, seine Augen geschlossen, eine Strähne seines dunklen Haares fiel in sein Gesicht. Er trug ein grünes Hemd, wie Förster es tragen. Dazu Bundhosen aus Wildleder, dicke Wollstrümpfe und kräftige Halbschuhe. Die langen Ärmel des Hemdes hatte er zweimal umgeschlagen, und das Blut an beiden Händen war bereits dick und schwarz. Seine Armbanduhr am linken Handgelenk war so blutverschmiert, daß ich zweimal hinsehen mußte, um sie überhaupt zu erkennen.

»Das Messer«, hauchte Emma etwas zittrig.

Der Schaft ragte ein paar Zentimeter rechts neben dem Schultergelenk aus dem Körper, von der Klinge war nichts mehr zu erkennen. Hommes mußte sehr viel Blut verloren haben; die ganze rechte Seite des Hemdes war dunkel.

»Wir können es nicht rausziehen«, stellte Emma kühl fest. »Kannst du den Mercedes holen?«

»Sicher«, sagte ich. »In seinem Schoß ist die Kette mit den Schlüsseln. Kannst du die abhaken?«

»Das geht«, nickte Rodenstock. »Jetzt keinen Fehler machen und nichts übersehen.«

Plötzlich atmete Hommes sehr ausgeprägt, es war fast ein Stöhnen.

»Wenn er zu sich käme, das wäre gut«, murmelte Emma. »Moment mal.« Sie legte zwei Finger auf die linke Halsschlagader, und es war sekundenlang still. »Kräftig«, teilte sie uns zufrieden mit, »sehr kräftig.«

Rodenstock drückte mir den Schlüsselbund in die Hand: »Hol den Wagen, hier kann sowieso kein Notarzt landen. Ich benachrichtige den ADAC-Hubschrauber. Er kann unten in St. Thomas warten.«

Ich rannte sofort los, und überraschenderweise ging mir auf der Strecke zu dem Mercedes die Luft nicht aus.

Ich fuhr zu der Lichtung hoch und dachte flüchtig: Wieso ist dieser Manfred Boll nicht hier? Wo sind denn sein Zelt und sein Opel Kombi? Er kann doch nicht ein Messer in Hommes rammen und sich dann verdünnisieren. Doch, dachte ich sofort, das kann er wohl!

Ich setzte den Wagen rückwärts um die liegende Buche herum, so daß ich mit der Hecktür unmittelbar neben Hommes stand. »Wir klappen die Sitze um und legen ihn auf die Ladefläche. Kommt der Hubschrauber bald?«

»Die sind schon in der Luft«, sagte Rodenstock nachdenklich. »Ist dir eigentlich an dem Messer etwas aufgefallen?«

»Ich bin kein Spezialist für Messer. Ich wundere mich, daß er nicht einfach zur Seite gekippt ist, daß er so aufrecht sitzt.«

»Er hat sich irgendwie mit dem Rücken festgepreßt«, meinte Emma. »Rodenstock sagt, es ist ein Profi-Wurfmesser, wie es die Leute im Zirkus verwenden, wenn sie eine schöne blonde Frau mit Messern umrahmen.«

Ich legte die Rückbank um und verankerte sie. Dann breitete ich Decken aus, es waren glücklicherweise welche da. Es gab zwei zusätzliche lose Polsterkissen, die als Kopfkissen dienen konnten.

»Und was bedeutet das?« überlegte ich laut.

»Das bedeutet, daß dieser Manfred Boll, der seit fünf Jahren tot ist, mindestens so gefährlich ist wie eine Horde wütender Kreuzottern«, antwortete Rodenstock. »Wenn wir Hommes anheben, müssen wir synchron arbeiten, sonst werden die Schmerzen für ihn unerträglich.«

Wir machten es so sanft wie möglich. Hommes wurde wach und stöhnte, war aber gleich darauf wieder bewußtlos.

»Ich nehme seinen Kopf in den Schoß«, sagte Emma. »Das ist sicherer.«

Ich mußte mich zusammennehmen, um nicht zu schnell und schlingernd den Berg herunterzufahren. Ich blieb im dritten Gang und gab erst Gas, als wir die Straße nach St. Thomas erreicht hatten. Der gelbe Hubschrauber stand diesseits der Kyll kurz vor der Mündung des Heilbaches.

»Vermutlich starker Blutverlust«, sagte Rodenstock zu dem Mann, der ein Schild Notarzt auf seine Jacke geheftet hatte. »Das Messer steckt noch. Vorsicht.«

»Komisch, diese Eifler«, der Notarzt schüttelte den Kopf. »Wie im Wilden Westen.«

Dann betteten die Sanitäter den Wildhüter auf die Trage. Nachdem sie ihn versorgt hatten, schoben sie die Trage auf die Schienen, und der Hubschrauber hob wieder ab.

»Sollen wir Berner den Mercedes bringen?« fragte Emma.

»Klar«, sagte ich. »Dann kannst du ihn auch mal unter die Lupe nehmen.«

 

Da Rodenstock von unterwegs Berner informiert hatte, öffnete er uns das Tor und erwartete uns in der Haustür.

»Ich habe mit dem Krankenhaus gesprochen«, berichtete er. »Die Ärzte meinen, Stefan geht es gut. Sie haben das Messer rausgeholt und ihn vernäht. Er bekommt Bluttransfusionen, er muß bei bester Kondition sein. Die Leute im Krankenhaus haben nur ein rechtliches Problem: Es handelt sich um eine schwere Körperverletzung, wahrscheinlich sogar um versuchten Totschlag oder versuchten Mord. Sie müssen das selbstverständlich anzeigen. Kommen Sie herein.«

»Das ist meine Gefährtin. Sie heißt Emma«, erklärte Rodenstock nebenbei.

»Aha«, nickte Berner freundlich und reichte ihr die Hand. »Die Polizistin aus den Niederlanden.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Emma erstaunt.

»Von Stefan«, gab er zur Antwort. »In der Eifel weiß man so etwas. Was hat sich denn im Wald abgespielt?«

»Keine Ahnung«, sagte Rodenstock und folgte ihm in den Flur. »Hommes hatte ein Wurfmesser in der Schulter und konnte keine Auskunft geben.«

Berner schaltete in dem großen Raum einige Strahler an und rief zweimal: »Lorchen! Lorchen!«

Die Frau, die erschien, war kugelrund und die Karikatur einer Haushälterin. Sie hatte so rote Backen wie ein Weihnachtsapfel, und sie trug ein kleines Schwarzes mit einer schneeweißen Spitzenschürze, dazu eine schneeweiße zierliche Haube auf dem grauen Haar.

»Lorchen sorgt für mich«, sagte Berner freundlich. »Lorchen, machst du ein paar Schnittchen und das Übliche? Vielleicht Wein und Bier und ein bißchen Sekt ...«

»Und, bitte, ein Wasser«, sagte ich.

»Na, sicher doch!« strahlte Lorchen. Vielleicht war sie fünfzig, vielleicht sechzig Jahre alt, vielleicht noch älter. Aber sie hatte mit Sicherheit einen der begehrtesten Jobs in der Region.

Emma starrte Berner angriffslustig an. »Haben Sie etwas dagegen, ein paar Fragen zu beantworten?«

»Nicht im geringsten«, sagte er lebhaft. »Fragen Sie.«

»Haben Sie jemals Cherie mit einem Gewehr oder einer Faustfeuerwaffe schießen lassen?«

Er runzelte die Stirn und antwortete: »Nein. Warum fragen Sie das?«

»Ich will mir ein Bild machen.« Sie lachte ihn so falsch an, daß es mir weh tat. »Das heißt, sie wollte mit der Jagd hier nichts zu tun haben?«

»Das ist richtig, das war nicht ihre Welt.«

»Was tat sie eigentlich hier im Haus, den lieben langen Tag? Hatte sie ein Hobby? Las sie gern und viel? Und wenn ja, was? Und hat sie jemals erzählt, was sie so eng mit dem zweiten Opfer, mit Mathilde Vogt, verband?«

»Das sind mindestens sechs Fragen«, bemerkte Berner trocken. »Ich fange mal hinten an, wenn es recht ist. Cherie und Mathilde hatten sich angefreundet. Zuerst hatte das den normalen, üblichen Umfang. Sie trafen sich hier oder bei Mathilde in Wittlich. Sie tranken einen Tee oder Kaffee oder was weiß ich, und wahrscheinlich kamen sie sich immer näher. Vielleicht waren sie verwandte Seelen, ich weiß es nicht. Ich war für Cherie froh, weil ich Mathilde mochte.«

»Was mochten Sie an Mathilde?«

»Sie ... sie war so erdgebunden, stand sehr fest auf dem Boden, hatte viel Humor. Sie war das, was man heutzutage mit dem furchtbaren Wort Powerfrau bezeichnet. Und sie war eine großartige Jägerin, die immer mehr für ganz reale Hege und Pflege war und nicht für all das erzkonservative Brauchtum bei den Grünröcken.«

»Hat Ihnen denn Cherie nie erzählt, worüber sie sich mit Mathilde unterhielt?«

»Nein«, sagte er. »Ich habe auch nie gefragt, ich kann solche Indiskretionen nicht leiden.«

»Ein anderes Thema«, fuhr Emma rasch fort. »Sie sind ein sehr reicher Mann. Sie besitzen viele Firmen, eine ganze Gruppe, wie ich gehört habe. Notwendigerweise gibt es in so einer Gruppe hin und wieder Schwierigkeiten. Haben Sie Cherie darüber informiert? Ich meine, hatte sie Kenntnisse von eventuellen geschäftlichen Schwierigkeiten?«

Er überlegte eine Weile. »Es mag Ihnen vielleicht unglaubwürdig erscheinen, aber ich hatte keine Geheimnisse vor ihr. Das ist es doch wohl, was Sie meinen, oder? Sie war sechsundzwanzig, aber sie war sehr erwachsen. Es hatte sich zwischen uns ein Vertrauensverhältnis gebildet, das ich extrem nennen möchte. Sie spürte sofort, wenn ich Ärger hatte oder Kummer. Wenn Sie also meinen, sie nahm mich alten Mann aus, muß ich Sie enttäuschen. Genau das tat sie nicht, sie fühlte sich mitverantwortlich, und sie ließ mich auch nicht in einem Loch hängen, wenn ich schlecht drauf war. Es gab keine wichtige geschäftliche Entscheidung, von der sie nicht wußte, denn ich hatte mir angewöhnt, mit ihr darüber zu sprechen. Ich habe versucht, sie von den geschäftlichen
Routine-Angelegenheiten fernzuhalten. Das ist einfach stinklangweilig. Aber von den wichtigen Geschäften kannte sie jedes, und sie kannte auch die jeweiligen Partner.«

»War das für Ihre Frau nicht schlimm?«

»Nein. Meine Frau ist ganz anders veranlagt. Sie hat nie im Geschäft mitreden wollen, weil sie das fade fand, weil es sie anödete. Im übrigen war und ist sie der Meinung, wir Männer seien im Geschäftsleben vollkommen verrückt.« Er lächelte müde.

»Dann eine letzte Frage: Es fällt auf, daß Cherie sich in ein Taxi gesetzt hat, um hierher in die Eifel zu fahren. Gibt es einen Menschen in Ihrem Umfeld, dem sie so vertraut hat, daß er imstande ist, sie hierher zu locken? Denn er muß sie ja so überzeugen, daß sie sofort in ein Taxi springt und kommt. Wer könnte das erreichen?«

Die Frage legte seine ganze Hilflosigkeit bloß. »Ich könnte das erreichen. Stefan natürlich auch. Sonst kenne ich niemanden.«

»Jemand aus der Clique?«

»Nein.« Berner schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz ausgeschlossen.«

»Narben-Otto?«

»Niemals. Der mischt sich nicht in Familienangelegenheiten ein.«

»Aber trotzdem hat jemand sie hierher gelockt, oder? Was ist mit Mathilde Vogt?«

»Das könnte sein, daran habe ich auch schon gedacht, aber das werden wir in diesem Leben nicht mehr klären können.« Mutlos warf er die Arme ein wenig vor auf die Oberschenkel. »Liebe gnädige Frau, wir beide werden das nicht klären können.«

Emma rasselte: »Ich bin nicht Ihre ›liebe gnädige Frau‹.« Das klang unangenehm.

Er sah sie gelassen an und schlug dann zurück: »Aber Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich Sie höflich behandeln möchte. Wir sind im Abendland, und ich bin konservativ.«

»Bingo«, konstatierte Rodenstock trocken. »Du mußt jetzt wirklich nichts mehr sagen.«

Emma kniff die Lippen zusammen und war beleidigt.

»Ich habe noch eine Frage in Richtung Narben-Otto«, sagte ich. »Ich habe ihn besucht, und es war sehr eindrucksvoll. Ich sagte schon, daß Sie ihm dort ein richtiges Paradies geschaffen haben. Wie haben Sie das durchdrücken können? Mit Hilfe eines Ortsbürgermeisters?«

»Ja. Ich habe die ganze Jagdgenossenschaft auf meine Seite gezogen und mindestens vier Ortsbürgermeister.« Berner lächelte. »Das war richtig Arbeit. Der Mann hat mir in Düsseldorf geholfen, als es mir gesundheitlich dreckig ging. Dann hörte ich, daß er vollkommen abgerutscht ist. Wir wissen alle, daß so etwas vorkommen kann. Also habe ich ihn da rausgeholt und ihm den Bauwagen hingestellt. Schwierig war nur, die Frischwassertanks durchzusetzen und den Stromgenerator aufzubauen. Sie können sich nicht vorstellen, was seitens der Forstbehörden für Hürden aufgebaut werden. Dabei stört das da oben niemanden.«

»Sehen Sie Narben-Otto oft?«

»Oh ja. Immer wenn ich hier bin. Er kommt hierher, oder ich komme zu ihm, und wir reden. Oft war Cherie dabei. Sagen Sie, Herr Rodenstock, können Sie mir als alter Praktiker etwas über ... also, ich meine, hat Cherie Schmerzen gehabt, als ... als sie die Kugel traf?«

»Nein«, erwiderte Rodenstock sachlich. »Sie kann nichts gespürt haben, sie war im Bruchteil einer Sekunde tot.«

»Das beruhigt mich«, murmelte Berner. »Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie leiden mußte. Lorchen hat da hinten die Happen aufgebaut. Bitte, bedienen Sie sich.«

»Ich glaube, wir müssen fahren«, sagte ich. »Wir haben schon zuviel Ihrer Zeit in Anspruch genommen.«

»Ich habe zur Zeit Zeit genug«, wiederholte er lakonisch. »Greifen Sie zu, essen Sie ein Metthäppchen mit Gurke. Das tut gut. Mit scharfem Senf aus Düsseldorf.« Er stand auf und ging schnell zu der Anrichte, er wollte uns wohl Mut machen. Er goß sich ein Bier ein und aß ein Brot. »Ich habe gedacht, ich könnte mich vielleicht besaufen. Aber das funktioniert nicht. Nichts funktioniert.«

»Wann kommt die Clique?« fragte Rodenstock.

»Sie wollen morgen gegen sechzehn Uhr hier sein. Wir wollen Kaffee trinken und an Cherie denken. Sie mochten sie sehr. Es wird wahrscheinlich eine schrecklich romantische Szene.« Dabei drehte er schnell den Kopf weg und schniefte.

»Dürfen wir auch kommen?« fragte Rodenstock.

»Wie ich sagte: Herzlich willkommen. Emma, was ist mit altem Gouda? Kann ich Sie nicht überreden?«

»Ich kann nichts essen«, entgegnete sie stocksteif. »Ich gieße mir einen Sekt ein.«

Sie tat es, und ich sah, wie ihre Hände zitterten.

Eigentlich nur, um Smalltalk zu machen, sagte ich grinsend: »Daß Sie für Narben-Otto die Frischwassertanks durchgesetzt haben und den Generator, das ist einsame Spitze. Aber wie haben Sie die Unmöglichkeit geschafft, den Flüssiggastank mitten im Wald deponieren zu dürfen?«

Berner bekam schmale Augen. »Moment mal. Flüssiggastank? Aber er hat doch gar keinen Flüssiggastank.«

»Sicher hat er einen«, sagte ich und war stolz, daß ich ihn wenigstens vorübergehend abgelenkt hatte.

Meine Sicherheit machte ihm zu schaffen. Knapp sagte er: »Moment mal, ich bin gleich wieder da.« Dann ging er hinaus.

Nach zwei oder drei Minuten kehrte er zurück und trug einen Aktenordner unter dem Arm. Er sagte geschäftig: »Also, der Narben-Otto ist mein persönlicher Schützling und wird aus meiner privaten Schatulle finanziert. Hier ist verzeichnet, was er von mir erhalten hat. Und Sie werden keinen Tank für Flüssiggas finden, Herr Baumeister. Ich wußte doch, daß Sie sich getäuscht haben müssen.«

Rodenstock wurde erst jetzt aufmerksam und starrte mich fragend an. Ich spürte auch Emmas Blick.

Ich tat interessiert und las die Rechnungen über sämtliches Zubehör in Ottos Paradies. Es gab keine über einen Flüssiggastank. Schließlich sagte ich etwas holprig: »Da muß ich mich getäuscht haben. Das tut mir aber leid, ich wollte ...«

»Macht doch nix«, sagte Berner mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wir können uns doch alle mal täuschen.«

Rodenstock meinte in die Stille: »Leute, wir müssen wirklich fahren.«

Emma nickte heftig, als sei es lebenswichtig, dieses Haus auf der Stelle zu verlassen.

»Wir bedanken uns herzlich«, sagte ich. »Und wenn Sie mit Stefan Hommes sprechen, grüßen Sie ihn von uns und wünschen Sie ihm gute Besserung.«

»Das mache ich. Er wird sich sicher bei Ihnen bedanken wollen.«

»Schon in Ordnung«, sagte Emma.

Baumeister, entspanne dich, entspanne dein Gesicht. Sag nichts mehr, halt einfach den Mund und grinse.

Wir stiegen in meinen Wagen, und ich gab unnötig viel Gas. Als wir durch das Tor auf die Straße fuhren, fragte Rodenstock: »Und du bist absolut sicher, daß er da oben einen Tank voll Flüssiggas hat?«

»Na, sicher, er ist sogar stolz drauf. Aber was heißt das eigentlich?«

»Daß er von zwei Herren bezahlt wird«, schnurrte Emma.