Viertes Kapitel
Etwas lahm meinte ich: »Na ja, ich vermute, das wird sich alles aufklären. Wahrscheinlich wird es eine ganz normale Erklärung für den Flüssiggastank geben.«
»Normale Erklärungen sind in diesem Fall bisher noch nicht aufgetaucht«, bemerkte Rodenstock bissig. »Sag mal, geliebtes Weib, wie gefällt dir denn der Julius Berner? Im Gegensatz zu sonstigen Tagen warst du verkrampft.«
»Ich hasse Leute, die ihre Mitmenschen als goldige und zutiefst friedfertige, einander zugewandte Wesen schildern. Er hat sich ein Märchen von einer feenartigen Cherie gestrickt. Er hat ja auch das Recht dazu. Aber er sollte Leuten wie mir damit nicht auf die Nerven gehen.«
»Glaubt er sich eigentlich selbst?« fragte ich.
»Ich denke, ja«, antwortete Emma. »Berner braucht wahrscheinlich eine Ecke absolut heiles Leben. Und wenn jemand partout keine solche Ecke hat, dann richtet er sich eine ein, zumal wenn er dazu alle Mittel zur Verfügung stehen hat. Die Muttergottes ist gegen Cherie eine Sünderin.« Sie lachte. »Also, morgen ist Kaffeetafel der Trauergemeinde. Was ist mit Düsseldorf?«
»Zu früh«, sagte Rodenstock entschieden. »Düsseldorf können wir erst besuchen, wenn Berner wieder dort ist und sein Unternehmensschiff steuert. Das will ich nämlich erleben. Erinnert euch, daß wir die andere Seite seines Lebens brauchen. Also morgen Beerdigungskaffee. Dann steht auf der Dringlichkeitsliste ein Gespräch mit Narben-Otto. – Was kostet denn eigentlich so ein Flüssiggastank?«
»Da oben am Wald? Ich denke unter zehn- bis zwölftausend ist da gar nichts zu machen. Materialkosten. Von den Arbeitskosten gar nicht zu reden. Und schon gar nicht zu reden von den Rechtsbeugungen, die beim Einbau des Tanks notwendig waren. Ich gehe jede Wette ein, daß überhaupt keine Genehmigung vorliegt.«
»Stefan Hommes dürfen wir nicht vergessen«, warf Emma ein. »Ich möchte wissen, wodurch er sich ein Messer in der Schulter einhandelte.«
»Den Ehemann der Vogt brauchen wir auch«, ergänzte ich. »Arbeit genug.«
Als wir auf meinen Hof rollten, stand das Auto von Dinah da, und ich konnte nicht verhindern, daß ich explodierte. »Oh, nein. Nicht das.«
»Sei friedlich, red mit ihr«, murmelte Rodenstock. »Es ist ein friedlicher Abend.«
»Aber ich bin nicht friedlich«, sagte ich wütend.
»Du hast sie über Jahre geliebt«, sagte Emma und legte mir von hinten eine Hand auf die Schulter.
»Scheiße!« rief ich heftig und stieg aus. Merkwürdigerweise lag das Haus vollkommen im Dunkel, nirgendwo brannte ein Licht.
»Ich denke, sie sitzt im Garten«, sagte Rodenstock. »Trink einen Wein mit ihr, ein Wasser vielmehr. Wir sind im Haus.«
Ich war beleidigt und wütend und sehr traurig. Heute weiß ich das, an jenem Abend wußte ich das nicht.
Sie saß auf einem roten Sandsteinblock am Teich, und als ich kam, schaute sie mir entgegen, als wolle sie wegen irgendeiner Sache um Entschuldigung bitten. Und sie entschuldigte sich. »Ich wollte nicht ohne dein Wissen in das Haus gehen. Ich wollte noch ein paar Sachen holen, Wäsche und Dinge aus dem Badezimmer.«
»Klar. Hol dir alles, was du brauchst. Kein Problem.« Ich setzte mich einen Sandsteinblock weiter, das Licht war bläulich, diffus, der Tag ging zur Neige. »Ich nehme mal an, dir geht es gut.«
»Danke, ja, ganz annehmbar. Emma sagt, ihr arbeitet an einem neuen Fall?«
»Ja.«
»Wahrscheinlich kommt noch Post für mich. Ich lasse dir meine neue Adresse da. Wenn du die Post eintüten könntest und sie mir nachschickst ...«
»Kein Problem«, wiederholte ich. »Das gehört zum Service post mortem.« In der gleichen Sekunde schalt ich mich einen Idioten, trotzdem war ich froh, es gesagt zu haben.
Sie stieg nicht darauf ein, sagte statt dessen artig: »Danke« und kraulte Paul, der von irgendwoher aufgetaucht war und sich auf dem Rücken aalte. »Schreibst du über diese Frauenmorde?«
»Ja, irgendwann schon. Bis jetzt wissen wir noch zu wenig. Aber das wird sich voraussichtlich ändern. Wie immer. Und du? Wirst du arbeiten?«
»Ja, ich denke schon. Ich kann zunächst bei der Weinernte und beim Keltern helfen, Trecker fahren und so.«
»Wie schön.« Nein, ich tue dir den Gefallen nicht, ich frage nicht nach dem Knackarsch.
Diesmal dauerte das Schweigen sicherlich qualvolle sechzig Sekunden.
Dann sagte Dinah: »Es ist mir noch ganz wichtig, dir zu sagen ...«
»Bitte nicht! Hör auf, mir die Grundsätzlichkeit deines Handelns zu erklären. Du bist gegangen, und das ist okay so. Tu mir den Gefallen, und laß mich damit jetzt allein. Pack deinen Scheiß und verschwinde.«
Sie drehte mir ihr Gesicht zu, und es war weiß. Dann stand sie auf und ging. Aber nicht ins Haus, um irgendwelche Dinge zusammenzupacken. Die Tür ihres Autos schlug zu, und sie fuhr vom Hof.
Ich sagte irgend etwas Intelligentes wie »Verdammte Hacke!« und erklärte meinem Kater erbost: »Bitte, verschone mich mit Frauen!«
»Hast du sie rausgeschmissen?« fragte Rodenstock hinter mir.
»Ja.«
»Vielleicht beschleunigt das die Sache«, meinte er weise, wobei er darauf verzichtete, mir zu erklären, welche Sache. Er setzte sich neben mich. »Das tut weh, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich weiß. Es ist ein bißchen wie Tod.«
»Ich habe einfach Angst, daß ich kein Vertrauen mehr aufbauen kann.«
Er nickte. »Ich denke, wenn du einmal beschissen wurdest, dann schwebt das wie ein Schatten über dir, du kannst es nur schwer loswerden.«
»Was wäre, wenn Emma irgend etwas mit einem anderen Mann anfangen würde?«
Rodenstock lachte leise. »Bei ihr bin ich in dem Punkt sicher: Sie würde es sofort sagen, und ich würde sie sofort ziehen lassen. Da fällt mir ein, daß wir endlich heiraten wollen. Irgendwann in den nächsten Wochen. Und wir würden gern hier in deinem Garten heiraten.«
»Warum tust du dir das an?«
»Ich tue es gern«, erwiderte er einfach. »Also, kriegen wir den Garten?«
»Sicher, na klar, keine Frage. Kommt denn der Standesbeamte hierher?«
Eine Weile herrschte Stille, irgendwo zirpte eine Grille.
»Weißt du, es ist so. Wichtig für Emma ist, daß sie den Segen Gottes hat. Sie ist Jüdin, und ich hatte etwas Angst, konvertieren zu müssen. Aber sie sagt, ihr reiche irgendein Gott, es muß kein bestimmter in einer bestimmten Preisklasse sein. Na ja, und wie wir das so miteinander besprochen haben ...«
»Laß mich raten: Ihr habt schon geheiratet.«
»Richtig«, strahlte er. »Vor drei Wochen. Es dauerte zwanzig Minuten, und es hat gar nicht weh getan.«
Vielleicht hätte ich ihn unter normalen Umständen umarmt, aber wann herrschen schon normale Umstände.
»Herzlichen Glückwunsch! Dann spendiere ich euch das Gartenfest. Wieviele Leute kommen denn?«
»Keine Ahnung, vielleicht von meiner Seite zwanzig und von Emmas Seite so ungefähr achtzig. Sie hat eine verdammt große Mischpoke in Europa.«
»Ach, du lieber mein Vater«, seufzte ich ehrfürchtig. »Das wären dann runde hundert. Wenn wir sie am Efeu stapeln, bleiben sie schön kühl.«
»Bekommen wir den Garten?« fragte Emma plötzlich hinter uns.
»Ja«, nickte Rodenstock. »Und Baumeister richtet die Feier aus.«
»Habt ihr denn eigentlich einen Pfarrer oder Priester oder irgend jemand sonst vom Bodenpersonal?«
»Ich habe da einen im Visier«, sagte Emma. »Ich muß ihn nur noch ein wenig weichkochen. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich möchte schlafen. Morgen wird es anstrengend.«
Sie ging mit ihrem Rodenstock ins Haus, und ich sah ihnen nach und war stolz darauf, daß sie unter meinem Dach zu Hause waren.
Ich tat das, was ich gern in warmen Sommernächten tue, ich legte mich wieder auf die Hollywoodschaukel. Im Halbschlaf spürte ich, daß die Katzen zu mir hochsprangen. Bis vier Uhr ging das gut, dann wurde ich wach und fühlte mich sehr klamm. Tau war in der Luft, die Polster waren feucht und die Katzen verschwunden. Schlaftrunken torkelte ich ins Haus und fläzte mich auf eine Couch im Wohnzimmer. Aber leider gehöre ich nicht zu den Leuten, die nahtlos weiterschlafen können. Ich geriet ins Dösen und wachte gegen sechs Uhr endgültig auf, nachdem ich schweißgebadet erlebt hatte, daß Dinah zurückkehrte, ihr Auto auslud und mir dann einen Mann vorstellte, von dem sie mitteilte: »Das ist Thomas, genannt Tom, er wird eine Weile bei uns wohnen.«
Mit mir ging es bedenklich bergab.
Gegen sieben Uhr rumorte es über mir, Rodenstock stand auf. Emma rief: »Ich mache schon mal Kaffee. Willst du Eier?«
»Ich will auch Eier!« schrie ich. Eier waren etwas Verläßliches, Eier kamen niemals mit einem Tom nach Hause.
Um acht Uhr räumten wir den Kaffeetisch ab und machten uns auf die Fahrt in die Klinik nach Wittlich. Der Praktiker Rodenstock hatte gesagt: »Wir erledigen am besten Punkt für Punkt. Und ein gefährlicher Punkt ist der Botaniker, der mit Messern um sich wirft.«
Wir fuhren über Dreis und Rengen nach Daun und dann auf die neue Autobahn, die im Dreieck Vulkaneifel an die 48 angeschlossen ist. Rodenstock und Emma vor mir waren schweigsam, und ich versuchte, Karlheinz Adamek von Radio RPR zu erreichen.
»Ja, bitte?« fragte er etwas mufflig.
»Ich bin es, dein Retter.«
»Ach Gottchen«, brummte er. »Ich versuche dauernd, dich zu erreichen. Was hast du bisher?«
Ich erzählte es ihm.
Zuletzt fragte er: »Glaubt ihr denn im Ernst, daß dieser Botaniker noch in der Eifel ist?«
»Ja, das glauben wir im Ernst, weil wir nicht glauben, daß er ein Botaniker ist. Jetzt eine Frage an dich: Wie sieht der Fall Vogt aus?«
»Die Mordkommission rätselt. Die Frau ist wirklich über eine Distanz von rund zweihundertfünfzig Metern durch einen Kopfschuß getötet worden. Sie war wirklich im zweiten Monat schwanger, und sie starb wohl nach Cherie. Wenn wir den Tod Cheries ungefähr um sechs Uhr morgens ansetzen, kam Mathilde Vogt rund eine halbe Stunde später um. Und es ist durchaus möglich, daß die beiden Frauen sich getroffen haben und dann ihren Mörder trafen. Aber kein Mensch hat eine Ahnung, warum und wo und wann. Der Ehemann der Vogt ist gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden, und er ...«
Funkloch.
»Kannst du auf einen Parkplatz fahren, bitte?«
Rodenstock nickte, und ich stellte die Verbindung wieder her, als wir standen.
»Du warst bei dem Ehemann der Vogt?«
»Ja. Das arme Schwein ist vollkommen von der Rolle. Die beiden Kinder wurden erst einmal zu Verwandten nach Saarbrücken geschafft, nachdem herauskam, daß der fünfzehnjährige Sohn einer Yellow-Press-Tante gegen ein Honorar von zweitausend in bar Auskunft über seine tote Mutter erteilen wollte. Der Ehemann weiß nichts. Er sagt, es sei durchaus üblich gewesen, daß seine Frau morgens gegen vier oder fünf Uhr im Revier war, um Wildwechsel zu beobachten und dergleichen. Er kann sich dunkel erinnern, daß sie am Vorabend gesagt hat, sie würde sich gern zwei weibliche Tiere in der Mufflon-Gruppe anschauen. Mathilde Vogt hat wohl seit zwei, drei Jahren kein Wild mehr geschossen. Natürlich hatte sie eine Waffe bei sich, eine Langwaffe, eine Repetierbüchse Sauer 90. Und dann noch eine Faustfeuerwaffe, die Sig/Sauer P226, für eine Frau eine ungewöhnliche Waffe. Aber die Vogt hatte gut durchtrainierte Hände und war sehr kräftig.«
»Ist das nicht merkwürdig, daß der Ehemann nicht weiß, wo seine Frau nachts herumspaziert?«
Adamek lachte. »Ja, dachte ich auch. Aber Vogt hat das so dargestellt, daß es eben normal wirkte. Es war Regel, daß die Frau nicht im Ehebett schlief, wenn sie frühmorgens ins Revier fahren wollte.«
»War das oft der Fall?«
»In der letzten Zeit ja. Vogt hat gesagt, daß seine Frau in den letzten Wochen sehr nachdenklich wirkte und sehr häufig im Wald war.«
»Weiß er, ob sie dort jemanden traf?«
»Das ist ihm nicht bekannt, normalerweise hat seine Frau ihm aber wohl erzählt, wenn sie jemanden treffen wollte. Rufst du mich an, wenn du den Botaniker hast?«
»Falls ich es dann noch kann, tue ich es. Der Junge ist eine wirklich heiße Nummer.«
Als wir auf den Parkplatz des Krankenhauses in Wittlich rollten, sagte Emma: »Wißt ihr, wen wir suchen sollten? Jemanden, der den Julius Berner haßt, regelrecht haßt.«
Stefan Hommes, so wurde uns freundlich gesagt, liege auf der Station der Unfallchirurgie, der zuständige Oberarzt sei ein Mann namens Wesemann.
Dieser Wesemann hatte nicht das Geringste dagegen, daß wir Hommes besuchten. Er lärmte etwas, als er sagte: »Das ist ein harter Brocken, der Junge. Das ist die Sorte Mann, die uns zunehmend fehlt.«
Emma musterte ihn und bemerkte, ohne das Gesicht zu verziehen: »Lassen Sie das uns entscheiden, ja?«
Hommes lag in einem dunkelblauen Trainingsanzug auf dem Bett und starrte gegen die Decke. Als wir in das Zimmer traten, sagte er: »Ich brauche nichts, Schwester.«
»Wie geht es Ihnen?« fragte Rodenstock.
Hommes wandte den Kopf und begann augenblicklich zu grinsen. »Das ist aber nett. Und gleich eine ganze Abordnung. Ich muß Ihnen noch Danke sagen, das hätte schiefgehen können.«
»So ist es«, nickte Rodenstock.
»Es gibt hier ein Raucher-Kabuff«, meinte er. »Können wir dorthin gehen?«
»Klar«, sagte ich. »Was macht die Wunde?«
»Gut versorgt, genäht, keine Komplikationen. Ich kann spätestens Dienstag nach Hause. Wie geht es meinem Chef?«
»Na ja«, murmelte Rodenstock. »Beschissen eben.«
Das Raucherzimmer war eine sargähnliche Einrichtung mit dem Charme einer Topfpflanze aus Plastik. Immerhin gab es drei kleine Sessel und mindestens zehn volle Aschenbecher.
»Wir wollen es kurz machen«, begann Rodenstock munter. »Können Sie uns erzählen, warum der Mann mit einem Messer auf Sie geworfen hat?«
»Haben die Bullen mich auch schon gefragt. Weiß ich nicht. Ich kann nur erzählen, wie es war. Also, ich habe mit Ihnen ja telefoniert, und Sie sagten, Sie würden diesen Mann aufsuchen. Ich machte mich dann selbst auf den Weg zu ihm. Der Mann interessierte mich einfach. Ich bin den Berg hoch und habe meinen Wagen unterhalb der Lichtung geparkt, Sie wissen wo. Oben auf der Lichtung stand dieser uralte orangefarbene Opel Kombi aus München. Daneben sein Zelt, übrigens ein Profizelt mit beschichtetem Boden und so. Nichts war ungewöhnlich. Den Mann habe ich zunächst nicht gesehen. Plötzlich taucht er hinter dem Zelt auf, sagt keinen Ton, zieht das Messer und wirft. Hört sich verrückt an, ich weiß. Wer ist dieser Mann?«
»Manfred Boll aus Wuppertal«, erklärte ich. »Sie selbst haben sich doch seinen Personalausweis zeigen lassen. Botaniker. Schreibt ein Buch über Waldblumen.«
Hommes drückte eine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. »Ich grüble die ganze Zeit herum. Kann dieser Personalausweis falsch sein?«
»Warum sollte er?« sagte Rodenstock.
»Ich traue dem Blödsinn mit den Waldblumen nicht mehr. Ich denke, der Mann hat etwas mit den Morden an Cherie und Mathilde zu tun.«
»Sie sind der Mann, der am besten weiß, wie der Mann sich bisher im Wald bewegt hat. Wie oft haben Sie ihn getroffen?« Rodenstock fragte das heiter und gelassen, als sei die Antwort in keinem Fall wichtig.
»Sechsmal«, sagte Hommes ohne zu zögern. »Schließlich muß ich wissen, was im Revier vor sich geht.«
»Und ich wette, er war jedesmal an einem anderen Punkt«, sagte ich, während ich mir die Handgemachte von Winslow stopfte.
»Richtig«, nickte der Wildhüter. »Ich nehme mal an, Sie haben keine Karte bei sich.«
»Oh, doch«, sagte Emma bescheiden und zog eine Karte aus ihrer Handtasche. Ohne weiteren Kommentar breitete sie sie auf dem Tischchen aus.
»Das ist gut, das ist wirklich gut. Dann kann ich das einfacher erklären.« Hommes sah Rodenstock an, als sei der eine Garantie für faires Verhalten. »Ich sage Ihnen jetzt was, was Sie eigentlich nicht wissen sollten, aber Sie würden es sowieso rauskriegen. Wenn Sie die Straße Gerolstein bis Kyllburg als Nord-Süd-Achse betrachten, dann liegt unser Jagdrevier sowohl links wie rechts der Straße. Eigentlich ist das nicht beliebt, daß ein Jagdpächter zwei Pachten hat, aber in diesem Fall war das nicht anders möglich. Wir haben rechts der Straße das Revier bis zum Wallersheimer Wald und links das Revier im Salmwald. Es hat sich zwar eingebürgert zu sagen, daß alles der Salmwald ist, aber die Bezeichnung auf den Landkarten ist Kyllwald. Aber das wissen Sie sicher.«
»Wie kommt es zu zwei Revieren?« fragte Rodenstock.
»Ganz einfach. Die Jagdgenossenschaft war kreuzunglücklich mit einem Jagdpächter, der ursprünglich aus dem Schwäbischen kommt und einen Mordsspaß daran hat zu schießen. Der besitzt in Gelsenkirchen eine Eisengießerei. Der Mann will nichts anderes als die Tiere töten, das macht dem richtig Spaß. Er hat null Verbindung zur einheimischen Bevölkerung und hält die Eifler schlicht für doof und unterentwickelt. Er sagt, die hätten seit dem Dreißigjährigen Krieg kein anderes Buch mehr gelesen als das Neue Testament. Solche Sprüche sind bei dem die Regel. Die Jagdgenossenschaft kam zuerst auf mich zu, und wir haben das Problem besprochen. Dann habe ich meinem Chef vorgeschlagen, diese Jagd ebenfalls zu pachten. Einfach deshalb, damit die Leute im Salmwald diesen Idioten loswerden. Sie nennen ihn übrigens nur den Ballermann. Haben Sie Zeit, soll ich eine Geschichte erzählen?«
Wir nickten einhellig.
»Nun ja, der Mann hatte jede Menge Geschäftsfreunde eingeladen. Für ein langes Wochenende. Damit das Wild in seinem Revier blieb und abgeschossen werden konnte, hatte er zwei Tonnen Cox Orange-Äpfel gekauft und in den Wald gestreut. Sein Reviernachbar, ein Banker, kaufte daraufhin in Aachen drei Tonnen Schokoladenreste und Printenbruch und streute die ebenfalls aus. Der Printenmann hat gewonnen. Als die Jagd versteigert wurde und der schwäbische Hammel ganz sicher damit rechnete, sie wieder zu bekommen, tauchte mein Chef auf und sagte, er bietet grundsätzlich zehntausend mehr, egal, was der Konkurrent bietet. Es gab einen Riesenstunk auf der Versammlung, der Schwabe schrie rum und beschuldigte Berner, ein politisches Spiel zu spielen. Na sicher, brüllte mein Chef zurück, Leute mit deinem geistigen Horizont können wir in der Eifel nicht gebrauchen! So war das, Sie können es nachprüfen.«
»Das wollen wir gar nicht«, sagte Emma freundlich.
»Sie trafen den Botaniker sechsmal«, sagte ich. »Wo genau war das jeweils?«
»Das ist ein wenig merkwürdig«, antwortete Hommes nachdenklich. »Er orientierte sich an den Grenzen der zwei Reviere, und ich habe den Verdacht, daß er uns, ich meine, meinen Chef und mich, beobachtet ...«
»Was will er dabei beobachten?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht. Aber es ist doch komisch, daß er unsere Reviere nicht verläßt.«
»Kampierte er, als die Morde an den Frauen passierten, im Bereich der Tatorte?« fragte Emma.
»Nein. Sein Zelt stand südwärts von Kopp auf einem Berg namens Hardt. Ich habe eine Liste mit seinen Standorten gemacht.« Der Wildhüter griff in die Jackentasche und gab Rodenstock ein Blatt Papier. »Der erste Standort war zwischen Kopp und Weißenseifen, aber gut zweitausend Meter entfernt von der Stelle, an der Cherie erschossen wurde. Der zweite Standort war westlich von Zendscheid-Usch, Richtung Erntehof. Falls Sie dorthin wollen, dürfen Sie nicht erstaunt sein, etwas vorzufinden, was auf keiner Karte eingezeichnet ist: eine ehemalige amerikanische Basis für den Abschuß von Cruise-Missile-Raketen.« Hommes lächelte. »Das war eine der wenigen Abschußbasen, die von einer Horde Gänse bewacht wurde. Gänse sind aufmerksamer als jeder Bluthund. Inzwischen ist das Gelände von der Gemeinde zurückgekauft worden, jetzt lagern dort Bauern Heu und Maschinen. Dritte Position war ein Auwaldstück südlich von Michelbach, dann zog der Botaniker weiter südlich im Salmwald auf einen Berg namens Bradscheid. Danach wechselte er wieder über die Kyll auf den Prümer Berg, nördlich vom Kammerwald. Und zuletzt kampierte der Mann eben am Eisenmännchen, wo er mich erwischte.«
»Sagen Sie mal«, fragte Rodenstock gemütlich, »haben Sie eigentlich Anzeige erstattet?«
Hommes schüttelte den Kopf, aber sagte nichts.
»Ergeben diese Standorte einen Sinn? Ist da eine Logik erkennbar?« fragte ich.
»Anfangs habe ich rumgerätselt und nichts von Logik gefunden. Aber dann hat es gedämmert. Von den Standorten aus, die der Botaniker gewählt hat, konnte er jeweils die Hauptzufahrtswege beobachten. Sie wissen schon, wir bauen bestimmte Wege in den Revieren für den Holztransport aus, um Arbeiter schnell in die Wälder bringen zu können und um selbst von einem Punkt zum anderen zu kommen. Und der Mann hockte sich tatsächlich jeweils an eine Kreuzung dieser Wege. Das kann doch kein Zufall sein.«
»Sie müssen ja ein wahnsinniges Fahrpensum haben, wenn Sie die Reviere kontrollieren«, sagte ich.
»Stimmt«, nickte er. »Ich schätze, ich fahre im Jahr zwanzig- bis dreißigtausend Kilometer ausschließlich im Wald. Ich verstehe mich gut mit den Forstämtern, und die sind dünn besetzt, leiden unter Personalnot. Ich telefoniere mit denen, wenn mir irgend etwas auffällt. Wir helfen halt alle mit.«
»Glauben Sie, daß der Botaniker noch in der Gegend ist?« kam Rodenstock wieder zum Thema zurück.
Stefan Hommes nickte: »Da gehe ich jede Wette ein. Es stimmt, daß er Waldblumen fotografiert, und seine Fotoausrüstung ist profimäßig. Aber keiner seiner Standorte glänzte durch besonders viele oder besonders seltene Blumen. Die Plätze, auf denen er sein Zelt aufgebaut hatte, hatten mit Blumen nichts zu tun.«
Rodenstock nickte. »Was sagt Ihnen Ihre Ahnung? Wo wird er jetzt sein?«
Emma ergänzte: »Woher bezieht er eigentlich seine Lebensmittel?«
»Gute Frage. Normalerweise kauft er seine Lebensmittel in Birresborn. Auf der Straße von Kopp herunter habe ich ihn dreimal gesehen. Vermutlich ist es besser, wenn Sie den Mann suchen, daß Sie nach dem Auto fragen und nicht nach dem Mann. Der Wagen hat eine Münchner Nummer mit den Buchstaben Z und den Ziffern 3456. In der Eifel fallen den Leuten immer die Autos ein, die Menschen weniger.«
»Guter Tip«, nickte Rodenstock.
»Sind Sie heute nachmittag bei meinem Chef und der Clique?«
»Sind wir«, sagte ich. »Müssen wir auf jemand ganz besonders achten?«
Hommes schüttelte den Kopf. »Das sind alles ganz furchtbar nette junge Leute, und einer ist ein besserer Arschkriecher als der andere.«
Es war still.
»Sie sind sauer auf die Clique?« fragte Emma sanft.
»Ja, eigentlich schon. Ich erlebe meinen Chef, und was er so alles am Hals hat. Und dann diese Clique. Für die meisten ist es schon ein Riesenproblem, ein Minikleid oder ein Oberhemd zu kaufen. Sie diskutieren das, als ginge es um das Überleben der Menschheit. Und sie haben zum Teil einen Intelligenzquotienten, der etwas niedriger liegt als der einer Kohlenschaufel. Ja, ich weiß, ich bin ekelhaft, aber mein Chef lacht bloß, wenn ich ihm sage, daß die für einen braunen Lappen die eigene Mutter verscheuern würden.«
»Was sind denn das für Leute?« fragte ich. »Was sind sie von Beruf?«
»Sie stammen aus ziemlich begüterten Elternhäusern, und Beruf ist in der Regel nicht. Einer zum Beispiel redet ständig von seiner Werbeagentur und den berauschenden Fotos von Mannequins, die er macht. Stellt sich heraus, daß sein Vater Badeanzüge herstellt und dauernd mit Models zu tun hat. Also schafft er dem Sohnemann die Models vor die Kameras, und der drückt dann huldvoll auf den Auslöser. Anschließend kommt Papi und schleppt die Schönen ins Bett, nachdem er den Sohn nach Hause geschickt hat. Ernst nehmen würde ich keinen von denen, die haben ja nicht mal genügend Grips, eine Mücke totzuschlagen.«
»Da ist aber jemand sauer«, murmelte ich.
»Bin ich auch«, sagte er wütend. »Die ganze Meute hockte immer bei Cherie vor der Tür, weil sie wußte, daß Cherie der Schlüssel war. Der Schlüssel zu Julius Berner.«
Wir standen vor Stefan Hommes und gaben ihm nacheinander die Hand. Zuletzt Emma. Seidenweich sagte sie: »Wollen Sie uns nicht endlich die Wahrheit über den Messerwerfer sagen?«
»Wie bitte?« fragte er verblüfft.
»Sie sind nicht ganz bei der Wahrheit geblieben«, beharrte Rodenstocks Gefährtin. Ihre Stimme hatte einen klirrenden Unterton, wie immer, wenn sie jemanden beim Mogeln erwischte. »Sehen Sie, Sie haben erzählt, Sie hätten den Mann auf der Lichtung erst gesehen, als der wie ein Blitz hinter dem Zelt auftauchte und das Messer warf. Richtig?«
»Richtig«, sagte der Wildhüter verbissen.
»So war das nicht«, erklärte sie. »Der Mann hat Sie fasziniert. Von Anfang an. Sie haben sich gefragt, wieso der sich so lautlos im Wald bewegen kann. Das haben Sie gesagt, erinnern Sie sich?«
Er nickte mürrisch.
»Nun gut, Sie haben ihn da oben am Eisenmännchen aufgetrieben. Auf der Lichtung. Ich neige zu den Varianten, daß Sie sich entweder angeschlichen haben und voll in die Falle liefen oder aber daß Sie mit einer Waffe kamen und er sich bedroht fühlen mußte.«
»Ach, du lieber Gott«, hauchte Rodenstock.
»Das können Sie nicht beweisen«, erwiderte Hommes schnell.
»Sie machen einen Fehler«, sagte sie scharf. »Ich muß das gar nicht beweisen. Also, wie war das? Niemand geht hin und wirft Ihnen ein Messer in die Schulter, nur weil Sie auf seine Lichtung spazieren. Kommen Sie, lassen Sie uns nicht warten!«
Sie hatte ins Schwarze getroffen, und es war nun egal, was er antwortete. Aber er kriegte glücklicherweise die Kurve, als er etwas gepreßt erklärte: »Natürlich bin ich angeschlichen. Ich hatte die Walther PPK bei mir. Ich wollte ihm ...« Zaghaft grinste er.
»Sehen Sie, es geht doch!« strahlte Emma. »Sie wollten ihm zeigen, daß Sie genauso lautlos sind, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Ich habe einen dünnen Ast übersehen. Der brach. Und da war ich nur Zweiter. Der Mann ist einfach irre gut. Er stand neben dem Zelt, hörte den Ast brechen, ließ sich zur Seite fallen, drehte sich und warf dabei das Messer.«
Emma lachte guttural. »Und jetzt wünschen Sie sich sicher, daß der Mann Ihnen das beibringt.«
»Richtig. Das wäre gut. Wofür halten Sie ihn denn?«
»Für einen Profi«, antwortete Emma. »Die Frage ist, auf welcher Seite des Zauns er steht. Machen Sie es gut.«
Im Gänsemarsch verließen wir das Haus, und beim Anblick eines anfliegenden Rettungshubschraubers schrie Rodenstock: »Hoffentlich ist das nicht der Tote Nummer drei!«
Kein Mensch fand das witzig, und Emma schlug ihrem Gefährten derb auf den Hintern.
Wir einigten uns, zu Narben-Otto zu fahren, da wir bis zum Nachmittagskaffee noch sehr viel Zeit hatten. Im Wagen war es sehr heiß, und die Kühlung blies nur warme Luft um unsere Beine.
Doch wir machten die Fahrt umsonst, Narben-Otto war nicht da, der Bauwagen verschlossen, und in einem Fenster hing ein Stückchen Pappe, auf dem geschrieben stand: Bin bald wieder zurück!
»Der Tank für das Gas ist aber verdammt groß«, sagte Rodenstock versonnen.
»Denkst du dasselbe, was ich denke?« erwiderte ich.
»Natürlich«, nickte er.
»Ich schließe mich an«, murmelte Emma.
Auf einer der Stirnseiten des Tanks stand Anlagen- und Tankbau Adolf Scholzen, Birgel.
»Schaffen wir das noch?« fragte Emma.
»Kein Problem«, sagte ich.
Diesmal fuhr ich sehr schnell.
Die Firma Scholzen in Birgel fabrizierte in einer Halle und hatte einen ziemlich großen Parkplatz davor eingerichtet, der so sauber und adrett unter der Sonne lag wie ein frischgescheuerter Eßtisch. Eine Doppeltür der Halle stand weit offen, und ein Mann schweißte auf einem langen Holzbock an einem kreisförmigen Stahlblech. Er hörte uns nicht und blickte nicht auf.
Rodenstock berührte seinen Arm und nickte, als der Mann sich herumdrehte. »Sind Sie Adolf Scholzen?«
Der Mann drehte das Schweißgerät ab. »Nein, das ist mein Vater. Ich bin der Sohn, ich heiße Michael. Was kann ich für euch tun?«
»Das wissen wir noch nicht so genau«, sagte Emma lächelnd. »Der Vater ist wahrscheinlich zuständig, oder?«
»Mein Vater ist für nichts mehr zuständig, mein Vater ist letzte Woche auf den Friedhof getragen worden. Ich bin noch keine fünfundzwanzig und habe jetzt den Betrieb am Arsch.« Er wirkte verbittert. Unvermittelt lächelte er wieder. »Vielleicht habt ihr ja einen lukrativen Auftrag für mich.«
»Nein, leider nicht«, sagte ich. »Wir sind hier wegen Narben-Otto.«
Scholzen blickte konzentriert auf den Brenner in seiner Hand. »Ich wußte, daß das Schwierigkeiten gibt«, bemerkte er trocken. »Ich habe meinen Vater gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören. Er hat gesagt, es wäre schließlich für das Vaterland.«
»Können Sie uns das erklären?« fragte Emma.
»Nein, ich weiß ja nicht einmal, wer ihr seid.«
»Oh«, murmelte Rodenstock. »Wir entschuldigen uns, Sie haben recht. Wir kümmern uns um die Morde an den beiden Frauen zwischen Kopp und Weißenseifen.«
»Und was hat Narben-Otto damit zu tun?« fragte Scholzen schnell. »Ihr kommt von den Bullen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Redakteur, ich werde wahrscheinlich darüber schreiben. Uns ist aufgefallen, daß bei Narben-Otto mitten im Wald ein Flüssiggastank eingebaut wurde, der einen ganzen Betrieb versorgen könnte ...«
»Zehntausend Liter«, nickte er, und in seiner Stimme war ein leiser Stolz. »Die sicherste Anlage, die ich je gebaut habe. Stahlbetonbecken in Kies von fünffacher Körnung, unten Torf und Flußsand. Wenn das Ding hochgeht, dann nach unten. Aber so Dinger gehen nicht mal hoch, wenn du eine Stange Dynamit drunterlegst.«
»Was kostet denn diese Sicherheit?« fragte Emma.
»Locker 30.000, ohne Mehrwertsteuer«, sagte er nicht ohne eine Spur Stolz.
»Und weshalb haben Sie dann Ihren Vater gewarnt?« fragte Rodenstock.
»Weil ...«, er sprach sehr schnell, »... weil keine Genehmigung da war. Die kam erst später ... sie wurde sozusagen nachgereicht.«
»Es gibt keine Genehmigung«, bluffte ich. »Und was bedeutet Ihre Bemerkung, Ihr Vater habe gesagt, es sei im Dienste des Vaterlandes?«
Scholzen hatte uns zu Beginn des Gespräches nicht ernst genommen, jetzt saß er in der Sackgasse und sah keinen Ausweg mehr. Er wirkte für Sekunden trotzig wie ein kleiner Junge. »Ich gebe keine Auskunft mehr. Das darf ich auch gar nicht.«
»So geht das aber nicht«, sagte Rodenstock scharf. »Sie knallen an einem öffentlich als Wanderweg deklarierten Feld- und Waldweg einen Riesentank in den Boden und weigern sich, Auskunft zu geben. Mein Freund Baumeister hier ist der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig, so funktioniert die Presse nun einmal. Können wir die Genehmigung für die Tankanlage sehen?«
»Nein, nein, wirklich nicht«, antwortete er hastig.
»Sie haben keine«, wiederholte Emma süffisant.
»Doch«, sagte er plötzlich ganz ruhig. »Aber das ist geheim.«
»Das ist was?« fragte ich zornig. »Wollen Sie uns verarschen? Das Ding ist groß, faßt zehntausend Liter und ragt aus dem Boden heraus wie ein dickes weißes Ei. Und Sie erklären es für geheim?«
»Es ist geheim«, beharrte er störrisch.
»Hat Narben-Otto in bar bezahlt?« fragte ich schnell.
»Der? Ach, du lieber Gott!« Scholzen atmete scharf aus, als habe seine Lunge Überdruck.
»Also war es nicht Narben-Otto«, stellte Emma fest. »Wer war es dann? Der reiche Julius Berner?«
»Der hat doch null Ahnung«, antwortete er sofort. Seine Verteidigung bröckelte. Er fragte: »Könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?«
Ich versuchte, mich in das Gespräch mit diesem merkwürdigen Arzt namens Narben-Otto zurückzuversetzen. Der Mann, der ihn mit einem weinroten Opel Omega besucht hatte, hatte einen Trainingsanzug mit der Aufschrift Zoll getragen.
Ich riskierte es: »Falls Sie meinen, junger Mann, wir wüßten das mit dem Zoll nicht, so irren Sie sich. Ich frage mich nur, warum Sie ein Geheimnis daraus machen? Und meine Antwort ist ziemlich einfach: Ihr steuert die 30.000 plus Mehrwertsteuer am Finanzamt vorbei.«
»Wieso fragen Sie dann überhaupt, wenn Sie das mit dem Zoll schon wissen?« Scholzen sah uns nicht an, er starrte auf den Brenner in seiner Hand, und seine Stimme war zittrig. »Kann ich mal eben ins Büro gehen?« fragte er dann, als hätten wir die Macht, ihn davon abzuhalten. »Sie können ja mitkommen, es ist hinten in der Halle.«
Er ging vor uns her, und unsere Schritte auf dem Betonboden klackten merkwürdig hell.
Das Büro war nichts anderes als ein Glaskasten mit einem Schreibtisch und einer Computeranlage, ein Regal mit Aktenordnern, ein anderes mit Bauzeichnungen und Zeichnungen von technischen Geräten.
Michael Scholzen zog einen Aktenordner heraus, auf dem nichts stand. Er klappte ihn auf und blätterte in den Papieren. Dann nahm er ein Schreiben heraus und legte es auf den Tisch.
»Das ist die Genehmigung«, sagte er.
Es war ein Schreiben des Regierungspräsidenten, eine Vorläufige Erteilung einer Genehmigung zum Betrieb einer Flüssiggasanlage auf dem Gebiet der Gemeinde Kopp. Der Nutznießer der Anlage war mit Dr. Markus Kaiserswerth angegeben.
»Sie haben gesagt, es ist geheim«, begann er mit trockenem Mund und leckte sich die Lippen.
»Wer ist sie?«
»Na ja, die vom Zoll.«
»Haben die bar bezahlt?«
»Richtig. Hier auf dem Schreibtisch war das. Und ... Moment.«
Er kramte in einem anderen Aktenordner. »Hier ist unsere letzte Zahlung der Einkommensschätzung an das Finanzamt. Wir schulden denen keine müde Mark.«
»Dann jetzt die Frage«, sagte Emma. »Was macht der Zoll mit einem Flüssiggastank bei Narben-Otto?«
»Das weiß ich nicht«, murmelte Scholzen und sah sie gequält an. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich hab versucht, auf den Busch zu klopfen, aber Narben-Otto stellte sich stur und wußte von nichts. Ich habe mir schon gedacht, daß irgend etwas an der ganzen Scheiße faul sein muß. Ich habe meinem Vater gesagt, er soll die Finger davon lassen.«
»Aber warum denn?« fragte ich aufgebracht.
»Weil du in der Eifel niemals ein so geheimes Ding durchziehen kannst, ohne Stunk zu kriegen. Richtig geheim ist in der Eifel nichts. Und dann dieser Typ vom Zoll. Kommt her und bestellt. Wir machen es. Und der Typ kommt noch einmal und legt uns das Geld auf den Tisch. Bar! Und das ist eine Behörde, eine deutsche Behörde? So was gibt es doch gar nicht. Ich habe sofort gedacht: Da ist was kriminell!«
»Das ist verständlich«, sagte ich. »Danke für die Auskunft und nichts für ungut.«
»Sie sind eigentlich sehr nett«, versuchte Emma seinem angeschlagenen Ego zu Hilfe zu kommen.
»Na ja«, murmelte Scholzen verlegen.
Rodenstock legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie haben nur Ihren Beruf ausgeübt. Ich würde Ihnen raten, nicht darüber zu sprechen und auch nicht zu erwähnen, daß wir hier waren.«
Der junge Mann nickte, sagte aber nichts mehr.
Wir marschierten durch die Halle in die grelle heiße Sonne, und Emma stellte sich selbst verwundert die Frage: »Was haben wir da eigentlich entdeckt?«
»Frag mich etwas Leichteres«, sagte ich.
Wir fanden uns pünktlich um 16 Uhr vor Berners Haus ein, und nun stand der Parkplatz voller eleganter Blechbüchsen, deren einzige Aufgabe es zu sein schien, dem Besitzer den Status des Teuren und Elitären zu geben. Bei diesem Wetter waren natürlich Cabrios angesagt.
»Wir sollten zunächst über die Geschichte mit dem Zoll und Narben-Otto nicht reden. Mit niemandem.« Rodenstock starrte auf das Haus. »Wahrscheinlich ist unser Kandidat hier. Und es ist gut, wenn wir Hintergrundwissen haben, von dem der Gegner nichts weiß.«
Der Kandidat war dort. Er hockte in einem riesigen Kalbsledersessel, um sich versammelt vier junge Frauen, die seltsam uniformiert aussahen.
Mit Ausnahme von Narben-Otto und seinem Gönner Julius Berner sowie einigen Eiflerinnen mittleren Alters, die als Kellnerinnen fungierten, waren die Gäste jung und austauschbar. Bleiche Flüstertüten, in deren Leben plötzlich der Tod aufgetaucht war, und die nun aufgeregt herum flatterten, daß so etwas Unerhörtes ausgerechnet ihnen widerfahren konnte. Niemand schien über fünfundzwanzig Jahre alt zu sein. Die Männer trugen rohseidene schwarze Sommeranzüge, dazu Schnallenschuhe und schneeweiße Hemden mit kleinem Stehkragen, keine Krawatte. Im Haar irgendein süßlich riechendes Gel, das es ermöglichte, die Pracht auf dem kostbaren Kopf in wilden Wellen aufzutürmen. Die jungen Frauen waren alle von genau gleichem Blond, einem honigfarbenen Ton. Sie hatten alle schulterlanges Haar und trugen es in einem Zopf, der hinten auf das kleine, sehr kurze Schwarze fiel. Sie trugen, wahrscheinlich in edler Abkehr von jedem unzüchtigen Gedanken, sanft glitzernde Strumpfhosen über schwarzen Lackslicks und wirkten dadurch wie kleine Mädchen, die vollkommen überrascht im Leben auftauchen und empört feststellen müssen, daß es außer ihnen durchaus noch andere lebende Wesen gibt, die ebenfalls Menschen genannt werden müssen. Auf den ersten Blick glaubte ich, daß sie auf jedes Make-up verzichtet hatten, ein Tribut an die tote Cherie. Dann mußte ich mich korrigieren: Sie waren zugekleistert, sie waren auf totale Blässe geschminkt, sie trugen alle die gleiche Maske.
Emma neben mir hauchte: »Oh, mein Gott!«, und Rodenstock atmete scharf zischend ein, um sich eine unzüchtige Bemerkung zu verkneifen.
Eine der netten Eiflerinnen mit einem Tablett schoß auf uns zu und knallte im Ton eines Unteroffiziers: »Orangensaft, Wasser und Champagner.« Sie war eine dralle Person mit ungeheuer lebendigen Augen, vielleicht vierzig Jahr alt. Von irgendwoher kannte sie mich offensichtlich als jemanden, der durchaus normal ist. Sie flüsterte: »Nun sieh dir mal diese Versammlung an. Dat sinn doch Zombies, sinn dat! Und die reden einen Scheiß!«
»Wie schön!« strahlte Emma sie an, und die Gute wurde ganz artig verlegen.
Um Berner, der ebenfalls in einem dieser riesigen Sessel fast verschwand, hatte sich eine Traube junger Männer versammelt, die nun ein wenig beiseite traten, um den Meister durchzulassen, der mit weit vorgestreckten Armen auf uns zukam, als brächten wir seiner Welt das Heil. »Ich freue mich«, sagte er freundlich.
Irgendwie störte es mich, daß das aufrichtig gemeint war.
»Ist es nicht schön, daß alle meine jungen Freunde gekommen sind?« fragte er Emma.
Es bereitete ihr offensichtlich Zahnschmerzen, aber sie nickte. »Das ist sehr schön. Arbeiten die alle für Sie?«
»Einige ja, die meisten aber nicht. Freundinnen und Freunde vor allem von Cherie, wir nennen die Meute spaßeshalber die furchtbare Siebzehn. Die Treffen waren immer sehr humorvoll.« Dann blickte er zu Boden. »Das ist vorbei.« Er fing sich wieder. »Jetzt können wir mit dem Kaffeetrinken beginnen.« Dann wandte er sich an mich. »Sie werden verstehen, daß ich darum bitte, das Treffen hier nicht in der Berichterstattung zu erwähnen.«
»Aber selbstverständlich«, stimmte ich zu. »Das ist privat.«
»Sehr privat«, nickte er. Er drehte sich herum, hob beide Arme und sagte gedämpft: »Dann wollen wir beginnen.«
Die Gruppen lösten sich augenblicklich auf und nahmen an einem langen Tisch Platz, auf dem Kaffee, Kuchen und 900er Silber auf uns warteten. Es war merkwürdig, daß es nicht die geringsten Unsicherheiten gab, ob Mann oder Frau, sie kannten ihren Platz.
Die Eiflerinnen bauten sich hinter uns auf und gossen Kaffee ein. Niemand sagte ein Wort, wir starrten alle schweigend in die kunstvollen Blumenarrangements auf dem Tisch. Julius Berner saß am Kopfende des Tisches, Narben-Otto wie eine Schildwache neben sich. Der Gastgeber nahm einen Kaffeelöffel und klopfte gegen eine kleine Milchkanne.
»Liebe junge Freunde«, begann er lächelnd. »Der Tod ist zu Besuch gekommen und hat uns unvorbereitet angetroffen. Unsere liebe Cherie hat uns verlassen. Irgend jemand, ein Mensch, hat sie im Wald erschossen. Und danach hat dieser Mensch Mathilde Vogt erschossen, die uns sehr nahestand und die eine Freundin von Cherie war, wie ihr alle wißt. Da zweifle ich an meinem Herrgott, da frage ich mich, warum er so etwas zuläßt, da denke ich an den strafenden Gott. Aber, für was wurde Cherie bestraft, für was? Wir werden keine Antwort darauf finden.« Er machte eine Pause und wirbelte beide Hände in schnellen Bewegungen vor seinem Körper.
Ich betrachtete die Gesichter der jungen Leute. Die Frauen weinten ausnahmslos und hatten kleine weiße Taschentücher in den Händen. Die Gesichter der jungen Männer waren bleich und kantig.
»Vielleicht will unser Herrgott uns prüfen.« Berner räusperte sich. »Ich habe mit jedem von euch gesprochen, und niemand kann sich den Menschen vorstellen, der das getan hat. Ist es ein Irrer? Ist es jemand, der im Kopf krank ist? Niemand weiß es. Aber irdische Gerechtigkeit muß sein. Daher bitte ich euch, alles, was ihr wißt, und alles, was ihr ahnt, der Polizei mitzuteilen und auch dem Journalisten unter uns, der sich um die Aufklärung der Bluttaten kümmert. Niemand von euch steht unter Verdacht, niemand von euch war an diesem blutigen Tage hier in den Wäldern. Aber ich werde dafür beten, daß den Täter der Zorn Gottes trifft. Und so wahr ich hier vor euch stehe, ich werde nicht eher ruhen. Ich bitte einen jeden von euch, meine Freundinnen und Freunde, mir zu helfen, diese Brutalität aufzuklären. Und jetzt laßt uns an die Frauen denken und noch einmal die Frage stellen, was Cherie sich gewünscht hätte, wenn sie uns jetzt sehen könnte. Sie hätte sicherlich gewollt, daß wir ihren Tod in Demut hinnehmen und heiter über sie sprechen. Und so wollen wir denn die Erinnerung an dieses Sonnenkind pflegen und unseren Zorn, daß sie uns genommen wurde. Ich danke euch von Herzen.« Er weinte nicht, er setzte sich und griff nach seiner Kaffeetasse, die er zittrig an die Lippen führte. Narben-Otto legte begütigend eine Hand auf seine Schulter. Es wirkte vertraut und sehr liebevoll.
Ich wartete eine halbe Stunde, in der ich zwei Stücke einer widerlich süßen, aber herrlich pampig schmeckenden Buttercremetorte verschlang, die unheimlich grün war, weil mit Kiwi belegt, und die mir das Gefühl gab, mir mehr Kalorien zuzuführen als sonst im Laufe einer ganzen Woche. Dazu vier Tassen Kaffee. Und dazu das Geplätscher der jungen Leute, die niemals laut wurden, mit schrägen Blicken auf Julius Berner flüsterten und mit zierlichen Bewegungen aßen und tranken. Ich suchte nach dem naivsten Gesicht und begriff plötzlich betroffen, daß es kein naives Gesicht gab. Die Frauengesichter unter der Schminke, die bleichen, gemeißelten Männergesichter waren auf eine erschreckende Weise ohne Konturen und sehr hart. Wenn jemand gesagt hätte: »Alle Frauen heißen Beate und alle Männer Thomas, und alle tragen den Namen Meier«, mich hätte es in diesen Sekunden nicht verwundert.
Ich bemerkte, daß sich Rodenstock mit einer jungen Frau unterhielt, daß sie gemeinsam aufstanden und zu einer Sitzgruppe gingen. Emma hatte sich einen jungen Mann ausgesucht, dessen Schultern seltsam hängend waren und der stark nach vorn gebeugt ging.
Links von mir saß ein junger Mann, der leicht nach einem Männerparfüm duftete und mit dem ich bis jetzt kein Wort gewechselt hatte. Er wirkte versunken, und ohne Zweifel war er betroffen und traurig. Zudem war er nervös, denn seine rechte Hand, die dicht neben mir vor der Kaffeetasse auf dem Tisch lag, hatte ein Eigenleben entwickelt. Die Finger zuckten ständig in scheinbar unkontrollierten Bewegungen, und zuweilen strichen sie über die Tischdecke, um dann plötzlich leicht auszuschlagen, als habe jemand ein brennendes Streichholz darunter gehalten. Die Hand stand in krassem Gegensatz zu dem Gesicht, zu seiner ganzen Figur, sie wirkten stoisch ruhig, durch nichts aus der Ruhe zu bringen.
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?« fragte ich ihn.
»Oh ja, selbstverständlich«, lächelte er. »Ich bin der Knut.«
»Ich bin Siggi Baumeister«, nickte ich.
Wir standen auf, und er war zwei Köpfe größer als ich.
»Wir könnten uns dort hinten auf die Chaiselongue setzen«, er wies in eine Richtung. Er hatte wirklich Chaiselongue gesagt. Das wirkte irgendwie rührend.
Wir setzten uns auf die Chaiselongue, und er zog ein Päckchen Tabak aus seinem Jackett. Er sagte fast unhörbar: »Entschuldigung, ich brauche das jetzt!« und begann sich eine Zigarette zu drehen. Dann griff er erneut in sein Jackett und zog eine Handvoll Haschisch-Pieces aus der Tasche. Er öffnete drei und streute sie auf den Tabak. Schließlich leckte er das Papier und zündete die Zigarette an.
»Ist nicht fachmännisch, ist keine Tüte«, erklärte er. »Ich habe das lieber normal. Das stört Sie doch nicht, oder?«
»Nicht die Spur«, versicherte ich ihm und schnupperte den stark nach Vanille riechenden Stoff. »Roter Afghan?«
»Roter Afghan«, nickte er. »Wollen Sie auch?«
»Nicht jetzt«, lehnte ich dankend ab und stopfte mir die Spitfire von Lorenzo. Ich überlegte, wie ich vorgehen sollte, und fand keine eindeutige Marschrichtung. Was konnte dieser Junge, der vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt war, denn schon wissen? Gut, ein paar Gerüchte, etwas, das jeder aus der Clique wußte. Ich schätzte die Situation als hoffnungslos ein und entschloß mich einfach für den direkten Angriff und eine ganze Serie von Bluffs. Dabei erinnerte ich mich an meinen Vater, der einmal gutgelaunt erklärt hatte: »Halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld!«
Ich eröffnete: »Etwas, was mich total irritiert, ist, daß die meisten Leute den Julius Berner als einen höchst angenehmen, freundlichen Mann beschreiben. Andererseits gibt es aber auch Leute, die sagen, er sei ein unheimlich brutaler Unternehmer, der die Konkurrenz an die Wand hängt und mit Hilfe von politischen Freunden seine Süppchen kocht. Entschuldigen Sie, wenn diese Frage etwas naiv klingt, aber ich versuche einfach, das Bild zu komplettieren, das ich habe. Was ist er denn nun? Ein freundlicher Mann oder ein brutaler Unternehmer?« Ich lächelte Knut an, und sicherlich war es richtig, ihm die Chance zu geben, mich wirklich aufzuklären, mir wirklich zu helfen.
»Ich denke mal, er ist beides.« Er zog gewaltig viel Haschisch auf die Lunge und horchte in sich hinein, ob das Gift auch gut ankam. Anscheinend kam es gut an, denn er schloß genießerisch die Augen. »Es ist doch klar, daß er beides ist. Muß so sein.« Er seufzte. »Das Leben schenkt uns doch nix, oder? Du mußt nehmen, was du kriegen kannst, und du darfst niemals fragen, ob es dir auch zusteht, du mußt es einfach nehmen.«
»Sehr richtig!« lobte ich. »Was machen Sie beruflich?«
»Wir könnten uns duzen, oder? Ist doch einfacher.«
»Sicher, natürlich. Also, Knut, was treibst du beruflich?«
»Ich studiere. Psychologie und so. In Marburg. Die Stadt gefällt mir, ist ein bißchen hinter dem Mond, aber wirklich nett.«
»Warum Psychologie?« Ich schmierte ihm Honig ums Maul, viel Honig. »Psychologie ist nicht gerade einfach. Geht es dir um die Menschen?«
»Selbstverständlich«, antwortete er schnell. »Ich will später eine Praxis aufmachen. Ich habe gedacht, daß ich mich um mißbrauchte Kinder kümmere.«
»Schwieriges Terrain«, erkannte ich an. »Warum das? Bist du mißbraucht worden?«
»Nein, oh nein. Kinder faszinieren mich einfach. Und dauernd werden kleine Mädchen mißbraucht und umgebracht. Wenn du mich fragst, stimmt etwas nicht mit diesem Land.«
»Da sagst du was!« nickte ich. »Was machen deine Eltern?«
»Mein Vater hat einen Autoteile-Handel. Acht Filialen in Nordrhein-Westfalen. Meine Mutter, na ja, meine Mutter ist Hausfrau.«
»Hast du Geschwister?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Wie kommst du in diese Clique?«
»Eigentlich schon irgendwie durch den Kindergarten. Unsere Eltern sind ja auch eine Clique. Dazu gehören Julius Berner und diese Karnevalsjecken, mein Vater, meine Mutter und so. Du gehörst dazu, und irgendwie ist das auch gut. Aber wenn du schon nach Julius fragst, dann muß ich sagen, daß er der stärkste Typ ist, den ich in Düsseldorf kenne. Mein Vater sagt immer: Julius hat die meisten Neider, deshalb hat er auch am meisten Erfolg. Früher muß das noch viel schlimmer gewesen sein.«
»Was meinst du mit früher?«
»So vor zehn oder zwanzig Jahren. Mein Vater hat mal erwähnt, Julius habe einen internationalen Rekord im Pleitemachen aufgestellt. Muß so gewesen sein.«
Vorsicht, Baumeister, Glatteis!
»Also, in Düsseldorf ist er der härteste Knochen?«
»Ja, klar. Und diese Pleitezeiten sind ja längst vorbei. Hier jedenfalls ist er ein ganz anderer Mensch, und wir finden ihn alle klasse. Wenn es einem von uns dreckig geht, kann er jederzeit zu Julius gehen und bekommt Hilfe, egal, was passiert ist. Wenn du in irgendeiner Finanzscheiße steckst, fragt er nicht lange, sondern hilft. Und es ist auch nicht wichtig, ob du ihm das Geld zurückgibst oder nicht.«
»Er ist also ein liebevoller Helfer? So, wie er auch Narben-Otto geholfen hat?«
»Ganz genau«, nickte Knut. »Julius vergißt niemals einen Menschen, der ihm mal selbst geholfen hat. Schreibst du über die Sache hier?«
»Wahrscheinlich, ich weiß es noch nicht genau. Wie war dein Verhältnis zu Cherie?«
»Sie war eine tolle Nummer«, sagte er tonlos. »Scheiße!«
»Sie war auch immer für euch da, oder?«
»Immer«, nickte er und schluckte schwer. »Als Tina schwanger war, haben wir eine Scheißangst gekriegt, aber Cherie hat das arrangiert. Bei Bettina auch, und auch bei Margret. In der Clique hilft eben jeder jedem.«
»Und Julius wußte davon?«
»Nein, das glaube ich nicht. Um so einen Kokolores kann er sich nicht kümmern. Er sagt immer, so was ist unser Bier.«
»Laß mich das verstehen: Du pennst mit Tina, und Tina wird schwanger. Und dann arrangiert Cherie die Abtreibung. Ist das richtig?«
»Korrekt!« sagte er. »So läuft das.«
Nicht sofort nachfragen, Baumeister! Konzentriere dich auf ihn, konzentriere dich auf seine Stärken.
»Somit ist Julius so eine Art Übervater?«
»Ganz bestimmt.« Der Ausdruck gefiel ihm.
»Aber so eine Sache wie bei Tina, die macht ihr unter euch ab und schweigt drüber?«
»Genau. Bei Tina war das ganz schön brenzlig, weil ihre Mutter ausgeflippt wäre. Die hätte sie todsicher in die Staaten geschickt oder weiß der Geier wohin. Tina hat die ersten drei Monate nichts gesagt. Sie hat zugegeben, daß sie das Kind gerne gekriegt hätte. Aber dann hat Narben-Otto ein paar Takte mit ihr geredet. Väterlich. Damit war das Problem aus der Welt.«
»Du liebst Tina, nicht wahr?«
»Ja«, nickte Knut. »Darf ich auch mal eine Frage stellen?«
»So viel du willst, kein Problem.«
»Hast du schon einen Verdächtigen?«
»Habe ich nicht, habe ich ehrlich nicht. Weißt du einen?«
»Nein. Was ist, wenn irgend jemand dir sagt: Der und der war es! Was passiert dann?«
»Das weiß ich nicht. Was würdest du tun?«
»Ich würde ihn erschießen«, antwortete er sofort. »Für diese Schweinerei gehört er erschossen.«
»Was hast du denn für die Abtreibung bei Narben-Otto bezahlt?«
»Fünf«, gab er bereitwillig Auskunft. »Das ist der Preis für die Clique.«
Ich war stark versucht, ihm die Hand zu geben und zu gehen. »Kennst du eigentlich jemanden, der den Julius Berner richtig haßt?«
»Nur Clown Enzo. Enzo Piatti. Das ist ein italienischer Junge. Mein Alter. Er behauptet, Julius habe seinen Vater in den Tod getrieben.«
»Was ist mit dem Vater?«
»Der hat sich aufgehängt. Enzo hat dann eine Boutique aufgemacht. In der Oststraße, glaube ich. Aber Enzo ist ein Schwätzer, und ich glaube, er ist auch schwul.«
»Hast du was gegen Schwule?«
»Eigentlich sind sie mir scheißegal, so lange sie mich in Ruhe lassen. Aber irgendwas stimmt doch nicht mit denen.«
»Sagt Julius das auch?«
»Julius hat mal gesagt, er findet Schwule widernatürlich. Wie Vieh. Na ja, so streng muß man ja nicht sein. Julius ist eben stockkatholisch, und der Bischof aus Essen geht bei ihm ein und aus. Da muß er ja so sein.«
»Warst du bei der Abtreibung dabei?«
»Oh nein. Ich habe Tina zu Narben-Otto gebracht. Und sie sagt, er hat ihr nicht die Spur weh getan. Sie blieb eine Nacht im Bauwagen, und das war es dann. Schon gut, wenn man einen Arzt in der Clique hat.«
»Daß wir uns richtig verstehen: Du hast fünftausend gezahlt, nicht fünfhundert.«
»Richtig.«
»Wie finanzierst du das?«
»Ich habe das Geld von meinem Vater gekriegt, und der wußte, wofür es war. Meine Mutter wußte natürlich nichts, aber die will so was auch gar nicht wissen.«
»Knut, du bist sehr offen, ich danke dir.«
»Du wirst mich ja nicht zitieren?« fragte er und wurde eine Spur unsicher.
»Das würde ich nie tun«, versicherte ich ihm. »Gehst du übrigens auch auf die Jagd?«
»Nie. Keiner aus der Clique geht auf die Jagd. Mir ist das zu primitiv. Ich wünsche dir viel Glück bei den Recherchen. Das wird schwer«, sagte er wichtig.
»Glück werde ich brauchen«, bedankte ich mich und stand auf. Etwas panisch dachte ich: Ich will hier raus! Ich kriege keine Luft mehr!
Rodenstock sah mich auf die Tür zugehen und hob matt die Hand. Auch Emma registrierte, daß ich ging. Sie nickte mir zu, was hieß: Ich komme nach. Sie ließen mich nur wenige Minuten warten, dann schlenderten sie händchenhaltend auf den Parkplatz.
»Die Frau, mit der ich geredet habe, war nichts«, berichtete Rodenstock monoton. »Alles ist prima, sagt sie, alles paletti, keine Schwierigkeiten, Berner ist phantastisch, Cherie war phantastisch, Mathilde Vogt war phantastisch, Narben-Otto ist richtig süß, und Stefan Hommes würde sie gern mal im Dunkeln treffen, aber der will nicht. Laß mich mal ans Steuer, ich muß mich abreagieren.«
Emma zündete sich einen Zigarillo an. »Der Junge, mit dem ich geredet habe, kann sich nicht vorstellen, weshalb Cherie tot ist. Sie war ein Engel, Berner ist ein Engel, Narben-Otto hat eindeutig Engelhaftes. Es war langweilig.«
»Narben-Otto macht die Abtreibungen in der Clique«, erzählte ich. »Fünftausend pro Fall. Julius Berner hat in der Vergangenheit mal eine ganze Serie von Pleiten hingelegt. Als Unternehmer muß er eine knallharte Nummer sein, ein ziemlich gehaßter Mensch. Wir müssen an einen gewissen Enzo ran. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß es in der Clique eine Sorte Leben gibt, von dem Berner nichts weiß, weil er davon nichts wissen will. Er hilft jedem, der ihn um Hilfe angeht – auch finanziell. Mir wird das alles immer unheimlicher. Auf jeden Fall könnte Narben-Otto der Mörder sein, wenngleich ich für ihn kein passendes Motiv sehe. Es sei denn, er ist erpreßt worden. Aber wer soll den Mann erpressen? Bei dem ist doch nichts zu holen. Ich weiß nicht, ich bin mit meinem Latein am Ende.«
»Vielleicht ist Narben-Otto ein Mensch, der getan hat, was man ihm befahl«, überlegte Emma.
»Und was befahl man ihm?« fragte Rodenstock.
»Zu töten«, murmelte Emma. Dann, plötzlich sehr lebhaft: »Was tun wir jetzt? Suchen wir den Botaniker mit seinem Opel Kombi?«
»Heute tue ich nichts mehr«, sagte ich. »Ich bin müde. Vielleicht sollten wir nachforschen, was denn Narben-Otto mit dem Zoll zu tun hat.«
»Da hätte ich eine Nummer«, sagte Rodenstock. »Da gab es mal jemanden, dem ich einen Gefallen getan habe.«
Wir rollten auf meinen Hof, und Emma sagte: »Ich sollte vielleicht etwas kochen. Vielleicht Rührei mit Schinken und dazu ein Brot?«
»Das wäre toll«, Rodenstock legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich kümmere mich mal um meinen Zollfritzen.«
»Was Richtiges zu essen wäre sehr gut«, sagte ich. »Ich muß unbedingt die Buttercremetorte vergessen.«
Ich ging ins Schlafzimmer und legte mich auf mein Bett. Dann dachte ich daran, daß unter besseren Umständen jetzt Dinah neben mir liegen könnte, und stand augenblicklich auf. Statt zu schlafen, las ich im Wohnzimmer einen Bericht über den amerikanischen Präsidenten, der – welche Ungeheuerlichkeit! – irgendeiner kleinen, geilen Amazone seinen Schwanz hingehalten hatte oder so etwas in der Art. Jetzt bat er die ganze amerikanische Nation und seine Ehefrau um Verzeihung. Warum er nicht gleich zu Beginn der Geschmacklosigkeiten gesagt hatte, das alles gehe die Nation einen Scheißdreck an, wollte mir nicht in den Kopf. Aber mir wollte in den letzten Tagen ohnehin nicht sehr viel in den Kopf, und im Grunde waren mir die Dünnbrettbohrer in Washington egal.
Wir aßen und schwiegen uns an. Schließlich teilten wir uns höflich mit, daß wir total müde seien, und verzogen uns. Rodenstock verschwand mit Emma im Gästezimmer, und ich versuchte erneut mein Bett im Schlafzimmer. Ich schlief sofort ein.
Es war drei Uhr, als Rodenstock die Tür aufstieß und erregt rief: »Wir sollten losfahren, Baumeister.«
»Was sollten wir?«
»Losfahren!« wiederholte er. »Narben-Otto hat den Löffel abgegeben.« Dann begriff er, was er gesagt hatte. »Entschuldigung. Narben-Otto ist tot. Kischkewitz rief eben an. Wir sollen kommen. Also, zieh dich an.« Rodenstock sah aus wie ein verängstigtes Kind, das sich in einem viel zu großen Schlafanzug verkrochen hat. »Ach ja, und noch etwas: Du sollst eine Kamera mitbringen. Kischkewitz kann seinen Fotografen nicht erreichen. Emma ist schon so gut wie startklar.«