41
Der Gehweg sah aus wie ein Strom aus Blut. Die terrakottaroten Steine beflügelten Pits Phantasie, seine angespannten Nerven spielten ihm Streiche. Ihn störte alles, auch das verräterische Licht der Laternen. Momentan hätte er sich in einem stockfinsteren Park am wohlsten gefühlt.
Zusammen mit Nasrin überquerte er den weitläufigen Campus des Virchow-Klinikums der Berliner Charité. Sie hatten eine weniger anstrengende Verkleidung gewählt, soll heißen: keine Veränderung der Körpergröße, keine zusätzlichen Pfunde auf den Rippen, nur einige kosmetische Korrekturen im Gesicht und bei der Haarfarbe.
Nasrins Hand tastete nach der seinen und umschloss sie. Ihre Wärme tat ihm gut. »Entspann dich! Uns erkennt niemand«, sagte sie leise.
Er lächelte gequält. »Hauptsache, ich muss keine Autogramme geben, weil mich jemand für Boris Becker hält.«
»So ähnlich siehst du ihm auch wieder nicht. Ich mache mir eher Sorgen, dass wir deinen Freund nicht mehr antreffen.«
»Steffen?« Pit lachte und sah auf seine Armbanduhr. Es war ungefähr fünfzehn Minuten nach acht. »Wenn er die Kartusche bekommen hat, brütet er die ganze Nacht darüber. Der gute Professor Ohrlos ist ein Workaholic.«
»Hoffentlich ist die Polizei diesmal nicht vor uns da.«
Der Vorfall im DRK-Generalsekretariat hatte beide verunsichert. Im Blutspendezentrum jedenfalls war Pit so umsichtig wie nur möglich vorgegangen. Er hatte zuletzt sogar das Brecheisen in den Keller zurückgebracht und die Fingerabdrücke mit einem öligen Lumpen abgewischt. Es gab allerdings eine Spur, die hatte er nicht beseitigt: seine Fußabdrücke. »Bei der nächsten Lyse nehme ich meine Kleider mit«, brummte er.
»Vielleicht fängst du mit der Unterwäsche und den Schuhen an«, schlug Nasrin vor. Den ganzen Freitag über hatte er im Gartenhaus seines Vaters geübt und einige vielversprechende Fortschritte gemacht.
Sie näherten sich dem Eingang des humangenetischen Instituts. Pit sah sich noch einmal nach allen Seiten um. Abgesehen von zwei angeregt miteinander redenden Krankenpflegern, die in Richtung Mittelallee marschierten, war niemand zu sehen.
»Abgeschlossen«, bemerkte Nasrin, die inzwischen an der Eingangstür gezogen hatte. Daneben befanden sich ein Wippschalter und ein Kameraauge.
Pit blickte direkt ins Objektiv, drückte die Wippe und wartete.
»Das Institut hat geschlossen. Kommen Sie morgen zu den Bürozeiten wieder«, meldete sich kurz darauf eine unwirsch knarrende Stimme. Es war Steffen Ohrlos.
Pit legte seine Maske ab. »Für deinen alten Sportsfreund hast du doch sicher Zeit für einen Plausch.«
»Pit!«, schnarrte der Lautsprecher. »Wie hast du das angestellt?«
»Könnten wir drinnen darüber weiterreden?«
»Komm in den Labortrakt, Raum C!« Ein Summer ertönte.
Pit zog die Tür auf und winkte Nasrin ins Gebäude. Als sie über die Schwelle trat, legte auch sie ihre Maske ab. Die beiden eilten den Gang entlang, der zu den Laboren führte. Als sie den besagten Raum betraten, fanden sie Ohrlos telefonierend vor. Er legte gerade auf.
»Hast du die Polizei gerufen?«, fragte Pit argwöhnisch.
Sein Ruderkamerad kam auf ihn zu. Er trug einen weißen Laborkittel. »Nein. Obwohl ich heute ein paarmal dicht davorstand. Ich habe mit deinem Freund Elias Meerbaum telefoniert.«
Pit erschrak. »Du hättest mich erst fragen sollen!«
»Aber du hast ihn doch selbst als Mittelsmann vorgeschlagen. Als ich heute mit mir haderte, ob ich dein Paket den Behörden übergeben soll, rief ich ihn an. Das war dein Glück, Pit, denn Elias hat mir glaubhaft versichert, dass du unschuldig bist. Und jetzt wäre ich dir dankbar, wenn du mir diese reizende junge Dame vorstellen würdest.«
Das tat Pit dann auch. Ohrlos ließ es sich nicht nehmen, Nasrin die Hand zu küssen.
»Ich habe selten ein so bezauberndes Wesen wie Sie gesehen, Frau Nafil«, schmeichelte er.
»Dann solltest du öfter mal Modemagazine lesen statt immer nur Fachzeitschriften über Genetik und regenerative Therapien«, brummte Pit.
Ohrlos zwinkerte Nasrin zu. »Hat er häufiger solche Anwandlungen?«
»Pit ist in letzter Zeit etwas angespannt. Aus gutem Grund.«
Der Anflug von Heiterkeit wich aus dem Gesicht des Professors. »Ja. Das kann ich verstehen.« Er wandte sich an Pit. »Schrecklich, was da passiert ist. Ihr wollt wahrscheinlich wissen, was ich über die Kartusche herausgefunden habe. Das Ding kommt mir ein bisschen vor wie die Büchse der Pandora.«
Pit erschauerte. »Wie meinst du das?«
»Ihr kennt den griechischen Mythos?« Ohrlos richtete seine Frage an Pit und Nasrin. Ersterer nickte, Letztere runzelte die Stirn.
»Zeus gibt der ersten Frau Pandora als Geschenk für die Menschen eine Büchse, die sie auf keinen Fall öffnen soll«, dozierte der Professor. »Pandora heiratet den Bruder des Prometheus. Nach der Hochzeit erliegt sie der Schwäche aller Frauen … Pardon! Menschen. Sie öffnet – was der alte Fuchs Zeus natürlich geahnt hat – das vermaledeite Behältnis, und ihm entweichen Krankheiten, Tod und alle Übel der Welt.« Ohrlos zuckte mit den Achseln. »Der Winkelzug war die Retourkutsche, mit der sich der Oberneurotiker im Pantheon an Prometheus rächte, weil der den Göttern das Feuer gestohlen hatte.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was die Filterkartusche damit zu tun hat«, sagte Pit.
Ohrlos berichtete, was er am Vormittag schon Elias Meerbaum erzählt hatte, und schilderte anschließend seine neuesten Erkenntnisse. »Inzwischen weiß ich, dass es zwei verschiedene Arten von Zusatzbehältern gibt. Ich habe sie Typ G und V genannt. G steht für ein bestimmtes Globulin.« Er wandte sich an Nasrin. »Das ist ein Protein, ein Eiweißstoff im Blut …«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn.
»Oh! Und ich dachte, Models kennen Eiweiß nur aus ihren Diätplänen«, wunderte sich der Genetiker. Erst als die Worte heraus waren, bemerkte er wohl seine politisch unkorrekte Äußerung. Er hüstelte verlegen und deutete auf die Teile, die auf dem Tisch lagen. »Nun, jedenfalls passiert, stark vereinfacht, in diesem winzigen Miniaturlabor Folgendes: Das Blut durchströmt den Filter, und ein raffiniertes technisches Verfahren extrahiert das spezifische Globulin.«
Nasrin verdrehte die Augen zur Decke. »Ihr Ärzte seid alle gleich!«
Der Professor wandte sich Hilfe suchend seinem Geschlechtsgenossen zu.
»Kannst du uns schon Genaueres über das Globulin sagen?«, fragte Pit.
Ohrlos schüttelte den Kopf. »Aus Gründen der Sicherheit analysiere ich den Inhalt der Zusatzbehälter gerade in unserem S3-Labor. Gib mir dafür noch etwas Zeit. Da der Auffangbehälter so winzig ist, könnte es sich um ein sehr seltenes, bisher nicht identifiziertes Protein handeln. Im menschlichen Blut zirkulieren mehrere Tausend verschiedene Arten, und die Forschung hat bislang erst einige Hundert bestimmt.«
»Also gut«, resümierte Pit. »Zeno siebt – illegal, nehme ich an – spezielle Proteine aus Spenderblut heraus …«
»Den Rohstoff für den Trank der Hoffnung«, warf Nasrin grübelnd ein.
»Was meint sie damit?«, fragte Ohrlos verwirrt.
»Später!«, brummte Pit ungeduldig. »Bis jetzt habe ich von dir nichts gehört, das auch nur annähernd den Vergleich mit der Büchse der Pandora standhielte.«
»Weil ich noch nichts über den Typ V gesagt habe. Es ist kein Sammel-, sondern ein Spendenbehälter.«
Pit fröstelte. »Du meinst, es wird etwas zum Spenderblut hinzugefügt?«
Ohrlos nickte ernst. »Die Mengen sind sehr gering …«
»So ungefähr ein Tausendstel des Gesamtvolumens?«
Die dichten Augenbrauen des Professors hoben sich. »Woher weißt du das?«
Pit zögerte. Sollte er über seine Entdeckung im Archiv des Roten Kreises reden? Vertrauen gewinnt nur, wer Vertrauen schenkt!, rief die Stimme seines Vaters aus den Hallen der Erinnerung. »Ich war im Generalsekretariat des DRK. Die kriminelle Gruppe, von der ich dir geschrieben habe, hat deren Blutspendedienst unterwandert. Sie reichern seit Jahrzehnten das Spenderblut mit etwas an, das ungefähr ein tausendstel Prozent der Gesamtmenge ausmacht. Wofür steht das V in diesem Typ von Behältern?«
»Für Virus«, antwortete Ohrlos mit versteinerter Miene.
Nasrin atmete hörbar ein. »Sie schleusen Viren in die Blutkonserven?«, machte sie ihrer Fassungslosigkeit Luft.
Ohrlos nickte ernst. »Es handelt sich um abgetötete Viren, die genetisches Material enthalten. Sie können es mit einer Spritze vergleichen, Frau Nafil, die Sie beim Arzt bekommen. Der Unterschied: Die Empfänger der Blutprodukte, die mit diesen Viren kontaminiert sind, merken nichts von der DNA-Injektion. Ist dieser Umbau des Genoms dauerhaft, sprechen wir Genetiker von einer stabilen Transfektion …«
»Nicht so schnell!«, unterbrach Nasrin ihn. Ungläubig wechselte ihr Blick zwischen dem Professor und Pit hin und her. »Verstehe ich Sie richtig? Die Viren bauen das Erbgut von Millionen Menschen um?«
Der Wissenschaftler deutete auf Einzelteile aus dem Zylinder. »Wenn sämtliche Blutfraktionierer von Zenon solche Kartuschen enthalten, ist Ihre Darstellung zutreffend. Die Manipulation betrifft übrigens auch die Kinder der Transfusionsempfänger. Sie erben von ihren Eltern die implantierten Genabschnitte.«
»Und was passiert dann mit ihnen? Werden sie dumm? Verändert sich ihr Aussehen?« Nasrin schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich nicht. Dazu muss ich erst eine Gensequenzierung vornehmen. Und selbst wenn ich die Molekularstruktur sämtlicher Gene kenne, weiß ich noch nichts über ihre Funktion. Es könnte Jahre dauern, dieses Rätsel zu lösen.«
Als Arzt ging Pits Phantasie viel weiter als die von Nasrin. »Es gibt keine klinischen Ergebnisse, die auf eine breite Infektion von Transfusionsempfängern hindeuten«, erklärte er und versuchte, das Unfassbare auf ein erträgliches Maß zu schrumpfen.
Ohrlos sagte nur zwei Worte. »Kill Switch.«
»Mörderschalter?«, übersetzte Nasrin den Fachbegriff.
»Steffen meint genetische Schalter«, erläuterte Pit müde. Er zog sich einen Rollstuhl heran und sank darauf nieder. Seine Knie waren wachsweich. Er beneidete Nasrin um ihre Ahnungslosigkeit.
»Und wie macht man das?«, fragte sie.
»Durch Kontakt mit bestimmten chemischen Verbindungen«, antwortete Ohrlos.
»Oder mit Blut«, murmelte Pit. Sein Mund war ganz trocken. Offenbar hatte Zekarias bei ihm auch so einen Kill Switch umgelegt. »Es könnte mit Bakterien oder Viren kontaminiert sein, die dann die Erbsubstanz des Infizierten angreifen«, fügte er auf den fragenden Blick seines Freundes hinzu.
Der Professor nickte. »Ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen. Verschiedene Wege sind denkbar.«
Pit schüttelte den Kopf. »Millionen Menschen tragen womöglich eine Zeitbombe in sich, die hochgeht, sobald jemand den Schalter umlegt. Könntest du den Typ-V-Genkomplex mit den einschlägigen Biobanken abgleichen? Vielleicht finden sich ähnliche Sequenzen in Krankheitserregern oder bei Krebspatienten.«
»Das hatte ich sowieso vor, wenn die Sequenzierung der Viren-DNA abgeschlossen ist.«
»Aber sei vorsichtig, Steffen! Ich will nicht, dass es dir wie meiner Kollegin Kim Schneidewind ergeht. Wie lange brauchst du, um das komplette Genom des Virus aufzuschlüsseln?«
Ohrlos wiegte den Kopf hin und her. »Zwei bis drei Tage, Minimum. Da habe ich dann aber noch keine Biodatenbanken …«
»Warte!«, unterbrach ihn Pit mit erhobener Hand. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er lauschte.
»Was ist?«, flüsterte Nasrin.
»Sie kommen«, raunte er.
»Wer?«, fragte Ohrlos.
»Die Domen.«