9
Pits Hände zitterten, als er die Haustür in der Hornstraße 16 aufschloss. Nicht nach Alkohol verlangte sein Körper, sondern nach Geborgenheit. Nach der erlösenden Stille, die man nur jenseits von Ängsten und Sorgen fand. Solche Ruhe kannte er lediglich als ferne Erinnerung. Nach Majas Tod war er sogar froh gewesen über die Doppelschichten, weil sie ihn von der Trauer und den Selbstvorwürfen abgelenkt hatten. Und nun war eine neue Angst hinzugekommen.
Mit hängendem Kopf machte er sich an den Aufstieg in den zweiten Stock – das Bild eines alten Mannes, dem die Kräfte schwinden. Jeder Schritt pumpte quälende Fragen in seinen Sinn: Wer war Zekarias? Und wer die Domen? Warum sollte ausgerechnet er, ein Gefühlskrüppel mit Staatsexamen, dem Strom aus Blut folgen?
Und was um Himmels willen hatte Katharina Nour mit alldem zu tun?
Ihm wollte einfach kein vernünftiger Grund einfallen, warum eine Kripobeamtin sich so verhalten könnte, wie es diese Frau seit ihrer ersten Begegnung …
»Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr.«
Pits Kopf ruckte hoch. Auf dem Treppenabsatz über ihm saß sie: Katharina Nour. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. »Was wollen Sie?«, fragte er lauernd.
Sie erhob sich und lächelte. »Sie sehen mich an wie ein Gespenst. Haben Sie wieder getrunken?«
»Ich bin stocknüchtern«, erwiderte er zornig. Er fühlte sich ertappt. »Warum mischen Sie sich ständig in mein Leben ein?«
»Tue ich das?«
»Heute früh haben Sie in der Rettungsstation angerufen und später in der Sicherheitszentrale der BVG. Woher wussten Sie überhaupt, dass ich da aufschlagen würde?«
»Das war nicht schwer zu erraten. Sie sind verwirrt und haben Fragen. Für jemanden wie Sie ist die Leitstelle der Verkehrsbetriebe die einzige Hoffnung auf Antworten.«
»Für jemanden wie mich? Heißt das, Sie kennen die Antworten bereits? Haben Sie sich deshalb gar nicht erst die Mühe gemacht, in die Sicherheitszentrale zu fahren? Sie wissen ja sowieso, was auf dem Video zu sehen ist.« Er dachte dabei an Nours Zusammentreffen mit Zekarias unmittelbar vor dem Unglück.
Im Obergeschoss öffnete sich klappernd eine Wohnungstür. »Könnta euer Schäferstündchen nich andaswo abhalten?«, keifte die Gostomski. Die Nachbarin war sehr geräuschempfindlich.
Nour lächelte ihn an. »Wäre ohnehin besser.«
Das Hauslicht erlosch.
Pit erschauderte. Im Dunkeln war ihm diese Frau noch unheimlicher als bei Licht. »Bekomme ich von Ihnen diesmal Antworten? Oder tragen Sie immer noch Ihren behördlichen Maulkorb?«, raunte er.
»Ich schlage Ihnen einen Handel vor«, erwiderte sie leise. »Sie erzählen mir, was Sie auf den Videos der Überwachungskameras gesehen haben, und ich beantworte Ihnen einige Fragen.«
Er ließ den Atem vernehmlich durch die Nase entweichen. »Meinetwegen. Ich bin Ihnen ja sowieso noch einen Kaffee schuldig.«
»Machen Sie's sich bequem. Ich bin gleich bei Ihnen«, sagte Pit und wies auf die Wohnzimmertür. Er hängte seine Jacke an die Garderobe. Nour hatte die ihre anbehalten wollen, wohl um die einschüchternde Dienstwaffe zu verdecken.
»Danke«, antwortete die Kommissarin und schlug die bedeutete Richtung ein.
Pit eilte in die Küche. Er zerrte an seinem grünen Poloshirt herum, um die Achselhöhlen auf Schweißgeruch zu kontrollieren. Das Testergebnis erschien ihm akzeptabel. Als er den Blick hob, bemerkte er die Stapel ungespülten Geschirrs. Ihn durchfuhr ein kochend heißer Schreck. Er hatte die Unordnung im Wohnzimmer völlig vergessen. »Mein Aufbruch heute früh war ziemlich überstürzt!«, rief er zu seiner Entschuldigung.
»Ich kenne ja den Grund«, kam Nours Antwort zurück.
Ungeduldig entlockte er seinem Kaffeeautomaten die bestellte Tasse Espresso und lief damit in das Chaos.
Katharina Nour saß bereits auf dem Sofa. Sie stellte gerade mit ausdrucksloser Miene die leere Wodkaflasche auf den Tisch.
Pit wäre am liebsten im Boden versunken. Wie macht sie das nur?, durchzuckte es ihn. Die Frau zerrt jede deiner Schwachstellen ans Licht. Er reichte ihr über den Marmortisch hinweg die Espressotasse.
»Danke«, sagte sie mit bestrickendem Lächeln. »Setzen Sie sich doch zu mir! Dann plaudert's sich besser.«
Er wollte nicht unhöflich sein. Also nahm er am gegenüberliegenden Ende des Sofas Platz.
Nour rückte näher an ihn heran. Sie pustete mit schmalen Augen in die Tasse, trank dann aber doch nichts. »Sie haben gestern gefeiert?«, fragte sie. Ihr Blick sprang deutend zu der leeren Schnapsflasche.
»Gestern vor einem Jahr sind meine Frau und meine Tochter gestorben.«
Sie griff spontan nach seiner Linken und drückte sie. »Das haben Sie heute früh nicht gesagt. Ich war so taktlos. Bitte entschuldigen Sie.«
Er wich ihrem mitleidvollen Blick aus und betrachtete ihre schmalen dunklen Finger auf seiner Hand. Die Wärme eines mitfühlenden Menschen tat ihm gut. Er brachte es nicht fertig, davor zu fliehen so wie am Morgen. Stattdessen nickte er nur und kämpfte gegen die Tränen an. »Ist nicht Ihre Schuld. Ich bin im Moment nur ein Schatten meiner selbst.«
Nour stellte die Tasse auf den Tisch und baute mit ihren Händen ein Nest, in das sie seine Linke bettete, als wäre sie ein verängstigtes Küken. »Das kann ich verstehen, Pit«, hörte er ihre rauchige Stimme sagen. Sie klang so sinnlich, wenn sie seinen Vornamen aussprach. So viel Nähe durfte er sich wohl ebenfalls erlauben.
»Katharina, ich habe meine Frau geliebt. Ich liebe sie immer noch.«
Ihr Daumen streichelte seinen Handrücken. Sie lächelte bezaubernd. »Treue ist heutzutage ein seltenes Gut. Ich wünschte, mir wäre je so ein Mann wie Sie begegnet.«
Er räusperte sich. »Die Domen«, sagte er, um nicht völlig in Katharinas Bann zu geraten. »Wer sind sie?«
Ihre Miene verhärtete sich. »Eine Gruppe, die unerkannt unter den Menschen lebt.«
Diese Antwort steigerte eher seine Verwirrung. »Meinen Sie einen Geheimbund?«
»Geheimbund, Bruderschaft – diese Namen beschreiben die Natur der Domen nur unvollkommen. Sagen wir, sie sind ein sehr altes Geschlecht.«
»Eine Familie also.«
»Geht man weit genug in die Vergangenheit zurück, sind wir alle miteinander verwandt.«
»Was haben die Domen mit dem Strom aus Blut zu tun?«
»Das Blut erhält sie am Leben.«
»Was?«, entfuhr es ihm. »Sie wollen mir doch keine Vampirgeschichte auftischen.«
»Nein«, beruhigte sie ihn. »Es ist ein wenig … komplizierter.«
»Nicht nur Kriminalbeamte, auch Notärzte besitzen die Fähigkeit zu komplexem Denken. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Blut und den Domen?«
Katharina zögerte, so als ringe sie um verständliche Worte. »Deine Frau ist an einer Wasserlunge gestorben, nicht wahr?«
Mit dem Wechsel ins vertraulichere Du wollte sie das sensible Thema wohl verdaulicher machen. Er schreckte trotzdem zusammen und versuchte seine Hand aus dem Nest zu befreien. Es kam ihm plötzlich wie eine Falle vor. Die Polizistin hielt ihn fest. »Haben Sie mir nachspioniert?«, zischte er.
»Ich habe heute ein paar Erkundigungen über dich eingezogen. Reine Routine«, antwortete sie ruhig.
»Was hat Majas Tod mit den Domen zu tun?«
»Nichts. Und alles. Die Verbindung ist das Blut. Gleich wirst du mich verstehen. Maja litt unter akuter Atemnot, richtig?«
Er schluckte. Darüber zu reden fiel ihm immer noch schwer. »Sie hatte einen Autounfall und viel Blut verloren. Im Krankenhaus bekam sie die übliche Transfusion. Dabei hätte sie kein Fremdblut kriegen müssen. Heute bietet die Medizin in den meisten Fällen bessere Alternativen. Sie bergen weniger Risiken und die Patienten erholen sich schneller. Ich hätte meiner Frau eine ungefährlichere Therapie verordnet, schon um des Kindes willen. Aber ich war nicht da, als die zwei mich am dringendsten gebraucht hätte. Sechs Stunden später waren sie tot.«
»Somit hat sie das Blut getötet?«
Pit begann zu zittern. »Im Spenderblut waren Antikörper. Der Vorgang ist kompliziert …«
»Erklär's mir bitte in einfachen Worten.«
Er holte tief Luft, sein Atem flatterte. »Maja ist an TRALI gestorben, einer akuten Atemnot infolge einer Bluttransfusion. Ihre Granulozyten – bestimmte weiße Blutkörperchen – haben sich verklumpt und die haarfeinen Blutgefäße in der Lunge verstopft. Blutplasma drang durch die Kapillaren in das Zwischengewebe und die Lungenbläschen. Ihr Blut bekam nicht mehr genug Sauerstoff.« Er brach in Tränen aus und verlor die Kontrolle über sein Gesicht. »Maja und unser Kind sind jämmerlich erstickt, weil ich versagt habe«, war alles, was er mit schmerzverzerrter Miene aus sich herauspressen konnte. Danach weinte er hemmungslos.
Katharina rückte näher an ihn heran und umarmte ihn. Ihr warmer Atem umstrich sein Ohr, während ihre rauchige Stimme ihm Trost einträufelte. »Dich trifft keine Schuld, Pit. Du bist ein liebender Ehemann und wärst ein wunderbarer Vater geworden.«
Ihre Worte taten ihm so gut! Sie straften seine Selbstzweifel Lügen, waren Balsam für seine wunde Seele. Katharinas würziger Duft umhüllte ihn wie ein Traum vom Paradies. Er vergaß das Chaos im Wohnzimmer, vergaß seine Zweifel und Ängste, vergaß, dass es nicht seine Frau war, die er so stürmisch umarmte, vergaß sogar sich selbst. In seinem Paradiestraum war er wieder mit Maja zusammen. Er drückte sie, hörte sie, schmeckte sie, atmete sie. Er streichelte ihre Brüste, zerwühlte ihr Haar, berauschte sich an ihren Lippen …
Ein plötzlicher Schmerz riss ihn aus dem Traum, und die Illusion zerplatzte wie eine Seifenblase. Es war nicht Maja, die er umarmte, sondern eine Fremde. Was ist nur in dich gefahren?, klagte ihn sein Gewissen an. Er befreite sich aus der Umarmung und fasste sich an den Mund. Ein Tropfen Blut glänzte auf seiner Fingerkuppe. »Du hast mich gebissen!«, rief er fassungslos.
»Tut mir leid. Mir sind die Sicherungen durchgebrannt«, behauptete Katharina und griff nach seiner Hand.
Pit entzog sie ihr. Er war verwirrt. Was hast du getan?, warf ihm die innere Stimme vor. Maja ist erst seit einem Jahr tot. Du hast ihr ewige Treue geschworen. Und jetzt wirfst du dich der Erstbesten in die Arme …
»Du musst loslassen«, sagte Katharina. »Maja hätte sicher nicht gewollt, dass du für den Rest deines Lebens als Mönch lebst.«
»Was willst du wirklich von mir?«, entgegnete er kühl. »Darf eine Kommissarin überhaupt mit Zeugen rummachen? Es gibt doch sicher Dienstvorschriften …« Er verstummte, weil er plötzlich Gefahr witterte. Bislang hatte er die Existenz solcher Vorahnungen stets abgestritten. Nun aber fühlte er die gleiche Gewissheit wie am Morgen, als er einem alten Mann den baldigen Tod seiner Frau prophezeit hatte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Katharina. Ihr Blick huschte zu den Fenstern. Pits merkwürdiges Verhalten schien sie mehr zu ängstigen als zu überraschen. Sie zog ihre Dienstwaffe.
Plötzlich drang das Geräusch splitternden Holzes herein. Kein Krachen, kein Lärm, der sämtliche Nachbarn alarmiert hätte, nur ein hässliches Knirschen und Prasseln.
Jemand brach die Wohnungstür auf.
Pit und Katharina sprangen von der Couch hoch.
Schnelle Schritte waren zu hören, so leichtfüßig, dass die Dielen im Flur kaum knarrten. An der Wohnzimmertür erschien eine dunkelhäutige Riesin mit anrasiertem Kurzhaarschnitt. Über dem Schädeldach glich ihre Frisur einem Landeplatz für Modellhubschrauber. Sie trug einen knöchellangen Ledermantel und darunter einen engen Overall aus dem gleichen Material. Im Dunkel des wallenden Gewandes blitzten allerlei Accessoires auf, deren Zweck sich bald zeigen würde. Die Fremde war deutlich größer als Katharina. Ihr verstörender Anblick – androgyn, schön und gefährlich böse – erinnerte Pit unwillkürlich an die Sängerin Grace Jones in ihren wildesten Jahren.
Der Frau folgten drei weitere Amazonen, zwar von unterschiedlicher Hautfarbe, doch genauso gekleidet und beinahe so groß wie die Vorkämpferin. Zuletzt betrat ein Mann mit eingezogenem Kopf das Wohnzimmer, bei dessen Anblick Pit das Blut in den Adern stockte.
Es war der Gigant aus dem Albtraum der letzten Nacht. Der Riese, dessen böser Blick Menschen tötete.
Kein Zweifel, sein Gesicht wies die gleichen Merkmale auf, wie Pit sie von Patienten mit dem Sotos-Syndrom kannte: breite hohe Stirn, flache Nase, spitzes Kinn und weit auseinanderstehende Augen. Auch die gewellten Haare, die wie Rabenfedern glänzten, entsprachen dem Vorbild im Traum. Als der Gigant sich im Zimmer aufrichtete, stockte Pit der Atem. Der Kerl hatte die Statur eines Zehnkämpfers, aufgeblasen auf eine Körpergröße von mindestens zwei Meter vierzig.
Er heftete seinen stechenden Blick auf den einzigen anderen Mann im Raum, während er sich ihm ohne Eile näherte. Die Kleidung des Giganten hätte von einem Rockerausstatter stammen können: grobstollige Stiefel, enge schwarze Lederhose und ein langärmeliges T-Shirt, das seine Muskeln wie eine zweite Haut umspannte und mit einem grinsenden Totenkopf dekoriert war.
Er baute sich vor dem Wohnzimmertisch auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun erst fielen Pit die sechsfingrigen Hände des Kolosses auf – ebenfalls wie im Traum. Bei den vier Amazonen ergab der rasche Hexadaktylie-Check einen weiteren Treffer: Auch der Grace-Jones-Verschnitt besaß zwölf Finger. Pits Erstaunen über den unverhofften Besuch steigerte sich noch, als sich Katharina vor dem Giganten verneigte.
»Der ehrwürdige Ahiman hätte sich nicht herbemühen müssen. Ich hatte alles im Griff«, erklärte sie unterwürfig.
Entsetzt rückte Pit einen Schritt von ihr ab und starrte die Hand mit der Pistole an. Ja!, schrie es in ihm. Und wie du mich im Griff gehabt hast!
»Du bist also Pit Zuckmayer«, sagte der ehrwürdige Ahiman – Pit war sich nicht sicher, ob diese Bezeichnung ein Titel oder ein Name war. Die Stimme des Giganten brummte so tief, dass die eigensinnige Standuhr mit zitterndem Läutwerk dagegen aufbegehrte.
Die Amazonen fuhren herum, und Grace Jones schleuderte aus dem Dunkel ihrer Mantelschatten einen Metallstern hervor. Das Wurfgeschoss blieb im Ziffernblatt stecken und brachte die Uhr zum Schweigen.
Der Ahiman schüttelte sein schweres Haupt. »Spar dir deine Kräfte für echte Gegner auf, Zafirah.« Er deutete auf Rudis Hi-Fi-Anlage. »Wir wollen die Nachbarn nicht mit weiterem Lärm stören. Spiel ein Lied auf!«
Die Amazone mit der platten Frisur entschied sich für die CD Slave To The Rhythm von Grace Jones und startete den Titelsong in einer Endlosschleife. Bald füllte die tiefe Stimme der Jamaikanerin den Raum.
Pit hatte den Moment der Ablenkung genutzt und einen wütenden Blick auf Katharina abgeschossen. Das Echo aus ihren Augen war weit weniger böse. Sah er da einen Anflug von Reue?
»Antworte auf meine Frage!«, herrschte ihn der Gigant unvermittelt an.
Damit brachte er Pit heftig in die Bredouille. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Hilflos starrte er seinen Besucher an. Dessen kantige, mit schwarzen Bartstoppeln gespickte Visage wirkte wie die grob geschnitzte Maske eines afrikanischen Dämons. Gleichwohl deuteten der Schnitt seines Gesichts und die graubraune Haut eher auf einen Migranten aus dem Nahen Osten hin. »Ich kann mich an keine Frage erinnern«, gestand Pit schließlich.
»Ich sagte: Du bist also Pit Zuckmayer.«
»Das ist eine Feststellung.« Er merkte am sich verdüsternden Gesichtsausdruck des ehrwürdigen Ahiman, wie wenig dieser von Besserwissern hielt. »Eine Feststellung, die zutreffend ist«, ergänzte Pit rasch.
»Gestern hast du einem Mann geholfen«, sagte der Gigant. Seine Augen schienen geradewegs in Pits Kopf zu leuchten.
Die echte Grace Jones sang dazu den Refrain.
Never stop the
action,
Keep it up, keep it up.
»Ist das jetzt eine Frage?«, erkundigte sich Pit ohne langes Nachdenken. Der böse Blick des ehrwürdigen Ahiman sollte sich gar nicht erst entfalten können und ihn womöglich umbringen. Ein bedrohliches Knurren aus dem Brustkorb des Riesen spornte Pit zur Improvisation an. »Also, wenn es eine Frage war, beziehe ich sie auf jenen Mann, den gestern am Leopoldplatz ein U-Bahn-Zug erfasst hat. Er nannte sich Zekarias.«
»Was hat Zekarias dir erzählt?«
»Das habe ich Ihrer Spionin schon gesagt«, antwortete Pit und blitzte Katharina ein weiteres Mal an.
»Wiederhol es!«, insistierte der ehrwürdige Ahiman.
In Pit sträubte sich alles dagegen, sein Wissen mit diesem unheimlichen Gast zu teilen. Die Verweigerungshaltung schlug nach ungefähr drei Sekunden um. Der Blick des ehrwürdigen Ahiman schien sich in dieser Zeit aufzuheizen, bis er sich wie ein Laserskalpell anfühlte, das im Kopf die geforderten Erinnerungen freilegte. Pit hustete sie heraus wie blutigen Auswurf. Er war nicht imstande, etwas zurückzuhalten. Erst als er sein Gedächtnis gründlich ausgeräumt hatte, fühlte er sich besser.
»Folge dem Strom aus Blut?«, wiederholte der unheimliche Besucher die letzten Worte.
»Ja, das hat er gesagt«, keuchte Pit. Auf seiner Stirn perlte der Schweiß. Wie schafft er das?, fragte er sich. Wie kann dieser Kerl in meinen Gedanken herumwühlen wie in meiner Schreibtischschublade?
In Pits echter Schreibtischschublade und seinem Gemütszustand herrschten gleichermaßen die Gesetze der Chaostheorie: Jeder Versuch, ihnen Informationen zu entlocken, führte zu unvorhersehbaren Ergebnissen. Das schien auch dem ehrwürdigen Ahiman aufzufallen, denn seine ohnehin umwölkte Laune verdüsterte sich weiter.
»Was hat Zekarias dir gegeben?«, brummte er drohend. Die Glasfüllung in der Tür der eigensinnigen Standuhr klirrte.
»Er hat mir eine Ohrfeige gegeben«, antwortete Pit. Damit wollte er weder respektlos noch unpräzise sein. Er hatte vor Aufregung den USB-Stick in seiner mentalen Schublade verkramt.
Grace Jones feuerte ihn an.
Never stop the
action,
Keep it up, keep it up.
»Wo hast du den Datenspeicher verloren?«, fragte der ehrwürdige Ahiman und versetzte seinen Gastgeber in neue Nöte.
Pit erinnerte sich wieder an den Stick und war darüber entsetzt. Er lehnte den Glauben an Telepathie rigoros ab. Es gab keine Gedankenübertragung, Schluss, aus, basta. Nur – wie hatte dieser Kerl gerade sein Unterbewusstsein angezapft? »Ach, dieses USB-Dingsbums, meinen Sie?«, druckste Pit herum und versenkte beide Hände in den Hosentaschen.
Die Amazone Zafirah langte blitzschnell in ihren Mantel.
Pit erstarrte. »Ich suche nur den Stick.«
Der ehrwürdige Ahiman bedeutete ihr, ihn am Leben zu lassen.
Die Hände gruben sich eine Zeit lang durch die Taschen und kamen wieder zum Vorschein. Leer. »Er ist weg«, kommentierte Pit das Ergebnis seiner Nachforschungen. »Ich muss ihn tatsächlich verloren haben.«
»Ich glaube dir nicht. Du hast ihn irgendwo versteckt und versperrst deinen Geist vor mir«, knurrte der Gigant. »Öffne dich mir, damit ich die Wahrheit sehe! Sonst …« Er warf Zafirah einen Blick zu.
Pit zermarterte sich das Hirn. Wo habe ich das dämliche Ding gelassen? Ihm brach der Schweiß aus. Er wollte seine Gesundheit nicht für einen USB-Stick opfern. Verstohlen äugte er zu der Uhrenmörderin hinüber.
Zafirahs riesige Hand schlich in die Schattenwelt ihres Mantels. Pit sah darin etwas aufblitzen. Einen Dolch …?
»Er ist gegen Euren Blick immun. Dieser Mann könnte uns alle töten!«, schrie Katharina plötzlich. Sie trat mit einem raschen Schritt auf Pit zu, umfasste seinen Nacken, zog ihn zu sich heran und drückte ihm den Lauf ihrer Dienstwaffe auf die Brust. »Stirb, du Verräter!«, hörte er sie rufen.
Sie feuerte ihre Pistole zweimal ab. Wumm! Wumm! Die aufgesetzten Schüsse klangen wie ein Schlagzeug. Und Grace Jones sang dazu ihre Durchhalteparolen.
Die Kugeln traten an Pits Rücken wieder aus. Er hörte, wie sie hinter ihm Bücher aus dem Regal fegten.
»Verzeih mir«, hauchte Katharina ihm ins Ohr und ließ ihn los.
Er starrte erst sie verdutzt an, danach das blutige Loch in seiner Brust. Sein letzter Gedanke war eher banal.
Hätte ich gewusst, dass Sterben so einfach ist …
Eine schwarze Wolke senkte sich auf ihn herab. Keine Seele, die vom Körper gen Himmel schwebte. Kein Licht am Ende des Tunnels. Er hörte nur die aufgeregten Stimmen seiner Mörder und die von Grace Jones.
Never stop the
action,
Keep it up, keep it up.
Pit war außerstande, sich weiter aufrecht zu halten. Ihm knickten die Knie ein. Wie er auf das Sofa fiel, merkte er nicht mehr.