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Träge schloss Pit die Tür seiner Wohnung in der Kreuzberger Hornstraße auf. Das Rasseln des Schlüsselbundes hallte durchs ganze Treppenhaus. Vor zwei Jahren hatten Maja und er den Mietvertrag für die geräumige Altbauwohnung im zweiten Stock des denkmalgeschützten Hauses Nummer 16 ergattert. Sie waren stolz wie Bolle gewesen, hatten Pläne geschmiedet, sich auf Nachwuchs gefreut … Seit dreihundertfünfundsechzig Tagen, neun Stunden und siebzehn Minuten lebte Pit nun allein hier.

Dies war ein guter Ort zum Sterben.

Erschöpft betrat er die dunkle Wohnung. Er fühlte sich wie gerädert. Das Licht ließ er ausgeschaltet. Ihm war nicht nach Licht, ihm war nach Finsternis. Seit dem Aufstehen hatte er sieben Leben gerettet, eins verloren und sein eigenes nicht abschütteln können. Momentan war er zu müde, sich umzubringen.

Deshalb hatte er China Girl nach dem Noteinsatz allein in die Klinik zurückgeschickt. Nicht einmal seine orangerote Jacke hatte er ausgezogen, als er sich ein Taxi rief, um dem Chaos des Tages zu entfliehen. Die Charité zahlte ihm eigentlich nicht genug, um sich solche Extravaganzen zu erlauben. Doch was sollte es! Das letzte Hemd hat keine Taschen.

Wie ein Schlafwandler schlurfte er durch den Flur, ließ seinen Rucksack fallen, die Notarztjacke, den Schlüsselbund und lauschte den Geräuschen des Hauses. Das Knarren der Dielen unter seinen Füßen tat gut. Es weckte den Anschein von Lebendigkeit. Die Straßenlaterne warf ein schwaches Licht durch die Glasfüllungen der hohen Wohnzimmertür.

Er betrat den dämmrigen Raum. Das Sammelsurium der Möbel darin entstammte dem Spendenaufkommen von Familie und Freunden, die ihm und Maja in der Studienzeit einen Anfang mit Apfelsinenkisten hatten ersparen wollen: ein abgewetztes braunes Ledersofa, zwei orientalische Sitzkissen, ein marmorner Couchtisch, eine mannshohe Standuhr mit eigensinnigem Läutwerk, eine alte, aber liebevoll aufgearbeitete Schubkastenkommode, ein echter Perserteppich mit ebenso echten Mottenlöchern, windschiefe Ikea-Regale voller Fachbücher, der wahrscheinlich einzige Röhrenfernseher im ganzen Kiez, Rudis schwarzer Hi-Fi-Turm mit den monströsen Boxen, deren maximaler Schalldruck das fast hundertvierzig Jahre alte Haus mühelos hätte zertrümmern können.

Pits Blick streifte das Chaos auf dem Tisch, Spuren eines einsamen Abends vor der Glotze. Die Chipstüte war leer. Aber dort stand noch eine halb volle Wodkaflasche … So geht das nicht weiter, Pit. Wenn ich dich noch einmal im Dienst mit einer Fahne erwische, bist du fällig … Kims Ermahnungen trieben wie vom Wind losgerissene Banner durch seinen Sinn. Sie hatte ja recht. Es war Zeit, Schluss zu machen.

Vielleicht morgen schon.

Er ließ sich rücklings auf das Sofa fallen und starrte zur Stuckrosette an der hohen Decke empor – der dazu passende Kristallleuchter existierte nicht mehr. Die Augen zu schließen wagte er nicht. Aus irgendeinem Grund fürchtete er sich vor den Bildern, die dann aufsteigen würden: der dunkelhäutige Riese, die blutigen Stümpfe, der Sand … Auch so schon kreisten die seltsamen Ereignisse im U-Bahnhof und das kaum weniger merkwürdige Gespräch mit der Kommissarin wie ein Krähenschwarm in seinem Kopf.

Er zog das Smartphone aus der Hosentasche. Zum tausendsten Mal spielte er das Video von Maja ab, wie sie lachte und sich über den angeschwollenen Bauch streichelte. Am nächsten Tag war sie schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Man hatte ihr sofort eine Bluttransfusion gegeben. Wenige Stunden später war sie tot. Der Killer hieß TRALI, transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz. Jährlich brachte diese Immunreaktion Hunderte von Menschen um. Wäre er früher bei ihr gewesen, hätte er die Blutung aufhalten können und sie wäre um die tödliche Transfusion herumgekommen.

Pit griff zur Wodkaflasche und startete das Video erneut.

Die Menschenschlange reichte bis zum Horizont. Sie wich abgestorbenen Bäumen aus, senkte sich in dunkle Täler und kroch über Hügel mit verdorrtem Gras. Männer, Frauen und Kinder mit ausdruckslosen grauen Gesichtern standen in der Schlange. Einer von ihnen war Pit.

Er wusste nicht, wie er in diese Wartegemeinschaft geraten war, er wusste nur, dass es ihm nicht gefiel. Vielleicht lag es an dem heißen Wind, der ihm in den Ohren pfiff. Oder an den leeren Blicken der Menschen – sie hatten die Augen von Toten. Er wandte sich um. Das Kopfende der Schlange war nur einen Steinwurf weit entfernt.

Dort stand ein Riese mit glänzendem schwarzem Haar, graubrauner Haut und sechs Fingern an jeder Hand. Seit Pit denken konnte, litt er unter seiner buchstäblich herausragenden Größe. Schon in der Schulzeit hatte man ihn langer Lulatsch genannt. Im Vergleich zu diesem Goliath fühlte er sich wie ein Zwerg.

Die Stirn des Giganten war hoch und breit, seine Nase flach, das Kinn spitz, und die Augen standen auffällig weit auseinander. Diese Augen – sie zogen Pits Aufmerksamkeit wie magisch an. Ihn fröstelte. Ihr Blick war so kalt wie Trockeneis. Etwas abgrundtief Böses lag darin. Gerade richtete er sich auf die grauhaarige Frau am Kopfende der Schlange.

Sie begann zu zittern. Erst sah es nur wie der senile Tremor einer Greisin aus, doch dann wurde ein heftiges Schütteln daraus. Die Alte gab einen erstickten Laut von sich und brach zusammen.

Sie war tot. Pit hätte nicht sagen können, woher diese Gewissheit kam, doch er wusste mit jeder Faser seines Ichs, dass nichts und niemand ihr noch helfen konnten.

Zwei dunkelhäutige Frauen, beide ebenfalls auffallend groß und einander so ähnlich wie eineiige Zwillinge, erschienen wie aus dem Nichts. In ihren schwarzen Ledermonturen sahen sie aus wie magersüchtige Motorradfahrerinnen. Sie packten die Greisin an Armen und Beinen. So mühelos, als trügen sie nur eine Strohpuppe davon, schafften sie ihrem Herrn die Leiche aus den Augen.

Goliath wandte sich dem Nächsten in der Schlange zu, einem beleibten Mann mittleren Alters. Alles wiederholte sich: der böse Blick, das krampfartige Zittern, der Tod. Vom gelegentlichen Röcheln des Schlangenkopfes abgesehen, herrschte ringsum Grabesstille. Nichts störte den Ablauf. Die Wartenden warteten und die Sterbenden starben. Kein Aufbegehren, kein Jammern, nur tatenloses Schweigen. Einzig die Motorradfahrerinnen hatten alle Hände voll zu tun.

So ging es weiter, bis Pit an die Reihe kam.

Aus der Nähe betrachtet, wirkte der Gigant erstaunlich jung. Er sah aus wie ein Dreißigjähriger, doch Pit spürte etwas Uraltes in ihm, eine dunkle, verzehrende Macht. Sie flackerte wie ein schwarzes Feuer in den tiefbraunen Augen, die sich nun auf ihn richteten.

Pit fühlte jäh ein unsägliches Ziehen im Kopf. So als führe ihm ein glühender Schürhaken in den Schädel und würde sein Gehirn kremieren und hiernach die Asche aus den Nasenlöchern herausschaben. Es war nicht angenehm.

Plötzlich öffneten sich Goliaths Lippen. Zum Vorschein kamen weder gelbe Zähne noch eine belegte Zunge, nur ein gähnender schwarzer Schlund. Nie hatte Pit solche Furcht empfunden. Wie gelähmt vor Schreck starrte er in den finsteren Rachen. Er hätte Rudis Hi-Fi-Anlage darauf verwettet, im nächsten Moment von dem Riesen aufgesaugt zu werden.

»Was hat dir Zekarias verraten, Pit Zuckmayer?«, dröhnte es stattdessen aus der lichtlosen Schwärze. Es war der tiefste Bass, den Pit je gehört hatte.

»Ze…ze…zekarias?«, stammelte er.

»Der schwarze Mann ohne Beine«, brummte Goliath.

»Ach so, der Zekarias. Er hat mir seinen Namen verraten«, antwortete Pit ausweichend. Ein Gefühl riet ihm, die Domen und den Strom aus Blut besser unerwähnt zu lassen.

»Willst du mich zum Narren halten? Ich werde dich lehren, mir den nötigen Respekt zu zeigen!«, donnerte der Riese. Sein böser Blick fraß sich wie ein Schneidbrenner in den widerspenstigen Geist.

Pit verlor die Kontrolle über seinen Körper. Zuletzt hatte er so gezittert, als Maja gestorben war. Nun war die Reihe also an ihn gekommen. Endlich.

»Wir ham nur 'n jemischten Schlafsaal für Männlein und Weiblein«, erklärte Hubert dem Toten im weißen Leichensack. »Aber wennste schon keene Beene hast, kriegste wenichstens Jesellschaft. Eng is jemütlich. Wird 'ne kalte Nacht, det kann ick da versprechen.«

Hubert übte den verantwortungsvollen Beruf des Leichenstaplers aus, so jedenfalls bezeichnete er seine Tätigkeit im Institut für gerichtliche Medizin der Charité Berlin. Sein Arbeitsplatz war das – so der landläufige Name – Leichenschauhaus in der Turmstraße 21. Da die meisten Gäste, mit denen er täglich zu tun hatte, nicht sonderlich gesprächig waren, übernahm er oft beide Rollen: die eigene und die des Verblichenen.

»Willste ma nich wenichstens die Hand schütteln?«, fragte der Tote aus dem Sack. Die Wölkchen vor Huberts Mund verrieten den Trick – in der eiskalten Luft kondensierte der Atem des Hobbybauchredners. Das schweigsame Publikum im Kühlraum sah darüber hinweg. Bei gut temperierten Familienfeiern unterliefen ihm solche Schnitzer nicht. Dann benutzte er auch keine Leiche als Gesprächspartner, sondern einen Stoffdrachen namens Gertrud.

»Na jut, ick will mal nich so sein. Keen Wunder, dass de dir schenierst, bei all den Fremden hier in unserer Herberge«, erwiderte Hubert verständnisvoll. Er deutete mit raumgreifender Geste auf die anderen Rollenwagen. Darauf lagen weitere gefüllte Leichensäcke wie in dreistöckigen Etagenbetten. Mindestens dreißig Leichen warteten im Kühlraum auf ihre Sektion. Hubert zog unerschrocken den Reißverschluss des Sacks auf. Er war einiges gewohnt.

»Au Backe!«, entfuhr es ihm, als er den dunkelhäutigen Toten vom Scheitel bis zum Bauch sah. »Det is ja der schwarze Riese!«

Er machte sich auf die Suche nach der Hand des Verblichenen. Dabei griff er zunächst in einen Haufen Sand. »Ick dachte, die ham dich vom Zug abjekratzt. War det am Wannseestrand?«, wunderte er sich.

»Nee, ick bin ne Mumie und viertausend Jahre alt«, erwiderte der Leichnam.

»Det erklärt allet.« Hubert fand endlich die Hand des Toten und schüttelte sie herzlich. »Jute Nacht, Lulatsch. Träum wat Schönet.«

Als der Leichenstapler die aus der Ruhelage bewegten Körperteile des Riesen wieder im Sack verstauen wollte, fiel ihm etwas Seltsames auf. »Meine Scheiße! Wat is 'n det? Wo haste denn den sechsten Finger her?«

»Is ma eenfach so jewachsen«, antwortete der Große.

Hubert schüttelte grinsend den Kopf. »Sachen jibs, die jibs ja nich! Unten zu wenich, oben zu viel. Hoffentlich findste deine Beene wieder, da wo de jetzt hinjehst. Also, tschüss, schwarzer Riese.« Er legte Hand und Arm an ihre Stelle zurück und zog den Reißverschluss zu.

Frohgemut spazierte er wie ein netter Herbergsvater an den Stockbetten vorbei auf den Ausgang zu und winkte den Toten. »Jute Nacht, Leute!«, verabschiedete er sich von ihnen, öffnete die kälteisolierte Tür und bekam einen Schreck.

Es roch nach Rauch.

Vor Aufregung vergaß Herbert, dass hinter ihm wichtige Beweise lagen, die unter Verschluss gehörten. Er musste klären, woher der Brandgeruch kam und lief los.

Trotz seiner einhundertundzehn Kilo Kampfgewicht eilte er beinahe leichtfüßig den Gang entlang. Das Linoleum quietschte unter seinen Kreppsohlen. Wie ein Fährtenhund folgte er der beißenden Witterung; die im Leichenschauhaus so verschwenderisch eingesetzten Desinfektionsmittel blendete seine Nase aus.

Je näher er der Annahme kam, desto stärker roch es nach Rauch. Im Empfang, wie er zu sagen pflegte, wurden die Leichen vom Fahrdienst der Gerichtsmedizin abgeliefert, registriert und grob vermessen. Der Korridor knickte vor ihm nach links ab.

Hubert schoss um eine Ecke. Die Tür der Annahme kam in Sicht. Davor lag Dogan, der Empfangschef des Etablissements. Reglos. Der Leichenstapler geriet vor Schreck ins Straucheln, fiel der Länge nach hin und rutschte auf seinen Kollegen zu, bis die beiden fast mit den Nasen zusammenstießen. Dogans Augen waren halb geöffnet.

Ist er tot?, fragte sich Hubert.

Er stemmte seine zwei Zentner auf alle viere hoch und versetzte dem Deutschtürken einige gepfefferte Ohrfeigen. Ist Dogan ein Fall für den Kühlraum, kombinierte der Leichenstapler messerscharf, jucken ihn die Schläge nicht. Falls er gerade am Ableben sein sollte, überlegt er es sich vielleicht anders.

Dogan überlegte nicht lange. Er öffnete blinzelnd die Augen und blickte sich verwirrt um.

Hubert atmete erleichtert auf, beugte sich über den Erwachenden und legte eine Hand an die Tür. Er spürte eine beunruhigende Wärme. »Au Backe, da brennt's!«

»Muss die Flitzerin jewesen sein«, ächzte sein Kollege und rieb sich den Kopf.

»Wat jebrochen?«, fragte Hubert. In seiner persönlichen Hitliste von Katastrophen rangierten Brüche ziemlich weit oben.

»Nee. Ick jlobe nich«, antwortete Dogan.

»Wat'n für 'ne Flitzerin?«

»So 'ne Bohnenstange. Splitternackt und schokobraun war det lange Ende. Hab se nur aus'n Augenwinkeln jeseen.«

»Ach, du meinst Naomi Kämmpell? Wie is 'n die da rinjekommen? Hat se 'n Dietrich dabeijehabt?« Hubert tat so, als glaube er seinem Kollegen, und dachte sich seinen Teil. Der Ärmste sieht nackte Models! Hat wohl wat anne Birne jekriecht.

Dogan setzte sich ächzend auf. »Welcher Dietrich? Det Luder kam janz alleene hier rin. Hat mir eens überjebraten. Zack! Und mir jingen die Lichter aus.«

Hubert holte sein antikes Handy aus der Tasche und ärgerte sich einmal mehr, dass seine Finger nicht zur Größe der Tasten passten.

»Wen rufsten an? Etwa meene Alte?«, fragte Dogan.

»Nee«, antwortete Hubert kopfschüttelnd. »Die Feuerwehr.«

Mit der stillen Urgewalt einer Düne rieselte der Sand in Pits Träume. Das leise Geräusch füllte die Kammern seines Bewusstseins und weckte ihn auf. Er fuhr vom knarrenden Sofa hoch, rang wie ein Ertrinkender nach Luft und riss die Augen auf.

War da am Rand seines Gesichtskreises gerade ein Schatten gewesen? Verwirrt blickte er sich um. Die eigensinnige Standuhr begleitete seine Suche mit ihrem Geläut – diesmal sieben Minuten nach drei. Die Straßenlaterne schwemmte mildes Licht ins Wohnzimmer. Es war hell genug, um sämtliche Schatten als Möbelstücke zu entlarven. Auf dem Teppich neben dem Sofa lag die leere Wodkaflasche. Pit entspannte sich und atmete langsam aus.

Es war nur ein neuer Albtraum gewesen.

Zum Glück.