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Einhundertachtundneunzig Zentimeter pure Sinnlichkeit hatte ein Boulevardblatt geschrieben. Es gab Topmodels, die bekannter waren als sie. Und jünger. Mit sechsundzwanzig hatte sie das branchenübliche Best-before-Datum bereits überschritten. Dabei sah sie nicht älter aus als zwanzig. Ihre unschuldige Schönheit war sogar ihr Markenzeichen. Sie trug ihr regelmäßig bewundernde, manchmal auch neidvolle Blicke ein, und das nicht nur von Männern. Als Nasrin an diesem Freitagmorgen am Virchow-Klinikum durchs offene Rolltor des Rettungsstützpunkts spazierte, war das nicht anders.

»Guten Morgen«, sagte sie lächelnd zu dem Notarzt, einem gemütlich runden Vollbartträger, der gerade den Rettungswagen ausräumte. Er ließ seinen Koffer zu Boden sinken, richtete sich auf und starrte sie an, als wäre sie eine Seejungfrau auf Landgang. Dabei hatte Nasrin für die Phase eins der Operation Pegasus bewusst nichts Aufreizendes angezogen: schwarze Stiefeletten, eine luftige, schwarz-weiß gemusterte Berberhose, ein schwarzes T-Shirt mit Spitzeneinsätzen und eine kurze graue Jacke. Ihre Mähne hatte sie wie meist mit zwei Dutzend Glitzerspängchen hochgesteckt.

»Guten Morgen, schöne Frau. Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Pits Kollege.

»Ich bin Nasrin Nafil. Ist zufällig Kim Schneidewind hier? Ich müsste sie kurz sprechen.«

»Die ist hinten. Wir sind gerade vom Einsatz zurückgekommen. Soll ich sie rufen?«

»Ich kann auch zu ihr gehen, wenn Sie erlauben, Herr Doktor.« Seine Antwort war ihr schon vorher klar. Gutes Aussehen öffnet Türen – das hatte sie schon unzählige Male erfahren.

»Am besten ich zeige Ihnen, wo sie ist«, erklärte der Arzt charmant und deutete zu einer Tür.

Er führte Nasrin in den etwas beengten Wartebereich für die Rettungssanitäter und Notärzte. Von einem kurzen Flur gingen mehrere Türen ab. Links lag ein Aufenthaltsraum mit einem Tisch, vier Stühlen, einem Sofa, einem Fernseher und einer Kaffeemaschine. An letzterer hantierte eine blonde Frau mit explosionsartiger Frisur – ihre kurzen Haare standen in sämtliche Richtungen vom Kopf ab. Sie drehte sich um, als Nasrin und der Arzt an der Tür erschienen. Ihre Mandelaugen verwandelten sich in Pflaumenaugen.

»Nasrin Nafil?«, quietschte sie.

»Du kennst sie?«, wunderte sich der Arzt.

Kim bekam nur mit Mühe den Mund wieder zu. »Aber hallo! Sie ist ein Topmodel, Fritz.«

»Jetzt, da du es sagst …« Der Arzt wandte sich an Nasrin. »Fand ich toll, wie Sie bei Heidi Klum alle anderen Konkurrentinnen vom Laufsteg gefegt haben.«

»Das war Sara. Sara Nuru«, korrigierte Nasrin schmunzelnd. »Die ist zweiundzwanzig Zentimeter kleiner als ich.«

Der Charité-Arzt hüstelte. »Na, dann mach ich mal weiter. War nett, Sie kennengelernt zu haben, Frau Nuru.« Er zog sich zurück.

Sein Versprecher entlockte Nasrin ein Schmunzeln. Diese Verwechselungen war sie gewohnt. Sie betrat den Aufenthaltsraum und deutete auf die Stühle. »Darf ich mich setzen?«

»Sicher. Bekomme ich ein Autogramm?«

»Nur wenn ich einen Kaffee kriege.«

»Abgemacht.«

»Ohne Milch und Zucker, bitte.« Nasrin nahm am Tisch Platz, öffnete ihre Sacktasche und suchte nach den Autogrammkarten.

Die Sanitäterin schenkte einen Becher voll, gab ihn ihr und setzte sich ebenfalls an den Tisch. »Ich bin baff«, sagte sie kopfschüttelnd. »Wie kommt ein Topmodel wie Sie dazu, unseren Stützpunkt zu besuchen?«

Nasrin drückte die Kappe auf den dicken Filzstift, mit dem sie gerade ihr Foto signiert hatte, und reichte es Kim. »Ich bin eine Freundin von Pit Zuckmayer. Er schickt mich zu Ihnen.«

Es sah aus, als würde Kims Gesicht schockgefrieren. »Eine … Freundin?«, wiederholte sie kühl.

»Es ist eine rein platonische Freundschaft«, beeilte sich Nasrin zu versichern.

Kim entriss ihr die Autogrammkarte und schnaubte. »So wie Sie aussehen!? Zeigen Sie mir einen Mann, bei dem nicht die Hormone schießen, wenn er in Ihre Nähe kommt.« Sie wedelte mit dem Foto in Richtung Tür. »Haben Sie nicht gemerkt, wie Doktor Brahms eben gesabbert hat?«

»Doch. Aber was soll ich tun? Mir eine Burka überwerfen?«

Die Feuerwehrfrau verdrehte die Augen. »Ihre Sorgen möchte ich haben! Ich wette, Pit sieht Sie ganz anders an als mich.«

Nasrin horchte auf. »Sie mögen ihn?«

Kim seufzte. »Für mich ist er der tollste Mann von ganz Berlin. Oder wenigstens im Wedding. Leider hängt er immer noch an Maja, obwohl die seit einem Jahr tot ist.«

Nasrin nickte verständnisvoll. »Kim … ich darf Sie doch Kim nennen, oder?«

»Klaro. Pits Kumpels sind auch meine Kumpels.« Kim legte die Autogrammkarte auf den Tisch und bedeckte sie mit den Händen. Dann beugte sie sich vor, warf Nasrin einen verschwörerischen Blick zu und senkte die Stimme. »Hat er Sie wirklich geschickt? Dann wissen Sie, wo er steckt?«

»Ja. Eigentlich wollte er unbedingt selbst mit Ihnen reden. Zum Glück konnte ich ihm das ausreden. Er ist immerhin ein gesuchter Ausbrecher.«

»Ausbrecher?«, schnaubte Kim. »Das dürfte derzeit wohl seine kleinste Sorge sein. Die Polizei beschuldigt ihn des dreifachen Mords. Sogar Europol sucht nach ihm, steht heute in der Morgenpost. Er gelte als extrem gefährlich, schreibt die Zeitung.« Sie schüttelte den Kopf.

»Trauen Sie ihm einen Mord zu?«, fragte Nasrin frei heraus.

»Pit?« Kim lachte. »Der nimmt seinen ärztlichen Eid ernster als der Papst seinen Amtsschwur.«

»Das denke ich auch.«

»Als ich ihn neben der ausgebluteten Leiche sah, kam es mir gleich so vor, als wolle ihm da jemand was in die Schuhe schieben. Ich dachte, er sei tot. Und dann springt er plötzlich auf wie ein Schachtelteufel. Können Sie sich das vorstellen?«

»Mich dürfen Sie nicht fragen. Ich bin Model. Sie würden ihn also nicht verraten, wenn er zu Ihnen käme?

Die Sanitäterin blickte sich um, als könne Pit plötzlich aus irgendwelchen Ritzen quillen. »Ist er etwa hier?«, flüsterte sie.

Nasrin nickte. »Ganz in der Nähe. Er will sich mit Ihnen in dem abschließbaren Ruheraum der Station treffen. Sie müssen ihm nur den Hintereingang öffnen.«

»Sie meinen den Ausgang zum Klinikgelände?« Kim riss die Augen auf. »Der Irre hält sich doch nicht etwa auf dem Campus auf!«

»Das konnte ich ihm leider nicht ausreden. Sobald ich ihn auf dem Handy anrufe, kommt er her.«

»Was, wenn die Polizei den Stützpunkt überwacht?

»Er hat sich verkleidet. Sieht aus wie ein Raumpfleger nach einer Hamburgerdiät.«

Kim grinste. »So viel Verschlagenheit hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Warten Sie!« Die Sanitäterin zog ihr Handy aus der Tasche, entfernte die hintere Abdeckung samt Akku und verstaute die Teile in unterschiedlichen Hosentaschen. »So, das müsste ausreichen, um den Brahms für eine Weile zu beschäftigen. Er kramt sowieso für sein Leben gern im NEF herum.«

Kurz darauf war Kim wieder zurück. »Ich habe Brahms mein halbes Handy gezeigt und ihn gebeten, im Wagen nach dem Rest zu suchen. Wie ich ihn kenne, haben wir die nächsten zehn Minuten Ruhe. Kommen Sie!«

Die beiden wechselten in den Ruheraum. Nasrin wählte die Nummer des Handys, das sie vor kaum einer Stunde samt Prepaidkarte für Pit gekauft hatte.

»Ja?«, meldete sich seine Stimme.

»Es geht los«, antwortete sie und legte wieder auf. Das Gespräch hatte keine fünf Sekunden gedauert. Nasrin nickte seiner Kollegin zu.

»Schließen Sie hinter mir ab«, sagte Kim und verließ den Raum.

Nasrin tat, wie ihr geheißen. Sie hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Pit hätte ihr die Suche nach dem USB-Stick überlassen sollen.

Sie sah sich in dem winzigen Zimmer um. Die Sonne mühte sich redlich, durch das kleine Fenster hindurch hier und dort fröhlich Akzente zu setzen. Allein, es nutzte nicht viel. Nach Nasrins Geschmack ließ sich die Einrichtung nur als trostlos beschreiben: grünliches Linoleum auf dem Boden, Leuchtstoffröhren an der Decke, ein Bett, auf einem Wandboard ein kleiner Fernseher, ein Sessel, ein Tisch und ein Telefon – das war's. Wahrscheinlich dient der Raum nur als Alibi, um irgendwelche Richtlinien zu erfüllen, dachte Nasrin. Pit hatte ihr erzählt, dass sein Noteinsatzfahrzeug mit viertausendzweihundert Einsätzen im Jahr den Berliner Rekord hielt. Das entspreche, so hatte er ihr vorgerechnet, etwa einem Alarm alle zwei Stunden. Wann sollte man da zur Ruhe kommen?

Es klopfte an der Tür. »Frau Nafil?«, sagte Kim förmlich.

Nasrin öffnete den beiden, ließ sie herein und schloss gleich wieder ab. »Hat dich jemand gesehen?«, fragte sie Pit.

»Wenn, dann nur eine Reinigungskraft«, antwortete er. Sein langer Körper steckte in einer grauen Latzhose, die ihm deutlich zu kurz war. Außerdem trug er ein kurzärmeliges blaues T-Shirt und auf dem Kopf eine Baseballkappe der gleichen Farbe. Den Schirm der Mütze hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Nun nahm er sie ab.

Kim fiel ihm um den Hals. »Ich bin fast gestorben vor Angst, als ich von dem Ausbruch erfuhr.«

Nasrin fühlte sich unwohl, die Vertrautheit der beiden zu beobachten. Beneidest du sie etwa?, fragte sie sich. Pit war so anders als die Kerle in ihrem Beruf. Oberflächlichkeit gehörte zur Modebranche wie Diskretion zum Bankenwesen. Das färbte auf die Menschen ab, die in diesem Haifischbecken ums Überleben kämpften.

Nach spätestens drei Sekunden beschlich Nasrin das Gefühl, Pit sei die stürmische Begrüßung seiner Kollegin unangenehm. Kim benahm sich wie eine Geliebte, er eher wie ein großer Bruder. Beruhigend tätschelte er ihr den Rücken. Auffällig rasch schob er sie, wenn auch sanft, an den Schultern von sich und blickte ihr tief in die Augen. »Ich bin hier, um eine Verschwörung aufzudecken, China Girl«, sagte er leise. »Falls mir das gelingt, hoffe ich auch meine Unschuld zu beweisen. Hilfst du mir dabei?«

Kim versteifte sich erkennbar. Ihr schien es auf einmal peinlich zu sein, wie sie sich ihm an den Hals geworfen hatte. »Klaro. Wen soll ich umbringen?«, fragte sie.

»Ich suche einen silbernen USB-Stick. Hast du ihn vielleicht irgendwo gefunden?«

Sie dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. »Nö. Was war denn drauf? Schweizer Kontonummern von Mafiabossen?«

»Nur Dokumente über das Blutspendewesen und alles, was damit zusammenhängt. Klingelt's da vielleicht bei dir?«

»Nee, wirklich nicht. Aber ich kann ja mal Doktor Brahms fragen. Der ist schlimmer als 'ne Putze. Jede freie Minute kramt er im NEF herum. Wenn du den Stick im Wagen verloren hast, findet er ihn. Garantiert. Ich gehe gleich …«

»Warte!«, raunte Pit und hielt sie zurück. »Zuerst sollten wir hier nachsehen. Ich erinnere mich, dass ich den USB-Stick noch hatte, als ich vorgestern früh hier … wartete. Dann kam der Alarm. Ob ich ihn eingesteckt oder irgendwo hingelegt habe, weiß ich nicht mehr.«

»Ich helfe mit«, erbot sich Nasrin.

»Nicht nötig«, widersprach Pit. »Ist ja nur eine Besenkammer.«

Die Frauen durchstöberten trotzdem mit ihm den Raum. Schnell wurde klar, warum Pit die Aufgabe hatte allein erledigen wollen.

»Vier leere Flachmänner und kein USB-Stick«, fasste Kim das Ergebnis der Suche zusammen. »Wann fängst du mit der Therapie an, Pit?«

»Ich habe nur getrunken, als es mir wegen Maja und dem Kind schlecht ging«, verteidigte er sich lahm.

»Jeder Alki zählt dir tausend Gründe auf, weshalb er trinkt.«

»Ich bin kein Alkoholiker.«

»Vielleicht. Aber bald wirst du es sein.«

Während die beiden Pits Suchtpotenzial diskutierten, wunderte sich Nasrin über die dunklen Flecken in der Neonleuchte an der Decke. Groß, wie sie war, reckte sie sich zur Kunststoffabdeckung hinauf und löste sie aus der Halterung. In der Plexiglasschale fand sie etliche tote Motten und 

»Eine Wanze.«

Pit und Kim verstummten und sahen sie entgeistert an.

Nasrin hielt den winzigen elektronischen Spion hoch, der mit seinen Antennendrähten eher einer Kakerlake glich. »Ich schätze, unser Besuch hier ist nicht länger geheim.« Sie ließ den Sender fallen und traktierte ihn mit dem Absatz ihrer Stiefelette.

»Das hat bestimmt dieser Kommissar Gallus veranlasst, der Chef der ermordeten Polizistin«, mutmaßte Kim und schüttelte fassungslos den Kopf.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, antwortete Nasrin. »Wir müssen sofort …«

»Pscht!«, unterbrach Pit sie. Er legte einen Finger auf die Lippen und spähte zur Tür.

Nasrin stellten sich sämtliche Härchen auf. »Was ist?«

»Ich spüre Gefahr«, antwortete er flüsternd.

Kim runzelte die Stirn. »Bist du mittlerweile ein Medium oder was?«

»Das gleiche Gefühl hatte ich in meiner Wohnung, bevor Ahiman und seine Bauchtanztruppe aufkreuzten.«

»Wer sind Sie?«, hallte es dumpf herein. »Was suchen Sie hier? Bleiben Sie augenblicklich …« Die Stimme verstummte jäh.

»Das war Brahms«, wunderte sich Kim.

Pit bedeutete ihr zu schweigen und schüttelte den Kopf. »Da verschafft sich gerade jemand Zugang zur Station«, flüsterte er.

Nasrin konnte sich die Szene lebhaft vorstellen: Bewaffnete Männer eines Spezialeinsatzkommandos dringen in die Rettungsstation ein, bedeuten dem Notarzt, die Klappe zu halten, und bereiten sich auf den Sturm des Ruheraumes vor.

»Ich halte sie auf. Klettert durchs Fenster und flieht über den Campus!«, zischte Kim. Sie drehte schon den Schlüssel im Türschloss herum. Bevor die beiden anderen etwas sagen konnten, war sie nach draußen geschlüpft und drückte die Tür wieder zu.

»Das hätte sie nicht tun sollen«, murmelte Nasrin. Sie war innerlich hin und her gerissen. So musste sich Kahina gefühlt haben, als ihre Loyalität gegenüber Prometheus sie zu einer schrecklichen Tat zwang.

»Was meinst du?«, fragte Pit.

Sie lief zum Fenster, öffnete es und schleuderte mit enormer Kraft ihre Handtasche hinaus – sie landete etwa zehn Meter weiter in einem Gebüsch.

»Wären die Eindringlinge Polizisten, würden sie sämtliche Ein- und Ausgänge bewachen«, gab Pit zu bedenken.

»Eben«, stimmte sie ihm zu und griff nach seiner Hand. »Lyse! Sofort!«

»Was?«

»Wir müssen uns auflösen. So wie gestern. Schnell!«

Als er die Todesangst in ihren Augen sah, zögerte er nicht so wie in der letzten Nacht. Sogleich übergab er sich ihrer Führung.

Ein greller Schrei hallte durch die Station. Es war Kim.

Nasrin löste sich in eine Sandwolke auf und riss ihren Schützling mit sich.