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Sie ließen den silbernen Porsche stehen und flohen zu Fuß. Zwischen dem Poststadium zur Rechten und einer Tennisanlage zur Linken rannten sie auf einen Park zu. Erst im Schutz der Bäume wechselten sie vom Laufen ins schnelle Gehen.

»Wie haben die uns gefunden?«, keuchte Nasrin.

Pit schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Vielleicht hast du Spuren in meiner Wohnung hinterlassen.«

»Ich kenne mich ein bisschen mit Forensik aus. Habe in Hamburg in der Gerichtsmedizin gearbeitet. Jeder Mensch hinterlässt Spuren, wo immer er sich aufhält: Hautschuppen, Haare, Speichel … Es ist nur eine Frage des Aufwands, sie zu finden. Da lang!« Er deutete nach links in einen abzweigenden Parkweg.

Nasrin blickte hinter sich. Von den Polizisten war nichts zu sehen. »Ich habe die Polypen selbst in meine Wohnung gerufen. Wenn sie dort gründlich gesucht haben, sind sie vermutlich auch fündig geworden. Mein Gott, hoffentlich verdächtigen sie dich nicht auch noch, mich entführt oder umgebracht zu haben.«

»Ich fürchte eher, sie halten dich für meine Komplizin. Vergiss nicht unseren Besuch beim NEF im Wedding. Da hast du auch einen genetischen Fingerabdruck hinterlassen.«

»Na herrlich! Und was jetzt?«

»Du könntest zur Polizei gehen und behaupten, ich hätte dich samt Auto entführt.«

Unvermittelt blieb sie stehen. »Spinnst du? Ich würde dich nie verraten. Außerdem können wir Ahimans Plan nur gemeinsam aufdecken. Zekarias soll nicht umsonst gestorben sein.«

»Gehen wir weiter.«

Nasrin hakte sich bei ihm ein. »Ja, aber nicht als Powerwalker. Lass uns wieder Whoopi Streisand und Vitali Nowitzki sein.«

Sie sahen sich verstohlen um. Niemand beachtete sie. Einen tiefen Gedanken später hatten sie ihr Äußeres verändert und spazierten weiter durch den Fritz-Schloss-Park.

Pit schwirrte der Kopf. Sie hatten im Archiv des Deutschen Roten Kreises einige neue Mosaiksteinchen aufgelesen. Das Bild der großen Verschwörung war noch immer unvollständig. Nicht einmal den Namen der Domen hatten sie gefunden. Nur das Zeichen für Unendlichkeit.

Ein Jogger trabte an ihnen vorüber. Nasrin beendete ihr Schweigen, als er sich weit genug entfernt hatte. »Wir brauchen Beweise.«

»Für die Blutmanipulationen, meinst du?« Pit nickte. »Ich sähe mir gern eines der Geräte von Zeno genauer an. Wenn ich eine dieser Kartuschen bekäme, könnte ich herausfinden, was diese ominöse Firma aus dem Blut herausfiltert.«

»Dein Freund sagte, die Maschinen seien abgeschlossen.«

Pit grinste. »Das Bankschließfach deines Bruders war auch abgeschlossen.«

Nasrin jammerte den ganzen Weg von ihrem Britzer Versteck in der Laubenkolonie bis zum Blutspendezentrum des DRK, das in einem renovierten Plattenbau im Südosten Berlins lag. Sich von ihrem Porsche zu trennen, fiel schwer. Er sei verbrannt, hatte Pit ihr im besten Geheimdienstjargon erklärt: Sämtliche Polizisten der Nation würden sich auf den Wagen samt Insassen stürzen, wenn sie ihn zu Gesicht bekämen. Also fuhren die zwei mit der S-Bahn nach Köpenick.

»Soll ich nicht doch lieber mitkommen?«, bedrängte sie Pit, während die beiden sich an der Spree ein passendes Gebüsch für seine Lyse suchten. Ein Mann, der gierig an seiner Zigarette saugte, kam ihnen auf dem Uferweg entgegen.

»In Luxemburg durftest du die Führung übernehmen. Jetzt bin ich an der Reihe«, beharrte er.

»Spielen wir hier Mensch ärgere dich nicht?«

»Es besteht keine Notwendigkeit, uns beide in Gefahr zu bringen. Ich bin Arzt, und in dem Labor geht es um medizinische Geräte. Also ist das heute mein Auftritt.«

»Sei bitte vorsichtig!«, gab sie leise nach. Sie stellte sich ihm in den Weg und küsste ihn auf den Mund.

Pit war so überrascht, dass er nichts Dümmeres sagen konnte als: »Da ist ein Gebüsch.«

Eine Frau in fortgeschrittenem Alter ging gerade an ihnen vorüber und schüttelte empört den Kopf.

Nasrin kicherte. »Dann versande mal schnell. Ich passe so lange auf deine Sachen auf. Wenn du in zwanzig Minuten nicht zurück bist, hole ich dich.«

Er streichelte ihre Wange. »Danke, dass du so um mich besorgt bist.«

Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er sich umgedreht und eilte auf das Gebüsch zu. Dort verwandelte er sich in eine Sandwolke. Es war mittlerweile so einfach! Leider reichten seine erstarkten mentalen Muskeln noch nicht, um ein Stemmeisen mitzunehmen. Nasrin hatte ihn sogar ernstlich ermahnt, sich nicht an der Filterkartusche zu verheben. Er müsse einen anderen Weg finden, sie aus dem Gebäude hinauszuschaffen.

Körperlos drehte er drei Schleifen über Nasrins Kopf. Sie winkte ihm zu. Dann wehte er hinüber zum Blutspendezentrum. Rasch untersuchte er die Fenster des dreigeschossigen Plattenbaus. Alle waren geschlossen. Halb durchdrang er den Wetterschenkel eines der Fenster im Erdgeschoss, halb zwängte er sich am Dichtungsgummi vorbei. Von den Straßenlaternen fiel erfreulich viel Licht ein.

Volltreffer!, freute sich Pit. Er hatte auf Anhieb einen Raum gefunden, in dem Geräte von Zeno standen. Die Maschinen waren ungefähr zwei Meter hoch und drei Meter breit. Sie dienten der Blutfraktionierung, also der Aufteilung des Vollblutes in seine Hauptbestandteile, dem Blutplasma, den roten und weißen Blutkörperchen sowie den Blutplättchen. Die verschiedenen Konzentrate wurden anschließend getrennt abgefüllt und gelagert.

Pit schwebte als dunkle Wolke vor dem Apparat. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der großen, mit einem Sicherheitsschloss verriegelten unteren Klappe. Er hatte solche Systeme während seines Studiums kennengelernt. Über einen links angebrachten Touchscreen ließ sich der Prozess steuern. Dabei konnte die Maschine auch gleich die DNA aus den Blutproben extrahieren – ideal für die Suche nach dem Prometheus-Komplex.

Jetzt fehlt mir nur noch der Dosenöffner, dachte Pit. Er durchforschte den blitzblanken Laborraum, fand aber kein geeignetes Einbruchswerkzeug. Durch das Schlüsselloch glitt er in einen Korridor hinaus und inspizierte das angrenzende Büro. Außer einem Brieföffner von zweifelhafter Stabilität entdeckte er auch hier nichts Passendes. Ähnlich enttäuschend verlief die Durchsuchung der anderen Räume im Erdgeschoss.

Vielleicht im Keller?, überlegte er sich. Rasch schwebte er hinab ins Dunkel des Untergeschosses. Dort nahm er seine menschliche Gestalt an, weil er den Lichtschalter betätigen musste. Nach kurzer Zeit fand er im Arbeitsraum des Haustechnikers den idealen Dosenöffner: eine Brechstange.

Damit kehrte er ins Labor zurück. Hoffentlich gibt es hier keine versteckten Überwachungskameras, die mich im Adamskostüm filmen, dachte Pit. Das wäre ihm peinlich gewesen. An der verriegelten Tür – erfreulicherweise bestand sie nur aus Holz – konnte er den praktischen Einsatz des Stemmeisens erproben. Es lag gut in der Hand, und die Hebelkraft ließ sich gezielt einsetzen.

Endlich stand er vor dem Fraktionierer. Er bückte sich, um zur Tat zu schreiten. Plötzlich hörte er ein irres Lachen und schreckte hoch.

Das Geräusch drang durch die Fenster von der Straße herein. Vorsichtig spähte er hinaus. Es waren Jugendliche, die offenbar zu viel Alkohol intus hatten.

Pit kehrte zu der Maschine zurück, setzte die Klinge der Brechstange auf Höhe des Schlosses an und hebelte die Tür auf. Erstaunlich, wie leicht sich das lackierte Blech verbiegen ließ! Die Pforte zum vielleicht größten Geheimnis der Welt war gleichsam nur angelehnt.

Trotz des Halbdunkels fand er sich im Innern des Fraktionierers schnell zurecht. Er sah die Zentrifuge zum groben Trennen der Blutfraktion, die Laserschranke zum Ausloten der Grenzschichten, eine ultraviolette Sterilisierungslampe, diverse Schläuche und 

»Die Filterkartusche!«, flüsterte er. Sie sah aus wie eine Edelstahlthermoskanne.

Rasch löste er die Verbindungsschläuche und schraubte die Kartusche aus der Halterung. Sie wog auch so viel wie eine gefüllte Thermoskanne. Ihm kam Nasrins Warnung in den Sinn. Es sei gefährlich, ohne ausreichendes Training eine größere Masse aufzulösen.

»Wie kriege ich dich hier raus?«, murmelte er. Seine Miene hellte sich auf. »Na, mit der Post natürlich!«

Er schloss die verbeulte Klappe des Fraktionierers. Anders als in der Sparkasse ersparte er sich die Mühe, sie noch leidlich in Form zu bringen. Mit Kartusche und Brecheisen machte er sich auf den Weg in die Postabteilung. Die hatte er schon bei seinem ersten Rundflug entdeckt.

Dort schrieb er eine kurze Nachricht für seinen Ruderkameraden:

Lieber Steffen!

Du knackst doch so gern harte Nüsse. Anbei findest Du die Filterkartusche eines Blutfraktionierers. Irgendetwas an dem Teil ist faul. Ich schließe illegale Machenschaften nicht aus. Was eine kriminelle Gruppe seit zehn Tagen mit mir anstellt, ist jedenfalls mehr als verbrecherisch. Die Medienberichte über mich sind ein einziges Lügengebäude. Ich möchte nicht, dass du auch noch Schwierigkeiten bekommst. Deshalb sprich bitte mit niemand über die Sache. Ich kontaktiere dich, möglicherweise über einen Mittelsmann wie Elias Meerbaum (er erwähnte neulich, er habe eines deiner Seminare besucht). Im Notfall erreichst Du mich auf meinem Prepaidhandy unter der Nummer 01528 4055579.

Verzweifelte Grüße, der lange Lulatsch

Pit suchte sich ein passendes Paket. Er legte die Kartusche samt der Mitteilung hinein, füllte den Pappkarton mit Styroporflocken aus und verschloss ihn. Hiernach adressierte er die Eilsendung persönlich an Professor Dr. med. Steffen Ohrlos, Leiter des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik am Campus Virchow-Klinikum. In fetten Lettern schrieb er noch das Wort Per Boten! über die Adresse und deponiert das Paket in dem großen Gitterkorb für den Postausgang.

Er rechnete sich für seinen Plan eine Fünfzig-Prozent-Erfolgschance aus. Die Sendung musste das Haus verlassen, bevor die aufgebrochene Maschine für Aufruhr sorgte. Und wie Steffen Ohrlos damit verfuhr, konnte er ebenfalls nur ahnen. Falls er sich, aufgeschreckt von den Zeitungsmeldungen, an die Polizei wandte, gäbe es beim nächsten Treffen der beiden Sportsfreunde eine böse Überraschung.