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Der Schleusenkrug war eine Oase der Stille im Herzen der Großstadt. Das Gartenlokal lag an einer Schiffsschleuse am Landwehrkanal, am westlichen Ende des Tiergartens. Von der benachbarten Fasanerie des Berliner Zoos hallten Vogelstimmen herüber. Pit hörte sie kaum. Missmutig starrte er in seinen Kaffee. Sie waren aus reiner Verzweiflung hierhergekommen. In dem verschwiegenen Winkel hatte er viele schöne Stunden mit Maja verbracht. Nun saß er hier in einem rosafarbenen Strampelanzug und musste die lasziven Blicke zweier Tunten vom Nebentisch ertragen.

»Ich komme mir vor wie Doktor Kimble – auf der Flucht«, brummte Pit.

»Und ich schätze, meine Karriere als Model kann ich begraben«, seufzte Nasrin. Sie saß ihm gegenüber an dem Gartentisch, das schwule Pärchen im Rücken, und klammerte sich an einem Glas mit Mineralwasser fest.

»Tut mir leid, dich da reingezogen zu haben.«

»Dich trifft keine Schuld. Ich habe dich aus dem Knast herausgeholt. Und die Schlamperei mit der Autogrammkarte geht auch auf mein Konto.«

»Hast du Kim gegenüber deinen richtigen Namen genannt?«

»Ja. Sie hat mich ja sofort erkannt …« Nasrin hielt inne und verdrehte die Augen himmelwärts. »Die Wanzen! Zafirah hätte mich sowieso auf dem Schirm gehabt. Das blöde Foto hat ihr die Arbeit nur erleichtert.«

Pit zog den Kopf ein und senkte die Stimme. »Unsere Wohnungen werden vermutlich überwacht. Wo sollen wir hin? Und vor allem: Wie geht's jetzt weiter? Die einzigen Domen, die sich gegen Ahiman zu erheben wagten, sind tot. Wir sind völlig auf uns gestellt.«

»Es gibt noch andere, die Ahimans Regiment über die Domen ablehnen.«

»Na prima. Dann bring uns zu den Rebellen! Vielleicht können sie uns helfen.«

»Ich kenne keine. Wie gesagt: Ich musste Zekarias alles aus der Nase ziehen, was ich über das alte Volk weiß.«

Pit versenkte den Blick erneut im Kaffee. Er überlegte, ob er sich Ahiman stellen sollte. Vielleicht konnte er den Domenfürsten mit einigen Röhrchen Blut besänftigen. Immerhin wäre er dem Überbringer des Prometheus-Komplexes doch zu Dank … »Kahinas Visitenkarte!«, brach es aus ihm hervor.

Die Tunten vom Nachbartisch starrten ihn erschrocken an.

»Geht's noch lauter?«, flüsterte Nasrin.

»Deine Schwester hat mir ihre Karte gegeben«, raunte er, »mit einer handschriftlichen Notiz: ihre private E-Mail-Adresse und Telefonnummer.«

»Ja, und? Sie hatte einen Account bei einem amerikanischen Provider: kahina@hotmail.com. Ihre Handynummer kenne ich auch auswendig: 0172 …«

»Sie fing anders an«, unterbrach Pit sie.

»Dann muss sie die Nummer geändert haben, ohne mir Bescheid zu sagen.« Nasrin führte ihr Glas zum Mund.

»Sie sagte ausdrücklich, es sei eine Geheimnummer. Und sie hat mich geradezu beschworen, nur mit ihr über Zekarias' Fall zu sprechen. Ergo könnte auch jemand anders abheben, einer der Domen vielleicht, ein Freund deiner Geschwister, der uns weiterhelfen könnte.«

Das Glas sank wieder auf den Tisch. »Wo ist diese Visitenkarte?

»In meiner Wohnung. Warte …« Pit schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. »Ich habe sie mit ins Arbeitszimmer genommen … Jetzt weiß ich's wieder! Sie liegt unter meiner Schreibunterlage.«

»Falls die Polizei sie nicht mitgenommen hat.«

»Es ist die Kontaktkarte einer Kripobeamtin. Kahina hatte bestimmt Dutzende davon in ihrer Jacke. Wieso sollten die Polizisten das Ding mitnehmen? Ich muss in die Wohnung und nachsehen.«

»Hundertpro, dass die Polizei sie observiert. Und vermutlich hat Zafirah auch die eine oder andere Wanze zurückgelassen.«

»Wir machen's wie gerade eben: schneien als Sandwolke rein und verkrümeln uns gleich wieder, alles ganz lautlos.«

»Das könnte klappen. Wir müssten uns nur die Nummer gut einprägen, denn mitnehmen können wir die Karte nicht.«

Sein Blick huschte über Nasrins Schulter hinweg zu den beiden Schwulen am Nachbartisch. Der eine musterte ihn mit schlüpfrigem Schlafzimmerblick und leckte sich wollüstig die Lippen. »Am liebsten würde ich auf der Stelle versanden«, brummte Pit. »Ich komme mir in deinem Jogginganzug vor wie ein rosa Bunny.«

»Daran solltest du nicht einmal denken«, warnte ihn Nasrin. »Bleib nie länger als einige Minuten in deinem körperlosen Zustand.«

Er schluckte. »Dachte ich mir doch, dass die Lyse Nebenwirkungen hat.«

»Weit schlimmere als der Verlust von ein paar Spurenelementen und das schreckliche Durstgefühl«, pflichtete sie ihm bei. »Verstreicht zu viel Zeit, kannst du dich nicht mehr zurückverwandeln. Dann erlischt dein Geist. Zurück bleibt nur Sand.«

Verdrossen starrte er in seine Tasse. Der Kaffee war mittlerweile kalt. »Kennst du einen guten Herrenausstatter? Wir sollten dringend einkaufen gehen.«

Nasrin spazierte zum Reisedienst von American Express hinein, knallte ihre Platinum Card auf den Tisch und verlangte von dem pickelgesichtigen Typen am Computer so viel Bares, wie sie dafür bekommen konnte. Pit hielt sich still im Hintergrund, so diskret, wie es einem Zweimetermann in einem rosafarbenen Strampelanzug möglich war. Als die Blicke des Personals unerträglich wurden, fühlte sich das Model gemüßigt, eine Erklärung abzugeben.

»Wir sind überfallen worden. Ich musste meinem Freund einen Sportdress von mir ausleihen.«

»Das kommt vor«, erwiderte der Reisefachmann, dessen Namensschild ihn als Dominik Bamensank identifizierte.

Mit großer Geste deutete Nasrin zur Wand über dem Kopf des Pickelgesichts, womit sie die ungefähre Lage des berühmten Nobelkaufhauses KaDeWe angab. »Wir wollen ihn neu einkleiden.«

Herr Bamensank warf einen argwöhnischen Blick auf Pit, dann auf seinen Monitor und hüstelte schließlich. »Eine Platinum Card hat kein Ausgabelimit, Frau Nafil. Sie müssten mir schon sagen, wie viel Sie in die Garderobe Ihres … Freundes investieren möchten.« Seine piepsige Stimme war obszön freundlich.

»Hunderttausend Euro«, antwortete Nasrin wie aus der Pistole geschossen.

Das Pickelgesicht erblasste. »Dafür bekommen Sie aber eine Menge Krawatten.«

»Mein Freund hat einen exquisiten Geschmack.«

»Wieso bezahlen Sie im KaDeWe nicht gleich mit Ihrer Kreditkarte?«

»Muss ich Ihnen das jetzt erklären, Herr Bamensank, oder darf ich das selbst entscheiden?«, entgegnete sie eisig.

Der Travel Assistant bekam einen Schluckauf. »Natürlich nicht, Frau Nafil. Hicks! Bitte entschuldigen Sie. Wir sind nur immer um die Sicherheit unserer – Hicks! – Kunden bemüht. Es wird einen Moment – Hicks! – dauern, bis ich Ihnen das Geld auszahlen kann.«

»Kein Problem. Wir gehen derweil ins Kaufhaus um die Ecke und horten unsere Einkäufe an der Sammelkasse.«

Nasrin erhob sich, stolzierte im Cat-Walk-Schritt zu ihrem Freund bei der Tür und hauchte ihm einen Kuss auf die verschrammte Wange. »Kommst du, Schatz?«

»Was war das eben?«, brummte Pit, als sie wieder unter freiem Himmel standen. Er rieb sich die Wange, die Nasrin gerade geküsst hatte. Tastbefund unauffällig, konstatierte der Arzt in ihm. Trotzdem meinte er, in Flammen zu stehen.

Nasrin schmunzelte. »Ich habe mich nur benommen, wie man es von internationalen Topmodels erwartet.«

»Die heben einhunderttausend Euro von ihrem Kartenkonto ab?«

»Wenn Naomi oder Heidi so richtig shoppen gehen, dürfte das nicht reichen. Leider gehöre ich nur zur zweiten Garde und muss sparen.«

»So sieht das aus, wenn du sparst?« Mit seinem kargen Notarztgehalt sparte er auf weitaus niedrigerem Niveau.

Nasrin hakte sich bei ihm unter. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch meine Kreditkarten benutzen kann, ohne die Polizei oder Ahimans Kriegerinnen auf uns aufmerksam zu machen. Das Geld dient uns als Kriegskasse im Kampf gegen den Domenfürsten. Er ist nicht die NSA und kontrolliert nicht sämtliche Datenströme dieses Planeten. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Bargeld ist unauffälliger.«

»Kommt auf die Summen an, würde ich sagen.« Pit sah skeptisch an sich hinab. »Und auf unser Outfit.«

Sie lächelte. »Das wird sich jetzt ändern. Vertrau deiner Modeberaterin.«

Die blutjunge Verkäuferin am Ralph-Lauren-Stand hatte ihre Mundwinkel nicht unter Kontrolle. Sie bemühte sich aufrichtig, jegliches Lachen zu unterdrücken, während sie ihre Kunden beriet, doch ganz überzeugend gelang ihr das nicht.

»Wie finden Se det hellblaue Baumwollhemd?«, kicherte sie. »Fühlen Se mal die Qualität. Is superweich.«

Nasrin rümpfte die Nase.

»Ich will nicht aussehen wie ein Lackaffe«, knurrte Pit. Er hatte sich ausdrücklich konservativ-sportliche Kleidung ausbedungen.

Die Verkäuferin brach in schallendes Gelächter aus. »Nee«, japste sie. »Nee, det kann man nu wirklich nich sagen. Wenn ick mir Sie so ankieke – n Lackaffe wäre lange nich so … sportlich.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Ich nehme das Hemd«, entschied Pit. »Die Segelschuhe, vier Hosen und sechs Polos ebenfalls.« So, jetzt hatte er sich aber durchgesetzt.

Nasrin verdrehte die Augen. »Warum verstehen immer nur schwule Männer was von Mode?«

Die junge Verkäuferin wedelte protestierend mit der Hand. »Lassen Se sich nischt einreden! Sie sind der lebende Jejenbeweis.«

Einige Zeit später betrat ein unverschämt gut aussehender, schwarzhaariger, blauäugiger Zweimeterriese das Büro des Reisedienstes von American Express. Der Amex-Mitarbeiterin Melanie Nick fiel sofort sein sportliches Outfit auf: Segelschuhe, kakifarbene Baumwollhose und hellblaues Hemd – auf der Brust war ein rosafarbener Polospieler eingestickt. In der Linken trug er lässig eine große, offenkundig prall gefüllte Reisetasche. Rechts hatte sich bei ihm das Model Nasrin Nafil eingehakt. Ja, dachte Melanie, das sind die Schönen und Reichen dieser Welt! So gut wie die möchte ich's auch mal haben.

»Ist Herr Samenbank zu sprechen?«, fragte die trotz ihrer Größe mädchenhaft wirkende Beauté.

»Bamensank«, korrigierte Melanie und kassierte dafür einen eisigen Blick des Models. »Wie auch immer. Mein Kollege holt gerade seine Mittagspause nach, aber ich kann Ihnen auch helfen. Ihr Geld liegt bereit. Ich müsste nur noch Ihren Ausweis oder Pass sehen. Das ist bei Beträgen dieser Höhe üblich. Dann quittieren Sie uns die Summe und können bummeln gehen.«

»Was ist Ihnen lieber, mein äthiopischer oder der deutsche Pass?«

»Solange der Name mit dem auf Ihrer Amex-Karte übereinstimmt, spielt das keine Rolle.«

Melanie bot den Kunden einen Sitzplatz und Getränke an. Das Model wickelte die Formalitäten ab, als jongliere sie täglich mit sechsstelligen Geldbeträgen. Nachdem sie die Bündel mit den Fünfhundertern ihrem Freund übergeben hatte, verabschiedete sie sich mit ihrem Kameralächeln. Die beiden wandten sich dem Ausgang zu, und Melanie hörte Frau Nafil etwas sagen. Es hörte sich an wie: Jetzt können wir abtauchen. »Sagten Sie etwas zu mir?«, rief sie den beiden hinterher.

Das Model drehte sich um. »Nein. War für meinen Freund bestimmt. Ich sagte: Jetzt gehen wir tauchen.«