17

»Wer bist du?«, brummte Pit, während er immer wieder seine Brust betastete. Nicht das kleinste Loch war da zu fühlen.

»Ich bin immer noch Nasrin Nafil, die Schwester von Zekarias und ein Domenbastard«, entgegnete sie gereizt. Gerade schaufelte sie ihr Universum in die Sacktasche zurück.

»Ach, und wo hast du gelernt, so zu kämpfen?«

»In Äthiopien. Meine Mutter fürchtete, die Domen könnten uns irgendwann finden und töten. Deshalb hat sie meine Schwester und mich von Meistern alter afrikanischer Kampfkünste ausbilden lassen. Du weißt schon: Capoeira und Nebbut, das Stockfechten der Fellachen.«

»Du hast schon als Dreizehnjährige Männer flachgelegt?«

Seine missverständliche Wortwahl entlockte ihr ein Kichern. »Zekarias hat meine Ausbildung später vervollkommnet. Bei ihm habe ich Tazouri n Tammazla gelernt, wie die Berber zur Kunst des Kampfes sagen.«

Er betastete erneut seine Brust. »Was ist da eben passiert, Nasrin? Wieso steckte der Arm des Mannes in meinem Körper?«

»Du hast dich unbewusst gegen seinen Angriff gewehrt. Wir nennen es Durchdringung. Einige Domen können so durch Wände gehen.«

»Das ist physikalisch unmöglich.«

Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu und verdrehte die Augen. »Jetzt geht das wieder los!«

»Bitte erkläre es mir!«

Nasrin hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und übernahm die Führung, so als wäre nichts geschehen. »Was da genau passiert, kann ich dir nicht sagen. Zekarias nannte die Auflösung unserer Körper Lyse. Unser Geist ist an die Materie gebunden, doch er kann wohl irgendwie die Atome austauschen.«

»So wie sich die Zellen im menschlichen Organismus ständig erneuern, meinst du?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Könnte sein. Um sich wieder eine Gestalt zu geben, braucht unser formloser Leib sämtliche Elemente, die in einem Körper vorkommen. Wer wie du die Gabe des Durchdringens besitzt, lässt an einem Hindernis immer etwas zurück und ersetzt es durch Atome aus der Barriere. Deshalb erkennt man eine Mauer, die von einem Domen durchdrungen wurde, an dem schwärzlichen Sand, der davor liegt. Und die Wand selbst wird … morsch.«

»Du meinst instabil, porös.«

»Lernt ihr das eigentlich auf der Uni?«

»Was?«

»Unverständlich zu reden.«

»Ach so, ja. Gleich in der Vorklinik. Das Seminar nennt sich Medizinische Terminologie

»War ja klar. Wer sich für was Besseres hält, lässt es die anderen spüren, indem er sich einer Geheimsprache bedient, die nur Eingeweihte verstehen. Ärzte und Domen sind sich gar nicht so unähnlich.«

»Jetzt hör aber auf! Instabil und porös sind Allerweltswörter. Jeder Maurer benutzt sie.«

»Einigen wir uns auf manche Maurer. Mich nerven nur Typen, die quatschen, als würde der Knoten in der Zunge sie zu besseren Menschen machen. Wer weiß, was er sagen will, braucht keine Fremdwörter.«

»Dann erklär mir bitte – möglichst verständlich –, warum ich plötzlich ein Durchdringer bin.«

Sie blieb stehen, wandte sich zu ihm um und legte eine Hand an seine Wange. Sanft tippten ihre Finger auf die Schramme. »Deshalb, Pit. War das verständlich genug?«

»Äh …?« Ihre Nähe, ihr Duft, ihr forschender Blick – das alles machte ihn nervös. »Geht es vielleicht ein wenig genauer?«

Nasrin zog ihn weiter mit sich. »Die Art, wie wir Menschen uns fortpflanzen, ist für die Domen nur eine von vielen Möglichkeiten. Sie können auch etwas von ihrem Wesen in einen anderen hineinlegen.«

»Durch eine Infektion oder spontane Genmanipulation?«

Nasrin seufzte nur.

Pit schüttelte fassungslos den Kopf. »Du meinst, wegen der paar Tropfen seines Blutes, die er auf mich übertragen hat, bin ich plötzlich ein … Übermensch?«

»Ihm hätte sogar ein einziges, winziges Tröpfchen dazu genügt, dich umzuwandeln. Sein Geist war außergewöhnlich stark. Das Blut ist für die Domen nur der Träger des Lebens, doch sie erneuern es aus der Kraft ihres Willens heraus.« Sie lächelte traurig. »Ich weiß. Das zu akzeptieren fällt schwer. Ich habe Jahre dafür gebraucht.«

Er schluckte. »Du sagtest vorhin, die Domen fürchten um ihre Existenz. Wie war das gemeint?«

Während sie dem Südausgang des Parks entgegenstrebten, erzählte Nasrin die Geschichte eines dem Untergang geweihten Geschlechts. Die Ursache sei jahrhundertelange Inzucht. Um das Unheil abzuwenden, hätten sich einige Vorausschauende schon früh über das Verbot der Mischehen hinweggesetzt. In den Nachkommen dieser Bastarde finde sich immer noch ein Echo der ursprünglichen Macht des Domengeschlechts. Im Mittelalter habe man diese Abkömmlinge Hexen und Zauberer genannt. In neuerer Zeit sprach man lieber von PSI-Kräften.

»Verstehe ich das richtig?«, hakte Pit nach. Sie hatten gerade den Park verlassen, und Nasrin steuerte rechter Hand auf einen silbernen Porsche Boxster mit rotem Verdeck zu. »Das alte Volk stirbt aus?«

Sie nickte. »Es ist ein schleichender Prozess, der sich über Jahrtausende hinzieht. Ebenso lange kämpfen sie mit ihrem uralten Wissensschatz bereits gegen den Verfall an. Zekarias sagte, die Domen hätten vor über viertausendsechshundert Jahren ein Lebenselixier erschaffen. Sie nannten es die Asche des Phönix. Es sollte die schwächelnden Selbstheilungskräfte des Körpers wiederherstellen, damit sich die Zellen ewig erneuern.«

»Klingt so, als hätte es nicht geklappt.«

»Das Elixier kehrte das innere Wesen jener nach außen, die davon tranken. Die wenigsten verwandelten sich zum Besseren. Ein Mann namens Enkidu – der Sprössling der Stille – verbarg die Asche daraufhin. Bis heute hat er sie den Domen nicht zurückgegeben.«

Zu Pits Bedauern ließ seine Begleiterin ihn nun los. Aus ihrem rosa Plüschschwein förderte sie eine Fernbedienung zutage, öffnete damit den Porsche und deutete einladend auf die Beifahrertür.

Grübelnd nahm er in dem Sportwagen Platz. Sie hatte ihm da gerade eine Kröte zu schlucken gegeben, die nur schwer hinunterzuwürgen war. Phönixe, Lebenselixiere, der jahrtausendealte Hüter eines Geheimnisses – das alles klang so … esoterisch!

»Ist es den Domen nie gelungen, ein neues Heilmittel herzustellen?«, fragte er schließlich. Nasrin hatte den Wagen inzwischen gestartet, mit quietschenden Reifen eine Hundertachtziggradwende hingelegt und rollte nun Richtung Stadtmitte.

»Doch«, antwortete sie, »aber diese Medizin hat andere Nebenwirkungen. Sie verlangsamt nur den Verfall – wer davon nimmt, kann viele Hundert Jahre alt werden. Es ist ein schleichender Tod, der einen hohen Preis fordert: Sollte jemand einmal nicht rechtzeitig an Nachschub herankommen, würde er rasend schnell vergreisen. Zekarias sagte, ihm blieben dann bestenfalls Minuten, bis er an Altersschwäche stürbe. Er war von dem Mittel so abhängig wie der Junkie im Park.«

Pit lag der Einwurf auf der Zunge, dass ein so rapide beschleunigter Alterungsprozess schlechterdings kaum möglich sei. Er verkniff sich die Bemerkung jedoch. »Wie kommt das?«

Nasrin brauste über eine Kreuzung hinweg. »Je öfter Domen von dem Mittel nehmen, desto rascher schreitet nach dem Absetzen der Verfall voran. Es ist wie eine Sucht. Ich bin froh, ein Bastard zu sein. Dadurch bleibt mir diese Abhängigkeit erspart. Die Medizin wird aus Menschenblut gewonnen.«

Pit klammerte sich schaudernd am Türgriff fest. »Blut?«

»Die Domen sind keine Vampire, falls du das denkst. Es ist nur ein verschwindend kleiner Anteil, der aus menschlichem Blut extrahiert wird. Man nennt es … Global… äh, Globus, nein …«

»Globuline?«

Sie nickte. »Mein Bruder hat mir zwar davon erzählt, aber ich habe nicht alles verstanden.«

»Die Globuline gehören zu den Proteinen. Du findest sie im Blutplasma, in Pflanzen, in Milch oder in Eiern. Das menschliche Blut enthält mehrere Tausend unterschiedliche Eiweiße. Die Forschung hat erst einige Hundert davon identifiziert. Meines Wissens gehört ein Domen-Globulin nicht dazu.«

»Mein Bruder meinte, die Domen würden das Globulin mit Spaltpilzen aus ihren Körpern verändern.«

»Bakterien, meinst du?«

Sie hob die Schultern. »Zekarias sagte, ich solle mir das wie die Herstellung von Joghurt vorstellen: Die Spaltpilze verändern die Globuline in eine Substanz, die sich der Trank der Hoffnung nennt. Aber wie gesagt, diese Medizin ist nur eine Krücke. Deshalb suchen die Domen nach etwas, das alle Probleme auf einen Schlag lösen könnte. Zekarias nannte es den Prometheus-Komplex

Nachdenklich schob Pit die Unterlippe vor. »Du erwähntest gestern, er habe sich mit einem Prometheus treffen wollen. Damit kann er ja kaum mich gemeint haben, oder?«

»Die Wahrscheinlichkeit liegt bei eins zu einer Milliarde.«

»Da bin ich aber beruhigt.«

Der Porsche röhrte am Brandenburger Tor vorbei. Nasrin warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. »Die ersten Domen unterschieden sich von den übrigen Menschen durch einen bestimmten Abschnitt ihres Erbgutes.«

»Eine Gensequenz?«

»So hat es Zekarias auch einmal genannt. Er sagte, durch die Mischehen sei dieser Abschnitt in den Genpool der Menschheit geraten. So richtig habe ich das nicht verstanden.«

»Stell dir den Genpool als großen Karpfenteich vor und die Erbanlagen als Fische. In dem See schwimmen sämtliche Spielarten von Karpfen, die es gibt – vereinfacht ausgedrückt.«

»Danke, Herr Doktor.«

»Ich bin kein Doktor.«

»Jedenfalls hielt Zekarias dich wohl für den Koikarpfen. Den einen von einer Milliarde, in dessen Erbgut noch das Vermächtnis der ersten Domen schlummert.«

»Mich?«

»Ist nur eine Vermutung. Fände sich in deinen Zellen die extrem seltene Kombination von Genen, ließe sich daraus ein Heilmittel für die Domen herstellen. Dessen genaue Wirkung war selbst Zekarias nicht bekannt. Wahrscheinlich brächte es den körperlichen Verfall zum Stillstand. Die Domen könnten leben bis in alle Ewigkeit«

Die Unendlichkeit, dachte Pit. Auf dem USB-Stick hatte er das -Symbol in den Statistiken der Reihenuntersuchungen gesehen. »Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Halt durch! Wir sind gleich da.« Der Porsche flitzte gerade die Friedrichstraße entlang. »Mein Bruder meinte dem Sinn nach, die Prometheus-Gene seien auf Stand-by und müssten irgendwie eingeschaltet werden. Verstehst du, was er damit meinte?«

»Vermutlich gene silencing, auch Gen-Suppression genannt. Damit ist die Unterdrückung von DNA-Abschnitten gemeint. Das ist so, als würdest du dein Handy stumm schalten: Der Lautsprecher und die Schaltkreise zum Abspielen der Klingeltöne sind weiterhin da, werden aber gehemmt. In deinem Körper switchen chemische Verbindungen die verschiedenen Zustände um. Beim gene enhancing werden die Abschnitte in der DNA aktiviert und entfalten ihre Wirkung.«

Nasrin nickte verstehend. Sie legte den Blinker ein und bog rechts ab. »Zekarias nannte mir keinen Namen. Ich kann also nicht sagen, ob er dich für den Prometheus hielt. Doch er war überzeugt, den einen aus einer Milliarde endlich entdeckt zu haben. Ich werde ihn zu mir rufen, sagte er zu mir, als er im U-Bahnhof auf den Gleisen stand.«

Der Wagen hielt an. In einem schick renovierten Gebäude öffnete sich das Gittertor zu einer Tiefgarage.

Pit schüttelte ungläubig den Kopf. »Wieso sollte er ausgerechnet mich ausgewählt haben?«

»Bist du Blutspender?«

»Davon gibt's Millionen. Was hat das damit zu tun?«

»Bist du oder bist du nicht?«

»Als Student habe ich regelmäßig in der Charité Blut gespendet. Hat mir jedes Mal zwanzig Euro gebracht. Konnt's gut gebrauchen. Im Lauf des Studiums hat sich meine Meinung dazu geändert.«

Nasrin fuhr in die Garage. »Wie kam es dazu?«

»Ich las Studien, denen zufolge Patienten ohne Bluttransfusion schneller genesen und seltener sterben. Auf so vielen Gebieten strebt die Medizin ständig nach Fortschritt. In dieser Beziehung nicht. Ich hatte mein Staatsexamen noch nicht abgelegt und stand plötzlich vor einem ethischen Dilemma. Im Geist des hippokratischen Eides wollte ich nie zum Nachteil und Unrecht eines Kranken handeln oder ihm ein tödliches Gift verabreichen.« Er schluckte. »Maja … Meine Frau ist an den Folgen einer Bluttransfusion gestorben.«

Inzwischen hatte Nasrin den Porsche in einer Parkbucht zum Stehen gebracht. Sie schaltete den Motor aus und legte ihre Rechte auf Pits Hand. »Du hast sie sehr geliebt, nicht wahr?«

Er nickte. An diesem Punkt hat mich Katharina gekriegt, schoss es ihm durch den Kopf. Er zog seine Hand zurück, räusperte sich und schlug wieder einen nüchternen Ton an. »Jedenfalls bin ich nach dem Examen mit Maja nach Hamburg gegangen, als Assistent von Professor Rudi Lohmann, einem der bedeutendsten Rechtsmediziner des Landes. Unsere Patienten waren die Leichen in der Gerichtsmedizin. Die brauchten keine Bluttransfusionen. Als Maja und ich später nach Berlin zurückkehrten, bewarb ich mich um eine Stelle als Notarzt. Bei den Rettungseinsätzen verwenden wir Volumenexpander wie Kochsalzlösung, um den Kreislauf nach starkem Blutverlust zu stabilisieren. Langer Rede kurzer Sinn: Es ist schon lange her, dass ich zuletzt Blut gespendet habe.«

»Um den Suchern der Domen zu entgehen, nicht lange genug, fürchte ich.«

»Sucher?«

Sie nickte. »Mein Bruder sagte einmal zu mir, die Geschichte der Bluttransfusionsdienste sei mit dem Überlebenskampf der Domen untrennbar verbunden. Sie kontrollierten seit mindestens fünfzig Jahren alle großen Organisationen, die Blutspenden sammeln, aufbereiten und weiterverkaufen. Auch die Blutbanken haben sie infiltriert. Sie führen fortlaufend Reihentests durch, um nach dem Prometheus-Komplex zu suchen. Zekarias war dafür verantwortlich. Er hatte ihn entdeckt. Doch er hielt sein Wissen geheim.«

Pit starrte mit glasigem Blick vor sich hin. Er musste das Gehörte erst einmal verdauen. Bisher konnte er in Nasrins Ausführungen – so bizarr sie auch klangen – keinen Widerspruch erkennen. Sogar Zekarias' Blutdossier auf dem USB-Stick fügte sich in ihre Erklärungen.

»Hier könnte man uns sehen«, sagte Nasrin. »Besser, wir gehen nach oben.«

Er nickte nur. Nachdenklich folgte er Nasrin zu den Aufzügen. »Wer ist der ehrenwerte Ahiman?«, fragte er, während sie auf den Lift warteten.

Sie legte einen Finger an die Lippen und antwortete betont leise. »Einen Ehrentitel muss man sich verdienen. Deshalb nenne ich ihn nur Ahiman.«

»Soll mir recht sein. Das beantwortet aber nicht meine Frage.«

»Zekarias wollte mir nie verraten, ob Ahiman ein Titel, ein Eigenname oder ein Amtsname wie bei den Päpsten ist. Jedenfalls ist er der erste Fürst der Domen. Sozusagen ein König, der von ihnen durch Zuruf gewählt wird.«

»Eine Wahl per Akklamation?«, wunderte sich Pit. »Meines Wissens hat man im Mittelalter auf diese Weise Könige und Päpste ins Amt gehoben.«

Mit einem freundlichen Gong öffnete sich die Fahrstuhltür. Die beiden betraten den Lift. Nasrin drückte die Vier und sah ihn erwartungsvoll an. Die Türen schlossen sich. Pit beschloss, ein wenig mehr von sich preiszugeben.

»Ich hatte neulich Besuch von vier sehr stattlichen Damen. Eine sah aus wie Grace Jones.«

»Das war Zafirah, die Tochter des Domenfürsten«, antwortete Nasrin leise. »Sie ist die Anführerin seiner Leibgarde, die aus mächtigen Kriegerinnen besteht. Ob Ahiman ihren Schutz tatsächlich braucht, wage ich zu bezweifeln. Zekarias sagte, er habe den bösen Blick. Du weißt, was das bedeutet?«

Pit fröstelte. Er hatte es im Traum gesehen. »Ein Aberglaube. Der böse Blick soll Unglück und Tod bringen.«

Sie nickte. »Der Volksglaube hat einen wahren Kern: Ahiman. Ein Blick von ihm könne einen Menschen töten, behauptete mein Bruder. Zekarias war dagegen allerdings gefeit.«

»Und wie steht es mit uns? Sind wir oder andere Domen auch gegen seinen Blick immun?«

»Ich würde es lieber nicht ausprobieren.«

Der Fahrstuhl hatte sich ins vierte Obergeschoss geschlichen und öffnete mit einem heiteren Gong die Türen.

Pit folgte Nasrin zu einer dunkelbraunen Holztür mit einem Türknauf aus Messing. Auf dem Namensschild, ebenfalls aus Trompetengold, standen nur zwei Buchstaben:

N. N.

»Nomen nescio«, murmelte er. Wieder regte sich Argwohn in ihm. War Nasrin tatsächlich diejenige, für die sie sich ausgab?

Sie hatte gerade eine Ziffernkombination in ein Zahlenschloss eingetippt und wandte sich zu ihm um, während die Tür mit leisem Klicken aufsprang. »Wie bitte?«

Er deutete auf das ominöse Schild. »Das ist lateinisch. Es bedeutet den Namen weiß ich nicht

Sie kicherte. »Komischer Zufall, was?«

»Ja«, brummte er.

Nasrin betrat die Wohnung, und er folgte ihr. Hoffentlich bin ich kein Lamm, das gerade zur Schlachtbank geführt wird, dachte Pit.

»Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Model kochen kann. Dachte, die hungern immer nur«, gestand Pit mit vollem Mund. In der Hand hielt er ein Fladenbrot, mit dem er Pfannengemüse und gebratene Fleischwürfelchen in sich hineinschaufelte.

»Ich bin in Äthiopien aufgewachsen, nicht in Berlin, London oder Paris«, antwortete Nasrin von der anderen Seite des Tisches. Mit ihrem zufriedenen Lächeln fand Pit sie noch schöner, als sie ohnehin schon war.

Dies alles war zu schön, um wahr zu sein.

Seine Gastgeberin hatte das Nachtmahl mit flinken Händen zubereitet, dazu eine gute Flasche Roten geöffnet und trotz der fortgeschrittenen Stunde – es war kurz nach zwei Uhr – sogar den Esstisch vor dem Fenster mit einem weißen Tischtuch und mit Kerzen geschmückt. Zum Greifen nahe war auf der anderen Straßenseite der Gendarmenmarkt zu sehen mit dem stilvoll beleuchteten Französischen Dom und der Friedenskirche.

Pit fragte sich zum hundertsten Mal, ob er längst, ohne es zu merken, in einem Spinnennetz hing. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Nasrin geduldig alle seine Fragen beantwortet. Ob Zekarias ihm irgendetwas gesagt oder gegeben hatte, schien sie nicht mehr zu interessieren. Aber konnte das sein? Vielleicht ließ sie die Maske fallen, wenn er ihr eine Falle stellte.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum dein Bruder seine Entdeckung geheim gehalten hat.«

Nasrin legte ihr angebissenes Fladenbrot auf den Teller zurück. Ihr hübsches Gesicht wirkte auf einmal hart. Und so klang auch ihre Stimme, als sie antwortete. »Er vertraute mir ein Geheimnis an. Demnach hat Ahiman für den Tag, an dem die Domen wieder ihre alte Stärke zurückerlangten, etwas Furchtbares geplant. Es muss so schrecklich sein, dass Zekarias vom Glauben abfiel. Wir Domen und die Zwerge sind ein Geschlecht, sagte er. Deshalb sollten wir nicht länger zwei Völker sein, sondern nur eins. Er wollte den Prometheus-Komplex, sollte er ihn je finden, nicht Ahiman überlassen. Obwohl er weiter die Sucher anführte, hatte er sich insgeheim auf die Seite der Gegner des Fürsten gestellt.«

Pit schob die Unterlippe vor. Grübelnd betrachtete er den modern eingerichteten, zu Küche und Flur hin offenen Wohnbereich. Sein Bewusstsein registrierte weder das spiegelnde Parkett noch die weißen Ledermöbel oder die riesige Plüschgiraffe. Erst auf einem wandhohen Foto gegenüber kam sein Blick zur Ruhe. Es zeigt Nasrin Nafil barfuß am Meeresstrand. Sie trug ein duftiges orientalisches Gewand, in dem die Sonne ihre sinnlichen Formen nachzeichnete.

»Pit?«, hörte er sie plötzlich fragen.

Er blinzelte. »Entschuldige. Ich war kurz … in Gedanken. Dieses Furchtbare, das Ahiman geplant hat – was könnte das sein?«

Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. »Keine Ahnung. Aber es muss grauenvoll sein. Zekarias sagte, ein neuer Prometheus müsse den selbst ernannten Göttern das Feuer entreißen und es den Menschen zurückgeben.« Ihr Blick wanderte von Pits Augen zu der Schramme an seiner Wange.

Unwillkürlich berührte er die Verletzung, so sacht, wie es zuvor Katharina und Nasrin getan hatten. Der Schorf war abgefallen. Es ließ sich kaum noch eine Unebenheit auf der Haut ertasten. »Ich kann schlecht leugnen, dass ich mich verändert habe. Mir will nur nicht in den Kopf, wie er das angestellt hat.«

Sie lächelte müde. »Weil deine Gedanken in einem Käfig gefangen sind. Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass Zekarias verschiedene Gestalten annehmen konnte?«

Er griff unsicher nach seinem Weinglas. »Du meinst … nicht bloß den amorphen Körper, in dem wir aus dem Knast geflohen sind?«

»Mein Bruder konnte Faun sein, Zentaur und auch die eine oder andere uralte Sagengestalt. Domen wie er sind der Ursprung dieser Geschichten.«

Pit kippte den Wein hinunter. »Ziemlich starker Tobak.«

»Aber so real wie die Lyse und die Durchdringung. Finde dich damit ab, Pit! Sein Blut hat sich mit dem deinen vermischt und dadurch etwas Neues erschaffen. Oder etwas Uraltes wiedererweckt. Du kannst dich der Verantwortung nicht entziehen.«

»Verantwortung? Welche Verantwortung?«

»Das Vermächtnis und wohl auch die Macht, die Zekarias dir hinterlassen hat, weise zu gebrauchen. Gebiete Ahiman Einhalt! Rette das Geschlecht der Domen auf friedlichem Weg vor dem Untergang!«

Entrüstet stellte er sein leeres Glas auf den Tisch zurück. »Du hättest erleben sollen, wie dieser ehrenwerte Ahiman und seine Bauchtanztruppe mit mir umgesprungen sind. Was heißt umgesprungen? Sie haben mich umgebracht! Einmal genügt mir. Wenn die Domen jahrtausendelang unerkannt unter uns gelebt haben, dann können sie meinetwegen auch still und heimlich untergehen. Ich mische mich da nicht ein.«

Nasrin nippte nachdenklich an ihrem Glas. Sie wartete, bis Pits Zorn verraucht war. Erst dann antwortete sie. »Zekarias hat herausgefunden, dass du den Prometheus-Komplex in dir trägst. Denkst du, der mächtige Domenfürst ist dazu nicht in der Lage?«

Pit schenkte sich mit zitternder Hand von dem Wein nach und nahm einen großen Schluck. »Ich habe in meiner Wohnung viel Blut verloren.«

Sie nickte. »Ahiman wird sich Proben davon besorgen. Er lässt es untersuchen, und dann bist du für ihn der meistgesuchte Mensch auf Erden.«

»Du meinst …« Er trank das Glas abermals leer und stellte es wie in Zeitlupe auf den Tisch zurück. »… diese Grace-Jones-Imitatorin und ihre Groupies wollten mich aus dem Knast entführen?«

Nasrin beugte sich unvermittelt vor und umfasste seine Hand. »Zekarias hat mir Ahimans Tochter anders beschrieben. Ich denke, sie beschränkt sich auf das Wesentliche: Sie wird ihrem Vater nur dein Blut bringen. Sechs Liter dürften ihr genügen. Falls sie so viel aus dir herauspressen kann.«