16

Caleb rief auf seinem Laptop einen Grundriss der St. Francis Cathedral auf, prägte ihn sich eilig ein und machte sich dann auf den Weg.

Das Innere des Kirchengebäudes schien so groß und prächtig zu sein, wie es sich Jelak für seine endgültige Wiedergeburt nur wünschen konnte. Ein Chorgestühl gegenüber dem Altar. Zwei Vorräume, die vom Altarraum abgingen. Die Begegnungsräume befanden sich in einem Nebengebäude, das durch einen überdachten Gang mit der Kirche verbunden war.

Also wo hielt Jelak Quinn fest?

Quinn hatte gewusst, dass er sich in einer Kirche befand, daraus konnte man schließen, dass er religiöse Kultgegenstände sehen konnte. Die Begegnungsräume wurden gewöhnlich von Gruppen genutzt und waren daher nicht so leicht zu identifizieren. Das sprach dafür, dass er sich im Hauptteil der Kirche befand. Im Chor. Im Altarraum. In einem der Vorräume.

Wo genau?

Er würde im Chor beginnen und sich von dort weiterarbeiten. Der Chorraum befand sich oberhalb des Kirchenschiffs, wo die Gemeinde saß, und man würde ihn weniger leicht bemerken, wenn er von dort oben hinunterblickte. Die meisten Menschen neigten dazu, geradeaus zu schauen.

Er parkte eine Querstraße von der Kathedrale entfernt und betrachtete einen Moment lang die hohen Kirchturmspitzen und die mittelalterliche Architektur.

Er konnte Jelak nicht fühlen, aber die Kirche war von Wohngebäuden umgeben. Zu viele Menschen, zu viele Störungen auf diese Entfernung. Er konnte von Glück reden, wenn er ihn auf zehn Meter wahrnahm. Aber dann würde auch Jelak in der Lage sein, ihn zu spüren.

Beide blind. Eine ausgeglichene Ausgangslage.

Doch das würde sich ändern, sobald er ihn in dieser Kathedrale fand.

Plötzlich spürte er die Aufregung, die er sich bisher verboten hatte, in seinen Adern pulsieren. Nach so vielen Jahren der Jagd gehörte Jelak endlich ihm.

Er stieg aus dem Wagen und ging schnell auf die Kathedrale zu. Keine Autos auf dem Parkplatz, aber direkt vor den riesigen Türen des Haupteingangs war ein grauer Honda abgestellt.

»Fertig zum Aufbruch. Du bist für deinen letzten Mord bereit«, murmelte er. »Aber bist du auch für mich bereit, Jelak?«

 

Hinter der Chorschranke war er nicht.

Aber auf den Stufen, die zum Chor hinaufführten, fand Caleb den zusammengesunkenen Körper eines Priesters. Offenbar war die Kirche nicht so leer gewesen, wie Eve gehofft hatte. Er ging um den Leichnam herum und nahm schnell die Stufen nach oben.

Kein Jelak. Aber von diesem Aussichtspunkt konnte Caleb die goldenen Kelche auf dem mit rotem Samt bedeckten Altar stehen sehen. Jelak hatte offenbar vor, Eve für das Ritual vom Allatoona hierherzubringen.

Sein Blick schweifte durch den Altarraum unter ihm.

Dort befand sich Jelak auch nicht.

Dann einer der Vorräume.

Welcher? Links oder rechts vom Altar?

Er hatte die Wahl.

Wenn er aus dem Altarraum in einen der Vorräume hineinging, war das Risiko zu groß. Er musste außen um die Kirche herumgehen und nachsehen, ob die Vorräume Fenster hatten.

Schnell.

Er hatte nur zehn Minuten Vorsprung vor Eve und wollte, dass alles vorbei war, ehe sie die Kathedrale erreichte. Ihre erste Priorität würde sein, Quinn vor Jelak in Sicherheit zu bringen.

Calebs Priorität war das nicht.

Er musste Jelak so schnell wie möglich vernichten, ganz egal, wer ihm im Weg stand.

 

»Es wird Zeit zum Aufbruch. Zum Auto müssen Sie selbst laufen.« Jelak zerschnitt das Seil, mit dem Joes Knöchel gefesselt waren. »Ich gebe zu, die Idee einer Rückkehr zum Allatoona gefällt mir. Das wird die Erinnerung an einen interessanten Mord wachrufen. Natürlich konnte Nancy Jo Norris es in keiner Weise mit Eve aufnehmen, aber sie war doch überraschend kraftvoll für eine so junge Frau. Und sie war der erste meiner Morde, zu dem Sie als Ermittler gerufen wurden. Auch Sie sollten am Allatoona-See eine gewisse Nostalgie verspüren.«

»Nostalgie? Was ich verspürt habe, war Abscheu auf den Kotzbrocken, der ein so nettes Mädchen umgebracht hat.« Joe bewegte seine Unterschenkel, um die Durchblutung anzuregen. Seine Hände konnte er nicht einsetzen, aber mit den Füßen war er gut. Den richtigen Zeitpunkt abpassen, dann einen Roundhouse-Kick in den Bauch und einen weiteren gegen die Kehle. »Aber dann habe ich entdeckt, dass Sie ein Feigling und ein Irrer sind und dass die Bezeichnung ›Kotzbrocken‹ ein Kompliment für Sie gewesen wäre.«

Jelaks Lippen wurden schmal. »Habe ich Ihnen schon gesagt, welches Vergnügen es war, Ihnen diese Wunden beizubringen? Vielleicht lasse ich Sie nach der Wiedergeburt noch ein bisschen am Leben, um mit Ihnen zu spielen.«

»Wiedergeburt? Diesen Quatsch glauben Sie tatsächlich? Das war alles umsonst, Jelak. Selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, Eve zu töten, dann wären Sie noch immer der bemitleidenswerte hässliche Gnom, der Sie Ihr Leben lang waren.«

»Das ist eine Lüge«, zischte Jelak. »Sie haben keine Ahnung, Caleb könnte Ihnen das erklären. Er weiß, wie nahe dran ich bin.« Er holte tief Luft und richtete sich auf. »Ich gehe jetzt und hole meinen Kelch und mein Messer. Auch wenn ich vorhabe, Ihre Eve hierherzubringen, kann man nie wissen, was passiert. Ich halte es für besser, vorbereitet zu sein.« Plötzlich kicherte er. »Wie Ihre kleine Pfadfinderin Mary Lou. Ihnen ist doch klar, dass ich sie mir wiederholen werde?«

»An diese Möglichkeit hatte ich schon gedacht.«

»Das ist keine bloße Möglichkeit.« Er nahm seinen schwarzen Krokodillederkasten und ging zur Tür. »Darüber können Sie nachdenken, während ich meinen schönen Kelch einpacke.«

Sobald Jelak den Raum verlassen hatte, kämpfte sich Joe auf die Beine. Obwohl er noch immer an den Stuhl gefesselt war, hoppelte er Richtung Tür. Er würde auf einer Seite warten und seine gefesselten Hände um Jelaks Hals legen und ihn umdrehen, bis –

»Sie sehen absolut lächerlich aus«, sagte Caleb, während er durchs Fenster stieg. »So zusammengeschnürt wie ein Truthahn sind Ihre Chancen, ihn zu erwischen, gleich null, das wissen Sie doch.«

Erleichterung durchströmte Joe. »Dann binden Sie mich los, verdammt.«

»Bin schon dabei.« Caleb schlich durch den Raum und holte dabei ein Messer aus der Hosentasche. »Aber es hat vor allem einen praktischen Sinn, dass ich Sie befreie. Sie müssen sofort aus dem Fenster steigen, um Eve davon abzuhalten, Sie zu retten.« Während er sprach, säbelte er bereits die Fesseln durch. »Verdammt, Sie sind ja geradezu in Stücke geschnitten. Sie sehen aus wie ein Nadelkissen. Einige dieser Wunden müssen genäht werden.«

»Haben Sie eine Waffe?«

»Ja, aber die gebe ich nicht her. Ich habe jetzt keine Zeit, mit Ihnen zu streiten. Jelak ist ganz in der Nähe, ich kann ihn spüren. Vermutlich hat er die feine Empfindungsfähigkeit noch nicht erreicht und kann mich bei diesen vielen Störungen hier nicht spüren, aber ich kann mir nicht sicher sein.« Er trat zurück, als Joe frei war. »Steigen Sie aus dem Fenster und suchen Sie Eve.«

»Nicht wenn ich so nah dran bin. Jelak kann jede Sekunde durch diese Tür kommen.« Grimmig fügte er hinzu: »Und jetzt bin ich nicht mehr zusammengeschnürt wie ein Truthahn.«

»Sie sind schwierig, Quinn.«

»Was für ein Pech.«

Caleb zog die Waffe aus seiner Jackentasche und richtete sie auf ihn. »Raus mit Ihnen, Quinn. Finden Sie Eve, ehe Jelak es tut. Sie kann jeden Moment hier sein. Ich will nicht, dass Sie mir im Weg stehen.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich werde Sie nicht töten, aber ich sorge dafür, dass Sie mich nicht stören. Und glauben Sie nicht, ich würde sie nicht einsetzen.«

»Oh, das bezweifle ich nicht.« Joe zögerte, dann rannte er zum Fenster und schwang die Beine über das Fensterbrett. »Ich werde Eve suchen. Wenn ich sie in Sicherheit weiß, komme ich wieder. Und ich bin mir nicht sicher, wen ich zuerst ausschalte, Jelak oder Sie.«

 

Eve sah Calebs Auto sofort, als sie bei St. Francis ankam.

Es war gegenüber der Kathedrale geparkt.

Er hatte gesagt, er würde nicht auf sie warten. Vermutlich war er drinnen. Sie zögerte, dann stieg sie schnell die Stufen zur mächtigen Eingangstür hinauf. Wenn die Tür offen war, musste sie versuchen, so leise wie möglich ins Innere zu schlüpfen.

Sie war offen. War das Jelak gewesen oder Caleb? Gar nicht darüber nachdenken.

Im Vestibül war niemand.

Vorsichtig nach allen Seiten blickend, ging sie auf den Altarraum zu und spähte dabei in die Schatten.

Niemand.

Das Erste, was Eve im Altarraum sah, war der goldene Kelch.

Sie holte tief Luft. In der Dunkelheit des riesigen Kirchenschiffs ließen die Kerzen zu beiden Seiten des Altars den Kelch glitzern. Sie durfte nicht stehen bleiben und ihn anstarren.

Sie schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Jetzt war keine Zeit, sich all das Böse zu vergegenwärtigen, das der Kelch repräsentierte. Wo war Jelak?

Sie hielt die Waffe in ihrer Hand fester.

Und wo war Joe?

»Sie konnten wohl nicht abwarten, mich zu sehen?« Der Lauf einer Schusswaffe drückte sich gegen ihren Rücken. »Ich habe Sie nicht erwartet. Aber so ist es viel praktischer als am Allatoona-See. Sie müssen mir erzählen, wie Sie mich gefunden haben. Aber geben Sie mir erst diese Pistole.«

»Warum? Wenn ich sie Ihnen gebe, bringen Sie mich um. Und dann bringen Sie Joe um. Na los, erschießen Sie mich. Dann können Sie Ihr verdammtes letztes Ritual vergessen.«

»Sie haben recht. Dann werde ich Ihnen lieber in die Hand schießen, damit Sie die Waffe fallen lassen. Aber dann können Sie weder sich noch Quinn verteidigen.«

Er hatte recht. Besser ohne Waffe als verwundet. Caleb musste irgendwo in der Nähe sein. Sie musste sich auf ihn verlassen. Daher ließ sie die Pistole fallen.

Er holte sie sich. »Und jetzt gehen wir zu Quinn. Ich muss Sie irgendwo sicher unterbringen, ehe ich nach Caleb suche. Bestimmt hat er sie begleitet. Ich bin überrascht, dass er Sie allein hereinkommen ließ.«

»Sie sollten nicht überrascht sein.« Caleb stand auf der Schwelle zum Vorraum. »Das war stets eine Sache zwischen uns beiden, Jelak. Und deshalb hatten Sie immer Angst.«

Jelak erstarrte, den Rücken durchgedrückt wie nach einem Peitschenschlag. »Ich habe keine Angst vor Ihnen, Caleb. Das ist vorüber. Es ist wahr, dass ich mit der Wiedergeburt gerechnet habe, aber ich brauche sie nicht. Ich bin jetzt stark.«

Eve konnte jedoch sehen, dass er durchaus Angst hatte. Er starrte Caleb trotzig ins Gesicht, aber seine Hand mit der Pistole zitterte.

Sie konnte ihn verstehen, denn in diesem Augenblick wirkte Caleb wirklich einschüchternd. In den vergangenen Tagen hatte sie sich an ihn gewöhnt und war sich der Macht, die ihr bei der ersten Begegnung aufgefallen war, nicht mehr ständig bewusst gewesen. Aber es war, als hätte er plötzlich einen Umhang abgeworfen, unter dem sich eine einschüchternde, bedrohliche und tödliche Autorität verborgen hatte. Sie erschrak. Die Kraft, die er verströmte, ließ ihn strahlen und schimmern.

Langsam ging er auf Jelak zu.

»Bleiben Sie stehen.« Panisch hob Jelak seine Waffe.

»Warum? Sie sind doch so stark. Das Blut so vieler Opfer haben Sie gebraucht, um so zu werden. Mit Hilfe ihrer Kraft, ihrer Intelligenz, ihres Willens.«

»Sie sind noch immer wütend wegen Maria Givano.« Jelak verzog verächtlich die Lippen. »Sie hatte keine Bedeutung. Ich dachte, sie würde mir einen kraftvollen Start für die Wiedergeburt geben. Die Gelegenheit war einfach zu günstig. Als ich herausfand, dass sie genug Kraft haben könnte, musste ich es probieren.«

»Sie haben einen Fehler gemacht.«

»Ja, sie hatte keine Kraft.«

»Nein, Ihr Fehler war, sie zu töten. Und dieser Fehler wird Sie jetzt zu Fall bringen.« Caleb machte einen weiteren Schritt nach vorn. »Sie sind noch immer so viel schwächer als ich. Sie zittern. Ihr Blut pulsiert. Sie spüren es, nicht wahr?«

»Nein.« Jelaks Stimme war heiser. »Ich bin stark. Und ich werde noch stärker sein, wenn ich Sie getötet habe.« Sein Finger am Abzug bewegte sich.

»Nein!« Eve sprang vor und riss Jelaks Revolver zur Seite.

»Miststück!« Seine Hand fuhr herum und schlug sie zu Boden.

»Bleiben Sie liegen, Eve«, rief Caleb, während er weiterging. »Es ist schon gut.«

Gut? Jelak würde ihn umbringen.

»Bleiben Sie weg von mir, Caleb.« Jelak feuerte und warf sich hinter eine Kirchenbank.

Caleb hatte eine Waffe, das wusste Eve. Warum schoss er nicht zurück?

Ein weiterer Schuss.

Das Holz der Bank neben Caleb splitterte, als die Kugel einschlug.

»Ich habe doch gesagt, dass Ihre Hand zittert«, sagte Caleb.

Plötzlich streifte eine Kugel Eves Wange.

»Bleiben Sie weg, oder ich bringe sie um«, sagte Jelak. »Ich meine das ernst, Caleb.«

»Den Teufel werden Sie tun.« Auf einmal war Joe neben Eve, schob sie zur Seite und stellte sich zwischen sie und Jelak. »Los, machen Sie schon. Schnappen Sie sich den Kerl, Caleb.«

Joe. Sicher. Am Leben. Sie legte die Arme um ihn.

»Sorgen Sie dafür, dass sie sich heraushält.« Caleb sah Jelak unverwandt an. »Werfen Sie die Waffe weg, Jelak.«

Zwei Schüsse bohrten sich irgendwo links von Caleb in den Altar.

»Schon wieder daneben. Geben Sie auf, Jelak.«

»Ich werde nicht aufgeben. Ich bin so stark wie Sie. Stärker.«

»Nun, dann würde es ja nichts ausmachen, wenn Sie trotzdem aufgeben. Eigentlich ist es mir sowieso lieber, wenn Sie es nicht tun. Aber Sie wissen, was jetzt passiert, oder? Ihr Lehrer Donari hat Ihnen erzählt, was Sie erwartet, wenn ich Sie erwische. Darum sind Sie auf der Flucht.«

»Das wird nicht passieren.« Er feuerte erneut auf Caleb. »Das war eine Lüge. Und wenn nicht, bin ich trotzdem der Wiedergeburt viel zu nah, als dass Sie fähig wären, mich zu – bleiben Sie weg!« Das war ein Schrei.

Caleb ging unbeirrt weiter. »Es war keine Lüge. Donari hat Ihnen viele Lügen erzählt, aber das war keine. In der Nacht, in der Sie Maria Givano umgebracht haben, wusste ich bereits, dass Sie auf diese Weise sterben würden.«

»Ich werde nicht sterben. Ich werde zum Gott!«

»Nein, Sie haben all diese Jahre das Blutspiel gespielt, und jetzt haben Sie verloren. Es wird Zeit, das Blut wieder zurückzugeben.« Jetzt war Caleb bis auf ein, zwei Meter an Jelak herangekommen. »Keine Wiedergeburt. Niemals.«

»Nein!« Jelak sprang auf und rannte auf den Vorraum zu. »Ich werde Ihnen entkommen. Nur noch ein paar Beutezüge. Ich fange noch einmal an und –« Er blieb stehen und legte die Hände an die Kehle.

Er schrie.

Auch Eve hätte am liebsten laut geschrien, als sie sein Gesicht sah. Es war verzerrt und rot angelaufen, und während sie noch hinsah, begann ihm Blut in dunklen Tränen aus den Augen zu laufen.

»Erst einmal nur ein bisschen Blut«, sagte Caleb. »Ich will, dass es anfängt, weh zu tun. Dann Zuckungen, denke ich. Wussten Sie, dass Zuckungen Ihre Knochen brechen können?«

Jelak stürzte zu Boden. Sein ganzer Körper erbebte und schüttelte sich unter heftigen Zuckungen.

»Sind schon einige Rippen gebrochen?«, fragte Caleb. »Gleich wird es so weit sein, Jelak.«

Jelak versuchte davonzukriechen, aber die Zuckungen wurden immer stärker, und er begann vor Schmerz zu jaulen. »Machen Sie, dass es – aufhört.« Flehend blickte er sich um. »Ich tue alles, was Sie –«

»Ja, das werden Sie«, sagte Caleb. »Und es wird bald aufhören. Ich will nicht, dass eine der gebrochenen Rippen sich durch Ihr Herz bohrt. Das wäre zu einfach. Nur noch ein kleines Weilchen.«

Eve zuckte zusammen, als Jelak erneut aufschrie. Sie konnte seine Qual beinahe körperlich spüren.

»Jetzt ist es an der Zeit für das Blut«, sagte Caleb.

Die Zuckungen hörten augenblicklich auf.

»Geben Sie es zurück«, sagte Caleb sanft. »Das ganze Blut, das Sie gestohlen haben. Die ganzen Morde, die ganzen Leben. Erst kommen blutige Tränen, dann wird Ihnen das Blut in den Kopf steigen und heftige Schlaganfälle hervorrufen.« Er ging wieder langsam auf Jelak zu. »Können Sie es spüren? Oh ja, ich sehe, dass Sie es spüren. Sie kommen schon. Sie verdrehen bereits die Augen.«

Jelak wimmerte.

»Aber Sie haben noch nicht das ganze Blut, das Sie gestohlen haben, zurückgegeben. Es muss alles sein. Das Spiel ist zu Ende.«

Jelak begann zu keuchen, als ihm jetzt Blut aus dem Mund lief.

Eve sah, dass er verzweifelt würgte. Er bekam keine Luft mehr. Sie hätte gern weggesehen, aber sie konnte die Augen nicht von seinem Gesicht abwenden.

Er hatte den Blick auf Caleb gerichtet und wollte etwas sagen, während Blut über seine Lippen strömte. Er versuchte zu schreien.

»Das sollte reichen«, sagte Caleb. »Na, wie fühlt sich Ihre Wiedergeburt an, Jelak?«

Ein Gurgeln, ein Keuchen, und Jelaks Körper schüttelte sich und zuckte, als das Blut aus seinem Körper schoss.

Caleb beugte sich über ihn und sah ihm tief in die Augen. »Es ist vorbei. Sie sterben. Keine Macht. Keine Unsterblichkeit. Das wissen Sie, oder? Ich will, dass Sie begreifen, was für ein Niemand Sie sind.«

Und in Jelaks Augen stand die verzweifelte Erkenntnis, dass er endgültig verloren hatte.

Caleb richtete sich auf. »Sie sollen in der Hölle schmoren, Jelak!«

Jelaks Körper bäumte sich noch einmal auf, dann lag er still.

Caleb blickte auf ihn herab, einen langen Augenblick.

Dann drehte er sich um und verließ die Kathedrale.

 

»Oh mein Gott«, flüsterte Eve, den Blick auf Jelaks Körper gerichtet. »Was ist passiert? Was hat er mit ihm gemacht?«

»Ich glaube nicht, dass in Frage steht, was er mit ihm gemacht hat«, sagte Joe. »Nur wie er es gemacht hat.«

Sie schauderte. »Kein Wunder, dass Jelak vor ihm davongerannt ist, wenn er annehmen musste, dass Caleb das mit ihm machen könnte.«

»Ich persönlich habe es unglaublich genossen.« Joe kniete jetzt. »Ich wollte ihn tot sehen, und Caleb hat dafür gesorgt. Obwohl ich es lieber selbst erledigt hätte.«

»Joe …« Plötzlich sah sie die zahlreichen Messerschnitte, die seinen Oberkörper überzogen. Sie streckte die Hand aus und berührte einen davon an der Schulter. »Das hat er dir angetan …«

»Mir geht’s gut.«

»Dir geht es nicht gut.« Auf seinem oberen Rücken sah sie eine drei Zentimeter lange Wunde, die aussah, als wäre sie aufgehackt worden. Allein hierbei müssen die Schmerzen entsetzlich gewesen sein. »Wir müssen dich zum Arzt bringen.«

Er nickte. »Bringen wir es hinter uns. Die Stiche könnten genauso weh tun wie Jelaks Schnitte.«

»Das glaube ich nicht.« Plötzlich war ein Gutteil des Schreckens, das sie beim Blick auf Jelak spürte, verflogen. »Dieser Mistkerl. Ich wünschte, Caleb hätte ihn noch mehr leiden lassen.«

»Das hat vermutlich schon gereicht. Schlaganfall, Gehirnblutung und Ersticken.« Er nahm sie am Arm. »Und nichts davon kann vor einem Gericht bewiesen werden.«

»Aber wir haben es gesehen.«

»Selbst wenn wir aussagen würden, was wir beide nicht vorhaben, würden wir unter lautem Gelächter hinausgeschickt. Jelak ist eines natürlichen Todes gestorben.«

»Blut«, sagte Eve. »Das Blut hat ihn umgebracht.«

»Das wollte Caleb offensichtlich so. Die Ironie des Endes.«

Sie hatten die Kirche verlassen, und Eve atmete in tiefen Zügen die kühle Nachtluft ein. Es war nur kurze Zeit vergangen, seit sie die Kathedrale betreten hatte, aber sie hatte das Gefühl, ein ganzes Jahrhundert dort verbracht zu haben.

Doch Joe war in Sicherheit. Jelak war tot. Es würde keine weiteren Morde geben, keine Gefahr ging mehr aus von einem Mann, der glaubte, zum vampirischen Gott bestimmt zu sein.

»Alles in Ordnung?« Joe sah sie an.

Sie nickte. »Du bist derjenige, der zerschnitten wurde. Ich rufe jetzt Jane an und sage ihr, dass du am Leben bist und alles noch funktioniert. Sie soll uns im Krankenhaus treffen. Ich weiß, dass du auf dem Revier anrufen und von Jelak berichten musst.« Sie nahm seine Hand. »Aber können wir danach einfach nach Hause gehen?«

»Das hört sich gut an. Ich fürchte, in der Kathedrale liegen noch mehr Leichen als nur die von Jelak, aber diese Ermittlung kann jemand anders übernehmen. Unsere Aussagen können sie auch morgen aufnehmen. Ich werde darum bitten, dass jemand zu uns nach Hause kommt.« Er lächelte. »Schließlich habe ich eine Entschuldigung. Ich lasse mich krankschreiben.«

 

Die Sonne auf Joes nacktem Rücken war warm und wohltuend, als er sich auf der Bank am See ausstreckte. Er roch den frischen Duft der Kiefern und die gute saubere Erde. An einem solchen Tag war es schön, am Leben zu sein.

 

»Ihr Rücken sieht noch immer schrecklich aus«, sagte Nancy Jo. »Vielleicht sollten Sie eine kosmetische Operation oder so etwas machen lassen.«

»Es ist mir ganz egal, ob ich ein hübscher Junge bin oder nicht.« Er rollte sich auf die Seite und sah sie fast direkt neben sich stehen. »Aber vielleicht lasse ich doch etwas machen, damit Eve nicht jedes Mal zusammenzuckt, wenn sie die Stellen sieht. Es ist ja erst ein paar Tage her. Die Narben werden schwächer werden.« Er lächelte. »Die Sonne tut gut.«

Sie nickte. »Ich kann das Sonnenlicht noch nicht fühlen. Bonnie sagt, es dauert eine Weile.«

»Falls Sie beschließen, dass Sie hierbleiben wollen. Sind Sie sicher, dass es um die Ecke nicht besser ist?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube nicht, dass ich Daddy schon allein lassen kann. Er braucht mich.«

»Ich habe Sie gebraucht«, sagte Joe leise. »Und daher haben Sie mit uns Kontakt aufgenommen. Danke, Nancy Jo.«

»Ich konnte nicht zulassen, dass Sie sterben.« Sie schüttelte den Kopf. »Und ich wollte Jelak nicht gewinnen lassen. Das wäre entsetzlich gewesen. Ich musste nur einen Weg finden. Bonnie hat ihn mir gezeigt.«

»Schon wieder Bonnie.«

Nancy Jo nickte. »Sie sagte, Sie müssten am Leben bleiben.«

»Ich bin froh, dass Sie beide sich in diesem Punkt einig sind.« Er schlüpfte in sein Hemd, machte sich aber nicht die Mühe, es zuzuknöpfen. »Sind Sie sicher, dass Sie Ihr Vater noch immer braucht? Oder sind Sie es, die ihn braucht?«

»Möglicherweise beides. Aber ich würde nicht bleiben, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass es das Beste für ihn ist. Noch kann er den richtigen Weg nicht finden. Es ist wichtig, dass er nicht den falschen einschlägt.« Sie lächelte. »Er wollte Präsident werden. Er dachte, dann könnte er den Menschen helfen. Ich weiß, das kann er noch immer. Er braucht nur jemanden, der ihn in die richtige Richtung schiebt und dafür sorgt, dass er nicht einsam ist.«

»Das ist eine wichtige Aufgabe, und ich könnte mir niemanden vorstellen, der besser dafür geeignet wäre, als Sie, Nancy Jo.«

Sie lächelte spitzbübisch. »Ich mir auch nicht. Mit ein bisschen Hilfe von meinen Freunden. Aber auch ich könnte einsam werden. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie ab und zu besuche?«

»Es wäre mir ein Vergnügen.«

Ihr Lächeln verschwand. »Meinen Sie das ernst?«

Er nickte. »Ein außerordentliches Vergnügen.« Mit einem leisen Lachen meinte er: »Schließlich sind Sie die perfekte Freundin. Sie stellen sehr wenig Ansprüche.«

»Ich habe von Ihnen verlangt, Jelak zu fassen.«

»Das war eine nachvollziehbare Ausnahme.«

»Ich kann nicht versprechen, dass ich nicht wieder etwas von Ihnen erbitte. Ich kann nicht einfach zusehen, wenn etwas falsch läuft.«

»Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es so weit ist.«

Sie nickte. »Bonnie wäre eine viel geeignetere Freundin für Sie. Aber sie sagt, da steht etwas im Weg.« Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Und ich glaube, sie hat recht. Sie verschließen sich, Joe.«

»Tatsächlich? Dann hat sie vielleicht recht, und es gibt ein paar Hindernisse, die nicht so leicht zu überwinden sind.«

»Nicht für sie. Sie ist eine großartige Problemlöserin. Sie hat mir schon ganz oft geholfen.«

»Dann liegt es wohl an mir.« Er stand auf. »Ich gehe jetzt wieder zum Haus.«

»Weil Sie nicht über Bonnie sprechen wollen.« Nancy Jo runzelte die Stirn. »Warum nicht? Ich dachte, Sie wollten über –«

»Nancy Jo, drängen Sie mich nicht.« Er machte sich auf den Weg. »Sie kennen doch den Trick. Es ist Zeit, dass Sie wieder verschwinden.«

 

Als Joe am Cottage war, stieg Caleb gerade aus dem Auto. Er wartete auf Joe, der den Weg entlangkam. »Sie sehen besser aus als bei unserer letzten Begegnung. Keine bleibenden Schäden?«

Joe schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie hier?«

»Ich möchte mich verabschieden. Ich fahre zurück nach Schottland.« Er schwieg einen Moment. »Und ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie einen so diskreten Bericht geschrieben haben. Das hätte unangenehm werden können.«

»Diskret? Ich habe nur die Wahrheit geschrieben. Jelak hat Sie angegriffen, aber Sie haben nicht versucht, sich zu verteidigen. Dann hatte Jelak einen Gehirnschlag mit starken Blutungen und starb. Die Chefin fand, das war ein ziemlich großer Zufall, aber die Autopsie hat es bestätigt.« Er fügte hinzu: »Wäre es nicht so gewesen, dann hätte ich Sie gegrillt. Ich hätte nicht zugelassen, dass Eve in den Verdacht einer falschen Aussage gerät.«

Caleb nickte. »Sie mussten sie schützen.« Er warf einen Blick auf die Wunden an Joes Körper. »Vor Jelak, vor mir, vor der ganzen verdammten Welt. Das schätze ich sehr an Ihnen.«

»Wenn Sie nicht gerade versuchen, mich zu erschießen.«

Er lächelte. »Sie standen im Weg. Und ich war auf der Jagd. Ich versichere Ihnen, ich hätte Sie nicht ernsthaft verletzt.«

»Auf der Jagd«, wiederholte Joe. »Das war ein ganz schönes Arsenal, das Sie da für Jelak aufgeboten haben.«

»Ein kleines Talent, das aber mir ganz allein gehört. Nicht so interessant wie das Gespräch mit Geistern.«

»Kein kleines Talent. Ziemlich tödlich. War Jelak eine Ausnahme, oder ist das Ihre persönliche Note?«

Caleb zögerte mit der Antwort. »Ich glaube, das lasse ich Sie selbst herausfinden.«

»Damit habe ich schon angefangen. Ich habe Kontakt zur italienischen Polizei aufgenommen. In den letzten zehn Jahren gab es in dieser Kultgruppe aus Fiero eine ganze Anzahl von tödlichen Schlaganfällen. Was für ein Zufall.«

»Aber es schien sich doch immer um einen natürlichen Tod zu handeln, oder?«

»Das stimmt.«

»Dann haben Sie doch die Antwort.« Er lächelte. »Und jetzt gehe ich, mit Ihrer Erlaubnis, hinein und verabschiede mich von Eve und Jane. Sie sind mir sehr ans Herz gewachsen.«

»Wenn Sie sie nicht gerade benutzt haben.«

Caleb nickte. »Wenn ich sie nicht gerade benutzt habe. Es war ein schwieriger Balanceakt.«

Joe starrte ihn ungläubig an. »Das meinen Sie wirklich ernst.«

»Natürlich. Sie sind ein Mensch, der immer nur einen Weg sieht, den er ohne Rücksicht bis zum Ende geht. Ich muss viele Wege nehmen, und wenn ich in Treibsand gerate, muss ich einen Pfad darum herum finden.«

»Und balancieren.«

Er lächelte. »Genau. Darf ich jetzt ins Haus gehen und Jane und Eve sehen?«

Joe ließ seinen Blick noch einen Moment lang auf Caleb ruhen, dann drehte er sich um und stieg die Stufen hinauf. »Wenn die beiden Sie sehen wollen. Ich frage sie.«

»Sie möchten mich bestimmt sehen.« Caleb lehnte sich ans Auto. »Die beiden sind Frauen, die hinter bestimmte Episoden gern einen Schlusspunkt setzen. Das Verabschieden ist so ein Punkt.«