10

Janes Handy klingelte um zwei Uhr morgens und riss sie aus dem Tiefschlaf. Auf dem Display stand eine Nummer, die sie nicht kannte.

Aber sie erkannte die Stimme.

»Tut mir leid, wenn ich Sie aufwecke«, sagte Caleb. »Ich konnte nicht schlafen.«

»Und ich habe ausgezeichnet geschlafen.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Hätte das nicht bis morgen früh Zeit gehabt?«

»Möglicherweise. Aber dann hätte ich mich wieder mit Eve und Quinn auseinandersetzen müssen. Ich wollte mit Ihnen sprechen.«

»Dann sprechen Sie.«

»Treffen Sie mich in fünf Minuten auf der Veranda.«

»Warum?«

»Ich möchte Ihr Gesicht sehen, Ihre Mimik. Telefone kann ich nicht leiden.«

»Warum haben Sie sich mich ausgesucht? Warum nicht Eve?«

»Sie sind mir gegenüber offener. Das habe ich sofort gemerkt, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

»Sie meinen, Sie könnten mir leichter etwas einreden.«

»Nein, das würde ich nicht versuchen. Ich wähle sorgfältig aus.«

»Was haben Sie mit Pattys Großvater gemacht?«

»Treffen Sie mich draußen, dann reden wir darüber.«

»Wenn Sie sich der Veranda auch nur nähern, würden die Polizisten in dem Einsatzwagen Sie aufhalten.«

»Ich gehe zu ihnen und spreche mit ihnen. Dann merken sie, wie harmlos ich bin.«

»Die werden Ihnen einen Schuss in den Hintern verpassen.«

»In fünf Minuten.« Er beendete das Gespräch.

Sie legte nachdenklich auf. Es wäre besser, im Bett zu bleiben und Caleb zu ignorieren. Er war ein beunruhigender Störfaktor, Joe war ihm gegenüber völlig zu Recht misstrauisch.

Ach was, Störungen hatten ihr noch nie etwas ausgemacht. Sie brachten Spannung ins Leben. Und Caleb war zwar nervtötend, aber wenn sie einen Weg fand, wie er Eve nützlich sein konnte, dann würden sie alle einen enormen Vorteil aus seiner Anwesenheit ziehen. Er hatte recht, sie war offen für ihn, für jeden, der diese irrsinnige Situation beenden konnte.

Außerdem war sie neugierig. Er war ein Mysterium, und sie wollte mehr über ihn herausfinden. Sie warf die Bettdecke zurück und stand auf, schlüpfte in den Bademantel und ging zur Tür. Toby lief vorneweg, während sie möglichst leise durchs Haus schlich.

Caleb saß auf der obersten Stufe der Verandatreppe, als sie die Fliegengittertür öffnete.

»Schalten Sie das Licht an. Dann sind die Polizisten draußen im Wagen beruhigt. Und ich kann Ihr Gesicht sehen.« Er lächelte sie an. »Es ist schön hier oben. Bestimmt kommen Sie gern zu Besuch. Setzen Sie sich doch zu mir.«

Sie schaltete das Licht an und warf einen Blick auf das Einsatzfahrzeug. »Ich kann nicht verstehen, dass man Sie nicht aufgehalten hat. Wenigstens hätten die Polizisten bei uns anrufen und sich nach Ihnen erkundigen können.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie sehen konnten, wie harmlos ich bin.«

»Ja, natürlich.« Selbst so lässig auf der Stufe sitzend, an das Verandageländer gelehnt, sah er alles andere als harmlos aus. Sie ließ sich neben ihm nieder und musste zur Seite rücken, als Toby sich zwischen sie quetschte. »Hat Pattys Großvater Sie auch für harmlos gehalten?«

»Sie geben nicht auf. Das scheint Sie wirklich zu beunruhigen.«

»Ich mag keine ungelösten Rätsel. Und was mit Pattys Großvater passiert ist, ist ein Rätsel.«

»Ich mag Rätsel. Sie schärfen den Geist. Und das ist wichtig.«

»Pattys Großvater«, mahnte sie.

Er lächelte. »Ich habe einfach mit ihm gesprochen. Ich habe ihn daran erinnert, was Patty ihm für eine wunderbare Enkelin ist. Und dann habe ich ihm vorgeschlagen, etwas milder zu werden und das Leben noch ein bisschen zu genießen.«

»Mehr nicht?«

»Mehr nicht.«

»Und er hat Ihre Vorschläge akzeptiert, obwohl Sie für ihn ein völlig Fremder sind?«

»Manchmal ist das eben so.«

»Sie erzählen mir nicht die Wahrheit.«

»Doch, das tue ich.«

»Nicht die ganze Wahrheit.«

»Sie graben tief.« Er kicherte. »Nein, nicht die ganze Wahrheit.« Sein Blick ging über den See. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich ein Jäger bin. Ich habe bestimmte Fähigkeiten, die mich auf diesem Gebiet erfolgreich machen. So kann ich etwa sehr überzeugend sein.«

»Was bedeutet das?«

»Um jemanden zu finden, müssen Sie Menschen davon überzeugen, Ihnen das, was Sie wissen wollen, zu erzählen. Das gelingt mir problemlos. Ich kann Menschen dazu bringen, dass sie mir gefallen wollen.«

»Durch Hypnose?«

»Vermutlich könnte man es so nennen, wenn man verallgemeinern will. Es ist allerdings etwas differenzierter und auch komplizierter.«

»Gegen ihren Willen?«

»Manchmal. Oder man könnte sagen, es wäre nicht gegen ihren Willen, wenn sie das so wollten. Nicht wahr?«

»Nein.«

Er lachte. »Sie haben absolut recht. Nach jedem üblichen moralischen Standard ist es falsch. Darum musste ich meinen eigenen ethischen Handlungsrahmen entwickeln, bestimmen, was ich tue und wo ich eine Grenze setze.«

»Aber das ist Ihre Wahl. Sie können das nach Ihrem Gutdünken tun. Das könnte eine schreckliche Macht in den falschen –« Sie unterbrach sich. »Du meine Güte, ich rede über diesen Quatsch, als ob ich daran glauben würde.«

»Sie glauben daran. Sie können Dinge sehen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Darum spreche ich heute Abend mit Ihnen.«

»Vielleicht gibt es einen anderen, völlig einsichtigen Grund dafür, dass Pattys Großvater sich auf einmal in den bekehrten Scrooge verwandelt hat.«

Er antwortete nicht.

»Falls Sie die Wahrheit sagen, ist die Veränderung dann dauerhaft?«

»Nein, dazu hatte ich nicht genug Zeit. In ein oder zwei Tagen wird er wieder so selbstsüchtig sein wie vorher. Aber ich glaube, er wird sich an seine Liebe zu ihr erinnern.«

Erinnerung an eine Liebe war schon allein etwas Wunderbares, dachte Jane.

»Ich habe ihm nichts getan«, sagte Caleb. »Ich wollte Quinn helfen, und vielleicht habe ich damit auch Patty und ihrem Großvater geholfen.«

»Weil Sie so großherzig sind«, bemerkte Jane sarkastisch.

»Nein, darum geht es gar nicht. Es geht allein um die Jagd nach Jelak. Die wollte ich Quinn erleichtern, und außerdem wollte ich etwas tun, um Sie neugierig zu machen.«

Und das war ihm gelungen. Mein Gott, war er schlau. »Sie haben mich nicht überzeugt.«

»Das wird eine Weile dauern. Ich kenne das schon. Bestimmt hilft es, dass Eve an Megans Fähigkeiten glaubt. Und Sie vertrauen niemandem mehr als Eve.«

»Ja.« Sie schwieg nachdenklich. »Haben Sie auf diese Weise auch die Polizisten davon überzeugt, Sie auf die Veranda zu lassen?«

Er nickte. »Die beiden glauben, sie würden Ihnen einen Gefallen tun. Schließlich gibt es niemanden, der zuverlässiger wäre als ich.«

Und niemanden, der gefährlicher wäre, falls das, was er erzählte, der Wahrheit entsprach.

»Ich könnte es Ihnen beweisen«, sagte er leise. »Ich könnte Sie glauben lassen, dass ich Ihr bester Freund oder sogar Ihr Liebhaber bin. Das wäre nicht einfach, weil Sie so stark sind, aber ich bin sehr, sehr gut.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Dann sehen Sie mir ins Gesicht, und ich gebe Ihnen eine Ahnung davon. Nichts Dauerhaftes, ich verspreche es.« Er lächelte. »Sind Sie nicht neugierig? Ich fordere Sie heraus, Jane.« Er wiederholte: »Sehen Sie mich an.«

Langsam hob sie die Augen, und ihre Blicke trafen sich.

Wärme, nein, Hitze, Erinnerungen an Caleb, der sie nackt im Arm hielt, der in sie eindrang. Ein Verlangen so intensiv und so leidenschaftlich, dass sie es nicht ertragen konnte. Ihre Brüste wurden fest, waren bereit. Sie öffnete sich ihm, verschmolz mit ihm.

Dann löste er seinen Blick. »Ach, was für eine Versuchung. Sie wären die Seligkeit für mich.«

Sie war benommen, ihr Körper war erregt, sie spürte noch das Prickeln. »Sie Mistkerl.«

»Ja, ich konnte nicht widerstehen. Viel interessanter als ein nettes, freundliches Gespräch. Aber es hat bewiesen, was ich meinte.«

Sie konnte nicht leugnen, dass sie die Sinnlichkeit noch immer empfand. »Man sollte Sie hinter Schloss und Riegel bringen.«

»Das hat man jahrelang versucht. Aber die einzige Möglichkeit wäre, mich unter Drogen zu halten. Und ich gewöhne mich sehr schnell an Drogen.« Er lächelte. »Also hängt alles an mir. Und ich habe meine Regeln, die ich nicht oft überschreite. Bei Ihnen war die Versuchung einfach zu groß, und ich hatte einen legitimen Grund.«

»Ausreden.«

Er nickte. »Vielleicht. Aber Sie waren nicht bereit, mit mir etwas zu besprechen, solange ich nicht erzählte, was mit Pattys Großvater geschehen war. Ich musste ehrlich zu Ihnen sein.«

»So leicht mache ich es Ihnen das nächste Mal nicht mehr. Jetzt bin ich auf Sie vorbereitet.«

»Und Sie sind stark. Also vergessen wir das und kommen zu dem Grund meines Besuchs heute Abend.«

Er hatte ihr nicht widerstanden, sondern nachgegeben. »Warum sind Sie hier?«

»Um Ihre Zusage zur Zusammenarbeit zu erhalten.« Er wandte sich ihr wieder zu. »Wir wissen beide, dass Eve sein eigentliches Ziel ist. Dieser Versuch mit Ihrer Freundin sollte lediglich zeigen, wie wütend er war. Er will Eve, und über Sie will er an sie herankommen.«

»Warum will er Eve so dringend haben?«

»Sie ist das allerhöchste Ziel. Er glaubt, ihr Blut würde ihn ins Vampir-Nirwana katapultieren.«

»Warum?«

»Weil sie einzigartig ist. Sie ist außerordentlich stark. Zudem ist sie alt genug und so erfahren, dass ihr Blut reichhaltiger ist als, sagen wir, beispielsweise Ihres, Jane. Sie sind ebenfalls stark, aber Ihnen fehlt die Erfahrung, die sich Eve über die Jahre angeeignet hat. Die Tragödie, die sie durchlitten hat, hat sowohl ihrem Geist als auch ihrem Blut äußerste Fülle verliehen. Sie ist die Verkörperung der Vollkommenheit.«

»Warum verändert das ihr Blut?«

»Weil Jelak glaubt, dass es so ist. Er glaubt, dass es Teil ihrer Substanz, ihrer Seele ist. Das wurde ihm so beigebracht. Und das ist es, was für ihn zählt.«

»Das ist Schwachsinn. Tragischer Schwachsinn. Und Sie haben erzählt, dass einige dieser Opfer – aus seiner Sicht – völlig grundlos getötet wurden.«

»Nur wegen seines Hungers. In diesem Stadium ist sein Hunger enorm. Er muss sich jetzt häufiger Opfer suchen. Wenn er sein höchstes Ziel erreicht hat, wird sich alles ändern.«

»Und Eve ist dieses Ziel.«

»Ja«, sagte Caleb. »Und Sie sind der Pfad, der dorthin führt. Sie sehen, worauf ich hinauswill.«

»Eve hat gesagt, dass Sie jeden von uns auf Jelaks Altar opfern würden. Und Sie wollen, dass ich Ihr Köder werde.«

»Ja.«

»Darum wollten Sie Eve und Joe nicht dabeihaben, wenn Sie mit mir darüber sprechen.«

»Das wäre unangenehm geworden.«

Sie sah ihn an und begann zu lachen. »So kann man das auch ausdrücken. Joe hätte Sie in den See geworfen.«

»Ich könnte ihn möglicherweise davon überzeugen, dass das keine gute Idee ist.«

Sie erinnerte sich an den Augenblick im Restaurant, als er versucht hatte, Joe zu überzeugen, mit ihm gemeinsam auf die Jagd zu gehen. Er war eindringlich, aber nicht so hypnotisierend gewesen wie gerade eben bei ihr. »Warum haben Sie das nicht schon versucht? Funktioniert es bei Joe nicht?«

»Ich weiß nicht. Möglicherweise. Wenn es um den Tod geht, möchte ich den freien Willen lieber nicht einschränken.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind unglaublich.«

»Ja, das bin ich. Aber nun zurück zum Thema. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie am Leben erhalte, wenn Sie sich entschließen, mir bei der Jagd auf Jelak zu helfen.«

»Und ich behalte mein gesamtes Blut?«

»Das ist selbstverständlich. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich würde Sie nicht bitten, wenn ich nicht wüsste, dass ich die Situation unter Kontrolle behalten kann.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen vertrauen kann.«

»Natürlich nicht. Aber Sie werden es vielleicht trotzdem tun. Sie lieben Eve so sehr, dass Sie alles für sie machen würden. An Ihrer Stelle würde ich den beiden nichts von unserem Gespräch erzählen. Sie würden sich nur Sorgen machen.« Er stand auf. »Denken Sie darüber nach. Wenn ich das alles in die Wege leiten kann, sage ich Ihnen Bescheid. Erst müssen wir ihn finden.«

Sie starrte ihn an. Das Verandalicht betonte die tiefliegenden Flächen seines Gesichts und diesen wunderschönen sinnlichen Mund. Kraft und Intensität und eine ungeheure Anziehungskraft, die stärker war, als sie erwartet hatte. »Sie sind ein ziemlich skrupelloser Mann, Seth Caleb.«

»Mehr, als Sie ahnen.« Er stieg die Stufen der Veranda hinunter. »Aber Sie werden es noch herausfinden, Jane.« Sein Lächeln verschwand, und er winkte den beiden Polizisten im Einsatzfahrzeug zu. Sie winkten zurück, während er zu seinem Wagen schlenderte.

Jane stand auf und ging zur Eingangstür. Ja, sie würde Calebs unergründliche Tiefen höchstwahrscheinlich ausloten, noch bevor diese ganze Sache hier vorüber war.

Sie war nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, was sich unter seiner Oberfläche befand.

 

Die Frau war etwa fünfunddreißig und trug ein schwarzes Kostüm. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, als sie über den Parkplatz des CDC ging.

Ernsthaft und verantwortungsvoll, dachte Jelak. Sie war genau diejenige, die er sich beim Ausspähen des Gebäudes erhofft hatte. Alt genug, um Erfahrung zu haben, und ihre Tätigkeit bei der Gesundheitsbehörde deutete auf Intelligenz hin und wohl auch auf jene Qualitäten, die sie für ihn zu einer geeigneten Kandidatin machten. Qualitäten, die ihm erlaubten, ihr Blut in sich aufzunehmen.

Und möglicherweise noch mehr. Möglicherweise einen weiteren Schritt.

Sie schloss die Tür eines braunen Toyota auf und ließ sich auf dem Fahrersitz nieder.

Ein vernünftiger Wagen, der erneut jene Reife verriet, die auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe so wichtig war, um die Nahrungsaufnahme erträglich zu machen.

Ja, das würde funktionieren. Er wusste es. Erleichterung durchfloss ihn. Sie würde ihm die Kraft geben, die er brauchte, um durchzuhalten, bis er den letzten Kelch von Eve Duncan entgegennehmen konnte.

Er startete den Wagen und folgte dem braunen Toyota vom Parkplatz.

 

Es war vier Uhr dreißig morgens, als Joes Handy klingelte.

Ed Norris? Verdammt, was sollte das denn?

»Vermutlich muss ich gar nicht erst fragen, woher Sie meine Handynummer haben, Norris.«

»Noch ein Opfer«, fuhr Ed Norris ihn an. »Wann beenden Sie das endlich? Wann werden Sie ihn fassen?«

»Sobald ich kann. Wovon reden Sie?«

Eve hatte sich im Bett aufgesetzt und sah Joe an.

»Ich habe von meinem Informanten auf dem Revier gerade erfahren, dass es in der Innenstadt einen Mord gegeben hat. Margaret Selkirk, Wissenschaftlerin bei der Gesundheitsbehörde. Ihre Leiche wurde von ihrer Tochter im Garten ihres Hauses gefunden. Mit durchgeschnittener Kehle. Verdammt, Sie haben zugelassen, dass er es wieder tut.«

»Ich habe nichts gehört von einem –« Aber da rief gerade Gary Schindler an. Er drückte Norris weg und nahm den Anruf entgegen. »Was ist passiert?«

»Margaret Selkirk. Mord. Durchschnittene Kehle. Offenbar das gleiche Muster wie bei den anderen Morden.« Gary schwieg einen Moment. »In ihrer Hand lag ein Kelch.«

»Ich bin schon unterwegs.« Er schaltete wieder zu Norris. »Ich fahre in die Stadt. Halten Sie Ihre verdammten Spione von mir fern.«

Er legte auf und sprang aus dem Bett. »Ein weiteres Opfer. Margaret Selkirk, Wissenschaftlerin beim CDC. Ed Norris tobt. Ich würde am liebsten auch toben. Es macht mich wahnsinnig, dass er über Jelaks Schritte früher Bescheid weiß als ich.«

»Bestechung?«

»Ohne Zweifel.«

»Irgendwelche Unterschiede zu dem Mord an Heather Carmello?«

»Sie haben einen Kelch gefunden.« Er steuerte auf das Badezimmer zu. »Ich bin sicher, dieser Mistkerl Caleb könnte die Bedeutung dieser Tatsache interpretieren.«

»Es wäre nicht so dumm, ihn zu fragen.« Eve schlüpfte in ihren Morgenrock. »Ich kann eigentlich gleich Kaffee kochen und mich dann an die Arbeit setzen. Jetzt kann ich ohnehin nicht mehr schlafen.«

»Tut mir leid.«

»Mir nicht.« Sie ging zur Tür. »Eigentlich würde ich dich gern begleiten, aber du hast mit Norris schon genug am Hals.«

»Ich will dich am Tatort nicht dabeihaben. Ich möchte überhaupt nicht, dass du in die Nähe dieser Opfer kommst.«

»Weil du glaubst, Jelak würde sich vielleicht noch irgendwo herumtreiben? Aber Caleb meinte, er wäre nach dem Mord wohl nicht im Piedmont Park geblieben.«

»Ich möchte nicht, dass du da hingehst«, wiederholte Joe. »Ganz egal, was Caleb sagt.«

»Meinetwegen nicht jetzt.« Leise fügte sie hinzu: »Aber ich kann den Kopf nicht in den Sand stecken. Drei Opfer, und eines davon wäre Patty gewesen, wenn sie nicht so viel Glück gehabt hätte. Offenbar bin ich das Auge des Sturms. Das muss aufhören, Joe.«

»Es wird aufhören.« Er schloss die Badezimmertür hinter sich.

 

Eve stand auf der Veranda und sah Joes Jeep davonfahren.

Sie hatte die Arme vor ihrem Oberkörper verschränkt, weil ihr eiskalt wurde bei dem Gedanken an die arme Frau, die heute Nacht sterben musste. Margaret Selkirk, die nichts getan hatte, außer Jelak über den Weg zu laufen.

Es wird aufhören, hatte Joe gesagt.

Aber wie lange würde das dauern? Wie viele würden Jelak noch zum Opfer fallen, bis es ihnen gelang, das Monster zur Strecke zu bringen?

Joe erledigte seine Arbeit mit gewohnter Klugheit und Effizienz, aber er erlaubte ihr nicht, auch nur das geringste Risiko einzugehen.

Doch irgendwann würde sie dieses Risiko vielleicht auf sich nehmen müssen. Bis es so weit war, mussten sie jeder einzelnen Spur folgen.

Zunächst beim Mord an Margaret Selkirk.

Sie drehte sich um und ging langsam ins Haus zurück.

 

»Ihre fünfzehnjährige Tochter hat sie gefunden«, sagte Schindler, als Joe bei dem kleinen weißen Haus am Peachtree Circle ankam. »Das Mädchen ist fast am Durchdrehen. Sie habe einen unruhigen Schlaf, hat sie erzählt, und sei aufgewacht, weil sie glaubte, draußen ein Auto wegfahren zu hören.«

»Um welche Zeit?«

»Zwei Uhr vierzig. Sie stand auf und bemerkte, dass die Tür zum Zimmer ihrer Mutter offen stand und das Bett unbenutzt war. Ihre Mutter hatte in den letzten zwei Wochen immer lange gearbeitet, aber sie war sicher, sie gehört zu haben, als sie nach Hause kam. Darum hat sie nach ihr gesucht.«

»Und sie im Garten gefunden?«

Schindler nickte. »Nackt. Neben dem Schuppen im hinteren Teil des Gartens.« Er führte Joe ums Haus. »Mit dem Kelch in der rechten Hand. Das Mädchen hat die Notrufnummer gewählt und ist dann nach oben gegangen, um zu verhindern, dass ihr kleiner Bruder die tote Mutter sieht.«

»Gute Reaktion. Haben Sie schon irgendwelche Verwandten angerufen, die sich um die Kinder kümmern können?«

»Margaret Selkirk hat eine Schwester in Helen, Georgia. Sie ist bereits unterwegs.« Er öffnete das Gartentor. »Dieser Experte, den Sie geschickt haben, ist vor fünf Minuten eingetroffen. Er ist bei dem Spurensicherungsteam, das den Kelch untersucht.«

»Experte?« Joe runzelte die Stirn. »Was für ein Experte?«

»Seth Caleb«, sagte Schindler. »Guter Mann. Wir hätten ihn schon früher hinzuziehen sollen. Woher haben Sie ihn? Vom FBI?«

»Was?« Joe sah sich aufgeregt im Garten um und bemerkte einen Mann, der neben der Leiche stand. »Er hat Ihnen erzählt, ich hätte ihn geschickt? Und Sie haben ihm geglaubt?«

»Natürlich habe ich ihm geglaubt«, sagte Schindler. »Was ist falsch daran? Wollen Sie etwas vertraulich behandelt wissen?«

Schindler ließ sich nicht leicht täuschen, aber er hatte Calebs Behauptung offensichtlich widerstandslos geschluckt. Nicht einmal jetzt konnte er sich vorstellen, dass Caleb ihn angelogen hatte.

»Oh ja«, sagte Joe grimmig und durchquerte eilig den Garten. »Calebs Verbindung mit diesem Fall ist auf jeden Fall vertraulich.«

»Quinn.« Caleb wandte sich von der Leiche ab. »Ich bin froh, dass ich vor Ihnen eingetroffen bin. So hatte ich die Möglichkeit, mir den Kelch genau anzusehen. Er ist Jelaks Visitenkarte. Und ich glaube, er hat das Ritual vollzogen.«

»Was machen Sie hier?«, fragte Joe.

Caleb wandte sich Schindler zu und sagte: »Könnten Sie hier warten, ob die Spurensicherung etwas Neues entdeckt? Ich muss mit Quinn über den Kelch sprechen.«

»Klar, mache ich gern.« Schindler kniete sich neben einen der Kriminaltechniker. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

»Wir brauchen nur ein paar Minuten.« Caleb warf Joe einen Blick zu. »Kommen Sie, wir unterhalten uns, während wir zum Haus zurückgehen. Selkirks Kinder sind in schlimmer Verfassung. Ich möchte ein paar Minuten zu ihnen, ehe ich gehe.«

»Ich lasse nicht zu, dass Sie in ihre Nähe kommen«, sagte Joe. »Ich weiß nicht, wie Sie Schindler austricksen konnten, aber ich werde nicht dulden, dass Sie diese Kinder manipulieren.«

»Ich habe nicht die volle Wahrheit gesagt, aber ich habe Schindler auch nicht angelogen.« Er lächelte. »Ich bin ein Experte, und ich wurde zu diesem Fall gerufen. Nur nicht von Ihnen.«

»Woher wussten Sie von dem Mord?«

»Eve hat mich angerufen. Sie war aufgeregt wegen der Ermordung von Margaret Selkirk. Ich soll Ihnen sagen, wenn Sie wollen, dass sie sich heraushält, dann müssten Sie jede verfügbare Quelle nutzen. Und sie glaubt, dass ich eine solche Quelle bin.«

»Also sind Sie hierhergeeilt und haben versucht –«

»Ich habe die Gelegenheit genutzt«, unterbrach ihn Caleb. »Jetzt sollten Sie das auch tun. Sie sind sehr zögerlich, was meine Expertise angeht, außer wenn Sie eine bestimmte Information brauchen. Bei Ihnen muss ich ständig auf Zehenspitzen herumschleichen. Den Grund dafür kenne ich, aber diese Vorsicht muss ein Ende haben.«

»Was genau wissen Sie über mich?«, fragte Joe misstrauisch.

»Nichts Genaues. Aber es war nicht schwer herauszufinden. Auch wenn Renata Megans Vertrauen nicht enttäuschen wollte und mir nichts erzählt hat, blieb doch die Tatsache, dass Megan wegen Ihnen Kontakt mit ihr aufgenommen hat. Aber Sie lehnen vehement alles ab, was mit übersinnlichen Fähigkeiten zu tun hat. Da ich das, was Sie so hassen, verkörpere, lehnen Sie automatisch alles ab, was mit mir zu tun hat.« Er legte den Kopf schräg. »Und was könnte wohl der Grund dafür sein?«

»Ich bin mir sicher, Sie werden es mir gleich erzählen.«

»Natürlich. Sie haben vor kurzem entdeckt, dass Sie einer der Auserwählten sind, oder vielleicht sollte ich sagen, einer der Verdammten. Sie lehnen diese Fähigkeit ab, müssen sich aber damit abfinden. Allerdings geben Sie Ihr Äußerstes, um nicht auch noch bei jemand anderem akzeptieren zu müssen, dass er so eine Fähigkeit hat.«

»Und auf welche Weise bin ich verdammt?«

Caleb schüttelte den Kopf. »Das ist Ihre Angelegenheit. Ich mag zwar neugierig sein, aber ich würde Sie niemals danach fragen.«

»Wie freundlich von Ihnen.«

»Und es spielt auch keine Rolle, solange es mich nicht bei der Jagd auf Jelak stört. Eve ist in dieser Hinsicht auf meiner Seite. Sie will keine weiteren Todesfälle mehr und glaubt, ich kann dabei helfen. Das könnte ich nutzen, ich könnte sie benutzen, aber das will ich nicht.« Er blickte Joe geradewegs in die Augen. »Jetzt frage ich Sie noch einmal. Wollen Sie mit mir auf die Jagd gehen?«

Joe schwieg. In ihm kochte noch immer die Wut und die Feindseligkeit, die er beim Betreten des Gartens verspürt hatte. Ein Teil dieser Gefühle war berechtigt, aber wie viel davon war Ärger auf Caleb und wie viel seiner eigenen Verfassung geschuldet?

Eine ganze Menge davon bezog sich auf Caleb, verdammt noch mal.

»Wagen Sie es nicht, noch einmal einen meiner Mitarbeiter anzulügen«, sagte Joe kurz angebunden. »Ich weiß wirklich nicht, warum Schindler Sie nicht davongejagt hat.«

Caleb lächelte. »Er mag mich. Ich erinnere ihn an seinen Bruder.«

»Was?«

»Lassen wir das. Schindler ist ein netter Mensch. Ich habe ihn nur angeschwindelt, um mir den Kelch anzusehen. Ich war mir nicht sicher, ob Sie zugelassen hätten, dass ich ihn untersuche.« Er fügte hinzu: »Denn ich hatte bereits beschlossen, dass ich Sie nicht ins Visier nehme.«

»Sie suchen sich Ihre Ziele genau aus?«

»Ja, das stimmt. Das kann ich.« Er öffnete die Tür zur Küche. »Ich hoffe, Sie werden herausfinden, dass Sie es auch können.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Von Regeln. Gehen Sie mit mir auf die Jagd?«

Joe zögerte, dann nickte er langsam. »Ich glaube, das werde ich tun.«

»Gut«, sagte Caleb. »Dann können Sie jetzt wieder zu Schindler gehen und all das tun, was Sie als braver, aufrechter Gesetzeshüter tun müssen. Ich gehe nach oben und rede mit den Selkirk-Kindern. Sie brauchen Verständnis und Kraft, wenn sie das überstehen wollen.«

»Und Sie können sie damit versorgen?«

»Ich kann die Zeit überbrücken, bis der Schmerz etwas nachlässt.«

»Was sind Sie nur für ein Menschenfreund.«

»Nein, ich glaube nur an ein Gleichgewicht. Es schadet mir nicht, wenn ich mir etwas Zeit nehme und sie einer wertvollen Sache widme. Das hellt meine Seele ein wenig auf. Ich tue eine Menge Dinge, die die Menschen als böse empfinden. Und wenn die Seele zu schwarz wird, dann verrottet sie.«

»Eine ungewöhnliche Philosophie.«

»Eigentlich nicht. Sie ist schon sehr alt.«

»Nun, einer Fünfzehnjährigen und einem Zehnjährigen können Sie kein Verständnis für diese Scheußlichkeiten beibringen. Verdammt, nicht einmal ich verstehe das.«

»Ich schon«, sagte Caleb und entfernte sich. »Ich werde Ihnen alles erzählen. Wenn Sie hier fertig sind.«

 

Das Blut war köstlich, wundervoll.

Jelak konnte das klare Rauschen von Kraft und Ausdauer in seinen Adern spüren. Diese Frau war genauso stark gewesen, wie er gehofft hatte. Er hatte eine gute Wahl getroffen. Dabei hatte er bereits befürchtet, dass ihr Blut doch noch nicht so reif wäre, weil sie sich ihm mit solcher Vehemenz widersetzt hatte.

Normalerweise kämpften nur Kinder und junge Menschen so wild. Das Alter ließ die Leute gewöhnlich milder werden, der Tod wurde leichter. Aber als die Frau ihn anflehte, sie gehen zu lassen, fand er zu seinem Entzücken heraus, dass sie zwei Kinder hatte. Mütter kämpften üblicherweise verzweifelt, um bei ihren Kindern zu bleiben, und Mutterschaft machte wiederum das Geschenk noch reichhaltiger. Auf jeden Fall war ihr Blut außerordentlich gewesen.

Er ging zum Schrank, holte seinen schwarzen Krokodillederkasten heraus und stellte ihn aufs Bett. Während er ihn öffnete, summte er leise vor sich hin. Dann betrachtete er die Kelche, die er sorgfältig in roten Samt gehüllt hatte.

Noch drei waren übrig.

Aber er würde sie nicht alle drei brauchen.

Margaret Selkirk war besser gewesen als erhofft. Er hatte erwartet, dass sie ihm genug Kraft geben würde, um sich mit Jane MacGuire zu befassen. Aber sie hatte ihm viel mehr gegeben, und jetzt konnte er sich vielleicht gleich Eve Duncan widmen. Morgen würde er wissen, ob Selkirks Blut ihm auch weiterhin Kraft verleihen würde.

Er wickelte einen der Kelche aus, der im Lampenschein glänzte. Er hielt ihn hoch. Jane MacGuire. Damit wären elf Gäste am Tisch. Wenn er sie tatsächlich nehmen musste.

»Ich komme euch immer näher«, murmelte er. »Bald werde ich einer von euch sein.«

Ehrfürchtig enthüllte er den letzten Kelch.

Die vollkommene Runde der Zwölf.

Er hob den Kelch in die Höhe und spürte das Blut in seinen Adern rauschen, als er die Gravur betrachtete. Keine einzige Gestalt, die noch um Einlass bat. Vollständig. Zusammen.

Die vollkommene Runde der Zwölf auf dem Fest.

»Kannst du mich fühlen, Eve?«, murmelte er. »Dein Geschenk ist es, das mich erlösen wird. Ich werde einen tiefen Schluck davon nehmen, dann sind wir für immer vereint. Das wird dir gefallen. Ich weiß, dass du mich erwartest.«

Seine Zunge berührte den Rand des Kelchs, stellte sich den metallischen Geschmack ihres Blutes vor.

»Nur noch eine kleine Weile …«

 

Blut.

Eve überfiel eine plötzliche Anspannung, die Bewegungen ihrer Finger auf dem Material der Rekonstruktion wurden zögerlich.

Das Schwindelgefühl war aus dem Nichts gekommen, und dann hatte sie sich gefühlt, als würde sie in einem Strudel versinken.

Und dann war ihr, als würde sie auf seltsame Weise … ausgesaugt.

Sie holte tief Luft.

Es war vorbei.

Vielleicht war es gar nicht da gewesen, sondern nur eine Illusion, die ihr besessenes Grübeln über Jelak heraufbeschworen hatte.

Und Blut. Immer wieder Blut.

»Eve.«

Sie drehte sich um und sah Joe an der Eingangstür stehen. »Oh, ich habe dich gar nicht kommen hören.«

»Das habe ich gemerkt.« Er sah sie aufmerksam an. »Ich weiß ja, dass du oft völlig in deiner Arbeit versunken bist, aber du siehst etwas merkwürdig aus.«

»Mir geht es gut.« Sie griff nach dem Tuch und wischte sich den Ton von den Händen. »Mir war nur plötzlich kalt.« Sie richtete sich auf. »Ich habe mit deinem Anruf gerechnet. Ich wusste, es gefällt dir nicht, dass ich Caleb zum Tatort des Selkirk-Mordes geschickt habe.«

»Überhaupt nicht.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, er kann behilflich sein. Die Vorstellung, dass noch eine weitere Frau ermordet werden könnte, ist mir unerträglich. In den Nachrichten habe ich gehört, dass sie zwei Kinder hatte.«

»Ein fünfzehnjähriges Mädchen und einen Jungen mit zehn.«

»Und es war ihm völlig gleichgültig, dass er sie zu Waisen machte. Wie geht es ihnen?«

»Nicht gut. Aber Caleb hat mit ihnen gesprochen, und danach waren sie ein bisschen gefestigter.«

Ihre Augen wurden groß. »Du hast zugelassen, dass er mit ihnen spricht?«

»Bei Pattys Großvater war er gut. Vielleicht ist er so eine Art Psychologe. Die Kinder brauchten jemanden, irgendetwas.«

Sie sah ihm eindringlich ins Gesicht. »Aber du hast es erlaubt.«

»Ich habe ihm eine Chance gegeben. War es nicht das, was du wolltest?«

»Joe.«

»Na gut, ich habe beschlossen, dass es auch das ist, was ich will.« Er wandte sich Richtung Schlafzimmer. »Daher habe ich ihn gebeten, mir nachzufahren, damit wir miteinander reden können. Er müsste jeden Moment da sein. Ich ziehe mir nur das Jackett aus und wasche mir das Gesicht. Wo ist Jane?«

»Sie ist zu Patty gefahren. Sie hat befürchtet, dass Patty sich aufregt, wenn sie von Margaret Selkirk erfährt. Charlie Brand hat Jane abgeholt und wird sie wieder nach Hause bringen.«

»Schade, dann ist sie bei dem Gespräch mit Caleb nicht dabei. Sie war die ganze Zeit auf seiner Seite.«

»Aber du bist es nicht, oder?«

»Verdammt noch mal, nein. Ich bin auf deiner Seite. Ich bin auf der Seite all dieser Frauen, die Jelak noch umbringen wird, wenn wir ihn nicht erwischen.« Er warf ihr über seine Schulter hinweg einen Blick zu. »Aber darum muss ich nicht auf seiner Seite sein. Außerdem wird er ohnehin nicht mehr lange auf der anderen Seite sein. Wir werden uns gemeinsam auf die Jagd machen.«