9
Sie habe ich gar nicht erwartet, Eve. Schlimm genug, dass ich Jane damit belästige.« Patty schnitt eine Grimasse, als sie die Tür öffnete. »Das tut mir leid.«
»Mir auch«, sagte Eve. »Aber es gibt nichts, was Ihnen leidtun müsste. Möglicherweise sind wir schuld an dem, was Ihnen da zustößt.« Sie drehte sich zu Caleb um, der gerade die Stufen der Veranda heraufkam. »Das ist Seth Caleb. Er ist ein Experte, was Jelak angeht, und wir dachten, Sie hätten vielleicht nichts dagegen, wenn er mitkommt.«
Patty runzelte die Stirn. »Sie meinen, er ist eine Art Profiler?«
»So in etwa.« Caleb lächelte. »Ich bleibe nicht lang. Joe Quinn kommt in Kürze mit seinen Technikern, und er will nicht, dass ich ihn störe.«
»Großartig«, meinte Patty trocken. »Kriminaltechniker, die durchs ganze Haus rennen. Großvater wird ausrasten.«
»Es ist nur zu eurem Besten«, sagte Jane. »Das weißt du doch, Patty.«
»Ich hatte gehofft, es genügt, wenn ich zu diesem Stromkabel einen Fragebogen ausfülle.« Patty sah Caleb an. »Aber dieser Kelch hat mir das eingebrockt, oder? Ist das derselbe Mann, der diese Frauen umgebracht hat?«
»Mit großer Wahrscheinlichkeit. Könnte ich den Kelch einmal sehen?«
Sie deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Küche. »Er steht auf der Theke neben dem Kühlschrank.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wie ist er ins Haus gekommen? Ich habe die Tür gestern Abend abgeschlossen.«
»Jelak ist geschickt darin, Schlösser zu öffnen, das hat er gelernt.« Caleb ging auf die Küche zu. »Ich frage mich eher, warum er nur diesen Kelch hinterlassen hat.«
»Sie meinen, Sie fragen sich, warum er mir nicht die Kehle durchgeschnitten hat?« Patty schauderte es. »Das habe ich mich auch schon gefragt.«
»Haben Sie gestern Nacht irgendetwas anders gemacht als sonst?«
»Ich habe eine ganze Weile lang telefoniert, bevor der Strom ausfiel. Das war anders. Großvater war gar nicht begeistert darüber. Dann war er nervös wegen des Stromausfalls und wollte, dass ich bei ihm bleibe.«
»Wie lange?«
»Die ganze Nacht. Ich habe auf dem Stuhl neben seinem Bett geschlafen.«
»Sie haben das Zimmer nicht einmal verlassen, um ihm etwas zu holen?«
»Nein, seine Tabletten hatte er bereits genommen.« Sie sah ihn an. »Sie glauben, der Mörder Jelak saß im Haus und wartete auf seine Chance, nicht wahr?«
Caleb nickte. »Ich glaube, wenn Sie während dieser ersten paar Nachtstunden das Zimmer Ihres Großvaters verlassen hätten, dann wären Sie das Opfer geworden und nicht Heather Carmello.«
»Warum ist er dann nicht in Großvaters Schlafzimmer gekommen und hat versucht, uns beide zu töten?«
»Das widerspricht dem Ritual. Das hätte er möglicherweise als grob empfunden. Es muss Auge in Auge geschehen. Möglicherweise blieb er so lange, bis er sicher war, dass Sie in dieser Nacht das Zimmer nicht mehr verlassen, und dann hat er sich jemand anderen gesucht.«
»Was ist mit dem Kelch? Da war Blut …«
»Er ist zurückgekommen, oder?«, wollte Eve wissen. »Er ist das Risiko eingegangen, zweimal zu kommen. Nach dem Mord wollte er zeigen, wie leicht es Patty hätte treffen können.«
»Du lieber Gott«, murmelte Jane.
Caleb nickte. »Das war eine Triumphgeste. Diesmal musste er etwas beweisen.« Er blieb an der Küchentür stehen. »Und er wollte möglicherweise überprüfen, ob Patty noch immer bei ihrem Großvater war. Normalerweise tötet er nicht häufiger als ein Mal pro Nacht. Sonst ist die Blutaufnahme nicht rein. Aber in diesem Fall hätte er nichts gegen ein weiteres Ritual gehabt. Heather Carmellos Blut hat er nicht für sich selbst verwendet.«
»Sie sind so verdammt gelassen«, sagte Patty. »Sie reden hier über mein Blut.«
»Ich bin nicht gelassen«, sagte Caleb. »Ich hasse den Gedanken an das, was Jelak tut. Ich versuche nur Ihre Fragen zu beantworten. Sie können ihn nicht bekämpfen, wenn Sie ihn nicht kennen.«
»Sie kennen ihn ganz offensichtlich. Sie müssen ihn lange beobachtet haben«, meinte Patty.
»Lange genug. Die Küche ist da drin?«
Sie gingen hinter ihm her, als er die Küche betrat und sich vor der Theke aufbaute, um den Kelch zu betrachten. Lange starrte er ihn an. »Es ist Jelak. Und es ist der gleiche Kelch.«
»Aber Sie wussten doch, dass es höchstwahrscheinlich er ist«, sagte Jane. »Und was meinen Sie mit ›der gleiche‹? Haben Sie einen Unterschied erwartet?«
»Sie sind wirklich sehr aufmerksam.« Caleb richtete sich auf. »Der Kelch hätte tatsächlich ein wenig anders aussehen können. Obwohl ich das angesichts von Jelaks Taten nicht erwartet hatte.«
»Was für Unterschiede?«
»Die Zahl der Männer am Tisch. Diejenigen, die die zwölf Stadien repräsentieren, die Jelak durchlaufen muss, ehe er sein eigentliches Ziel erreicht. Die hätte sich ändern können.«
»Patty!«
»Großvater«, sagte Patty leise. »Ich muss zu ihm und ihm alles erklären, ehe Joe und seine Spurensicherer kommen. Du meine Güte, darauf habe ich jetzt gar keine Lust.«
»Soll ich das für Sie erledigen?«, fragte Caleb. »Ich habe eine Ausbildung in solchen Dingen.«
»Ich dachte, Sie wären eine Art Profiler?«
Er zuckte die Achseln. »Das hat alles mit Psychologie zu tun.«
»Niemand ist dafür ausgebildet, mit Großvater umzugehen«, sagte Patty. »Er wird Himmel und Hölle zusammenschreien. Das kann ich niemandem zumuten.«
»Lassen Sie es mich versuchen.« Er ging auf die Tür zu. »Manchmal fällt einem Fremden so etwas leichter als einem Familienmitglied. Ich will nicht, dass Quinn nachher Ärger bekommt. Welches Zimmer?«
Patty zögerte. »Das zweite Zimmer, das vom Flur abgeht.«
»Und wie heißt er mit Vornamen?«
»Marcus.«
Caleb nickte und ging den Flur hinunter.
»Das hätte ich nicht zulassen sollen«, sagte Patty. »So etwas ist meine Aufgabe.«
»Wenn es so ist, dann wird er das in wenigen Sekunden wissen«, sagte Jane. »Ich bin froh, dass er es versucht. Du siehst erledigt aus.«
»Diese Sache hat mir Angst eingejagt«, sagte Patty. »Die Vorstellung, dass jemand im Haus war, ohne dass ich es wusste. Das ist schlimmer als jeder Horrorfilm.«
»Ja«, meinte Eve. »Jelak ist ein prima Hauptdarsteller.«
Patty schauderte es. »Glaubst du, er hat recht und Jelak hätte mich ermordet, wenn ich letzte Nacht Großvaters Zimmer verlassen hätte?«
»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er sich irrt«, sagte Jane. »Aber er scheint Jelak gut zu kennen.«
Patty nickte. »Diese Einzelheiten waren ganz schön –« Sie unterbrach sich. »Ich glaube, ich höre draußen Autos. Joe kommt.« Sie machte ein sorgenvolles Gesicht. »Und das heißt, dass Seth Caleb nicht mehr viel Zeit hat, das alles Großvater zu erklären. Ich bin erstaunt, dass er noch nicht nach mir geschrien hat. Ich mache Joe mal die Tür auf und versuche zu vermitteln, wenn er zu Großvater reingeht, um mit ihm zu sprechen.«
»Joe kommt schon selbst zurecht«, sagte Eve. Sie und Jane folgten Patty zur Vordertür. »Du musst nicht alles allein machen, Patty.«
»Es ist meine Aufgabe«, sagte Patty. »Nur weil ich euch heute Abend um Hilfe gebeten habe, muss ich nicht alle anderen auch noch mit –«
»Sei still«, sagte Jane. »Wir sind Freundinnen. Wir tun, was unter Freundinnen üblich ist. Wir unterstützen einander. Also, hast du ein Sofa, auf dem ich schlafen kann? Ich werde für ein paar Tage bei dir einziehen. Dein Großvater kann sich gleich mal an mich gewöhnen.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Patty klar. »Niemand wird hier herumschleichen und mir ständig Händchen halten.«
»Schau, das könnte alles meine Schuld gewesen sein. Ich muss doch –«
»Sie hat recht, Jane«, sagte Caleb, der auf der Schwelle zum Zimmer des Großvaters stand. »Sie sollten nicht hierbleiben. Genau das will Jelak ja. Sie wären hier viel verletzlicher als bei Eve und Quinn.« Die Türglocke läutete, und er lächelte. »Da wir gerade von Quinn sprechen, hier ist er. Ich verschwinde jetzt besser. Es scheint, als ob ich ihn nur verärgere.« Er ging auf die Tür zu. »Ich glaube, Marcus wird in der nächsten Zeit keine Probleme machen. Ich hatte nicht viel Zeit, aber er schien bereit mitzumachen.«
»Mitmachen?«, wiederholte Patty. »Großvater?«
»Ich kann für nichts garantieren«, sagte Caleb. »Aber da ihm wirklich etwas an Ihnen liegt, besteht eine gewisse Hoffnung.« Er trat vor und öffnete die Tür. »Hallo, Quinn. Ich bin schon unterwegs. Es wird Sie freuen, dass ich nicht im mindesten gestört habe. Fragen Sie Eve.«
»Das werde ich tun.« Er sah Patty an. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie nickte. »Ein bisschen beunruhigt. Nein, verdammt, ich habe echt Angst.« Sie schaute auf die vier Techniker von der Spurensicherung, die die Treppe heraufkamen. »Und diese Leute lassen alles so real werden.«
»Wir kommen rein und sind so schnell wie möglich wieder weg.« Er hielt inne. »Wir brauchen Aussagen, sowohl von Ihnen als auch von Ihrem Großvater.«
»Er weiß gar nichts.«
»Es tut mir leid. Aber wir sind auf seine Aussage angewiesen.« Joe trat vor und ging ins Haus. »Wo ist der Kelch?«
»In der Küche.«
»Ich zeige sie dir.« Jane ging auf den Raum auf der anderen Seite der Diele zu.
»Und ich bereite Großvater vor«, sagte Patty. »Das hat doch keinen Sinn, Joe. Er wird nur toben und Sie beschimpfen, und eigentlich kann er Ihnen gar nichts sagen.«
»Es muss sein, Patty.«
»Na gut.« Sie zuckte die Achseln und ging zum Zimmer ihres Großvaters.
»Auf Wiedersehen, Eve«, sagte Caleb. »Ich bin sicher, wir begegnen uns bald wieder.« Er wandte sich an Joe. »Jelak ist derzeit nicht in der Nähe, Quinn. Ich hatte damit gerechnet, dass er hier sein könnte. Er hat versucht, Eve und Jane in sein Netz zu locken und Patty als Lockvogel zu benutzen. Ich war mir nicht sicher, ob er der Versuchung, Kontakt mit ihnen aufzunehmen oder wenigstens in ihrer Nähe zu sein, widerstehen könnte. Aber ich spüre nicht das Geringste von ihm. Er ist nicht da.«
»Deshalb wollten Sie mitkommen?«
Caleb nickte. »Und ich musste den Kelch überprüfen.« Er ging hinaus auf die Veranda. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen. Ich melde mich wieder.«
Er schlenderte die Treppe hinab und zu seinem Wagen, der auf der anderen Straßenseite parkte.
Joe drehte sich zu Eve um. »Hat er die Wahrheit gesagt?«
»Dass er nicht gestört hat?« Eve nickte. »Abgesehen von Pattys Nerven. Er hat ihr ein bisschen zu viel über Jelak erzählt, und jetzt fühlt sie sich nicht mehr wohl.« Sie fügte hinzu: »Und er hat die Gravur auf dem Becher genau geprüft. Er hat etwas gesucht. Er sagte etwas über eine abweichende Zahl von Männern.«
»Was?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er sagte nur, es seien immer noch gleich viele. Dann rief Pattys Großvater nach ihr, und Caleb hat nichts mehr weiter erklärt.«
»Wollte er uns neugierig machen?«
»Ich glaube, Caleb würde nicht –« Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist eigentlich sehr offen. Möglicherweise steckt da eine bestimmte Absicht dahinter. Aber er scheint nichts zu verbergen.« Sie sah Joe an. »Und er wollte nicht, dass Jane bei Patty bleibt. Er sagte, das sei genau das, was Jelak wolle.«
»Er hat recht. Das wäre das Schlimmste, was sie tun könnte. Ich würde nicht zulassen –«
»Er möchte Sie jetzt sehen, Joe.« Patty stand auf der Schwelle des Schlafzimmers. »Wann immer Sie wollen.«
»Jetzt.« Mit festen Schritten ging er auf die Tür zu. »Das ist nur eine Voruntersuchung, und ich bin in wenigen Minuten fertig, Patty. Wir werden ihn später bitten, seine Aussage zu unterschreiben.«
»In Ordnung.« Patty nickte und trat beiseite, damit er eintreten konnte.
»Patty?« Eves Blick war auf Pattys Gesicht gerichtet. Sie sah verwirrt aus. »Was ist los?«
»Großvater.«
Eve erstarrte. »Geht es ihm gut? Hat Caleb ihm etwas angetan?«
»Ich … weiß nicht«, sagte Patty. »Vielleicht.«
»Wie meinst du das?«
Sie sah Eve bestürzt an. »Großvater hat mich angelächelt.«
Zwei Stunden später begleitete Eve Joe zu seinem Auto, das am Straßenrand geparkt war.
»Ich komme heim, sobald ich meinen Bericht fertig habe«, sagte Joe. »Und ich lasse einen der Einsatzwagen hier, damit er dich und Jane zum Haus bringen kann.« Dann sagte er knapp: »Lass nicht zu, dass sie hierbleibt, Eve.«
»Patty wird das nicht erlauben.« Sie lächelte. »Und ich auch nicht. Mach dir keine Sorgen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
Eve schwieg einen Augenblick. »Du hattest keine Probleme, von Pattys Großvater eine Aussage zu bekommen?«
»Nein, er war sehr zuvorkommend. Er wusste gar nichts, aber er war geduldig und sogar sehr freundlich.«
»Tatsächlich? Das ist ungewöhnlich.«
»Ja, ich weiß, Patty hat gesagt, dass er schwierig ist. Vielleicht hatte er einen guten Tag. Auf jeden Fall hat mir das die Arbeit erleichtert.«
»Das hat Caleb gesagt. Er sagte, er wollte dir deine Arbeit erleichtern.«
»Also hat er mit dem alten Mann gesprochen, um mir zu helfen?«, fragte Joe misstrauisch. »Aber er kannte ihn gar nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihn beeinflussen konnte.«
»Und er war nur ein paar Minuten im Zimmer.« Eve dachte nach. »Seltsam.«
»Er ist seltsam«, sagte Joe. »Und ich habe langsam die Nase voll von seltsamen Typen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber vermutlich gibt es Leute, die auch mich so bezeichnen würden, oder?«
»Niemand, der an seinem Leben hängt«, meinte Eve. Sie sah zu, wie er einstieg. »Aber ja, Caleb ist wirklich etwas komisch.« Und auch sie hatte keine Lust mehr, sich mit komischen Dingen zu beschäftigen. Sie wollte zurück zur Normalität. Was sie am meisten vermisste, war ihre regelmäßige, bodenständige Alltagsroutine.
Aber was erwartete sie? Jede Regelmäßigkeit war in den letzten Jahren nur vorübergehend gewesen. Und es waren immer ihre Entscheidungen gewesen, die den Aufruhr verursacht hatten. Sie trat vom Auto weg. »Wir sehen uns dann zu Hause.«
Er nickte und fuhr an. »Ich habe beschlossen, dass ich den Medien ein Foto von Jelak übergebe. Ich kann einfach behaupten, wir bräuchten eine Zeugenaussage von ihm, nachdem wir keine Beweise haben. Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn sein Gesicht da draußen überall erkannt wird.«
»Ich mich auch.«
»Und ich postiere einen Einsatzwagen vor Pattys Haus.«
Sie lächelte. »Wäre es möglich, dass Charlie Brand die erste Wache übernimmt? Dann würde sie sich sicherer fühlen.«
»Ich frage mal nach.«
»Tu das.« Sie sah dem Wagen nach, bis er um die nächste Ecke verschwand, dann ging sie zurück zum Haus. Jane verabschiedete sich gerade auf der Veranda von Patty, die Eve zuwinkte und dann ins Haus zurückging.
»Ich finde noch immer, ich sollte bei ihr bleiben«, sagte Jane. »Aber sie will es nicht.«
»Joe und ich sind auch dagegen«, sagte Eve. »Caleb hatte recht. Genau das möchte Jelak.« Sie stieg in ihr Auto. »Und Patty wird beschützt. Jetzt, nachdem sie in den Fall verwickelt ist, ist das kein Problem mehr.«
»Nein, und das war wirklich ein sicherer Beweis.« Jane schauderte. »Die Vorstellung, dass er nur ein Zimmer weiter sitzt und wie eine Spinne im Netz darauf wartet, dass sie herauskommt, verursacht mir Gänsehaut.« Sie überlegte. »Aber auch hier müssen wir uns auf Calebs Aussage verlassen. Wir gehen immer davon aus, dass er recht hat.«
»Er ist sehr überzeugend.«
»Es ist ihm sogar gelungen, Pattys Großvater zu überzeugen.« Jane setzte sich auf den Beifahrersitz. »Sie ist fast durchgedreht deswegen. Sie hat gesagt, es ist fast, als wäre er nicht ihr Großvater.«
»So ein Unterschied?«
Jane nickte. »Er hat ihre Hand genommen und ihr gesagt, sie müsse auf sich aufpassen. Sie meinte, an so eine liebevolle Geste könne sie sich aus ihrer ganzen Kindheit und Jugend nicht erinnern.«
»Traurig.«
»Sie kannte es nicht anders. Wärme und Fürsorge war sie von ihm nicht gewöhnt. Sie fragt sich, ob er einen Schlaganfall hatte oder so etwas.«
»Oder so etwas.«
»Als hätte Caleb ihn hypnotisiert.«
Eve dachte an den Moment im Restaurant, als ihr Calebs Präsenz beinahe hypnotisch vorgekommen war. »Das ist unwahrscheinlich. So eine Hypnosesitzung dauert eine Weile, und er war nur kurz im Zimmer. Vielleicht hat das, was er gesagt hat, etwas in dem alten Mann angerührt.«
»Er hat so etwas geäußert, dass ihrem Großvater wirklich etwas an ihr liegt. Wenn das stimmt, kann man das zumindest nicht daran erkennen, wie er sie behandelt.«
»Manchmal können Menschen ihre Gefühle nicht zeigen.« Eve ließ den Wagen an. »Vielleicht ist er einer von denen.«
»Bis Caleb in sein Zimmer spaziert kam und sich mit ihm unterhielt«, sagte Jane. »Verrückt …«
»Ja«, gab Eve zurück. »Aber seit Jelak in unserem Leben aufgetaucht ist, ist alles irgendwie verrückt. Wir müssen einfach damit klarkommen.«
»Ich bin auf dem Heimweg«, sagte Joe zu Eve, als sie zwei Stunden später zu Hause ans Telefon ging. »Ich habe das Revier gerade verlassen, es dauert also ungefähr noch vierzig Minuten. Ist alles in Ordnung bei euch?«
»Ja, ich arbeite, und Jane ist mit Toby auf der Veranda. Hast du schon gegessen?«
»Ich habe mir ein Sandwich aus dem Automaten geholt.« Er schwieg einen Moment. »Charlie Brand übernimmt die Überwachung morgen früh. Heute Abend konnte ich ihn nicht bekommen.«
»Das ist auch gut«, sagte Eve. »Dann ist es, als wäre ein Freund bei ihr. Patty braucht in diesen Tagen alle Freunde, die sie hat, ganz nahe bei sich. Bis bald.« Sie legte auf.
Eve hatte sich angehört, als wäre sie nicht ganz anwesend, dachte Joe, als er auflegte. Aber sie war immer voll konzentriert, wenn sie arbeitete. Nach dem ersten Abmessen des Schädels tauchte sie völlig ein in die Aufgabe, aus Ton ein vollständiges Abbild des Gesichts des Opfers zu schaffen. Dabei kombinierte sie wissenschaftliches Arbeiten, puren Instinkt und Kreativität. Wenn sie mit dem Aufsetzen ihrer Stifte für das Anzeigen der Gewebetiefe fertig war, glich der Schädel dem einer Voodoo-Puppe. Dann nahm sie Plastilin-Streifen und füllte damit die Abstände zwischen den Markierungen auf. Als Letztes folgte dann das Glätten und die Ausarbeitung des Gesichts in Ton. Eve hatte ihm oft erklärt, dass es in der forensischen Gesichtsrekonstruktion keine Vollkommenheit gebe, aber ihre Arbeit kam dem sehr nahe. Er fand, dass ihr Instinkt beinahe magisch war, während sich das Gesicht unter ihren Fingern formte.
Wie auch immer, er war froh, dass sie etwas zu tun hatte, was sie davon abhielt, sich mit Jelak zu beschäftigen. Der Mistkerl kam immer näher, er machte sich an Menschen heran, an denen ihnen beiden lag. Patty gehörte seit vielen Jahren zu ihrem Leben, und dieser Kelch war –
»Er wollte nichts von Patty«, sagte Nancy Jo. »Die Einzige, die er haben will, ist Eve.«
Der Wagen schlingerte, als Joe einen Blick auf den Beifahrersitz warf. Sie saß da, direkt neben ihm.
»Nein!« Er holte tief Luft, und seine Hände griffen das Lenkrad fester. »Ich dachte, ich wäre Sie los. Was tun Sie hier?«
»Sie sind nicht mehr zum See zurückgekommen. Ich musste zu Ihnen kommen.« Sie runzelte die Stirn. »Das war nicht leicht. Ich konnte das nicht. Jemand musste es mir erst beibringen.«
»Dann hätten Sie dort bleiben sollen. Ich tue, was ich kann.«
»Er ist noch immer am Leben. Er hat noch immer mein Blut. Und Daddy wird allmählich ungeduldig. Das spüre ich.«
»Dann gehen Sie zu jemandem, der Ihnen beibringt, wie Sie zu ihm durchkommen. Ihr Vater ist ganz schön hartnäckig. Ich werde ihn nicht aufhalten können.«
»Ich weiß.« In ihren blauen Augen standen Tränen. »Er gibt niemals auf. Er lässt Sie sogar jetzt verfolgen.«
»Was?«
»Der blaue Camry auf der anderen Spur. Das ist jemand, den er bezahlt, damit er Sie überwacht. Es hat ihm nicht gefallen, dass Sie sich nicht bestechen ließen.«
»Sie wissen offenbar eine ganze Menge über das, was so vor sich geht.«
»Ich lerne. Ich muss lernen. Niemand hilft mir … außer ihr.«
»Außer wem?«
»Das kleine Mädchen.«
Joe erstarrte. »Welches kleine Mädchen?«
»Sie hat mir gezeigt, wie ich zu Ihnen kommen kann. Sie sagte, ich sollte mich von dem Ort, wo es passiert ist, entfernen. Wenn ich bleiben wolle, sagte sie, dann sollte ich irgendwo hingehen und mich meiner Heilung widmen.«
»Sie scheint sich mit dieser Situation ganz schön gut auszukennen«, sagte er.
»Ja, sie sagte, das sei ihr vor sehr langer Zeit selbst zugestoßen. Ich mochte sie. Sie war nicht wie die anderen. Sie hat nicht versucht, mich zu drängen. Sie saß einfach nur bei mir und sagte, sie wisse, wie es mir gehe. Sie war schweigsam, aber trotzdem fühlte ich mich bei ihr … gut.«
»Und hat sie auch einen Namen?«
»Natürlich. Bonnie.«
Damit hatte er gerechnet, aber er erschrak trotzdem zutiefst. »Und wann ist sie zu Ihnen gekommen?«
»In der Nacht, als Sie mit dieser Megan bei mir waren. Bonnie war nicht wie die anderen. Sie wusste, dass ich nicht fortgehen konnte.«
»Wegen Ihres Vaters.«
»Sie sagte, wenn ihre Not zu groß ist, dann muss man ihnen helfen.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sie wusste, wie ich mich fühlte.«
»Ja, das musste sie wohl.« Er sah sie an. »Und Sie wissen, warum, nicht wahr?«
»Sie hat es mir nicht erzählt. Aber ich konnte es spüren. Es ist Eve. Sie versucht Eve zu retten, ja?«
»Ja.« Seine Lippen verzogen sich. »Wir alle versuchen Eve zu retten.«
»Ich auch. Denn wenn er Eves Blut in sich aufnimmt, dann wird sich alles ändern. Dann wird er vielleicht zu stark. Und es wird schwerer, ihn zu töten.«
»Wovon reden Sie? Dieser ganze Unsinn, dass Blut ihn stärker macht. Sie hören sich an wie Caleb.«
»Aber es macht ihn tatsächlich stärker. Ich habe ihn stärker gemacht. Nicht so sehr, wie das bei Eve der Fall wäre, aber ich habe ihm eine Kraft gegeben, die er sonst nie bekommen hätte.« Sie blickte zur Seite. »Und das ist kein Unsinn. Fragen Sie Seth Caleb. Er soll es Ihnen erzählen.«
»Von dem habe ich genug gehört. Er hat gesagt, dieser Kult, zu dem Jelak gehörte, hat so etwas geglaubt. Nicht einmal Caleb hat behauptet, dass es der Wahrheit entspricht.«
»Er soll es Ihnen erzählen«, wiederholte sie. »Er ist nicht so, wie Sie glauben.«
»Ich schlage Ihnen etwas vor. Warum besuchen Sie nicht Caleb und fragen ihn, ob er sich bei der Jagd nach Jelak mit Ihnen zusammentut? Sie scheinen die Sache ganz ähnlich zu betrachten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Um ihn ist zu viel Dunkelheit. Ich könnte nicht nahe genug an ihn herankommen. Ich muss mich auf Sie verlassen.«
»Großartig.«
»Mir gefällt das auch nicht.« Sie schwieg nachdenklich. »Aber ich kann Ihnen vielleicht helfen. Ich habe herausgefunden, dass ich möglicherweise feststellen kann, wo Jelak ist.«
»Wie?«
»Ich kann ihn fühlen.«
Er schnaubte. »Jetzt reden Sie schon wieder wie Caleb.«
»Es ist wahr. Ich weiß nicht, wie er Jelak fühlen kann, aber bei mir ist es das Blut. Mein Blut, das in ihm ist, ruft nach mir.«
Joe schwieg. »Dann wissen Sie, wo er sich jetzt gerade aufhält?«
»Nein.«
»Dann sind Sie nicht gerade eine zuverlässige Quelle.«
»Ich bin die zuverlässigste Quelle, die Sie haben«, sagte sie. »Letzte Nacht war mir so, als würde ich ihn fühlen. Er war aufgeregt, und sein Blut pulsierte. Das ging ziemlich lange so.«
In der Zeit, als er Heather Carmello umbrachte?
»Ich wusste nichts von ihr«, sagte Nancy Jo, als hätte er den Gedanken laut ausgesprochen. »Nicht ehe Sie an sie dachten.«
»Sie ist keine Ihrer Freundinnen da drüben im Jenseits?«
»Seien Sie nicht so sarkastisch. Ich weiß nicht einmal, ob wir Freundschaften schließen können. Ich hoffe schon. Ich kann es nicht ertragen, so allein zu sein.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass dafür gesorgt wird.« Er dachte kurz nach. »Was ist mit Bonnie?«
»Sie war nett zu mir, aber ich glaube, sie wollte, dass ich mich beeile, damit ich Eve helfen kann. Ist Eve ihre Mutter?«
»Ja.«
»Meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Ich habe nur noch meinen Dad.« Stockend fügte sie hinzu: »Und er hatte nur noch mich. Er ist nicht glücklich, und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll.«
»Ich denke, Sie müssen ihn seinen Weg selbst finden lassen.«
»Das will ich nicht. Ich muss ihm helfen. Ich werde noch herausfinden, wie.« Sie sah ihn an. »Sind Sie Bonnies Vater?«
»Nein, ich habe sie nie kennengelernt.«
»Sie kennt Sie. Sie sagte, ich könne Ihnen vertrauen.« Sie schaute aus dem Fenster. »Der Camry hat sich zurückfallen lassen. Offenbar wissen die, dass Sie hier die Autobahn verlassen müssen.«
»Warum lässt Ihr Vater mich verfolgen? Ich habe alle Informationen, die ich finden konnte, ans Revier weitergegeben.«
»Er hat von dem Kelch erfahren, den Jelak in Ihr Haus gestellt hat. Er weiß von Eve. Er denkt, wenn er sich an Sie hält, dann könnte er nahe an Jelak herankommen.«
»Offensichtlich nimmt jemand anders gern seine Bestechungsgelder an.«
»Das können Sie ihm nicht vorwerfen«, sagte Nancy Jo ärgerlich. »Er leidet. Man muss ihm helfen.«
»Und dafür haben Sie mich ausgewählt.«
»Ja. Warum nicht? Es muss doch einen Grund dafür geben, dass Sie mich sehen können, wenn es sonst niemand kann. Das heißt wohl, dass Sie eine besondere Aufgabe haben.«
»Nicht dass ich einfach Pech gehabt habe?«
»Ich glaube nicht.« Sie lächelte traurig. »Aber ich könnte mich irren.«
Er spürte erneut Mitgefühl aufsteigen, aber auch die Verzweiflung, die ihn in ihrer Anwesenheit immer überkam. »Vielleicht haben Sie recht. Ich glaube nicht an das Schicksal, aber ich glaube auch nicht an Geister. Na gut, ich lasse mich darauf ein.« Er bog in die Straße ab, die am See entlangführte. »Also machen Sie sich auf die Jagd und melden sich, wenn Sie auf Jelak stoßen?«
»Ich kann nicht jagen. So etwas habe ich noch nie zuvor getan.«
»Wie wollen Sie mir dann helfen?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte vielleicht – keine Ahnung.« Sie runzelte die Stirn. »Hören Sie doch auf, immer den Polizisten zu spielen.«
»Aber ich bin einer. Und darum haben Sie sich an mich gewandt.«
»Ich habe mich an Sie gewandt, weil ich niemand anderen hatte.« Sie schwieg einen Moment. »Aber ich bin froh, dass Sie es sind. Sie können schwierig sein, aber ich glaube, wenn mir jemand helfen kann, dann sind Sie es.«
»Ich bin nur schwierig, wenn ich von Geistern angegriffen werde.«
Sie lächelte. »Das ist bestimmt nicht wahr. Ich wette, Sie sind in vieler Hinsicht schwierig. Hätte ich Sie vor Jelak kennengelernt, dann hätte ich Sie gemocht, glaube ich. Ich könnte Sie sogar jetzt liebgewinnen.«
»Was für ein Zugeständnis. Sind Sie deshalb zu mir gekommen?«
»Nein, ich musste Ihnen mitteilen, was Daddy tut. Und ich wollte sichergehen, dass Sie wissen, wie ich Ihnen helfen könnte … vielleicht.«
»Nun, das steht außer Frage.«
Sie schwieg einen Moment. »Und vielleicht auch, weil ich einsam war.« Schnell fügte sie hinzu: »Auch wenn ich Sie deshalb nicht gestört hätte.«
»Das ist gut. Und Sie wollten mir außerdem diesen Quatsch erzählen, dass Eves Blut Jelak einen Wahnsinnsschub geben würde?«
»Das ist kein Quatsch.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Niemand. Ich weiß es.«
»Dann haben wir unterschiedliche Interessen. Sie sind ein neugeborener Geist, der seine ersten vorsichtigen Schritte macht. Ich kann mich nicht auf Sie verlassen, Nancy Jo. Kommen Sie wieder, wenn Sie mehr Erfahrung haben.« Er hielt in der Einfahrt zu seinem Haus. »Ist noch etwas? Sonst würde ich gern zu Eve und Jane hineingehen.«
»Nein.« Sehnsüchtig blickte sie auf das Licht in den Fenstern des Cottages. »Wir sehen so viele Dinge als selbstverständlich an. Ein Licht im Fenster, geliebte Menschen, die uns erwarten … Und auf einmal ist das alles vorbei.« Sie schaute ihm ins Gesicht. »Verlassen Sie sich nicht darauf, Joe.«
»Das tue ich nicht.«
»Nein, Sie haben vermutlich schon genug Berührung mit dem Tod gehabt. Ich war zu jung. Ich dachte, das würde immer so weitergehen. Ich dachte, ich würde ewig leben.«
»Das geht allen so in Ihrem Alter.«
»Aber mir wurde verwehrt, dieses Gefühl zu verlieren. Das hat er mir genommen.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich muss ständig weinen. Normalerweise habe ich nicht so nah am Wasser gebaut. Das muss ich loswerden. Dieses kleine Mädchen, diese Bonnie, sie hat auch nicht dauernd geheult und gejammert. Sie war von so etwas wie einer goldenen Heiterkeit umgeben.«
»Sie hatte schon ein bisschen Zeit, sich daran zu gewöhnen.«
Nancy Jo nickte mehrmals. »Das schaffe ich auch noch.« Sie sah wieder zum Haus. »Gehen Sie. Die beiden warten auf Sie.«
»Bleiben Sie einfach hier draußen sitzen?«
Sie lächelte. »Sie wollen nicht unhöflich sein und mich allein lassen. Das ist ziemlich albern, oder?«
»Lächerlich.« Aber genau das fühlte er tatsächlich. »Ich weiß nicht, wie man sich Geistern gegenüber höflich benimmt.«
»Ich werde nicht lange bleiben. Ich kenne jetzt den Trick. Bonnie hat ihn mir gezeigt.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.« Er stieg aus dem Auto. »Es war wie immer eine ganz eigene Erfahrung, Nancy Jo.«
»Aber ich glaube, Sie lehnen mich nicht mehr so sehr ab, oder?« Sie fügte hinzu: »Sie haben doch keine Angst mehr vor mir?«
»Ich hatte nie Angst – na ja, vielleicht in den ersten Minuten.«
»Aber jetzt nicht mehr?« Ihr Blick glich dem eines verirrten Hündchens.
»Ich fürchte mich nicht, und ich lehne Sie nicht ab.« Er schnitt eine Grimasse. »Vermutlich gewöhne ich mich allmählich an Sie.«
»Und ich mich an Sie«, sagte sie eifrig. »Das gehört zur Freundschaft. Sind wir Freunde, Joe?«
Er betrachtete sie hilflos. Sie war wie ein Kind in Not, er konnte sie nicht zurückweisen. Freundlich antwortete er: »Wir sind Freunde, Nancy Jo.«
Sie lächelte strahlend. »Danke, Joe.«
Er drehte sich um und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Als er die Fliegengittertür öffnete, sah er sich noch einmal um.
Sie war verschwunden.
Sie hatte den Trick gelernt.