1
Die Frau hatte sich gelohnt.
Sie hatte ihm viel gegeben, und nun musste er ihr etwas zurückgeben.
Kevin Jelak drapierte den nackten Körper sorgfältig auf der Wiese. Er bürstete ihr das lange blonde Haar aus dem Gesicht und schloss die blauen Augen, die geradewegs in den Himmel starrten. Aber gegen das eingefrorene Entsetzen, das ihr Gesicht verzerrte, konnte er nichts tun. Nun, das war nicht anders zu erwarten gewesen. Mit neunzehn Jahren kannte Nancy Jo Norris die Alpträume noch nicht, denen Frauen ausgesetzt sein konnten. Alpträume, vor denen er sie gerettet hatte. Eigentlich mochte er ältere, erfahrenere Frauen lieber, aber als ihn das Fieber ergriff, musste er nehmen, was er kriegen konnte.
Das Fieber. Dir war nicht klar, was für ein Glück du hattest, Nancy Jo. Vielleicht wäre ich an dir vorbeigefahren, wenn die Not nicht so groß gewesen wäre. Und wenn ich mich nicht auf eine so kleine Ecke der Welt beschränken müsste.
Jene Ecke, in der sich Eve Duncan befindet. Die wunderbare, starke, gequälte Eve Duncan. Eve kannte die Alpträume. Sie hatte sie durchgestanden. Auch wenn sie so tat, als liebte sie das Leben, in der Tiefe ihres Herzens wünschte sie sich die Erlösung, die er ihr geben konnte. Die er ihr geben musste. Sie würde sein letzter Zug in diesem Spiel sein, das hatte er immer schon gewusst. Doch nachdem sie seine wichtigste Quelle zerstört hatte, war es seine Pflicht, ihr sofort ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.
Er blickte nach oben auf den zunehmenden Mond, der scharf wie eine Sichel am Nachthimmel stand. »Eve, hörst du mich?«, flüsterte er. »Spürst du mich?« Dann schloss er die Augen und versuchte, in seinem Inneren ein Bild von Eve heraufzubeschwören. Kurze rotbraune Haare, schlanker kraftvoller Körper, intelligentes ausdrucksstarkes Gesicht. »Du wirst keine leichte Aufgabe sein. Aber ich verspreche dir, ich werde durchhalten.«
Aber erst musste er dieser unbedeutenderen Frau, dieser Nancy Jo Norris, noch die letzte Ehre erweisen.
Er nahm den goldenen Kelch, den er ihr zwischen die gefalteten Hände auf die Brust gestellt hatte. »Du bist erlöst, Nancy Jo. Flieg davon.« Er bückte sich und küsste sie zögernd auf die Lippen. Sie wurde bereits kalt, als ihre Seele entwich. »Hast du mir schon vergeben? Hast du erkannt, welches Geschenk ich dir gemacht habe?«
Jedes Mal stellte er diese Fragen, aber stets vergeblich. Er musste Geduld haben. Eines Tages würde ihm eine von ihnen diese Bestätigung geben.
Vielleicht Eve Duncan …
Noch eine letzte Pflicht, die stets das reine Vergnügen war.
»Nancy Jo Norris.« Er hob den Kelch an die Lippen und sah noch einmal in den Nachthimmel und auf den kalten, scharfen Splitter des Mondes. »Geschenk zu Geschenk.«
Er leerte den Becher.
Der zunehmende Mond war hell und kalt, eisig glitzerte sein Licht auf den schlafenden Feldern entlang der Autobahn zum Flughafen von Atlanta.
Kalt? Warum fiel ihr plötzlich dieses Wort ein? Eve war unterwegs, um ihre Adoptivtochter Jane abzuholen, die aus Paris ankam, und bis vor wenigen Minuten war sie von Wärme und aufgeregter Vorfreude erfüllt gewesen.
Wie albern. Liebe und Aufregung empfand sie noch immer. Sie fröstelte nur, weil es mitten in der Nacht war. Vielleicht war das auch eine Nachwirkung der letzten Tage, die Joe und sie in den Sümpfen verbracht hatten, um das Monster Henry Kistle aufzuspüren. Es war ein einziger Alptraum gewesen. Um Eve auf seine Spur zu locken, hatte der Serienkiller ein kleines Mädchen als Geisel genommen und ihr vorgelogen, er sei derjenige, der vor vielen Jahren ihre kleine Tochter getötet hätte. So war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich auf die Jagd nach ihm zu machen. Und als sie die Insel entdeckten, auf der Dutzende ermordeter Kinder begraben waren, hatte der Alptraum riesige Ausmaße angenommen. Ja, das reichte, dass einem bis auf die Knochen eiskalt werden konnte.
Gleichzeitig bemerkte sie, dass Joe Quinn sich immer weiter von ihr entfernte, je länger sie nach dem Leichnam ihrer ermordeten Tochter Bonnie suchte. So lange waren sie schon zusammen, und nun gerieten ihre Liebe und ihr gemeinsames Leben in Gefahr, weil Eve nicht damit aufhören konnte, sich um die Heimholung ihrer Bonnie zu bemühen. Ihr Kind war vor vielen Jahren entführt und vermutlich ermordet worden. Nachdem sich herausstellte, dass Ralph Fraser, der zahlreiche Morde gestanden hatte und dafür hingerichtet worden war, gar nicht Bonnies Mörder war, hatte Eve sich auf die Suche nach dem wirklichen Täter gemacht.
All das hatte Joe gemeinsam mit ihr durchgestanden, er hatte sie stets unterstützt und geliebt. Erst als FBI-Agent, dann bei der Polizei von Atlanta, aber immer ganz nah an ihrer Seite. Er hatte sie aus den Tiefen der Depression gezogen, hatte sie ermutigt, als sie beschloss, eine Ausbildung zur forensischen Gesichtsrekonstrukteurin zu machen. Sie wollte bei der Lösung der Fälle anderer verschwundener Kinder helfen, um den Eltern einen inneren Abschluss zu ermöglichen. Immer war er ihr Geliebter, ihr Freund, ihr Beschützer gewesen.
Bis er im letzten Jahr der ständigen Bedrohungen gegen Eve allmählich überdrüssig wurde. Der Angriff von Henry Kistle war vielleicht der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Nicht darüber nachgrübeln. Lieber an das bevorstehende Wiedersehen mit Jane denken und daran, dass Joe sie noch nicht verlassen hatte. Als sie heute Morgen aufbrach, war er guter Dinge gewesen. Vielleicht konnte sie eine Lösung finden für –
Ihr Handy klingelte. Jane.
»Ich bin schon unterwegs«, sagte Eve. »Ist dein Flieger früher gelandet? Ich dachte, ich hätte noch eine halbe Stunde.«
»Du hast möglicherweise noch viel länger Zeit«, antwortete Jane. »Ich rufe aus Charlotte, North Carolina, an. Mein Flugzeug hatte ein technisches Problem und musste hier landen. Sie versuchen uns auf einem anderen Flug unterzubringen. Es sieht so aus, als würden wir uns um zwei oder drei Stunden verspäten.«
»Mist. Na ja, ich werde trotzdem hinfahren und auf dich warten.«
»Das wirst du nicht tun. Fahr nach Hause. Ich ruf dich an, sobald ich ins Flugzeug steige.«
Eve überlegte. »Du hast wahrscheinlich recht. Dann komme ich immer noch früh genug, um dich am Gepäckband zu treffen.«
»Tut mir leid, ich wollte dir keine Mühe machen. Ich kann mir vorstellen, wie erschöpft du sein musst. Mein Besuch fängt nicht besonders gut an.«
»Es ist immer gut, wenn du kommst.«
»Ist Joe bei dir?«
»Nein, ich habe ihn schlafen lassen. Er war noch müder als ich. Letzte Nacht war er auf der Dienststelle, um die Namen der Kinder herauszufinden, die wir im Sumpf entdeckt haben.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Aber deine Bonnie war nicht dabei?«
»Nein.« Bei dieser schmerzhaften Erkenntnis versagte Eve die Stimme. »Mein Gott, Jane, ich habe so darum gebetet, sie endlich zu finden.«
»Ich weiß. Darum bin ich ja auch gleich in den Flieger gesprungen, um nach Hause zu kommen. Natürlich hast du Joe, aber ich wollte bei dir sein.«
»Ja, ich habe Joe.« Sie musste das Telefongespräch beenden, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Jane konnte ihre Gedanken lesen. »Und ich bin überglücklich, dass du kommst. Ruf mich an.« Sie legte auf.
Hoffentlich hatte sie Joe wirklich noch. Mein Gott, wie leer wäre das Leben ohne ihn. Es hätte keine Struktur und keine Substanz, es wäre so kalt wie dieser Mond, der auf sie herabschien.
Schon wieder diese Kälte. Sie konnte ihr nicht entkommen.
An der Ausfahrt verließ sie die Autobahn und kehrte um. Nach Hause, zum Cottage und zu Joe. Sie würde ihn umarmen und seine Kraft in sie strömen lassen. Dann würde die Kälte vielleicht allmählich verschwinden.
Als sie sich dem Haus näherte, sah sie, dass Licht in der Küche brannte. Offenbar hatte Joe doch nicht mehr einschlafen können. Vielleicht trank er Kaffee und wartete auf sie und Jane.
Aber in der Küche war er nicht, obwohl die Kaffeemaschine angeschaltet war. Tassen, Untertassen und Milchkännchen standen bereits auf dem Tisch. Er war auch nicht im Schlafzimmer.
Was um Himmels willen war passiert?
Da hörte sie ihn auf den Stufen der Veranda.
Im nächsten Moment betrat er das Haus. Er trug seinen braunen Bademantel und Hausschuhe, und sein Haar war zerzaust. Den Bademantel hatte sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, weil sie Braun so an ihm mochte. Es ließ sein dunkles Haar fast karamellfarben erscheinen und seine Augen schimmern wie schwarzer Tee. Die meisten Menschen bemerkten nur, welche Härte er ausstrahlte, und die war auch jetzt deutlich spürbar. Aber die kräftige Farbe ließ ihn sanfter wirken.
Eve lächelte. »Wo warst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dir könnte etwas zugestoßen sein. Nachdem ich gesehen habe, dass der Kaffee –« Sie unterbrach sich und sah ihn mit großen Augen an. »Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich war im Wald spazieren.«
»Um diese Uhrzeit? Und in diesem Aufzug?«
»Warum nicht? Ich konnte nicht schlafen.« Er ging zur Kaffeemaschine und goss sich eine Tasse ein. »Das ist nicht verboten. Garantiert. Wer wüsste das besser als ein Polizist?«
Sein Tonfall war beinahe unfreundlich, und er vermied es, sie anzuschauen. Aber es war zu spät, sie hatte sein Gesicht gesehen, als er hereinkam. Joe war selten blass, doch jetzt hatte er eine ungesunde Hautfarbe. Die Haut schien sich über die Wangenknochen zu spannen, und in seinen Augen glitzerte etwas Unbeherrschtes. Unbeherrscht? Das war Joe nie. Er konnte gewalttätig und rücksichtslos sein, aber er hatte sich immer unter Kontrolle.
»Warum konntest du nicht schlafen?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht habe ich von diesen ermordeten Kindern auf der Sumpfinsel geträumt. Darum dreht sich mein Leben schließlich, oder? Um ermordete Kinder.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Oder vielleicht nur um ein ermordetes Kind. Dein Kind. Seit ich dich kenne, geht es immer nur um Bonnie. Das reicht schon, um einen wahnsinnig zu machen.«
Der Schock ließ sie erstarren. Es stimmte, ihr beider Leben hatte sich all die Jahre stets um Bonnies Tod und Verschwinden gedreht, aber seine Schroffheit kam unerwartet und schmerzte. Obwohl sie gewusst hatte, dass Joe allmählich die Geduld verlor. Er hatte seine ganze Kraft, sein ganzes Wissen eingesetzt, um ihr zu geben, was sie brauchte. Was ihn zerriss, war die ständige Gefahr, in der sie schwebte. »Du hast natürlich recht. Niemand weiß besser als ich, was ich dir zumute. Es ist nur allzu verständlich, wenn du vor mir und dieser Situation fliehen willst.«
Er fuhr herum und sah sie an. »Ich will nicht vor dir fliehen«, sagte er eindringlich. »Du bist die einzige Frau, die ich jemals geliebt habe. Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass ich bei dir bleiben will. Als mich das FBI nach Atlanta geschickt hat, um das Verschwinden und den möglichen Tod deiner Bonnie zu untersuchen, hätte doch niemand gedacht, dass ich nicht mehr in der Lage sein würde, dich zu verlassen. Du hattest ein süßes siebenjähriges Mädchen verloren, das alles für dich bedeutete. Du warst so zerbrechlich und voller Tragik und gleichzeitig so verdammt stark, dass mir einfach die Luft wegblieb. Ich wollte deine sämtlichen Drachen besiegen und dir geben, was immer du wolltest.«
»Das hast du getan«, sagte sie bewegt. »Nur war es so einseitig. Ich habe für dich nie einen Drachen bekämpft. Du verdienst jemanden, der das für dich tut.«
»Vergiss es. Als wir zusammenkamen, wusste ich, worauf ich mich einließ.« Die Augen in seinem angespannten Gesicht blitzten. »Aber es ist mir nicht gelungen, deinen Drachen zu töten, und heute Nacht habe ich mich gefragt, ob er mich nicht allmählich auffrisst.«
»Heute Nacht?« Als sie zum Flughafen fuhr, war er nicht in dieser Stimmung gewesen. Sie hatte eine gewisse Zurückhaltung bemerkt, aber jetzt war er aggressiv und voll explosiver Spannung. Sie konnte die Unruhe, die ihn umwirbelte, fast körperlich spüren. »Ist etwas passiert, während ich weg war?«
»Natürlich nicht. Ich hab dir doch gesagt, ich war spazieren.« Er stellte seine Tasse ab und wandte sich ab. »Und ich habe keine Lust auf ein Kreuzverhör. Mir geht es gut. Hör auf damit, Eve.«
»So gut, dass du gar nicht wissen willst, warum Jane nicht bei mir ist.«
Er sah sie wieder an. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ja, ihr Flugzeug hatte lediglich ein technisches Problem und musste in Charlotte landen. Sie ruft mich an, wenn sie wieder an Bord geht.«
»Das ist gut. Ich gehe unter die Dusche, dann tätige ich ein paar Telefonanrufe und fahre früh zur Arbeit. Ich habe noch eine Menge Papierkram zu erledigen.«
»Wage bloß nicht, diesen Raum zu verlassen«, fuhr Eve ihn an. »Da stimmt doch etwas nicht. Das weiß ich, verdammt noch mal! Sag’s mir.«
»Wenn etwas nicht stimmt, dann werde ich selbst damit fertig. Meine Drachen kann ich allein besiegen.« Joes Worte kamen knapp und scharf. Er ging zur Tür. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Joe, um Himmels willen, sprich mit mir.«
Er antwortete nicht. Sie sah die Schlafzimmertür hinter ihm zufallen. Er schloss sie aus, geistig wie körperlich.
Der Schmerz brannte in ihr. Sie hatte diese Schwierigkeiten vorausgeahnt, aber sie hatte geglaubt, es wäre noch genug Zeit, sich darum zu kümmern. Wie hatte die Situation bloß derart eskalieren können?
Ihr Handy klingelte. Jane.
Sie wartete ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte, dann ging sie an den Apparat. »Ich habe nicht damit gerechnet, schon so bald von dir zu hören.«
»Sie haben es geschafft, das andere Flugzeug zu reparieren. Jetzt steige ich gerade ein. Soll ich mir einen Mietwagen nehmen?«
»Sei nicht albern. Ich bin schon unterwegs. Wir treffen uns an der Gepäckabholung.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Du hörst dich seltsam an. Ist alles okay?«
»Natürlich. Und wenn ich dich sehe, wird’s mir noch besser gehen. Bis gleich.«
Selbstverständlich konnte Jane ihre Stimmung auch aus der Ferne einschätzen. Eve zögerte und warf einen Blick auf die geschlossene Schlafzimmertür. Nein, sie würde nicht hineingehen und Joe sagen, dass sie jetzt zum Flughafen fuhr. Er hatte diese Tür fest und endgültig hinter sich zugemacht. Sie würde ihm Zeit geben, in der Hoffnung, dass die Drachen, von denen er gesprochen hatte, in der Dunkelheit wieder davonschlichen.
Sie verließ das Haus und rannte die Verandatreppe hinab zum Auto. Aber in ihren Augen brannten Tränen, und sie brauchte einen Moment, ehe sie losfahren konnte. Sie umklammerte das Lenkrad und starrte blindlings in die Dunkelheit.
Die Ursache von Joes Schmerz war Eves Besessenheit, den Mörder ihrer Tochter zu finden. So viele Jahre ging diese Jagd nun schon, und sie quälte ihn. Eve durfte nicht erwarten, dass er ihre Gefühle wirklich begreifen konnte. Er hatte nie ein Kind gehabt. Als Jane nach einer Reihe von Pflegefamilien zu ihnen kam, war sie bereits zehn Jahre alt und viel lebensklüger, als ihr Alter vermuten ließ. Sie war ihnen eine Freundin geworden, nicht ihr gemeinsames Kind. Die wundervolle Erfahrung, ein kleines Mädchen aufzuziehen, hatte Joe im Gegensatz zu Eve nie machen dürfen. Deshalb würde er nie verstehen, warum Eve nicht aufhören konnte.
Weil die Erinnerung an Bonnie nie aufhörte. Der Abend, bevor Bonnie entführt wurde, war in Eves Gedächtnis so frisch, als wäre es erst gestern geschehen.
In ihrem gelben Pyjama mit den orangefarbenen Clowns kam Bonnie in Eves Schlafzimmer gerannt. Ihre wilden roten Locken flogen, und in ihrem Gesicht strahlte ihr vertrautes Lächeln.
»Mama, Lindsey sagt, ihre Mutter hat ihr erlaubt, dass sie morgen in ihrem Goofy-T-Shirt zum Schulpicknick kommt. Kann ich mein Bugs-Bunny-T-Shirt anziehen?«
Eve blickte von dem Literatur-Lehrbuch auf, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Es heißt nicht kann, sondern darf, Kleines. Und ja, du darfst Bugs morgen anziehen.« Sie lächelte. »Wir wollen doch nicht, dass Lindsey dich in den Schatten stellt.«
»Das wäre mir egal. Sie ist meine Freundin. Du hast gesagt, wir sollen für unsere Freunde immer das Beste wollen.«
»Ja, das stimmt. Und jetzt ab ins Bett.«
Bonnie rührte sich nicht. »Ich weiß, dass du für die Prüfung lernst. Aber liest du mir noch eine Geschichte vor?« Schmeichelnd fügte sie hinzu: »Ich meine, eine ganz, ganz kurze Geschichte?«
»Deine Großmutter liest dir gern Geschichten vor, Kleines.«
Bonnie kam näher und flüsterte: »Ich habe Oma ganz lieb. Aber es ist viel schöner, wenn du mir vorliest. Nur eine ganz kurze …«
Eve warf einen Blick auf ihr Lehrbuch. Sie musste noch so viel für die Prüfung lernen, dass sie bis nach Mitternacht wach sein würde. Dann sah sie Bonnie an. Ach, was soll’s. Schließlich war Bonnie der Grund, weshalb Eve überhaupt studierte. Sie war der Grund für alles, was Eve in ihrem Leben tat. Warum sollte sie sich und ihre Tochter anlügen? »Na, dann lauf und such dir ein Buch aus.« Sie schob das Lehrbuch zur Seite und stand auf. »Es muss auch keine kurze Geschichte sein.«
Bonnies Strahlen hätte den Times Square hell erleuchten können. »Nein, ich verspreche …« Sie rannte aus dem Zimmer. Sekunden später war sie mit einem Buch von Dr. Seuss wieder da. »Das geht ganz schnell, und ich mag die Reime.«
Eve setzte sich in den blau gepolsterten Schaukelstuhl, den sie hatte, seit Bonnie auf der Welt war. »Kletter rauf. Ich mag Dr. Seuss auch.«
»Das weiß ich doch.« Bonnie krabbelte auf ihren Schoß und kuschelte sich an. »Aber weil es so ein kurzes Buch ist – darf ich auch noch mein Lied haben?«
»Ich denke, das ist ein vernünftiger Wunsch«, antwortete Eve ernsthaft. Die beiden hatten kleine Rituale; seit Bonnie ein Kleinkind war, sangen sie jeden Abend gemeinsam ein Lied. »Was für eines singen wir denn heute?«
»›All the Pretty Little Horses‹.« Bonnie drehte sich auf Eves Schoß um und umarmte sie ganz fest. »Ich hab dich lieb, Mama.«
Eve schlang die Arme um sie. Bonnies Lockengewirr war weich und duftend an ihrer Wange, und der kleine Körper fühlte sich auf köstliche Weise fest und lebendig an. Mein Gott, wie war sie glücklich. »Ich hab dich auch lieb, Bonnie.«
Bonnie warf sich erneut herum, so dass sie sich in Eves Arm schmiegen konnte. »Du fängst an, Mama.«
»Hushabye, don’t you cry«, sang Eve leise.
Bonnies zarte kleine Stimme fiel ein: »Go to sleep, little baby.«
Der Augenblick war so herrlich, so wundervoll. Eve zog Bonnie an sich, und ihr wurde die Kehle eng, während sie sang: »When you wake, you shall have …«
Bonnies Stimme war nur noch ein Hauch: »All the pretty little horses …«
Eve ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. Sie musste sich zusammenreißen. Sie durfte nicht hier sitzen bleiben und in der Vergangenheit schwelgen. Auch wenn ihr Leben gerade in die Brüche ging, sie musste weitermachen. Die Schwierigkeiten mit Joe klären. Jane vom Flughafen abholen.
Sie richtete sich auf und ließ den Wagen an.
Und sie musste versuchen, die bittersüße Erinnerung auszublenden, die noch immer in ihrem Herzen und ihrer Seele nachklang.
All the pretty little horses …
»Ach, wie habe ich dich vermisst!« Eve umarmte Jane fest und schob sie dann von sich. »Wie kannst du bloß so toll aussehen – als hättest du die Nacht in einer Wellnessoase verbracht. Nach einem Langstreckenflug müsstest du doch erschöpft und zerknittert sein. Ich bin das immer.«
»Ich bin zerknittert, aber mit meinem neuen Haarschnitt aus Paris sieht das schick aus.« Jane warf einen Blick auf das sich drehende Gepäckband. »Ich glaube, da kommt meine Reisetasche. Bin gleich wieder da!« Sie rannte los.
So viel Energie! dachte Eve. Jane hatte einfach alles: Schönheit, Talent und eine liebevolle Persönlichkeit, die aber mit einer ordentlichen Portion puren Eisens gepaart war. Erst vor zwei Jahren hatte sie das Studium abgeschlossen, und schon war sie dabei, sich als Künstlerin in amerikanischen und europäischen Galerien einen Namen zu machen. Es war ein Segen, dass es Eve und Joe gelungen war, das ehemalige Straßenkind Jane bei sich aufzunehmen. Schon damals hatte sie ihr beider Leben bereichert, und sie tat es heute noch. Eine strahlende Eves Handy klingelte. Joe? dachte sie, während sie es aus der Handtasche zog. Hoffentlich war es Joe.
Megan Blair. Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Bestimmt war es wichtig. Dennoch hatte sie keine große Lust, mit ihr zu sprechen. Megan besaß zweifelsohne eine übersinnliche Begabung, aber Eve musste sich jetzt eine Weile von ihr fernhalten. Und warum um Himmels willen rief sie schon so früh am Morgen an?
»Eve, geht es Ihnen gut?« Megan Blairs Stimme klang aufgeregt. »Du meine Güte, es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es – ist alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Wovon reden Sie?« Eve sah zu Jane hinüber, die gerade ihre Reisetasche vom Band zog. »Alles ist prima. Ich hole gerade Jane vom Flughafen ab. Sie ist heute Nacht aus Paris gekommen.«
»Gut. Dann ist jemand bei Ihnen. Bitte sagen Sie ihr, sie soll Sie nicht allein lassen.«
»Das werde ich bestimmt nicht tun. Warum sollte ich?«
»Es ist diese verdammte Sache mit der Übertragung. Ich hatte gedacht, Ihnen könnte nichts passieren. Schließlich war ich bewusstlos, darum habe ich geglaubt, meine Empfindungen würden nichts auslösen.«
»Sie drücken sich nicht sonderlich klar aus, Megan.«
»Ich versuche es etwas langsamer.« Sie holte tief Luft. »Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich noch eine weitere Gabe habe. Gabe? Nein, das ist das falsche Wort, bisher war es eher ein Fluch. Auf jeden Fall, wenn ich eine außerordentlich starke Empfindung habe, dann ist es gefährlich für mich, jemanden zu berühren.«
»Ja, mir ist aufgefallen, dass Sie jeden behandeln, als hätte er die Pest.«
»Der Grund dafür ist, dass ich übertrage. Wenn ich jemanden in so einem Moment berühre, dann erwacht die übersinnliche Fähigkeit, die in dieser Person schlummert. Gedankenlesen, Heilen, Aufspüren … was auch immer. Aber manche sind von der plötzlichen Freisetzung übersinnlicher Talente überfordert.«
»Irrsinn. Ja, das haben Sie mir alles erzählt. Aber Sie haben mir auch gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, weil Sie im Koma lagen, als ich Sie im Sumpfgebiet berührt habe.«
»Mir ist aber gerade aufgefallen, dass ich auch in diesem Zustand von den toten Kindern wusste, die auf der Insel begraben waren. Das heißt, dass das Koma nicht tief genug war. Wenigstens glaube ich das, ich weiß es natürlich nicht sicher.«
»Beruhigen Sie sich, Megan, es gibt keinen Grund zur Aufregung.«
»Sagen Sie das nicht.« Megan schwieg einen Augenblick. »Schauen Sie, ich weiß, dass Sie mir die Sache mit dieser merkwürdigen Übertragung wahrscheinlich nicht geglaubt haben. Sie akzeptieren, dass ich Echos vergangener Ereignisse hören kann, das, was den ermordeten Kindern dort passiert ist. Schließlich waren Sie dabei und haben mich dabei gesehen. Aber das andere erscheint Ihnen zu bizarr. Nun, ich finde es ja selbst bizarr. Aber wenn es in meinen Möglichkeiten steht, will ich die Übertragung auf andere vermeiden. Ich habe Sie berührt, Ihre Hände gehalten. Mehr braucht es manchmal nicht. Herrgott, ich wollte Sie nicht verletzen, Eve.«
Jane kam auf Eve zu und zog ihre Reisetasche hinter sich her. Sie hob fragend die Augenbrauen.
»Ich bin nicht verletzt«, sagte Eve. »Mir wird nichts geschehen, Megan.«
»Ich hoffe nicht. Aber wenn irgendetwas Seltsames passiert, dann machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir werden das gemeinsam bewältigen.«
»Ich glaube nicht, dass wir etwas bewältigen müssen. Ich fühle mich wie immer, Megan. Außerdem haben Sie im Krankenhaus gesagt, der gefährliche Zeitraum sei längst vorüber.«
»Aber das war, ehe mir klarwurde, dass meine Emotionen trotz des Komas noch immer aktiv waren. Das könnte den Effekt verzögert haben. Bitten Sie doch Jane, auf jeden Fall bei Ihnen zu bleiben. Nur zur Sicherheit. Würden Sie das für mich tun?«
»Ich werde sie nicht zwingen, mir das Händchen zu halten, Megan. Mir geht es gut. Wenn mir etwas auffällt, dann rufe ich Sie an, versprochen. Jetzt entspannen Sie sich.«
»Keinesfalls. Verdammt, ich weiß, dass Ihnen das verrückt vorkommt. Das ist es ja auch. Aber ich kann nicht damit aufhören, ehe ich nicht sicher weiß, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist. Ich melde mich später noch einmal.« Megan legte auf.
»Was war das denn?«, wollte Jane wissen. »Du hast dich so besänftigend angehört. Und warum sollte ich dir das Händchen halten?«
»Das sollst du nicht, darum geht es ja.« Eve ging mit Jane zum Ausgang. »Mir geht es gut.«
»Und warum glaubt Megan Blair, das könnte vielleicht nicht so sein? Sie sollte das doch wissen. Schließlich ist sie Ärztin, oder?«
Eve nickte. »Notfallärztin. Aber zurzeit arbeitet sie nicht.«
»Zu viel zu tun mit diesem Voodoo-Kram?«
Voodoo. Ja, das hatte Eve auch geglaubt, als sie Megan kennenlernte. Sie hatte übersinnliche Kräfte für Unsinn gehalten, und jeden, der behauptete, welche zu haben, für einen Scharlatan. Aber in diesem Sumpfgebiet, auf der Jagd nach Henry Kistle, hatte sie zu viel gesehen, um Megans Behauptungen einfach abzutun.
Außer dieser jüngsten Enthüllung über die Übertragung. Eve konnte an diese Möglichkeit nicht so recht glauben. Wie Megan gesagt hatte, es war zu bizarr.
»Vermutlich könnte man das Voodoo nennen. Aber Megan ist nicht … weißt du, Jane, ich respektiere sie.«
»Dann entschuldige ich mich für meine Flapsigkeit. Mir ist durchaus bewusst, dass da draußen mehr ist, als wir sehen oder ertasten können. Aber so jemand wie Megan Blair ist mir eben noch nie begegnet. Wo hast du geparkt?«
»Auf dem Kurzzeitparkplatz.« Eve trat auf die Straße. »Ich bin mit dem Jeep da. Ich dachte, du hättest mehr Gepäck oder vielleicht ein paar Leinwände dabei.«
»Nein, ich habe alles in Paris gelassen. Wenn ich nicht mehr zurückfliege, dann lasse ich mir die Sachen schicken.« Jane sah sie nachdenklich an. »Warum meinte Megan denn, ich sollte dir das Händchen halten? Du hast doch gesagt, Kistle ist tot. Von ihm geht doch keine Gefahr mehr aus, oder?«
»Stimmt.« Jane würde keine Ruhe geben. Sie war eigens aus Paris gekommen, um bei Eve zu sein, und sie wollte sie beschützen. »Und es besteht auch keine Gefahr mehr, Punkt. Megan ist nur noch etwas eingefallen.«
»Was?«
Erzähl es ihr, aber ohne jede Dramatik. »Sie denkt, ich könnte den Verstand verlieren.« Eve schnitt eine Grimasse. »Oder selbst eine Voodoo-Priesterin werden.«
»Eher unwahrscheinlich.«
»Das habe ich ihr auch gesagt.«
»Wie kommt sie auf so etwas?«
Na gut, den Sachverhalt erklären und dann Schluss damit. »Ich habe dir doch erzählt, dass Megan gewisse … Begabungen hat.«
Jane nickte. »Sie kann unter bestimmten Umständen die Toten hören, oder zumindest Echos dessen, was ihnen zugestoßen ist. Ziemlich gruselig.« Sie zögerte. »Und schwer zu glauben. Obwohl ich merke, dass du da aufgeschlossener bist.«
Weil Jane wusste, dass die Erinnerung an Bonnie noch immer ein wesentlicher Teil von Eves Leben war. »Das war auch für mich nicht leicht. Ich dachte, Megan wäre wie eine von diesen falschen Wahrsagerinnen, die sich damals kurz nach Bonnies Verschwinden auf mich gestürzt haben. Es hat mich einiges gekostet einzugestehen, dass Megan tatsächlich echt ist. Aber ich war dabei, wie sie in den Wäldern von Illinois das Grab eines kleinen Jungen entdeckt hat. Und wie sie hier in den Sümpfen von Georgia bei dem Versuch, Kistle und die von ihm getöteten Kinder zu finden, einen schweren Schock erlitten hat.«
Jane verzog den Mund zu einem Grinsen. »Ich denke, ›echt‹ ist in solchen Fällen ein zweideutiger Begriff. Haben Megans tote Freunde ihr denn erzählt, dass man sich um dich kümmern muss?«
»Nein.« Eve runzelte die Stirn. »Es scheint, dass Megan noch eine weitere Begabung hat. Sie sagt, dass sie etwas auslösen kann … na ja, dass sie eine Art Überträgerin ist. Wenn sie jemanden berührt, solange sie unter emotionaler Anspannung steht, dann könnte das bei dieser Person latente übersinnliche Kräfte freisetzen. Und sie meint, manche Leute würden mit so etwas nicht fertig. Sie würden durchdrehen.«
»Das ist aber jetzt wirklich bizarr.«
»›Bizarr‹ scheint das Wort des Tages zu sein«, bemerkte Eve und schloss den Jeep auf. »Megan hat es gesagt, ich habe es gesagt. Und jetzt du, Jane. Megan meint, sie könne verstehen, wenn ich gegen diesen Übertragungseffekt ankämpfe. Und sie hat absolut recht.« Eve rutschte auf den Fahrersitz. »Insbesondere, da ich vermutlich eine geeignete Kandidatin dafür wäre. Aber ich habe nicht im Geringsten den Eindruck, dass ich dabei bin, verrückt zu werden. Und grandiose neue geistige Kräfte konnte ich auch noch nicht feststellen.«
»Du brauchst auch nicht noch mehr geistige Kräfte«, erklärte Jane. Sie stieg auf der anderen Seite ein. »Schließlich bist du die vermutlich beste forensische Gesichtsrekonstrukteurin der Welt. Und du bist die klügste Frau, die ich kenne.«
»Mein IQ ist nicht schlecht, aber was meine emotionale Begabung angeht, kann man das nicht behaupten. Offenbar bin ich nicht in der Lage, aus meinen Fehlern zu lernen.«
»Du bist immerhin klug genug, bei Joe zu bleiben«, sagte Jane. »Das ist geradezu genial.«
»Und ich hatte Glück … bislang.« Eves Lächeln verschwand. »Ich habe dich, und ich habe Joe. Und keiner von euch scheint vorzuhaben, mich demnächst aus seinem Leben zu schubsen. Das ist echt toll.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Wie kommt ihr beiden, du und Joe, derzeit miteinander zurecht?«
Eve hatte gewusst, dass die Frage kommen würde. »So gut, wie man es erwarten kann angesichts der Tatsache, dass ich von etwas besessen bin, was unser Leben dominiert.« Sie wandte den Blick ab. »Es wäre für uns so wichtig gewesen, dass Henry Kistle nicht nur diese ganzen Kinder auf der Insel umgebracht hat, sondern auch Bonnies Mörder ist. Joe hat das alles … so satt. Wer kann es ihm verdenken? Ich ganz bestimmt nicht.« Mit einem entschlossenen Lächeln fuhr sie aus der Parklücke. »Aber er wird sich freuen, dich zu sehen. Jedes Mal, wenn du bei uns vorbeigesaust kommst, fährt frischer Wind durch unser Leben.«
»Und wie läuft’s mit deiner Arbeit?«
»Vor ein paar Tagen habe ich einen Auftrag aus der Gerichtsmedizin abgeschlossen. Joe meint, es könnte sein, dass ich an ein oder zwei Schädeln von den Kindern, die wir auf der Insel im Okefenokee-Sumpf gefunden haben, arbeiten muss, wenn sie nicht identifiziert werden können. Ich werde mein Möglichstes tun, um sie nach Hause zu bringen.«
Jane nickte. »Wenn du schon deine Bonnie nicht nach Hause bringen kannst.«
»Ich habe immer noch Hoffnung. Tatsache ist, dass ich sogar zwei weitere Namen habe, die uns weiterbringen könnten. Paul Black. Kevin Jelak. Ich werde mich auf ihre Spur setzen, sobald ich mehr über sie herausgefunden habe.« Sie bemerkte, dass Jane sie erstaunt ansah, und lächelte verlegen. »Ja, ich weiß, ich habe gerade die Sache mit Henry Kistle hinter mir. Aber er war nicht der Richtige. Er konnte mir nicht dabei helfen, meine Bonnie nach Hause zu holen. Also muss ich weitermachen. Verstehst du? Ich bin wirklich besessen.«
»Vielleicht.« Jane legte ihre Hand auf die von Eve am Lenkrad. »Aber ich kann das verstehen. Es ist eine sehr liebenswerte Besessenheit, Eve.«
Eve war gerührt. »Du liebe Güte, das hört sich an wie im Film.«
Jane kicherte. »Jetzt habe ich dich in Verlegenheit gebracht. Tut mir leid. Offenbar habe ich in Paris ein paar melodramatische Floskeln aufgeschnappt.«
»Du hast mich nicht in Verlegenheit gebracht.« Jane konnte zu ihr sagen, was sie wollte, Eve war einfach nur froh, sie wieder bei sich zu haben. Jane war eine erfolgreiche Künstlerin und zurzeit sehr beschäftigt. Wie Eve gesagt hatte, sie kam angesaust, und wenn sie ebenso eilig wieder verschwand, hinterließ sie nur ein herzliches Gefühl der Zuneigung und wunderbare Erinnerungen. Eve wünschte es sich nicht anders. Keinesfalls wollte sie sich in Janes Leben einmischen oder sie von irgendetwas abhalten.
Und sie durfte Jane nicht in die Dunkelheit hineinziehen, die sich gerade herabzusenken drohte. Das Düstere beiseiteschieben, sich um einen lockeren Gesprächston bemühen. »Aber erzähl mir doch, was du sonst noch in Paris aufgeschnappt hast. Irgendjemanden, der groß, attraktiv und interessant ist?«