8

Joe rief Eve um die Mittagszeit an. »Das Opfer heißt Heather Carmello. Fünfundzwanzig, Prostituierte, Kehle durchgeschnitten, nackt.«

»Fußabdrücke?«

»Alles blitzblank. Wie er das trotz Regen und Schlamm geschafft hat, ist ein Wunder.« Er hielt kurz inne. »Kein Kelch am Tatort.«

»Und was heißt das?«

»Frag mich was Leichteres.«

»Aber du glaubst immer noch, dass es Jelak war?«

»Verflucht noch mal, ja.«

»Jane und ich hatten Angst, dass Patty Avery das Opfer sein könnte. Jane dachte, sie könnte Jelak gestern Abend zu ihr geführt haben. Gibt es eine Möglichkeit, dass Pattys Haus bewacht wird?«

»Vielleicht, aber nicht offiziell. Ich kann jemanden besorgen.« Er fügte hinzu: »Ich kümmere mich später darum. Jetzt muss ich hier fertig werden und dann zur Dienststelle zurückfahren. Brauchst du irgendetwas?«

»Nein.«

»Dann beantworte ich die Frage, die du nicht gestellt hast. Nein, zu meiner tiefen Erleichterung hat Heather Carmello beschlossen, tot zu bleiben. Kein geisterhafter Auftritt.«

»Das ist gut … vermute ich.«

»Da gibt’s nichts zu vermuten. Und du kannst mir einen Gefallen tun. Ruf Seth Caleb an und bitte ihn, noch einmal zu kommen und mir ein paar Fragen zu beantworten.«

»Wirklich? Du hast ihn praktisch aus dem Haus geworfen.«

»Ich wollte nicht, dass er mich auf Schritt und Tritt begleitet. Außerdem, je weniger ich mit diesen Geistersehern zu tun habe, desto besser. Aber nachdem Heather Carmello beschlossen hat, dass ich nicht ihre bessere Hälfte bin, habe ich gute Laune und kann Caleb näher heranlassen. Und ich muss Genaueres über diesen Kelch wissen. Er scheint Teil des Rituals zu sein, und ich will wissen, was es bedeutet, wenn er fehlt.«

»Ich rufe ihn an. Wann willst du ihn sehen?«

»Heute Abend. So um sechs sollte ich mit dem Bericht fertig sein. Ich könnte mich mit ihm in Rico’s Restaurant in der Nähe des Reviers treffen. Ich melde mich später noch einmal.« Er legte auf.

Eve drückte nachdenklich die Trenntaste und sagte dann zu Jane: »Heather Carmello. Kein Kelch. Er will mit Caleb reden, ob das etwas zu bedeuten hat.«

»Na ja, du hast gesagt, Béla Lugosi hat das Blut immer direkt aus der Quelle getrunken. Vielleicht glaubt Jelak, er ist etwas Besseres.«

»Das ist nur geraten. Wir müssen das sicher wissen.« Eve holte die Karte aus der Tasche, die sie von Caleb erhalten hatte. Sie war aus schwerem weißen Papier, und es stand lediglich eine Handynummer darauf. »Schauen wir mal, was Caleb uns dazu sagen kann.«

Ehe sie wählen konnte, klingelte das Telefon.

Montalvo.

»Ich habe in den Nachrichten vom Mord an Heather Carmello erfahren. Es wäre mir lieber gewesen, Sie hätten mir davon erzählt. Im Geiste einer guten Zusammenarbeit.«

Er war ganz offensichtlich verärgert. Sie hätte ihm tatsächlich davon erzählen sollen, da sie selbst die Informationen, die sie von ihm bekam, durchaus schätzte. Na ja, da konnte man nichts machen. Sie hatte genug Schwierigkeiten. »Ich war beschäftigt.«

»Wenn Sie mich nicht ausschließen würden, wären Sie nicht so beschäftigt.«

»Montalvo, ich will Sie nicht hier haben, damit Sie Joe nicht stören. Er hat so schon reichlich Probleme. Halten Sie sich raus.«

Er würde nicht aufgeben. Sie überlegte. »Meine Mutter. Sandra Duncan. Sie lebt in einer Eigentumswohnung in der Innenstadt. Ich glaube nicht, dass sie für Jelak ein Ziel wäre, aber wir sollten sie trotzdem schützen. Würden Sie das für mich tun, Montalvo?«

»Ihre Mutter. Sie haben nie sonderlich viel von ihr erzählt. Stehen Sie sich nicht nahe?«

»Es war eine stets wechselhafte Beziehung. Zurzeit sehe ich sie nicht oft. Aber es gab Zeiten, da waren wir uns sehr nah.«

»Als Ihre Bonnie noch lebte?«

»Ja. Würden Sie sich darum kümmern, dass sie in Sicherheit ist?«

»Darauf können Sie sich verlassen.« Er schwieg einen Moment. »Sie können sich immer auf mich verlassen, Eve.« Damit legte er auf.

Eve wandte sich ab. »Ich sollte Sandra wohl besser anrufen und ihr sagen, dass sie eine Weile lang unter Überwachung steht. Oder vielleicht doch nicht. Montalvo wird vorsichtig sein, und ich will sie nicht erschrecken.«

»Ich konnte mich nie daran gewöhnen, dass du sie Sandra nennst.«

»Das wollte sie so, als ich älter wurde. Dann fühlt sie sich jünger. Sie fühlt sich noch immer jung. Das ist wichtig für sie, seit sie zum vierten Mal verheiratet ist.«

»Du hast nie ›Mutter‹ zu ihr gesagt?«

»Nein, aber Bonnie hat sie ›Grandma‹ genannt. Das hat sie nicht gestört. Nichts, was Bonnie getan hat, hat sie gestört.« Sie sah auf die Karte, die Caleb ihr gegeben hatte. »Und jetzt rufe ich besser mal Caleb an.«

»Lass mich das machen. Du willst vielleicht lieber arbeiten.« Jane nahm die Karte. »Ich gehe raus auf die Veranda. Ich muss mich ein paar Minuten ausruhen. Es war ein ziemlich anstrengender Vormittag.«

Eve sah ihr nach, als sie durch die Haustür verschwand. Dann wandte sie sich ihrer Rekonstruktion zu. Sie wollte gern arbeiten, aber sie war nervös und unkonzentriert.

Montalvo?

Nein, nicht Montalvo. Es war das Gespräch über ihre Mutter und über Bonnie gewesen. Das hatte zu viele Erinnerungen wachgerufen. Mit dem Tag von Bonnies Geburt waren für Eve und ihre Mutter goldene Zeiten angebrochen. Ihr kleines Mädchen schien jede Bitternis und Ablehnung zu verdrängen, die Eve einer Mutter gegenüber verspürte, die, seit sie sich erinnern konnte, cracksüchtig gewesen war. Nur die Liebe zu Bonnie hatte ihre brüchige Beziehung zusammengehalten. Es war Bonnie gewesen, die ihre Großmutter zu einer schmerzlichen Entziehungskur bewegt hatte, damit sie bei ihrer Enkelin sein konnte. Eve konnte sich erinnern, dass Sandra auch an diesem letzten Tag im Park vor Glück gestrahlt hatte, als sie Bonnie auf der Schaukel anschubste.

 

»Das reicht.« Sandra trat zurück und wischte sich über die Stirn. »Ich werde allmählich zu alt für so etwas. Sag deiner Mutter, dass sie dich anschubsen soll, Bonnie.«

»Schon okay. Ich habe ohnehin keine Lust mehr.« Bonnie sprang von der Schaukel. »Danke, Grandma.« Sie rannte zu Eve, die auf der Bank saß. Ihre Wangen leuchteten rosig, und ihre Augen strahlten. »Hast du gesehen, wie hoch ich es geschafft habe? Wir sollten uns ein Lied ausdenken über Schaukeln und wie man immer höher schwingt, höher und höher.«

»Das gibt es bestimmt schon. Aber wir könnten uns ein anderes ausdenken.«

»Und über die Sonne und die Bäume und … ach, alles!«

»Das wird aber ein langes Lied. Aber wir versuchen es heute Abend mal. Es ist bald Zeit, nach Hause zu gehen, Kleines.«

»Noch nicht.« Sie stürzte sich in Eves Arme. »Zehn Minuten noch, Mama. Bitte, bitte, bitte. Ich will mir noch ein Eis holen.«

»Wo?«

»Da drüben. An der Bude neben dem großen Baum.«

Eve entdeckte einen weißen Stand mit roter Aufschrift, um den eine Menge Eltern und Kinder standen. »Na gut. Gehen wir.«

»Ich kann alleine gehen.« Bonnie rannte bereits auf den Eisstand zu und stürmte durch die Leute. »Grandma hat mir Geld gegeben. Ich bin gleich wieder da.«

Eve lächelte Sandra an. »Grandma hat ihr Geld gegeben? Grandma verwöhnt sie viel zu sehr.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Das geht doch gar nicht. Was ist schon ein Eis?« Sie lächelte. »Ich finde sie so süß in diesem Bugs-Bunny-T-Shirt. Ich habe schon überlegt, ob wir es uns leisten könnten, dieses Jahr mit ihr nach Disney World zu fahren.«

»Ich bin gerade ziemlich knapp bei Kasse.« Aber die Vorstellung, wie Bonnie angesichts all dieses Zaubers staunen würde, war sehr verlockend. »Vielleicht wenn ich mir einen zweiten Job suche …«

»Nur für kurze Zeit. Ich weiß, dass du an der Schule schon hart genug arbeitest«, sagte Sandra. »Aber sie wäre begeistert von Aschenputtels Schloss.«

Nicht nur begeistert, sondern fasziniert. Und eine faszinierte Bonnie war unwiderstehlich. »Uns wird schon etwas einfallen.«

»Ich kann es gar nicht erwarten, ihr davon zu erzählen«, sagte Sandra. Sie sah zu dem Eisstand hinüber, der jetzt wieder zu sehen war, nachdem sich die Menge auflöste. »Darf ich es ihr sagen, Eve?«

Sie war auf so kindliche Weise aufgeregt wie Bonnie, als sie zum Eisstand gelaufen war. »Na gut, aber sag ihr noch nicht wann. Ich muss erst sehen, was ich –«

»Wo ist sie?«, unterbrach sie Sandra. »Ich sehe sie nicht.«

»Was?« Eve runzelte die Stirn und schaute erschrocken zum Eisstand. »Aber sie war gerade noch da. Ich habe sie vor dem Stand gesehen.«

Aber jetzt war sie nicht mehr da. Kein kleines Mädchen mit wilden roten Locken in einem Bugs-Bunny-T-Shirt.

Eve sprang voller Panik auf.

»Bonnie!«

 

Ruhig bleiben. Selbst jetzt noch konnte die Erinnerung an diesen entsetzlichen Augenblick den ganzen Alptraum wachrufen.

Tu etwas. Eve drehte sich schnell zu der Rekonstruktion von Matt um, die auf dem Sockel stand. Rasch begann sie hektisch zu arbeiten. »Hilf mir, Matt.« Ihre Finger glätteten den Ton. »Dann helfe ich dir auch.«

 

»Wir haben es repariert.« Der stämmige Handwerker von Georgia Power kam mit einem Klemmbrett in der Hand auf Patty zu. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Er hielt einen Draht hoch. »Ich musste das Stück abschneiden und einen neuen Draht einspleißen.«

»Kein Problem.« Patty konnte den Blick nicht von dem Draht abwenden, der sich in seiner Hand schlängelte. »Sie haben das sauber gemacht.«

»Das war ich nicht. Er war bereits vor dem Haus abgeschnitten.« Er schüttelte den Kopf. »Glatt durchgeschnitten.«

Sie erstarrte. »Wie?«

»Fragen Sie mich nicht. Wer immer das getan hat, hat etwas von seinem Job verstanden, sonst hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.«

»Jemand hat ihn abgeschnitten?« Sie sah erstaunt aus. »Ich dachte, das Unwetter hätte das verursacht.«

»Heute Nacht hatten wir in dieser Gegend keine Stromausfälle.«

»Das haben sie mir in Ihrem Büro auch gesagt, als ich deswegen angerufen habe«, meinte sie abwesend und schaute noch immer den Draht an.

»Sie hätten ihnen schon glauben können.« Er reichte ihr das Klemmbrett und einen Stift. »Unterschreiben Sie hier.«

Sie unterschrieb und gab ihm das Brett zurück. »Und Sie sind sicher? Es kann nicht sein, dass etwas draufgefallen ist? Vielleicht ein Ast, der den Draht abgerissen hat und –«

»Er war sauber abgeschnitten«, wiederholte der Mann. »Vielleicht sollten Sie das bei der Polizei melden.« Sein Blick wanderte hinüber zum Park jenseits der Straße. »Hier passieren in letzter Zeit schlimme Dinge.«

»Das werde ich vielleicht tun.«

»Wollen Sie ihn haben?« Er hielt den aufgerollten Draht hoch.

»Nein.« Du liebe Güte, er erinnerte sie tatsächlich an eine Schlange. Albern. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Es gab niemanden, der praktischer veranlagt war und weniger zum Phantasieren neigte als sie. »Werfen Sie ihn auf dem Weg hinaus einfach in die Abfalltonne.«

»Mach ich.«

Sie sah ihm nach, als er durch das Tor hinausging. Dann folgte sie ihm langsam. Sie sollte wieder zu Großvater gehen. Er war schon viel zu lange allein. Ohne Zweifel würde das wieder einen seiner Tobsuchtsanfälle nach sich ziehen.

Der zusammengerollte Draht lag auf der Abfalltonne, als sie zum Haus kam.

Hier passieren in letzter Zeit schlimme Dinge.

Oh ja, das stimmte. Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass diese schlimmen Dinge näher kamen.

Hör auf, diesen verdammten Draht anzustarren. Sie hob die Schultern, als wollte sie eine Last abschütteln. Dann geh jetzt rein und besänftige Großvater und mach ihm sein Abendessen. Und dann würde sie darüber nachdenken, was sie unternehmen sollte.

Falls dieser irre Mistkerl versuchte, sie zum Opfer zu machen, dann würde sie einen Weg finden, ihm eine hübsche Überraschung zu bereiten.

 

Seth Caleb wartete bereits am Empfang von Rico’s, als Eve und Jane ins Restaurant kamen.

Er lächelte. »Das ist ein interessanter Ort. Sombreros an der Wand und an jedem Tisch Polizisten.«

»Das Essen ist gut, und es ist nicht weit vom Revier entfernt«, sagte Eve. »Joe müsste jeden Moment kommen.«

»Hier ist er schon«, sagte Joe hinter ihr. »Ich wäre schon früher gekommen, aber Ed Norris hat mich aufgehalten, als ich gerade gehen wollte.« Er winkte einen der Kellner herbei. »Einen Tisch bitte, Marco.«

Marco lächelte. »Sofort, Detective. Dauert nur einen Moment.«

»Warum treffen wir uns hier?«, wollte Caleb wissen. »Wollen Sie mich mit dieser Zurschaustellung gesetzeshüterischer Macht einschüchtern?«

»Wenn Sie Grund dazu haben«, sagte Joe. »Ich wollte nicht warten, bis ich zu Hause bin, um Sie zu befragen. Es könnte sein, dass ich noch einmal in die Dienststelle muss, um etwas von dem, was Sie mir erzählen, zu überprüfen.«

»Was für ein Vertrauen.« Caleb winkte Jane und Eve, ihnen zu folgen, als der Kellner sie zum Tisch führte. »Aber wenigstens glauben Sie, ich hätte etwas beizutragen.« Er wartete, bis sie alle saßen und etwas zu trinken vor sich hatten, ehe er fortfuhr: »Erzählen Sie mir von Heather Carmello. Die Information in den Medien war etwas dürftig.«

»Wir haben den Medien alles gesagt. Sie war eine Prostituierte, die normalerweise in den Bars an der Peachtree arbeitete. Gleiches Vorgehen wie beim Norris-Mord.«

Caleb sah ihm direkt in die Augen. »Außer?«

»Kein Kelch. Hat das eine Bedeutung?«

»Oh ja.«

»Und was bedeutet es dann?«, zischte Joe, als Caleb seine Bemerkung nicht sofort erläuterte. »Muss ich Ihnen das erst aus der Nase ziehen?«

»Nein, ich wäre nicht hier, wenn ich nicht vorhätte, Ihnen alles zu sagen, was Sie wissen müssen.«

»Er ist sauer auf dich, Joe«, sagte Jane offen. »Er will dich erst ein bisschen nerven, ehe er dir sagt, was du wissen willst.«

»Stimmt genau.« Caleb lächelte Jane zu. »Sehr aufmerksam von Ihnen.« Er wandte sich wieder an Joe. »Aber für den Moment reicht es. Was wollen Sie wissen?«

»Erzählen Sie mir von Jelak in Fiero. Erzählen Sie mir von dem Ritual. Erzählen Sie mir von dem Kelch.«

»In welcher Reihenfolge?«

Eve hatte längst genug. »Hören Sie auf, Ihre Spielchen mit uns zu treiben«, sagte sie knapp. »Gestern Nacht wurde eine Frau umgebracht. Sie glauben, auch Jane könnte auf seiner Liste stehen. Ich will nicht, dass sie in Gefahr ist, weil wir nicht genug wissen.«

»Sie haben nicht erwähnt, dass Sie das eigentliche Zielobjekt sind.« Caleb lächelte. »Das finde ich seltsam.«

»Erzählen Sie uns alles«, sagte Eve.

Caleb zuckte mit den Achseln. »Auf der ganzen Welt gibt es Leute, die von Vampiren fasziniert sind. Hier bei Ihnen in den Vereinigten Staaten liebt man sie besonders. Filme, Erfolgsbücher, Fernsehserien. Kein Wunder, dass Jelak von ihnen besessen ist.«

»Das ist Unterhaltung«, sagte Jane. »Niemand glaubt wirklich daran.«

»Die Leute glauben, was sie glauben wollen. Vor allem wenn sie psychisch labil sind. Bestimmt haben Sie inzwischen festgestellt, dass Jelak Blut besonders toll findet. Schon als Junge hat er Ampullen mit Blut gesammelt.«

»Das haben wir erst kürzlich erfahren. Woher wissen Sie das?«, fragte Eve.

»Ich hatte ein äußerst gewalttätiges Gespräch mit Jelaks Lehrer, Maestro Franco Donari. Jelak hat Donari während des Unterrichts sein Innerstes offenbart.«

»Was unterrichtete er?«, fragte Joe.

»Den Weg, das Spiel zu gewinnen«, antwortete Caleb leise.

»Ein Spiel haben Sie schon mal erwähnt. Was meinen Sie bloß damit?«, wollte Eve wissen.

»Das Spiel des Blutes. Der Pfad, der Jelak zur Erfüllung seines Herzenswunsches führt.« Er bemerkte Joes ungeduldigen Gesichtsausdruck. »Darauf komme ich noch. Geben Sie mir ein bisschen Zeit.« Er nahm einen Schluck von der Margarita, die der Kellner ihm hingestellt hatte. »Franco Donari war Mitglied eines Kultes, der im italienischen Fiero angesiedelt war. Es war eine recht kleine Gruppe, nur ein Dutzend Leute vielleicht, die behaupteten, sie wären Reinblütige, und die einander mit allen möglichen Ritualen und Zeremonien verherrlichten.«

»Sie hielten sich allen Ernstes für Vampire?«

»Ja, oder auf dem Weg dorthin. Praktischerweise vergaßen sie die Geschichten über die Wirkung von Knoblauch oder Kreuzen oder das Schmelzen im Sonnenlicht. Das wäre ja unangenehm gewesen. Aber sie wollten die Macht und die Furcht.«

»Lächerlich.«

»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen, aber sie hatten sich in diese Idee verbissen und sie ihren Zielen gemäß weiterentwickelt. Sie hielten sich für Adepten und für etwas Besseres als der Rest der Menschheit. Als Jelak sie entdeckte, glaubte er eine Heimat gefunden zu haben. Aber zu seinem Ärger musste er feststellen, dass es nicht so einfach war. Er konnte der Bruderschaft nicht einfach beitreten. Er musste sie sich verdienen.«

»Durch Morde?«, fragte Jane.

Caleb nickte. »Ja, und das Trinken von Blut. Die Lehren des Kults propagierten, dass ewiges Leben und gottgleiche Macht nur erreicht werden konnten, wenn man möglichst vielen außergewöhnlichen Opfern Leben und Blut nahm. Auf diese Weise konnte man ihre Kraft und Stärke aufnehmen, bis man diesen erhabenen Zustand erreichte. Das war als eine Art Odyssee gedacht, die Jahre dauern konnte.«

»Gestern Abend hat er eine Prostituierte getötet«, sagte Joe. »Das war nicht gerade sonderlich wählerisch.«

»Nein, das könnte eine Geste der Herausforderung gewesen sein. Oder er nahm sie sich, um seinen Hunger zu stillen.«

»Hunger?«, fragte Eve.

»Donari behauptet, dass Jelak nach Jahren ständigen Bluttrinkens möglicherweise einen Appetit darauf entwickelt hat, der gestillt werden muss. Darum sagte Donari zu ihm, er solle sich einen Partner suchen, der ihn mit dem Nötigsten versorgt und ihm die Freiheit gibt, seine ungewöhnlichen Morde zu begehen.« Er bestellte sich einen weiteren Drink. »Jelak erklärte, da jemanden zu haben. Er nannte keinen Namen, sonst hätte ich ihn schon viel früher gefunden.«

Eve sagte: »Kistle.«

»Vermutlich. Ich wette, dass er Kistle wie ein Aasgeier gefolgt ist.« Er sah Eve über den Tisch hinweg an. »Er hat Kistle die Arbeit machen lassen und sich das Blut, das er benötigte, von dessen Opfern geholt. Das diente natürlich nur zum Stillen des Hungers. Wenn ich es recht verstehe, hat Kistle vor allem Kinder getötet, und die haben gewöhnlich keine Zeit, etwas Besonderes zu werden.«

Eve zuckte zusammen. »Da muss ich widersprechen. Jedes Leben ist etwas Besonderes.«

Er nickte. »Ich spreche aus Jelaks Blickwinkel.«

»Das ist eine abscheuliche Sichtweise.« Sie blickte in ihr Glas. »Also musste er etwas tun, als wir Kistle verfolgt haben?«

»Sie haben seinen Partner getötet, und das war höchst unpraktisch für ihn. Jetzt musste er die einfachen Morde wieder selbst begehen, und das hielt ihn davon ab, sich auf sein ultimatives Ziel zu konzentrieren.«

»Der Kelch«, erinnerte ihn Joe.

»Der Kelch war bei dem Kult Teil des Rituals. Der Mann vor dem Tisch war derjenige, der das Geschenk des Lebens nahm. Die anderen Männer am Tisch standen für die verschiedenen Stufen, die der Kandidat erreichen musste, ehe er am Ziel war. Der Kelch wurde nur für besondere Zwecke verwendet. Ein wirklich außergewöhnlicher Mord oder vielleicht eine Warnung. Bei jemandem, der als wertlos galt, wurde er nie eingesetzt.«

»Der Kelch in meinem Kühlschrank«, murmelte Eve.

»Eine Warnung«, sagte Caleb. »Und der Tod von Nancy Jo Norris ebenfalls. Er sieht Sie als etwas ganz Besonderes an und wollte sichergehen, dass Sie den Zusammenhang herstellen. Aber offenbar fand er Nancy Jo Norris’ Blut außergewöhnlich, weil er ihr den Kelch hinterlassen hat.«

»Und die Prostituierte im Park?«

»War das vollständige Ritual nicht wert.«

Jane fragte: »Dieser Donari hat Ihnen jedes Detail seines Kults verraten, nicht wahr?«

»Dazu brauchte es ziemlich viel Überredung. Ja, er war sehr hilfreich.«

»Sie sagten, er sei Jelaks Lehrer gewesen. Was genau hat er ihm beigebracht?«

»Einbrechen, das Öffnen von Schlössern, die Kunst, sich einen Partner zu wählen, das Aufschlitzen einer Kehle innerhalb von zwei Sekunden. Und jede Menge anderer Fähigkeiten.«

»Alle sehr nützlich für die angestrebte Laufbahn.« Jane beobachtete Calebs Gesichtsausdruck. »Und wo ist Donari jetzt?«

»Er weilt nicht mehr unter uns.« Er begegnete ihrem Blick. »Genau wie die anderen Mitglieder des Kults. Nachdem Donari tot war, verließen sie Fiero in großer Eile. Es hat mich Jahre gekostet, sie alle zu erwischen.«

»Sie sagten, es waren ein Dutzend Mitglieder«, sagte Eve.

»Ja.« Er hob sein Glas. »Und sie haben alle danebengestanden und zugelassen, dass Jelak mit Maria Givano seine Experimente veranstaltete. Ich fand es an der Zeit, sich von diesem besonderen Kult zu verabschieden.«

Er hat ungewöhnliche Kräfte.

Eve erinnerte sich an Janes Worte, als sie Caleb ansah. Tödliche Macht und eine rücksichtslose Energie.

»Dann fehlte der Kelch, weil Jelak Heather Carmello seiner nicht würdig befunden hat«, bemerkte Joe.

»Das ist mehr als wahrscheinlich. Sie können sicher sein, wäre unsere schöne Jane das Opfer gewesen, hätten wir einen Kelch gefunden.«

»Seien Sie still«, sagte Joe. »Das war unnötig, Caleb.«

»Nein, aber es stört Sie mehr als Jane.« Er prostete Jane zu. »Was, wie ich zugebe, meine Absicht gewesen sein könnte. Nun, jetzt habe ich Ihnen alles erzählt, was ich weiß, Quinn!«

»Vielleicht. Außer über Sie selbst.«

Calebs Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich dachte, ich wäre sehr offen gewesen.«

»Vielleicht zu offen. Sie sind nicht dumm, aber dennoch haben Sie gerade einen mehrfachen Mord zugegeben.«

»Das müssen Sie erst beweisen. Und wie Sie schon sagten, ich bin nicht so dumm, das zuzulassen. Ich wollte Ihnen nur –«

Janes Handy klingelte. »Tut mir leid, das muss ich annehmen. Es ist Patty Avery.« Sie schob ihren Stuhl zurück. »Ich telefoniere in der Bar.«

Joe sah ihr nach, wie sie durchs Restaurant ging, dann wandte er sich wieder an Caleb. »Was wollten Sie mir …«

»Ich wollte Ihnen klarmachen, dass ich fest entschlossen bin, Jelak zu erwischen.« Caleb beugte sich vor, seine dunklen Augen glitzerten eindringlich. »Was meinen Sie, Quinn?«, sagte er leise. »Wir sollten auf die Jagd gehen!«

Verdammt, er war wirklich sehr überzeugend. Eve konnte ihren Blick nicht von seinem Gesicht lösen. In diesem Moment war seine Präsenz beinahe hypnotisch.

Aber auf Joe hatte sie offenbar keine Wirkung. Er lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. »Ich werde auf die Jagd gehen. Aber Sie sind nicht eingeladen.«

»Doch, das bin ich. Sonst hätten Sie mich heute Abend nicht herbeizitiert. Sie sagten, Sie wollten Informationen. Die haben Sie bekommen. Jetzt lassen Sie mich helfen, ihn zu fassen.«

»Damit Sie ihn umbringen können. Wir wollen nicht das Gleiche, Caleb.«

»Doch, das wollen wir. Ich habe Nachforschungen über Sie angestellt, Quinn. Ehemaliger SEAL, früherer FBI-Agent. Das ist ein seltsamer Balanceakt zwischen Gewalt und Gesetz. Was ist Ihnen angenehmer?«

»Das geht Sie nichts an.«

Caleb lächelte. »Keine Sorge. Ich glaube, ich weiß es.«

»Woher?«, fragte Joe sarkastisch. »Fühlen Sie es? Wie bei Jelak?«

»Nein, das gelingt mir nicht mit jedem. Was die menschliche Natur angeht, da bin ich noch Novize.« Er hob den Kopf und sah, dass Jane durch das Restaurant zum Tisch zurückkam. »Aber es braucht keinen Fachmann, um festzustellen, dass Ihre Jane sich Sorgen macht.«

Und zwar nicht wenig, dachte Eve, als Jane zu ihnen trat.

»Ist etwas mit Patty?«

Jane nickte. »Ich fahre zu ihr. Sie hat festgestellt, dass ihre Stromleitung gestern Nacht absichtlich durchgeschnitten wurde. Sie will die Polizei nicht einschalten, weil sie weiß, dass sich ihr Großvater aufregen würde. Ich muss sie davon überzeugen, dass sie es trotzdem tut.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Ich nehme ein Taxi. Wir treffen uns dann zu Hause.«

»Nein, ich komme mit«, sagte Eve.

Jane schüttelte den Kopf. »Es wird schon schwierig genug für Patty, wenn ich komme. Du hast ja gesehen, wie sich ihr Großvater benimmt. Er will einfach niemanden im Haus haben. Ich will einen Tobsuchtsanfall wegen dir vermeiden.«

»Geht es um Ihre Freundin Patty?«, wollte Seth Caleb wissen. »Und das ist gestern Nacht passiert?«

»Patty Avery, ja.«

»Merkwürdig.«

Eve sah ihn aufmerksam an. »Woran denken Sie?«

»Ich glaube an Zusammenhänge. Und bestimmt nicht an Zufälle. Ist das das Einzige, was ihr gestern Nacht zugestoßen ist?«

»Ja, sie dachte, das Unwetter wäre schuld an dem Stromausfall.«

»Und jetzt macht sie sich Sorgen?«, sagte Caleb.

»Sie wohnt ganz nahe am Piedmont Park«, sagte Eve.

»Zusammenhänge«, murmelte Caleb. Er legte den Kopf schräg. »Jane, würden Sie sie zurückrufen und sie etwas fragen?«

»Was?«

»Sie soll in ihren Kühlschrank schauen.«

Eve wurde eiskalt. »Und was soll sie dort suchen?«

»Das wissen Sie doch«, sagte Caleb sanft. »Er hielt sein letztes Mordopfer für nicht würdig. Es fehlt noch ein Kelch. Hätte er Ihre Freundin für würdig erachtet? Ist sie stark und klug?«

»Ja«, sagte Jane.

»Na mach schon, ruf sie an«, sagte Joe kurz angebunden.

»Ihr Glaube ist rührend.« Caleb lächelte. »Glauben Sie auch an Zusammenhänge, Quinn?«

»Ich glaube an die Idee der Ausschließung.«

»Ich hoffe, Sie irren sich.« Jane wählte bereits. »Verdammt, ich hoffe wirklich, dass Sie sich irren.« Sie sprach ins Telefon. »Hi, ich bin schon unterwegs, aber könntest du mir noch einen Gefallen tun? Würdest du in deinen Kühlschrank schauen, ob du da drin etwas findest? Danke.« Sie wartete, und als Patty wieder ans Telefon ging, lächelte sie. »Das ist gut. Bist du sicher?« Ihr fiel etwas ein. »Schau mal ganz hinten, vielleicht im untersten Fach.«

Sie wartete wieder.

»Scheiße.« Sie holte tief Luft. »Nein, fass ihn nicht noch einmal an. Ich sage Joe Bescheid, er schickt jemanden, der ihn abholt. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.« Sie machte eine Pause. »Schließ die Türen ab, Patty.« Sie legte auf und sah Caleb an. »Goldener Kelch mit Gravur. Blutreste. Woher wussten Sie das?«

Joe stieß einen gemurmelten Fluch aus und griff nach seinem Telefon.

Caleb zuckte mit den Achseln. »Eine Vermutung. Zusammenhänge. Er wollte eine Rechtfertigung und Rache. An Sie ist er nicht rangekommen, daher hat er sich an Ihre Freundin Patty rangemacht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber dann ist etwas schiefgegangen, und er konnte auch sie nicht erwischen. Darum hat er sich ein anderes Mordopfer gesucht und den Kelch nur als Drohung benutzt. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mitkäme und ihn mir ansehe?«

»Nein.« Joe sprach am Telefon mit seiner Dienststelle, aber er blickte auf und sagte: »Das ist jetzt eine offizielle polizeiliche Ermittlung.«

»Und an mir ist nicht Offizielles«, sagte Caleb. »Aber ich habe Ihren fehlenden Kelch gefunden, ehe er die Möglichkeit hatte, ihn bei einem würdigeren Opfer einzusetzen. Zählt das gar nichts?«

»Das zählt eine ganze Menge«, sagte Jane. Sie sah Joe an. »Patty ist meine Freundin. Möglicherweise ist sie wegen mir in Schwierigkeiten. Mach du auf der offiziellen Ebene, was du willst. Aber ich hole mir Hilfe, wo ich sie kriegen kann.« Sie wandte sich an Caleb. »Es macht mir nichts aus, ob Sie ihn hören, riechen oder fühlen können. Hauptsache, Sie erwischen Jelak.«

»Ich versichere Ihnen, dass ich Jelak weder hören noch riechen kann. Das Fühlen ist schon schlimm genug. Darf ich Sie zu Patty fahren?«

»Ja.« Jane sah Eve an. »Das ist schon in Ordnung. Begreifst du das nicht? Er ist voller Hass, aber gegen niemanden als Jelak.«

»Aber er würde jeden von uns opfern, um an Jelak heranzukommen.« Eve stand auf. »Ihr Großvater ist mir egal. Ich komme mit. In Pattys Haus werden sich die Polizei und die Spurensicherer ohnehin auf die Füße treten.« Sie warf Caleb einen Blick zu. »Sie können uns hinterherfahren.«

»In Ordnung.« Auch er sprang auf. »Dann sehen wir uns dort, Quinn.«

»Das werden wir bestimmt«, sagte Joe und beendete mit einem grimmigen Gesichtsausdruck sein Telefongespräch. »Und Sie werden mir nicht in die Quere kommen.«

»Wie dem auch sei, ich bin schon froh, wenn ich hinter Ihnen herlaufen darf.«

Eve schüttelte den Kopf. Sie dachte daran, wie Caleb, kraftvoll und eindringlich, Joe vorhin zur Jagd eingeladen hatte.

Wenn Caleb »hinterherlief«, dann war das nur eine Täuschung, damit er bekam, was er wollte.

Jane sah Eve an und las ihre Gedanken. »Wir müssen ihm nicht vertrauen. Er kann Patty helfen. Und nur das zählt, oder?«

Eve nickte. »Das ist das Wichtigste.«