11
Wie schade, dass Ihre Jane nicht hier ist. Sie bringt immer eine gewisse Spannung in ein Treffen«, sagte Caleb und schob seinen Stuhl am Tisch nach hinten. »Das Essen war köstlich.«
»Nudeln mit Hackfleisch und Fertigsoße? Wohl kaum. Das ging bloß schnell«, sagte Eve.
»Herzhaft, geschmackvoll und sättigend. Mehr braucht es nicht.«
»Essen ist Ihnen offenbar nicht besonders wichtig.«
»Manchmal schon. Normalerweise nicht.« Er lächelte. »Aber ich freue mich, dass Sie mich nach Hause eingeladen haben. Das zeigt eine gewisse Akzeptanz.« Er sah Joe an. »Und Vertrauen?«
»Das ist von einigen Faktoren abhängig«, sagte Joe. »Wie ist das bei Kevin Jelak? Ist ihm Essen wichtig?«
»In diesem Stadium überhaupt nicht mehr. Möglicherweise wird ihm schon nach ein paar Bissen übel. Er lebt von Blut.«
»Das kann er nicht«, sagte Eve. »Das ist unmöglich.«
»Eine Weile lang geht es noch. Er wird immer dünner, aber seine enorme Energie hält ihn aufrecht.« Er wandte sich an Joe. »Warum haben Sie mich das gefragt?«
»Ich wollte wissen, wie weit sich Jelak auf diesen Unsinn eingelassen hat.«
»Vollständig.« Er sah Eve an. »Könnten wir den Kaffee auf der Veranda trinken? Mir gefällt Ihr herrlicher Ausblick so gut.«
»Das können wir gern.« Eve stand auf. »Solange Sie unseren Fragen nicht ausweichen.«
»Gott bewahre! Mich ermutigt die Tatsache, dass Quinn meint, ich könnte beim Ausloten von Jelaks Psyche nützlich sein.« Er erhob sich. »Ich muss kurz telefonieren. Wir sehen uns dann auf der Veranda.«
»Weicht er aus?«, fragte Eve Joe, als Caleb das Zimmer verließ.
Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Aber wir werden es noch feststellen.« Er holte das Tablett und die Kaffeekanne aus dem Schrank. »Weil ich ihm nämlich einen ganzen Haufen Fragen stellen werde.«
Caleb beendete sein Telefongespräch gerade, als sie auf die Veranda traten. »Es wird Sie freuen zu hören, dass es Jane gut geht. Sie sind gerade mit dem Essen fertig, Charlie Brand hat gekocht.« Er lächelte. »Keine Nudeln mit Fertigsoße.«
»Sie haben Jane angerufen?«, fragte Eve. »Warum?«
»Ich möchte sie im Blick behalten«, sagte Caleb und nahm die Tasse, die Eve ihm reichte. »Für Jelak scheint sie wichtig zu sein. Mir ist sie auch wichtig.«
»Ich wundere mich, dass sie überhaupt mit Ihnen gesprochen hat«, meinte Eve.
»Sie weiß, dass ich nur ihr Bestes will. Sie war ungeduldig, aber nicht ärgerlich. Sie ist eine sehr kluge Frau.« Er setzte sich auf die oberste Treppenstufe und deutete auf die Schaukel. »Setzen Sie sich. Bestimmt sind auch Sie schon ganz ungeduldig, Quinn. Sie möchten Antworten. Was Jane betrifft, wollte ich nur sichergehen.«
»Das wollen wir auch«, sagte Joe. »Aber ein Polizist ist bei ihr.«
»Und das ist vermutlich Abschreckung genug. Trotzdem, Jelak nähert sich dem Höhepunkt und könnte einen Verzweiflungsangriff wagen.« Caleb trank einen Schluck Kaffee. »Sie haben sich nach Jelaks Verhältnis zum Essen erkundigt.« Er lachte in sich hinein. »Bestimmt denken Sie dabei an schlechte Vampirfilme und an die Romane, die Sie über Vampire gelesen haben, und an deren übliche Eigenschaften. Zum Beispiel, dass Vampire niemals essen.«
»Sie haben gesagt, dass das auf Jelak auch zutrifft«, erklärte Eve.
»Zu diesem Zeitpunkt stimmt das. Sein Meister Franco Donari hat ihm beigebracht, dass er kurz vor der Vollendung nur noch Hunger nach Blut verspüren sollte. Da er absolut sicher ist, dass er kurz vor diesem erhabenen Zustand steht, muss er das natürlich untermauern, indem er jedes Zeichen, das darauf hinweisen könnte, bei sich erkennt.«
»Mit anderen Worten, er stellt sich selbst ein gutes Zeugnis aus«, sagte Joe. »Was geschieht, wenn er diese Vollendung nicht erreicht? Dann verhungert er.«
»Aber erst nach sehr langer Zeit. Der Geist ist zu unglaublichen Leistungen fähig.«
»Hatten Sie nicht gesagt, der Vampirkult, dem Jelak anhängt, glaubt nur an die angenehmeren Aspekte der Legenden? Verhungern kommt mir ziemlich extrem vor.«
»Aber erst im letzten Stadium seiner Wiedergeburt.«
»Wiedergeburt? Den Begriff haben Sie noch nie verwendet.«
»Nicht? Vielleicht, weil er zu hochtrabend klingt.« Caleb lehnte sich an das Geländer. »Weitere Fragen, Quinn?«
»Glaubt er, dass ihm Tageslicht gefährlich werden kann?«
»Nein, aber er ist ein Nachtwesen, weil er da leichter an seine Beute kommt. Sehr vernünftig. Ich habe mich immer gefragt, ob das auch der Grund für diese Legende war.« Er lächelte. »Und er glaubt nicht daran, dass ihm Knoblauch, Zwiebeln oder Kreuze die Macht rauben können. Ein Pfahl durchs Herz? In diesem Stadium rechnet er eher mit einer Kugel. Darum ist er auch so vorsichtig.«
»In diesem Stadium?«, wiederholte Eve. »Was ist, wenn er wiedergeboren wird? Was glaubt er, wird ihm das bringen?«
»Er ist sicher, dass er auf dieser Welt alles bekommen wird, was er haben will.« Caleb trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Er wird zu einem Gott.«
»Das kann doch selbst ein Irrer wie Jelak nicht glauben«, sagte Joe.
»Er glaubt, was er glauben will. Der Kult hat ihn gelehrt, dass ihm durch die letzte Transformation unglaubliche Kräfte zufliegen. Es wird nichts geben, was er sich nicht einfach nehmen kann. Niemand wird mehr vor ihm sicher sein.«
»Das kann man leicht versprechen«, meinte Eve. »Und so etwas zieht ein Monster wie Jelak natürlich an.«
Er nickte. »Und wie alle Götter wird er für gewöhnliche Sterbliche unsichtbar sein.«
»Ach du lieber Himmel.«
»Ich habe nie behauptet, dass das Ganze nicht vollkommen absurd ist. Aber Sie können jetzt nachvollziehen, warum ein unausgeglichener Mensch auf die Idee kommen kann, den Versprechungen des Kults zu folgen.«
Unausgeglichen? dachte Eve. Jelak musste völlig den Verstand verloren haben, wenn er glaubte, er könnte sich in ein höheres Wesen verwandeln, indem er den Weg dorthin mit Blut und Tod besudelte. »Ich kann nicht verstehen, wie er überhaupt dazu kam, an diesen Kult zu glauben. Das ist doch haarsträubend. Sie haben erzählt, dass er in mehreren Ländern lebte, ehe er nach Italien ging und sich dieser Gruppe anschloss.«
»Diese Sekte gefiel ihm«, erklärte Caleb. »Dort sagte man ihm, was er hören wollte. Und außerdem hatte der Kult das Gütesiegel, dass es ihn schon seit Jahrhunderten gab. Bestimmt war Jelak davon überzeugt, dass er den wahren Hort der Vampire entdeckt hatte. Es gibt alle möglichen wilden Geschichten darüber, wie alles angefangen hat. Angeblich geht er bis ins vierzehnte Jahrhundert zurück, als die Bewohner von Fiero zwei gerade erst zugereiste Brüder dabei ertappten, wie sie mitten unter ihnen schwarze Magie praktizierten.«
»Was für eine Art von schwarzer Magie?«
»Blut. Macht. Tod. Die Dorfbewohner hatten panische Angst. Viele Jahrzehnte lang wurden sie von den Ridondo-Brüdern und deren Nachfahren praktisch zu Sklaven gemacht. Aber natürlich waren sie auch fasziniert und neidisch, sie setzten alles daran, diese Praktiken ebenfalls zu erlernen und nachzuahmen. Auf diese Weise entstand der Kult.«
»Sie behaupten, die Ridondos waren Vampire?«, fragte Eve voller Skepsis.
»Ich sage nur, dass die Legenden ihre schwarze Kunst mit Blut in Verbindung bringen.« Er zuckte die Achseln. »Und dass Jelak an diese Legenden geglaubt hat.«
»Bislang haben Sie uns überhaupt noch nicht erzählt, womit wir Jelak zur Strecke bringen könnten«, stellte Joe fest.
»Sie verstehen ihn jetzt besser«, sagte Caleb. »Sie wissen, dass er glaubt, töten zu müssen, um sich selbst am Leben zu erhalten. Sie wissen, dass er gerade fieberhaft versucht, sein Ziel einer Wiedergeburt zu erreichen. Und Sie wissen, dass er kurz davor steht.«
»Wie kurz?«, wollte Joe wissen.
»Selkirk war eine Entdeckung für ihn.« Er griff in seine Jackentasche und zog seine Digitalkamera heraus. »Bestimmt haben Sie schon gesehen, dass dieser Kelch anders ist.« Er reichte Eve die Kamera. »Er wusste sofort, auf was für einen Schatz er da gestoßen war.«
Eve betrachtete das Display. Auf den ersten Blick sah der Kelch nicht anders aus als die vorherigen, aber als sie genauer hinsah … »Da sitzen zehn Männer am Tisch statt neun.«
Caleb nickte. »Margaret Selkirk war für Jelak ein Schritt in die richtige Richtung. Ihr Blut hatte genug Kraft, um nicht nur seinen Hunger zu stillen, sondern ihn auch der Wiedergeburt einen Schritt näher zu bringen. Jetzt braucht er nur noch zwei.« Er sah Eve an. »Ich glaube, damit ist Ihre Freundin Patty aus dem Schneider.«
»Patty.« Sie bemerkte sofort, was er nicht gesagt hatte. »Aber nicht Jane.«
Er schüttelte den Kopf. »Und Sie auch nicht. Er benötigt noch zwei, bei denen er sich sicher ist. Und zwar schnell. Er hat keine Zeit mehr, noch ein anderes passendes Opfer zu suchen. Mit Margaret Selkirk hatte er Glück.«
»Wenn es ihm nicht gelingt, eine von beiden sofort zu erwischen, wird er dann unvorsichtig?«, wollte Joe wissen. »Könnten wir ihn fassen, indem wir ihn sorgfältig im Blick behalten?«
»Vielleicht«, sagte Caleb. »Oder er tötet weiter, um sich am Leben zu halten, bis eine von Ihnen beiden unvorsichtig wird. Das wäre dann ein Triumph für ihn. Wie viele Tote würden Sie ihm noch geben?«
»Keine«, sagte Eve klar.
»Dann sollten wir besser einen Weg finden, um ihn schnell zu erwischen. Wenn er entmutigt wird, könnte er anfangen, zufällig zu morden. Um zu beweisen, wie schlau er ist, wie nahe er daran ist, ein gottgleiches Wesen zu werden.« Sein Blick traf den von Joe. »Wie stellt man einem Tiger am besten eine Falle, Quinn?«
»Daran sollten Sie noch nicht einmal denken«, sagte Joe.
»Ich kann an nichts anderes denken. Sie etwa?« Caleb erhob sich. »Wir könnten es auf eine ganz sichere Art und Weise schaffen.« Dann stieg er die Stufen hinab. »Jetzt werden Sie wütend, darum gehe ich lieber. Ich rufe Sie morgen früh an.« Unterhalb der Veranda blieb er stehen. »Ich sehe Scheinwerfer auf der Straße. Das muss Jane sein.« Er wartete, bis Jane aus dem Einsatzwagen gestiegen war und auf ihn zukam. »Hallo. Hatten Sie einen schönen Abend?«
»Ganz nett. Charlie Brand kocht ausgezeichnet. Pattys Großvater war nicht völlig unerträglich, er schien Charlie sogar zu mögen. Und Patty war nicht allzu nervös wegen des Mordes.« Sie zuckte die Achseln. »Im Großen und Ganzen hätte es um einiges schlimmer sein können.«
»Und was denken Sie über den Mord an Selkirk?«, fragte Caleb.
»Was glauben Sie denn, dass ich denke?« Jane sah ihn an. »Das wissen Sie doch ganz genau, Caleb.«
Eve wurde plötzlich nervös, als sie die beiden beobachtete. Die Verbindung zwischen ihnen war überdeutlich. Was für eine Verbindung war das? Und wie war sie entstanden? Wie auch immer, das musste aufhören. Schnell sagte sie: »Jane, es ist noch Kaffee in der Kanne.«
Caleb warf ihr einen Blick zu und lächelte. »Ja, geben Sie ihr eine Tasse Kaffee. Es wird allmählich kühl. Gute Nacht, Jane. Ich bin froh, dass alles so gut gelaufen ist.« Dann schenkte er Eve ein freundliches Lächeln. »Gute Nacht, Eve. Danke, dass Sie mich hinzugezogen haben. Sie werden es nicht bedauern.«
»Das hoffe ich«, sagte Eve. »Aber ich habe immer wieder festgestellt, wenn ich einen Fehler gemacht habe, dann kann ich die Sache einfach zerschlagen und noch einmal neu anfangen.«
»Bei Ihren Rekonstruktionen?« Er nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Bei einer so wichtigen Aufgabe akzeptieren Sie nichts anderes als ein perfektes Ergebnis.« Er winkte noch einmal und ging zum Auto. »Und offensichtlich funktioniert das bei Ihnen. Ich muss erst abwarten, ob das bei mir auch so ist.«
Jane sah ihm nach, dann drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf. »Er scheint sich wie zu Hause zu fühlen. Da hat sich wohl einiges verändert. Ihr müsst mir erzählen, wie euer Abend gelaufen ist.«
»Aber natürlich«, sagte Eve. »Wir wissen jetzt mehr über Jelak und seine Besessenheit von Vampiren, als ich jemals wissen wollte. Du wirst das genauso bizarr finden wie wir.«
»Und habt ihr mehr über Caleb herausgefunden?« Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein. »Er ist selbst ein bisschen bizarr.«
»Höre ich da eine gewisse Ablehnung heraus?«, fragte Joe. »Gut. Bleib dabei. Wir sind uns einig, dass wir uns zusammentun, um Jelak zu fassen, aber wir vertrauen ihm nicht.«
»Es könnte der Moment kommen, an dem wir ihm vertrauen müssen«, sagte Jane. »Ich wüsste gern mehr über ihn. Du hast gesagt, ihr würdet ihn überprüfen.«
»Habe ich getan. Keine Vorstrafen. Siebenunddreißig Jahre alt. Eltern verstorben. Geboren in Luzern in der Schweiz, aber im schottischen Edinburgh aufgewachsen, bei seinem Onkel Rolf Mardell, mittlerweile ebenfalls verstorben. Sowohl seine Eltern als auch der Onkel haben ihm ein bedeutendes Vermögen hinterlassen. Er verbringt einen großen Teil seiner Zeit damit, um die Welt zu reisen.«
»Auf der Jagd«, sagte Jane leise.
Joe nickte. »Auf der Jagd.«
Jane wandte sich an Eve. »Du bist so still.«
»Ich glaube, ich sollte mich wieder an die Arbeit machen.« Sie stand auf. »Ich habe nicht genügend geschafft, ehe Joe mit Caleb kam.« Dann warf sie Jane einen gelassenen Blick zu. »Meine Arbeit habe ich unter Kontrolle. Was mir zurzeit Probleme bereitet, ist alles andere. Ich weiß nicht recht, was mit dir oder Joe gerade los ist.«
Jane sagte ruhig: »Was bei uns los ist, hängt damit zusammen, dass wir uns um dich sorgen.«
»Das genügt mir nicht. Ich will nicht außen vor bleiben, nur weil ihr glaubt, dann wäre ich sicherer.« Eve wartete die Antwort nicht ab. Sie ging ins Haus und begab sich in ihre Arbeitsecke.
Dort zog sie das Handtuch von dem Schädel. »Hallo, Matt. Ich bin froh, wieder mit dir allein zu sein. Wenn wir unter uns sind, ist alles viel einfacher.«
Das Gesicht des kleinen Jungen nahm unter ihren Fingern allmählich Gestalt an. Die sorgfältige Messung der Gewebetiefen war außerordentlich wichtig, aber Eves Stärke war das eigentliche Modellieren. Dabei war sie genau, verließ sich aber ebenso auf ihren Instinkt. In diesem Stadium arbeitete sie immer hochkonzentriert, fast wie in Trance. Vorhin, als sie der panische Schwächeanfall überkommen hatte, war sie bereits in dieser Phase gewesen. Er war umso beängstigender gewesen, weil er sie aus ihrer größten Leidenschaft, der Arbeit, herausgerissen hatte.
Konnte eine Besessenheit wie die von Jelak so stark werden, dass er die Kraft hatte, sie aus der Ferne zu erreichen?
Sie wusste es nicht. In letzter Zeit passierten in ihrer Umgebung noch viel seltsamere Dinge.
Gib dem verlorenen Kind ein Gesicht. Bring es nach Hause. Lass die Eltern endlich Abschied nehmen.
Halte Jelak fern. Halte auch Caleb fern, der beinahe ebenso störend war.
Halte vor allem den Gedanken an Blut fern.
»Ich glaube, wir haben Jelaks Wagen entdeckt«, sagte Schindler, als Joe am nächsten Morgen den Einsatzraum betrat. »Er sieht so aus wie derjenige, den die Überwachungskamera im Perimeter-Einkaufszentrum aufgenommen hat. Ein alter Lincoln Town Car. Könnte von ’93 sein.«
Joe erstarrte. Verdammt, endlich ein Durchbruch. »Wo?«
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Staatspolizei hat ihn vor etwa einer Stunde an einem Straßenrand in der Nähe des Kennesaw Mountain gefunden. Er war offensichtlich ausgeräumt.«
»Das heißt nicht, dass er nicht vielleicht etwas hinterlassen hat, was uns weiterbringt. Ist die Spurensicherung schon dran?«
Schindler nickte. »Sie untersuchen das Auto Zentimeter für Zentimeter. Möchten Sie es sich selbst ansehen oder auf den Bericht warten?«
»Ich fahre hin.« Joe drehte sich um und verließ den Einsatzraum. Am Auto angekommen, griff er nach seinem Telefon und rief Caleb an. »Jelaks Wagen wurde verlassen gefunden. Können Sie uns mit seiner Hilfe irgendetwas über seinen Aufenthaltsort sagen? Sie sagten doch, Sie könnten ihn fühlen.«
»Nur mit dem Fahrzeug? Das bezweifle ich. Aber ich kann es versuchen.«
»Allerdings, das können Sie.« Joe fuhr vom dem Parkplatz. »Am Kennesaw Mountain. Ich sage Ihnen noch genau, wo, wenn ich dort bin.« Er legte auf und blickte in den Rückspiegel. Ein blauer Toyota. Er wurde schon wieder verfolgt. Ed Norris wusste möglicherweise genauso viel wie er. Ach, egal. Wahrscheinlich wusste Joe ohnehin nicht viel, was der Rest der Welt nicht wusste. Caleb hatte sich nicht ermutigend angehört, und Joe war vielleicht überhaupt ein Idiot, dass er sich auf solche abergläubischen Praktiken einließ, um Jelak zu finden.
Aber zu diesem Zeitpunkt hätte er sich auf alles verlassen, damit er diesen Mistkerl irgendwie in die Finger bekam.
Die Spurensicherung war noch mit dem massigen grauen Wagen beschäftigt, als Joe das Naturschutzgebiet erreicht hatte.
Caleb stand daneben und sah zu.
»Und?«, fragte Joe.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass er nicht in der Nähe ist.«
»Was nützt uns das?«
»Überhaupt nichts.« Er schnitt eine Grimasse. »Was hatten Sie erwartet? Dass ich das Lenkrad berühre und eine Vision von ihm bekomme? Tut mir leid, so funktioniert das nicht. Wenn er nicht weiter als zwei Meilen entfernt ist und es wenig Störungen gibt, dann kann ich ihn fühlen und aufspüren. Sonst habe ich keine Chance.«
»Schöner Jäger.«
»Hören Sie auf, Quinn. Ich könnte Renata anrufen und fragen, ob sie jemanden schicken kann, der über solche Fähigkeiten verfügt. Aber das dauert eine Weile.«
»Und bis dahin ist Jelak längst über alle Berge.« Er betrachtete den mächtigen Wagen. Wie oft hatte Jelak ihn benutzt, um Leichen im Laderaum oder auf dem Rücksitz zu verstauen? »Die Jungs von der Spurensicherung werden wahrscheinlich verdammt viel Fasern finden, die als Beweis dienen könnten.«
»In einem Prozess, der niemals stattfinden wird. Er hat das Auto benutzt, als er Nancy Jo Norris entführt hat, oder?«
Joe nickte. »Er hat sie sich im Perimeter-Einkaufszentrum geschnappt.« Er erstarrte, weil ihm etwas einfiel. »Und Sie sind sicher, dass Sie ihn nicht aufspüren können?«
Caleb nickte. »Ich habe doch schon gesagt, ich habe diese Fähigkeit nicht. Warum?«
Joe antwortete nicht. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging mit großen Schritten zurück zu seinem Wagen.
»Antworten Sie mir, Quinn.« Caleb stand neben der Fahrertür, als Joe startete. »Sie haben etwas vor, und ich lasse nicht zu, dass Sie mich im Regen stehen lassen.«
»Dann folgen Sie mir. Es ist mir scheißegal.«
»Wohin wollen Sie?«
Joe parkte rückwärts aus. »Jemanden finden, der über diese Fähigkeit verfügt.«
Der Tatort am Allatoona-See war nicht mehr mit gelbem Band abgesperrt, und die Übertragungswagen, die auf der Straße geparkt hatten, waren verschwunden.
Gott sei Dank, dachte Joe. Es war helllichter Tag, und das Letzte, was er brauchen konnte, waren Reporter, die ihn mit Fragen überschütteten.
Er stieg aus und ging über die Wiese auf den Wald zu.
Als er einen Wagen hinter sich heranfahren hörte, blickte er über seine Schulter hinweg zurück.
Caleb.
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie sind nicht eingeladen.«
»Ich tue, was Sie sagen.«
»Gut.« Joe war inzwischen fast am Waldrand angelangt und verdrängte Caleb aus seinen Gedanken. Ihm war es egal, wenn Caleb den ganzen Tag dort drüben kampierte, solange er ihm nicht in die Quere kam. Er war aus einem absurden und ziemlich verrückten Grund hierhergekommen, aber das passte zum gegenwärtigen Zustand seines gesamten Lebens.
Im schützenden Schatten der Bäume blieb er stehen und sah sich um. Niemand. Nirgendwo ein schlankes blondes Mädchen im roten Sweatshirt. Verdammt, sie hatte ihm doch erzählt, dass Bonnie ihr geraten habe, ihren Sterbeort zu verlassen. Vielleicht war sie gar nicht mehr da. Aber er wusste nicht, was er sonst tun sollte.
Na gut, er konnte es probieren.
»Ich bin hier, verflucht. Wo zum Teufel sind Sie?«
Keine Antwort.
»Wenn Sie denken, dass ich noch lange hierbleiben und nach einem Geist rufen werde, dann haben Sie sich geirrt. Entweder zeigen Sie sich jetzt, oder ich bin weg.«
»Sie müssen deshalb nicht gleich so fluchen.«
Er fuhr herum. Nancy Jo stand nur wenige Meter von ihm entfernt. »Mir ist nach Fluchen«, gab er kurz angebunden zurück. »Und ich fühle mich wie ein durchgeknallter Idiot. Woher sollte ich wissen, dass Sie es sich nicht längst bei Sphärenmusik im Jenseits gutgehen lassen?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Daddy nicht verlassen werde. Er braucht mich.« Sie betrachtete ihn aufmerksam. »Und ich glaube, Sie brauchen mich auch. Sonst wären Sie nicht hier. Hat das etwas mit Margaret Selkirk zu tun?«
»Nein.« Dann fügte er hinzu: »Obwohl es mich nicht überrascht, dass Sie von ihr wissen. Sie gehören ja zum selben Club.«
»Ja, das stimmt«, sagte sie traurig. »Mein Herz tut weh, wenn ich an sie denke.«
»Aber augenscheinlich ist sie weitergegangen und nicht hiergeblieben. Sie hat mich nicht mit ihrer Anwesenheit beehrt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie irren sich. Sie ist noch immer hier.«
»Dann spiele ich Gott sei Dank in ihrem Nachleben keine Rolle. Ich habe sie nicht gesehen.«
»Wenn Sie mit Seth Caleb nach oben gegangen wären, wären Sie ihr begegnet. Sie war bei ihren Kindern.«
Joe fühlte sich, als hätte ihm jemand einen Magenschwinger versetzt. Allein schon die Vorstellung, das Zimmer mit den trauernden Kindern zu betreten und dort deren Mutter zu sehen, war erschreckend. »Woher wissen Sie das?«
»Ich war auch dort. Ich habe versucht, ihr zu helfen. Ich wusste, wie einsam und beängstigend das alles am Anfang ist«, sagte sie. »Aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie hat versucht, ihre Kinder zu erreichen. Dann kam Seth Caleb, und es wurde etwas besser. Aber sie kann die Kinder nicht verlassen, ehe sie nicht weiß, dass gut für sie gesorgt wird.«
»Noch eine Frau mit einer Mission«, sagte Joe.
»Tun Sie nicht immer so hartherzig«, sagte Nancy Jo. »Ich weiß, dass Sie mit ihr ebenso großes Mitleid haben wie ich. Daddy wird sein Leben weiterführen, wenn er das hier überstanden hat. Aber diese Kinder werden für immer gezeichnet sein.«
»Verdammt, ja, ich habe Mitleid.« Joe ballte die Hände zu Fäusten. »Und ich bin durcheinander, und es tut mir leid, und ich habe eine Scheißangst. Ich muss Jelak kriegen, ehe er es noch einmal tut.«
»Und Sie glauben, ich kann Ihnen dabei helfen.«
»Sind Sie plötzlich unter die Gedankenleser gegangen?«
»Warum würden Sie sonst zu mir kommen und herumblöken wie ein Schaf in den Wehen?«
Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Sie hätten sich ruhig einen etwas passenderen Vergleich aussuchen können, Nancy Jo.«
Sie lächelte ein wenig. »Aber keinen zutreffenderen. Sie mögen mich. Sie möchten mir helfen. Aber jedes Mal, wenn wir uns sehen, kämpfen Sie dagegen an. Darum blöken Sie herum.«
»Vielleicht«, sagte er. »Sie haben gesagt, Sie könnten Jelak spüren und dass Sie glauben, Sie könnten ihn finden. Würde Ihnen etwas, das ihm gehört, dabei helfen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Alles, was ich zu hören kriege, sind Vielleichts und Ich-weiß-nichts«, sagte er voller Abscheu. »Caleb hat auch so dämlich reagiert.«
»Und darum blöken Sie jetzt mich an«, sagte Nancy Jo. »Was haben Sie denn gefunden, was Jelak gehört?«
»Seinen Wagen. Möglicherweise hat er ihn benutzt, um Sie hierher zum Allatoona-See zu bringen.«
Sie erschrak. »Das Auto. Ich denke schon eine ganze Weile daran. Es war so groß und schwer wie ein Leichenwagen. Glauben Sie, Jelak hatte diesen Vergleich auch im Kopf?«
»Das würde mich nicht überraschen. Es parkt jetzt am Kennesaw Mountain. Sobald die Spurensicherung damit fertig ist, schleppen sie es zum Asservatenhof. Wollen Sie es sich vorher anschauen?«
»Natürlich.« Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ich muss es mir ansehen. Ich muss es betrachten, es berühren. Im Moment ist das für mich überhaupt nicht real. Es ist nur Teil des Alptraums.«
»Das ist vielleicht eine Gnade.«
»Ich muss den Alptraum loswerden. Bonnie hat das gesagt, und ich habe es nicht verstanden, aber jetzt begreife ich allmählich, was sie gemeint hat.«
Schon wieder Bonnie. Eves Tochter schien in Nancy Jos Bewusstsein genau wie in dem von Joe ein und aus zu gehen.
Er drehte sich um. »Dann lassen Sie uns doch mal schauen, ob wir den Scheißkerl mit Hilfe des verdammten Autos zu fassen kriegen. Kommen Sie mit?«
Sie lächelte. »Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, Joe. Ich kann Sie problemlos finden.«
Er sah sie noch einmal an. »Stimmt, Sie kennen ja jetzt den Trick. Verdammt, das würde ich auch gern können. Dann müsste ich nicht herkommen und herumblöken.«
»Vielleicht kann ich es Ihnen irgendwann beibringen.«
»Nicht wenn das voraussetzt, dass ich auch ein Geist bin. Dafür bin ich noch nicht bereit.«
»Das war ich auch nicht.«
Nein, neunzehn Jahre alt, überaus lebendig und die Zukunft noch vor sich. Ein wunderbares Leben, und je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto mehr zeigte sich von der ungewöhnlichen Frau, die sie geworden wäre, wenn Jelak ihr erlaubt hätte weiterzuleben.
Plötzlich verspürte er rasenden Zorn. »Dann schnappen wir uns jetzt diesen Drecksack, verdammt!«
Kennesaw Mountain
»Warum haben Sie das Spurensicherungsteam weggeschickt?«, wollte Caleb wissen. »Die Kollegen sahen nicht begeistert aus.«
»Pech für sie. Sie können ihre Tests auch später noch machen.« Er sah dem letzten Van nach, der den Berg hinunterfuhr. »Warum gehen Sie nicht zurück in die Dienststelle und warten auf–«
»Ich denke ja gar nicht daran.« Caleb lehnte sich an sein Auto und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dieses launenhafte Verhalten, das Sie da zeigen, interessiert mich viel zu sehr.«
»Es ist nicht launenhaft.« Wo zum Teufel blieb Nancy Jo? Er hatte gehofft, Caleb loswerden zu können, ehe sie auftauchte. Aber das gelang ihm nicht. Caleb hing an ihm wie Klebstoff. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt war es ihm verdammt egal, ob Caleb ihn für durchgeknallt hielt oder nicht.
»Vielleicht trifft es launenhaft nicht ganz. Sagen wir ungewöhnlich.«
»Gegen ungewöhnlich habe ich nichts.« Der Van war jetzt um die Kurve gebogen. Wo war sie? »Aber da schimpft der Topf den Kessel.«
»Er ist viel schwärzer als Sie, Joe«, bemerkte Nancy Jo. Sie stand vor dem großen Lincoln und starrte das Auto fasziniert an. »Es jagt mir Angst ein. Warum habe ich solche Angst davor?«
»Ich weiß nicht. Erinnerungen?«
»Erinnerungen?«, wiederholte Caleb. »Wovon reden Sie?«
Joe machte eine ungeduldige Geste und wandte ihm den Rücken zu. »Bringen wir es hinter uns, Nancy Jo.« Er öffnete den Kofferraum. »Es könnte sein, dass er Sie im Kofferraum untergebracht hat, nachdem er Sie betäubt hatte. Haben Sie irgendeine Erinnerung daran?«
»Nein.« Sie legte die Hand auf den rostroten Teppich, mit dem das Innere des Kofferraums ausgeschlagen war. »Es ist seltsam, wenn man die Dinge auf einmal nicht mehr fühlen kann. Bonnie hat gesagt, wenn ich lang genug bleibe, dann kommt einiges davon wieder zurück. Sonnenlicht … Regen …«
»Sie fühlen gar nichts?«
»Nichts von ihm.« Sie schauderte. »Aber ich war nicht die Einzige, die Jelak in den Kofferraum gesperrt hat. Eins, zwei, drei … fünf. Ich glaube, es waren fünf. Vier von uns waren bewusstlos, aber Kerry war noch bei sich und hat gekämpft. Ihre Fingernägel waren blutig, so sehr hat sie sich bemüht, herauszukommen.« Sie streckte die Hand aus und berührte einen winzigen braunen Fleck auf dem Teppich. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich fühle sie, aber ich kann ihr nicht helfen.«
»Sie empfinden etwas, wenn Sie das Blut berühren?«
»Ja, aber ich kann ihr nicht helfen.«
»Es ist gut, Nancy Jo.« Er schloss den Kofferraum. »Sie braucht Ihre Hilfe nicht mehr.« Dann ging er zur Fahrertür und öffnete sie. »Steigen Sie ein und schauen Sie, ob Sie etwas finden.«
»Hier hat er gesessen.« Sie stellte sich neben ihn und starrte auf den Sitz. Sie schluckte fest. »Mein Gott, das will ich nicht machen.«
»Sie haben gesagt, Sie spüren nichts.«
»Ich kann mich erinnern«, sagte sie aufgeregt. »Ich kann mich an sein Gesicht erinnern.«
»Sie wollen es doch nicht machen?«
Sie holte tief Luft. »Natürlich mache ich es. Lassen Sie mir einen Moment Zeit.«
»So lange Sie wollen.«
Zwei Minuten später schlüpfte sie vorsichtig auf den Fahrersitz. Sie schloss die Augen. »In der Nacht, in der er Heather Carmello umbrachte, war er in diesem Auto. Danach hat er beschlossen, dass es zu unsicher ist, damit noch länger herumzufahren. Er musste ein anderes Auto stehlen und dieses hier stehen lassen.«
»Was für ein Auto?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte sich noch nicht entschieden. Ihm gefallen große amerikanische Autos, aber er dachte, vielleicht wäre ein kleines ausländisches besser geeignet. Ständig dachte er an Seth Caleb und wie der ihn in der Nähe Ihres Hauses aufgespürt hatte. Er will es noch nicht einmal sich selbst eingestehen, aber er hat Angst vor ihm.« Sie schlug die Augen auf. »Darf ich jetzt aussteigen? Ich fühle mich, als wäre er ganz nahe bei mir. Fast kann ich sein Herz schlagen hören.«
»Nur noch ganz kurz. Ich muss wissen, wo er jetzt ist.«
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, was er gefühlt hat, als er zum letzten Mal in diesem Wagen saß.«
»Fahren Sie mit der Hand über das Armaturenbrett.«
Sie zögerte, dann hob sie die Hand und strich mit den Fingern über das lederbezogene Armaturenbrett. »Nichts.«
»Der Becherhalter und der Beifahrersitz.«
Sie atmete tief durch und berührte den Becherhalter. Dann fuhr sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Heather Carmellos Blut. Der Kelch steckte in dem Halter, als er ihn zu Patty Averys Haus brachte. Es war nur ein kurzes Stück, und er hatte es eilig.«
»Probieren Sie den Beifahrersitz.«
Sie rührte sich nicht. »Wann kann ich aus diesem Wagen wieder raus?«
»Nach dem Beifahrersitz.«
»Verdammt, Joe.« Sie schluckte und streckte die Hand aus, um den dunklen Stoff zu berühren. »Ich hoffe, dass es das wert ist –« Sie japste und sackte nach vorn. »Nein!«
»Was ist los?«
»Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott!«
»Was ist los? Reden Sie mit mir!«
»Oh mein Gott!«
»Nancy Jo.«
»Ich sehe ihn.« Sie drückte die Finger auf den Stoffbezug des Beifahrersitzes. »Ich sehe ihn. Ich fühle ihn. Nein, ich fühle nicht ihn. Ich fühle mich.«
»Was?«
»Mein Blut, das in ihm pulsiert.« Entsetzt blickte sie auf ihre Hand, die den Sitz berührte. »Als er in der Nacht wieder ins Auto stieg, hatte er noch ein bisschen Blut von mir an der Hand. Er hatte alles sonst sehr sorgfältig gereinigt, aber von dem Kelch hatte er noch Blut an der Hand. Er … leckte sich die Finger ab, dann wischte er über den Sitz. Darüber machte er sich keine Sorgen. Er konnte den Sitz später wieder saubermachen. Wie das geht, wusste er, es war ihm früher schon passiert.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber auch wenn er es nicht sehen konnte, das Blut ist noch immer da. Mein Blut.«
»Konzentrieren Sie sich. Sie haben gesagt, Sie könnten ihn sehen.«
»Verdammt, hören Sie auf, sich wie ein Polizist zu benehmen. Ich gebe mir ja Mühe, mich zu konzentrieren. Versuchen Sie mal zu denken, wenn Sie Ihr Blut im Körper dieses Mörders pulsieren fühlen und –«
»Okay, tut mir leid. Als Sie diesen Blutfleck berührt haben, spürten Sie da eine Verbindung zu Jelak?«
»Ich kann sie jetzt in diesem Moment spüren. Und wenn ich mich nicht konzentrieren würde, dann würde ich die Hand von diesem verdammten Blutfleck nehmen. Ich habe meine Meinung geändert. Ich will gar nichts spüren. Kein Sonnenlicht. Keinen Regen. Nicht wenn ich auch das hier spüren muss.« Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich will kein Teil von ihm sein. Sorgen Sie dafür, dass das aufhört.«
»Das versuchen wir ja.« Joe kniete sich neben ihr auf den Beifahrersitz. »Wir werden dafür sorgen, dass das aufhört. Sagen Sie mir, was Sie sehen, Nancy Jo.«
»Kelche. Er schaut in einen schwarzen Krokodillederkasten, in dem drei von diesen Kelchen säuberlich aufgereiht sind. Er streckt die Hand aus und streichelt einen davon.« Sie schauderte. »Ich kenne diese Kelche. Einen davon hat er an meinen Hals gesetzt, nachdem er –«
»Wo ist er? Schauen Sie sich um.«
»Es sieht aus wie ein Motel. Ein Bett mit einer offenbar billigen geblümten Tagesdecke. Da ist ein Schreibtisch. Eine rote Tür.«
»Rote Tür? Zum Badezimmer oder nach draußen?«
»Ich weiß nicht. Doch, nach draußen. Ich kann eine dieser Listen mit Zimmerpreisen an der Türe erkennen.«
»Können Sie den Namen auf der Liste lesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Versuchen Sie es.«
»Ich kann ihn nicht sehen«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Irgendetwas anderes? Zeitungen?«
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt begann sie zu keuchen. »Ich kann es nicht ertragen. Ich muss mich von ihm lösen.«
»Nur noch einen Moment. Der Schreibtisch. Liegt dort Briefpapier?«
»Nur eine Ledermappe.«
»Mit dem Namen des Hotels?«
»Nein.« Ihre Brust hob und senkte sich heftig im Rhythmus ihres Atems. »Nein.« Ihr Körper spannte sich an. »Aber da liegt ein Telefonbuch auf dem Schreibtisch. Die Gelben Seiten. Es ist dünn …«
»Atlanta?«
»Nein, Roswell. Die Gelben Seiten von Roswell. Mehr kann ich nicht sehen. Jelak verdrängt alles bis auf das Gefühl des Kelchs in seiner Hand. Nein, er denkt an sie. Wie sie schmecken wird, welchen Triumph sie ihm verschaffen wird.« Sie schüttelte den Kopf. »Lassen Sie das nicht zu. Verhindern Sie, dass er das tut. Er darf es nicht noch einmal tun.«
»An wen denkt er?«
»Das wissen Sie. Eve. Es ist immer Eve. Keine von uns hat für ihn wirklich eine Rolle gespielt. Aber ich bin wichtig. Mein Leben war wichtig.«
»Ja«, sagte er sanft. »Lassen Sie los. Steigen Sie aus, Nancy Jo.«
»Ich bin wichtig.«
»Sie sind sehr wichtig. Jetzt steigen Sie aus dem Auto.«
Sie nickte mehrmals und hob langsam die Hand vom Beifahrersitz. Dann sank sie wie eine zerbrochene Puppe über dem Lenkrad zusammen. »Es tut weh. Ich fühle mich schlecht dabei und voller Angst. Ich kann das nicht noch einmal machen, Joe.«
»Das verlange ich auch nicht von Ihnen.«
»Wenn Sie damit Eve retten könnten, würden Sie es tun.« Sie verzog schmerzlich den Mund. »Aber ich glaube, ich könnte es nicht machen.« Sie stieg aus. »Ich hoffe nur, dass –« Sie brach ab und ging zur Front des Wagens. »Es war sehr schwer. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals etwas so Schwieriges hinter mich bringen musste. Sorgen Sie dafür, dass es nicht vergeblich war.«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich –«
Sie war verschwunden.