5
Beim Tatort am Allatoona-See zückte Joe seine Polizeimarke, um sich gegenüber dem wachhabenden Polizisten auszuweisen. »Wir schauen uns nur ein wenig um. Es dauert nicht lange.« Er bedeutete Megan, sie solle schon vorausgehen. »Ich sehe, dass das Fernsehen noch immer da ist.«
Der Polizist nickte. »Sie hoffen auf weitere Bilder von Senator Norris. Das war vielleicht ein Zirkus hier vor ein paar Stunden. Sie haben ihn umschwirrt wie die Bienen den Honig.«
Kein guter Vergleich. An Ed Norris war nichts Süßes. Seine Bitternis hatte ihn so scharf gemacht wie eine Machete. Aber wer wollte ihm das vorwerfen?
Joe holte Megan ein. Er deutete auf den Kreideumriss. »Hier haben wir sie gefunden.«
»Ich glaube, das ist nicht der Ort, an dem er sie getötet hat«, sagte Megan. »Es fühlt sich … nicht richtig an.«
»Warum? Können Sie etwas hören?«
Sie schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Es stimmt nur nicht. Wo haben Sie sie gesehen?«
»Bei diesen Bäumen da drüben. In der Dämmerung.«
Jetzt war es dunkel, und die Schatten der Bäume ließen die Dunkelheit schwer und abschreckend wirken.
»Traurig. Sie ist so traurig«, murmelte Megan. »Sie versteht allmählich.«
Joe drehte sich zu ihr um. »Echos?«
»Nein. Ja. Ich weiß nicht. Irgendetwas anderes.« Sie ging auf die Bäume zu. »Ich glaube, dort ist sie gestorben. Nicht hier am See. Kann das sein?«
»Ja, wir werden es wissen, sobald wir den Autopsiebericht bekommen.« Er folgte ihr in die Dunkelheit.
Er spürte die wachsende Anspannung. Wie dämlich. Er starrte geradeaus und fürchtete sich, nach rechts oder links zu schauen. Fürchtete sich vor dem, was er sehen könnte.
»Wir vermuten einen Ritualmord«, sagte er. »Es könnte sein, dass der Scheißkerl sie umgebracht und dann ausgezogen und für die Zeremonie ans Ufer getragen hat.«
»Ich denke, so ist es wohl gewesen.« Megans Blick schweifte am Wald entlang. »Hier ist … Angst.«
»Warum können Sie sie dann nicht hören?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht will ich sie nicht hören. Oder ich bin noch immer betäubt von den Stimmen der Kinder auf der Sumpfinsel. Vielleicht stehen sie dazwischen.«
»Das sind ganz schön viele Vielleichts.«
»Ich gebe mein Bestes.« Sie sah ihn an. »Sie haben mich gebeten, mitzukommen, aber ich bin wohl keine große Hilfe.«
»Nein. Ich wollte, dass Sie sie hören. Ich wollte von Ihnen eine kundige Offenbarung, die beweist, dass ich nicht völlig durchgeknallt bin.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber Sie haben das Zweitbeste getan. Sie ist nicht aufgetaucht. Vielleicht haben Sie sie vertrieben. Das ist auch schon viel wert.«
»Dann können wir jetzt gehen? Diese Traurigkeit erdrückt mich.«
»Das können wir wohl.« Er sah sich noch einmal um, dann wandte er sich zum Gehen. »Um die Wahrheit zu sagen, ich muss zugeben, dass ich erleichtert –«
»Wage bloß nicht, mich zu verlassen.«
»Ach du Scheiße.«
Blonde Haare, rotes College-Sweatshirt, blaue Augen, die ihn anblitzten. Nancy Jo Norris stand am Waldrand, ihnen im Weg.
»Was ist los?« Megan blickte Joe an.
»Der Geist des Waldes.« Er musste witzeln, weil er wie zuvor Panik spürte. »Können Sie sie nicht sehen?«
»Nein.« Wie Joe blickte sie auf die Stelle, wo Nancy Jo stand. »Nichts.«
»Tu nicht so, als würdest du mich nicht wahrnehmen«, sagte Nancy Jo. »Natürlich kann sie mich nicht sehen. Niemand kann mich sehen. Nicht einmal Daddy. Ich habe immer wieder versucht, mit ihm zu reden, aber er hört und sieht mich nicht. Ich habe ihn angefasst, versucht, ihn zu umarmen, und er hat es gar nicht gemerkt.« Sie zwinkerte, um die Tränen zurückzuhalten. »Er war so traurig, und ich wollte ihm helfen, aber er konnte mich nicht fühlen.«
»Ich kann Ihr Problem nicht lösen, Nancy Jo«, sagte Joe. »Ich weiß nichts darüber.« Er wandte sich an Megan. »Unternehmen Sie doch etwas.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie ist Ihr Geist. Ich kann nicht einmal ein Echo hören. Sie müssen mit ihr klarkommen.«
Nancy Jo sah Megan an. »Ist sie so eine Art Geisterjägerin? Haben Sie sie deshalb mitgebracht?«, fragte sie in bitterem Tonfall. »Ich habe Fernsehsendungen über Geisterjäger gesehen. Meine Mitbewohnerin Chelsea und ich haben uns immer darüber lustig gemacht.«
»Ich auch«, meinte Joe. »Jetzt lache ich nicht mehr.«
»Ich auch nicht«, sagte Nancy Jo. »Es wäre mir egal, ob sie eine Geisterjägerin ist oder nicht. Ich wünschte, sie könnte mich sehen. Ich bin so allein.«
»Warum sind Sie immer noch hier? Gibt es da nicht irgendein Licht oder so etwas, auf das Sie zugehen sollten?«
Du lieber Himmel, hörte er sich albern an. Aber wie zum Teufel redete man mit einem Geist?
»Ich weiß nicht. Die da sagen mir immer, ich solle gehen, und dass alles in Ordnung wäre, wenn ich erst einmal losgelaufen wäre.«
»Wer sind ›die da‹?«
»Ich weiß nicht. Ich darf nicht auf sie hören. Ich muss hierbleiben. Das hätte nicht passieren sollen. Ich wollte leben. Er hatte kein Recht, mir das wegzunehmen.« Sie erschauderte. »Wissen Sie, was er getan hat? Er hat mein Blut getrunken. Mein Blut ist in ihm und ernährt ihn. Diesen Gedanken kann ich nicht ertragen. Das macht mich so wütend. Er sollte nicht am Leben sein, wenn ich tot bin.«
»Hören Sie, wenn Ihnen das hilft: Ich verspreche Ihnen, dass ich den Scheißkerl fassen werde.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Sie wollen nur, dass ich weggehe. Und ich gehe nicht weg.«
»Ich bin Polizist. Es ist mein Job, denjenigen zu finden, der Sie getötet hat. Es spielt keine Rolle, ob Sie weggehen oder nicht. Ich muss trotzdem meine Arbeit machen.«
Sie betrachtete sein Gesicht ganz genau. »Ich glaube auch nicht, dass Sie mich anlügen. Aber ich muss sichergehen, dass er nicht mehr lebt. Er hat mein Blut gestohlen. Er hat mein Leben gestohlen.«
»Ich kann nicht mehr tun, als Ihnen mein Wort zu geben. Gehen Sie und tun Sie, was ›die da‹ sagen, und lassen Sie mich meine Arbeit erledigen.«
»Sie sind sauer auf mich.«
»Aber ja, zum Teufel. Sie tun mir leid, ich will Ihnen helfen, aber Sie machen mir das Leben ganz schön schwer. Ja, ich bin sauer auf Sie.«
»Vermutlich ist das besser, als wenn Sie sich vor mir fürchten würden. Normalerweise haben die Leute Angst vor Gespenstern.«
»Die hatte ich kurzzeitig auch.«
»Das ist schrecklich.« Trotzig fügte sie hinzu: »Aber da Sie offenbar der Einzige sind, der mich sehen oder hören kann, werden Sie mich wohl nicht los.«
»Das kommt nicht in Frage.«
»Sie müssen mir helfen.« Sie sprach so eindringlich, dass ihre Stimme zitterte. »Ich kann das nicht selbst machen, sonst würde ich es tun.« Sie zögerte, dann meinte sie: »Mein Vater ist wütend. Wenn Sie das Monster nicht finden, dann macht sich Daddy selbst auf die Suche. Woher soll ich wissen, dass der Kerl nicht auch noch meinen Vater umbringt?«
Was sollte er dazu sagen? dachte Joe frustriert. Er konnte argumentieren, dass sie die Rache ihm überlassen sollte, aber was war mit dem Schutz desjenigen, den sie liebte? Dieses Motiv konnte er voll und ganz verstehen. Eve zu schützen und für sie zu sorgen war in all den Jahren seine entscheidende Triebfeder gewesen. Mit jedem Wort, das sie sagte, fühlte er sich Nancy Jo näher.
Sich einem Gespenst nahefühlen? Was dachte er sich eigentlich? »›Wenn‹? Ich werde den Mörder finden, und Ihr Vater wird sich da raushalten.«
»Das hoffe ich.«
»Ich gehe jetzt.« Er hob die Hand, als sie zum Sprechen ansetzte. »Ich kann nicht hierbleiben und mit Ihnen Séancen abhalten. Ich muss arbeiten.«
»Aber ich möchte Ihnen helfen. Das muss ich tun.«
»Dann sagen Sie mir, wer es getan hat. Wissen Sie einen Namen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, er wäre mein Retter. Er hat gesagt, ich solle dankbar sein. Er sagte immer wieder: ›Geschenk zu Geschenk.‹«
»Wie sah er aus?«
Sie antwortete nicht.
»Was hat er –«
»Ich versuche mich zu erinnern. Ich hatte solche Angst … graue Augen, kurzgeschnittene dunkle Haare. Weiß an den Schläfen. Eine römische Nase, irgendwie hakenartig.«
»Groß? Klein?«
»Mittelgroß. Aber er war stämmig, stark, mit Armmuskeln wie ein Gewichtheber.«
»Auto?«
»Das habe ich nur kurz gesehen, als ich aufwachte. Es parkte am Waldrand.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Es war ein großer Wagen. In einer hellen Farbe. Ich glaube, es könnte ein Lincoln Town Car gewesen sein.«
»Neu? Alt?«
»Alt. Ich glaube nicht, dass die neuen Lincolns so groß sind.« Sie verzog schmerzlich das Gesicht. »Ich habe nur einen kurzen Blick darauf werfen können.« Sie schloss die Augen. »Und ich hatte solche Angst.«
»Das verstehe ich. Aber Sie machen das prima.«
»Danke.« Sie schlug die Augen wieder auf und bemühte sich um ein Lächeln. »Schließlich muss ich nett zu Ihnen sein. Sie sind hier in der Stadt offenbar meine einzige Hoffnung.«
Joe verspürte wieder großes Mitgefühl. Sie war nicht viel jünger als seine Jane. Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und – ach verdammt, nicht einmal das konnte er tun.
Ich bin so allein, hatte sie gesagt.
»Ich muss jetzt gehen. Wenn ich noch weitere Fragen habe, komme ich wieder.«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, ob ich zu Ihnen kommen kann. Keine Ahnung, wie das funktioniert. Ich muss es ausprobieren.« Sie sah Megan an. »Sie hat keine Angst vor mir. Sie dürfen sie wieder mitbringen, wenn Sie wollen.«
»Das hängt von ihr ab. Ich dachte, sie könnte helfen.«
Er entfernte sich etwas, dann fragte er noch: »Das Messer. War daran irgendetwas Besonderes?«
»Das Messer …« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich fürchte mich, es –«
»Das ist schon in Ordnung. Sie müssen sich nicht erinnern.«
»Doch, das muss ich. Mein Herz hat so heftig geschlagen. Ich habe versucht, mich aus den Fesseln zu befreien. Er hob das Messer und zeigte es mir. Dann sagte er: ›Geschenk zu Geschenk‹, und zog es über meine – Blut. Ich blute. Er hat einen Becher, und den drückt er mir an den Hals. Was hat er –«
»Genug«, sagte Joe knapp. »Sie haben genug gesagt.«
»Nein, Sie wollten wissen, wie es aussieht. Aber es ist schwer, weil es so weh tut.« Sie atmete heftig. »Es ist ein Dolch. Er sieht … im Schatten ganz schwarz aus. Auf dem Griff ist irgendetwas eingraviert. Ein Mann mit einem Messer. Ein Mann mit einem Kelch. Oder vielleicht bringe ich etwas durcheinander. Mein Blut ist … Ich werde immer schwächer …«
»Hören Sie auf, Nancy Jo. Es reicht.«
Schnelles Nicken. »Zu viel. Gehen Sie weg. Ich will nicht, dass Sie mich so sehen. Ich will nicht, dass jemand weiß, welche Angst er mir gemacht hat. Ich glaube, es hat ihm gefallen.«
»Das könnte sein. Die meisten Serienmörder genießen das Gefühl der Macht.«
»Das hört sich so technisch an. Wie aus dem Lehrbuch. Ein typischer Mörder. Aber er war nicht typisch«, sagte sie eindringlich. »Er war ein Monster und hat mein Blut getrunken. Gehen Sie weg und kommen Sie erst wieder, wenn Sie ihn gefunden haben.«
»In Ordnung. Ich tue, was Sie sagen.« Er drehte sich um und ging zurück.
»Ist das Gespräch vorbei?« Megan eilte ihm nach. »Wollen Sie mir sagen, worüber Sie gesprochen haben? Ich habe immer nur Ihre Seite gehört.«
»Sie ist einsam. Sie will verhindern, dass ihr Vater auch noch zum Opfer wird, wenn er ihren Mörder verfolgt. Sie will sich an dem Scheißkerl rächen, der ihr die Kehle durchgeschnitten und ihr Blut getrunken hat.« Er marschierte schnell und bemühte sich, nicht zum Wald zurückzusehen. »Für ein totes Mädchen wirkt sie ganz schön lebendig und sehr menschlich. Sie ist nicht so abgebrüht wie Jane, aber ich könnte mir vorstellen, Jane wäre so wie Nancy Jo geworden, wenn sie nicht auf der Straße aufgewachsen wäre. Die gleiche Entschlossenheit, das gleiche freundliche Wesen.«
Megan schwieg, bis sie das Auto erreicht hatten. »Dann sind Sie jetzt davon überzeugt, dass sie keine Einbildung ist?«
»Du lieber Himmel, nein. Ich weiß nicht, ob ich das jemals wirklich glauben kann. Aber ich arbeite mit dieser Annahme, weil ich sonst nichts in Händen habe. Ich habe beschlossen, dass ich mich weigere, mich für verrückt zu halten, und damit bleibt nur die Alternative, diese verdammte Sache, die mir da passiert, zu akzeptieren und sie zu nutzen.«
»Sie sind ein beeindruckender Mann, Joe Quinn«, sagte Megan leise. »Wahrscheinlich gibt es nicht viele Leute, die das so gut wegstecken würden.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Es tut mir leid, Joe. Ich habe mein Bestes gegeben, niemandem zu schaden.«
»Ihr Bestes war nicht gut genug.« Er hielt ihr die Autotür auf. »Aber Sie können mich dafür entschädigen. Ich habe keine blasse Ahnung von diesem Geisterkram.« Er schüttelte ratlos den Kopf. »Wer zum Teufel weiß etwas darüber? Vielleicht Ihre Freundin Renata?«
»Als ich mit ihr telefoniert habe, hat sie gesagt, sie schaut nach und meldet sich wieder bei mir.«
»Dann soll sie sich bitte schnell melden. Ich habe eine Menge Fragen.«
»Vielleicht müssen Sie die Antworten selbst finden. Schließlich sind Sie derjenige, der mit Nancy Jo reden kann.«
»Damit werde ich mich nicht abfinden. Nancy Jo scheint sich nicht viel besser auszukennen als ich.« Er schob sich auf den Fahrersitz und ließ den Wagen an. »Und eine der Fragen ist, warum Sie kein Echo hören können.«
»Darüber habe ich nachgedacht«, sagte Megan. »Echos tönen in leeren Räumen. Vielleicht gibt es erst dann Echos, wenn der Geist weitergewandert ist und den Ort, wo der Tod eintrat, verlassen hat. Nancy Jo weigert sich, irgendwohin zu gehen, daher hinterlässt sie kein bleibendes Echo.«
Joe schwieg einen Moment. »Was ist mit Bonnie? Sie haben gesagt, auf der Insel haben Sie kein Echo von Bonnie gehört. Könnte es sein, dass sie doch auf der Insel getötet wurde, und Sie können kein Echo hören, weil sie sich weigert, fortzugehen?«
»Das ist möglich. Ich hoffe es. Dann würde ich mich nicht so schuldig fühlen, weil ich nicht tue, was Eve möglicherweise von mir verlangen wird.« Sie sah ihn an. »Sie müssen mit Eve darüber sprechen, dass Sie Bonnie sehen.«
»Glauben Sie, das weiß ich nicht?« Seine Hände am Lenkrad verkrampften sich. »Aber jetzt noch nicht. Bonnie ist der Mittelpunkt von Eves Welt. Alles dreht sich um sie. Ich muss diesen Mist erst in den Griff bekommen, ehe ich sie einweihen kann. Das könnte sonst ein Stich ins Wespennest werden.«
Megan nickte. »Ich verstehe, dass Sie zögern. Sie sollten auch sehr vorsichtig sein, auf welche Weise Sie Eve eröffnen, dass Sie ihre Tochter sehen.« Dann schaute sie wieder aus dem Fenster. »Ich werde mich darum kümmern, dass Sie alle notwendigen Informationen erhalten. Ich komme, wann immer Sie mich rufen. Aber Eve ist meine Freundin, und ich kann nicht zulassen, dass Sie das allzu lange vor ihr geheim halten. Sie macht sich Sorgen, und das ist nicht fair.«
»Ich habe nichts anderes erwartet.« Sein Tonfall wurde schärfer: »Aber eins sind Sie mir schuldig, Megan. Lassen Sie es mich auf meine Weise machen.«
»Ich werde mir Mühe geben. Aber von Nancy Jo sollten Sie ihr sofort erzählen.«
»Dann besorgen Sie mir Informationen, damit ich nicht wie ein kompletter Idiot wirke«, erklärte Joe sarkastisch. »Ich vermute, Sie stimmen mir zu, dass sie sich auch ein paar Sorgen machen würde, wenn sie annehmen muss, dass ich durchgeknallt bin.«
»Ich rufe Renata an, sobald ich zu Hause bin.«
»Und ich werde Ihnen alles sagen, was mir Nancy Jo über ihren Tod berichtet hat. Ich werde sogar eine ungefähre Zeichnung von dem Kelch anfertigen, den der Killer bei seinem Ritual verwendet hat. Die können Sie Ihrer Freundin Renata nach München faxen.«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, ob es viel helfen wird, aber schaden kann es nichts.« Sie schwieg, dann sagte sie noch einmal: »Erzählen Sie Eve von Bonnie, Joe.«
»Ich werde tun, was ich für das Beste halte. Und da Sie sich an der Sache beteiligen wollen, können Sie noch einen weiteren Telefonanruf erledigen, während ich zurück an den See fahre. Rufen Sie Eve an und bereiten Sie sie auf mich vor. Sagen Sie ihr, dass ich dank Ihnen eine neue Seelenfreundin namens Nancy Jo Norris habe.«
Von der Veranda aus beobachtete Eve, wie Joe den Wagen parkte und die Einfahrt heraufkam. Die erste Morgendämmerung ließ den Himmel leicht perlfarben schimmern, und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er bewegte sich schnell, und seine Schritte verrieten die gebändigten Gefühle.
Wie auch sie ihre Gefühle unter Kontrolle halten musste. Sie war verwirrt, hatte Angst und fühlte sich dieser Entwicklung in keiner Weise gewachsen. Aber sie musste einen Weg finden, ihm zu helfen, ohne dass ihre Emotionen dabei störten.
Auf der obersten Stufe blieb er stehen und sah sie an. »Was für ein verdammter Mist. Willst du abhauen?«
»Nein.« Sie warf sich in seine Arme und barg das Gesicht an seiner Brust. »Bist du denn in diesen ganzen Jahren vor mir abgehauen? Wir müssen einen Weg finden, damit fertig zu werden.«
»Wenn möglich, ohne mich in die Klapsmühle einzuliefern. Der Gedanke ist dir bestimmt schon gekommen.«
»Natürlich nicht.« Sie drückte ihn fester. »So richtig habe ich Megans Geschichte von der Übertragung nicht geglaubt, bis sie mir erzählt hat, dass es dich getroffen hat. Aber du bist ein Fels. Ich kenne niemanden, der so stark und so zuverlässig ist wie du. Wenn du mir sagst, dass du Nancy Jo Norris gesehen hast, dann stimmt das.«
»Ich habe sie gesehen. Ich habe mit ihr gesprochen.« Er schob sie ein Stück von sich weg. »Jetzt schau mich an und zeig mir dein Gesicht.«
Sie sah ihm geradewegs in die Augen. »Du wirst nichts weiter sehen als Liebe und Vertrauen. Du bist ein Fels.«
Er ließ seinen Blick lange auf ihr ruhen. »Mein Gott, du schaffst es, dass ich es wirklich glaube.«
»Gut. Dann kann ich dir jetzt ja sagen, wie sauer ich auf dich bin, weil du mir nicht erzählt hast, was dir auf der Seele liegt.«
»Ich hatte meine Gründe.«
»Das reicht nicht. Wäre ich nicht gewesen, hättest du nie in diesem Sumpfgebiet nach Henry Kistle gesucht. Megan hätte dich niemals berührt. Was immer dir zustößt, passiert auch mir. Du solltest mich daran teilhaben lassen.«
»Ich fürchte, in diesem Fall kann ich das nicht. Megan konnte Nancy Jo weder hören noch sehen.«
»Dann finde ich einen anderen Weg, dir zu helfen.« Sie gab ihm einen Kuss. »Schließ mich nur nie wieder aus. Das hat mir Angst gemacht.«
»Auch wenn es mir schwerfällt, meinen Ruf als Fels zu beschädigen, aber auch ich war etwas beunruhigt.« Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und sagte mit heiserer Stimme: »Ich habe so ein Glück.«
»Ja, das stimmt.« Sie umarmte ihn noch einmal. »Du hast mich und Jane …« Betont fröhlich fügte sie hinzu: »Und eine neue Seelenfreundin.« Sie trat zurück und zog ihn zur Eingangstür. »Aber ich muss zugeben, dass ich hoffe, du suchst dir nicht noch weitere Bekannte. Das könnte sonst ziemlich verwirrend werden.« Als sie das Haus betraten, warf sie ihm einen Blick zu. »Willst du jetzt ein bisschen schlafen oder bist du zu aufgedreht?«
»Schlafen.« Er legte den Arm um ihre Taille. »Ich will dich im Arm halten und dir von Nancy Jo erzählen. Ich werde dich teilhaben lassen, so gut ich kann.« Gemeinsam gingen sie zum Schlafzimmer. »Ich weiß, Megan konnte dich überzeugen, dass sie diese Gabe hat, aber das ist etwas anderes. Ich bin immer noch verblüfft, dass du das alles so bereitwillig glaubst.«
Weil sie seit Jahren mit dem Geist von Bonnie lebte, dachte sie. Traum oder Gespenst, es hatte nie einen Zweifel daran gegeben, dass der Geist existierte. Sollte sie Joe davon erzählen?
Nein, Joe hatte in den letzten Jahren eine Abwehr gegen Bonnie entwickelt und wollte, dass Eve die Suche aufgab. Wie könnte sie Bonnie jetzt erwähnen und ihm erzählen, dass sie ihm nicht genug vertraut und ihm nie von diesen Visionen berichtet hatte? Nachdem sie ihm gerade Vorwürfe gemacht hatte, weil er sie nicht an seinen Problemen teilhaben ließ? Später. Wenn sie Joes Kämpfe durchgefochten hatten.
»Nicht gerade bereitwillig. Aber wenn du das sagst, dann ist es so.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber ich frage mich, ob die Tatsache, dass du Nancy Jo gesehen hast, nicht damit zusammenhängt, dass der Killer irgendetwas mit dir … mit uns zu tun hat. Du hast gesagt, die Kelche sahen gleich aus. Derjenige, den Jane im Kühlschrank gefunden hat, war eine Art Drohung.«
»Oder eine Visitenkarte.«
»Ganz schön makabre Visitenkarte.«
»Seine ganze Vorgehensweise ist makaber«, sagte Joe.
»Also glaubst du, dass du nur die Opfer von Mördern siehst, mit denen du in persönlicher Verbindung stehst?«
Ein seltsamer Ausdruck zuckte über sein Gesicht. »Ich glaube, so einfach ist es nicht.«
»Warum nicht?«
»Diese Auswahl ist zu klein. So viel Glück habe ich nicht.«
»Wie kannst du so –«
»Vergiss es«, sagte er kurz angebunden. »Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher, also spekuliere bitte nicht. Vielleicht weiß ich mehr, wenn Megan einen ihrer Hellseherfreunde aufgetrieben hat.«
Eve zuckte mit den Schultern. »Ich versuche nur, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Das scheint mir vernünftig.« Sie zog eine Grimasse. »Na ja, so vernünftig, wie so etwas eben sein kann. Das ist ein Spiel mit völlig neuen Regeln, nicht wahr?«
»Auch wenn die Regeln neu sind, werde ich den Fall ganz lehrbuchmäßig behandeln. Da ist ein Mörder, den ich fassen muss, und ich gehe so vor wie immer. Das ist die einzige Art und Weise, um mich vor dem Durchdrehen zu bewahren. Ich versuche Jelaks Schritte nachzuvollziehen. Es ist schon ein unglaublicher Zufall, dass er gerade dann auftaucht, wenn wir diesen Kelch im Kühlschrank finden.«
»Du glaubst, Jelak hat Nancy Jo getötet?«
»Wie gesagt, ich habe ein Problem mit dem Zufall.«
»Ich auch«, erklärte Eve. »Montalvo sagt, seine Detektive versuchen mehr über ihn herauszufinden.«
»Ich wollte ihn heute im Lauf des Tages anrufen.«
Überrascht sah sie ihn an. »Tatsächlich?«
»Nicht gerade voller Begeisterung. Aber dieser mörderische Scheißkerl ist in mein Haus eingedrungen. Dieser Kelch war eine klare Drohung. Ich werde jede Chance nutzen, um ihn zu erwischen.« Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer.
»Sogar Montalvo.«
München, Deutschland
»Mark, komm mal her und schau dir das an.« Renata Wilger zog das Fax aus dem Gerät, und ihr Cousin trat neben sie. »Ich glaube, den habe ich schon einmal gesehen.« Sie reichte ihm die Zeichnung des Kelchs. »Fiero?«
Mark betrachtete das Fax prüfend. »Fiero«, bestätigte er. »Hat Megan das geschickt?«
»Dabei geht es eigentlich um ein anderes Problem.« Sie nahm das Fax wieder an sich. »Aber das hat vermutlich nicht solche Ausmaße.«
Sie warf Mark einen Blick zu. »Wenigstens wissen wir jetzt ungefähr, wo er sich befindet. Ich werde Seth Caleb anrufen und ihm davon erzählen.« Sie verzog das Gesicht. »Darauf freue ich mich nicht.«
»Du wirst schon mit ihm zurechtkommen.«
»Weil er es zulässt. Ich würde wirklich gern mal sehen, wie er sich benimmt, wenn du nicht dabei bist. Er respektiert dich, weil er dich als ehemaligen israelischen Agenten für einen Jäger wie sich selbst hält.«
»Aber du bist es, die ihn für die Jagd engagiert.« Mark lächelte. »Und er hat auch vor dir Respekt. Er hat mir einmal gesagt, dass in der Welt immer Platz für Hitzköpfe sei. Sie machten das Leben interessant.«
»Wirklich?« Sie spürte, wenn sie mit Caleb sprach, immer eine kühle Skepsis. Das störte sie nicht. Sie hatte nicht den Wunsch, ihm näherzukommen. Sie überlegte, ob sich überhaupt irgendjemand so weit an ihn heranwagte. »Das war möglicherweise kein Kompliment. Bei Caleb weiß man nie, ob nicht eine gewisse Bösartigkeit dahintersteckt.« Eigentlich sollte das keine Rolle spielen. Es war ihre Aufgabe, mit jeder Art von Menschen umzugehen, um die Sicherheit ihrer Familie zu bewahren. Caleb war nur einer von ihnen, und man musste ihm klarmachen, dass nicht alles immer so lief, wie er es wollte. Sie ging zum Schreibtisch und griff zum Telefon.
Sie erreichte Seth Calebs Anrufbeantworter. »Renata Wilger. Ich schicke Ihnen ein Foto auf Ihr Handy. Rufen Sie mich zurück.« Sie legte auf.
Dann lehnte sie sich an die Tischkante und wartete.
Zwei Minuten später klingelte ihr Telefon.
Sie lächelte, als sie die Nummer auf dem Display sah. Seth Caleb. Sie nahm den Anruf an.
Die Frage kam rasiermesserscharf. »Wo?«
Megans Handy klingelte um vier Uhr nachmittags. Renata.
»Hast du jemanden gefunden, der Joe Quinn helfen kann?«, fragte Megan, nachdem sie die Annahmetaste gedrückt hatte. »Ich fühle mich so verdammt hilflos. Das habe ich ihm angetan, Renata.«
»Ja, das stimmt. Aber du hast es nicht absichtlich getan, also reg dich nicht so auf.«
Das war typisch Renata – unverblümt, klar und auf den Punkt. »Du solltest jemanden auftreiben, der dieselbe übersinnliche Fähigkeit hat. Hilf mir.«
»Ich bin dran.« Renata holte Luft. »Aber im Moment interessiert mich mehr die Zeichnung dieses Kelchs, die du mir gefaxt hast. Wie genau ist sie?«
»So genau wie möglich, aber ich habe den Kelch nicht gesehen. Joe Quinn ist Ermittler und hat ein geschultes Auge. Vermutlich ist die Ähnlichkeit sehr groß. Warum?«
»Ich habe das Bild meinem Cousin Mark gezeigt. Wir glauben, dass wir den Kelch kennen. Ich habe mich sofort ans Telefon gehängt. Wir werden jemanden nach Atlanta schicken, der ihn sich genauer ansieht.«
»Wegen dem Kelch? Aber das Ding ist mir egal! Ich brauche jemanden, der mir sagt, was für ein Joch ich Joe Quinn da um den Hals gehängt habe.«
»Der Kelch könnte wichtiger sein. Zumindest dringlicher für uns. Wir vermuten, dass er einem der Familienmitglieder Schaden zugefügt hat. Der Mann, den wir schicken, ist Seth Caleb, und ich habe ihm gesagt, er soll sich bei dir melden, und vielleicht tut er das auch. Der Mistkerl macht normalerweise, was er will.«
»Es interessiert mich nicht, was er macht. Ich will Antworten, Renata.«
»Du wirst sie bekommen. Aber das hier ist wichtig. Du weißt, wir dürfen nicht zulassen, dass jemand der Familie Schaden zufügt. Das könnte zu einer unangenehmen Kettenreaktion führen. Die anderen Mitglieder sehen sich bereits als Opfer, und manchmal kann man sie kaum davon abhalten, zurückzuschlagen. Das solltest du verstehen. Du bist Teil der Familie, Megan.«
»Alles, was ich von der Familie bisher hatte, ist diese Fähigkeit, die mein Leben zum Alptraum gemacht hat. Ist dieser Seth Caleb ein Agent oder eine Art Friedenswächter?«
»Frieden? Darum geht es ihm überhaupt nicht. Er kennt nicht einmal die Bedeutung des Wortes.«
»Warum schickt ihr ihn dann?«
»Weil er auch kommen würde, wenn wir ihn nicht schicken. Als er von dem Kelch erfuhr, wollte er sofort aufbrechen. Aber er ist klug und erfahren, und damit könnte er uns aus den Schwierigkeiten heraushalten.« Sie wartete Megans Antwort nicht ab. »Ich rufe dich an, sobald ich noch etwas für dich herausfinde.« Sie legte auf.
Noch etwas? Renata hatte ihr überhaupt nichts Interessantes gesagt, dachte Megan enttäuscht. Sie konnte diesen explosiven Caleb in dieser ohnehin bereits angespannten und verwirrenden Situation überhaupt nicht brauchen. Sie hatte schon genug Probleme, mit denen sie fertig werden musste.
Na gut, möglicherweise gab es auch einen positiven Aspekt. Wenn Nancy Jos Killer bald gefasst wurde, dann würde ihr Geist vielleicht verschwinden und mit ihr ein Teil von Joes Problem. Und vielleicht konnte dieser Seth Caleb Licht ins Dunkel bringen.
Allerdings hatte Renata ihn nicht wie einen Heilsbringer beschrieben. Ihr zufolge glich er mehr einer geladenen Waffe.
Megan konnte nur hoffen, dass sich alles zum Guten wendete.
»Wo zum Teufel waren Sie?«
Joe drehte sich um und sah Ed Norris mit großen Schritten aus dem Büro der Chefin stürmen. Die Augen des Senators waren klein und rot gerändert, er sah aus, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Das stimmte vermutlich, dachte Joe. Man schlief nicht, wenn man von allen Feuern der Hölle gepeinigt wurde. »Guten Tag, Senator.«
»Kommen Sie immer erst um zwei Uhr nachmittags zur Arbeit?«, wollte Norris wissen. »Na, dann sollten Sie sich umgewöhnen, solange Sie an dem Fall meiner Tochter arbeiten. Ich will, dass Sie um acht Uhr morgens hier sind und den ganzen Tag Ihrer Pflicht nachkommen.«
»Ich arbeite so lange, wie es nötig ist«, sagte Joe. »Und dabei schaue ich nicht immer auf die Uhr.«
»Sehr praktisch.«
Joe bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Der Mann tat ihm leid. »Manchmal.«
»Nicht wenn es um Nancys Fall geht.«
Zum Teufel mit der Ruhe. »Hören Sie, ich war heute Morgen nicht da, weil ich gestern Nacht noch einmal zum Tatort gefahren bin und erst bei Morgengrauen heimgekommen bin. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle, denn das geht Sie überhaupt nichts an. Ich bin einzig und allein meiner Vorgesetzten gegenüber verantwortlich, und die ist gegen den Druck eines Senators völlig immun.« Er fügte hinzu: »Übrigens wäre es hilfreich, wenn Sie sich vom Allatoona-See fernhielten. Sie scheuchen nur die Medien auf und sind uns im Weg.«
»Ich musste dorthin. Ich wollte –« Sein Mund verzog sich schmerzlich. »Aber diese Reporter haben sich auf mich gestürzt. Wahrscheinlich hätte ich damit rechnen müssen, dass sie … aber ich habe nicht nachgedacht.« Er holte tief Luft. »Bei mir geht derzeit alles schief. Ich kann an nichts anderes denken als an Nancy Jo. Und an diesen Scheißkerl, der sie umgebracht hat. Ich muss ihn erwischen, Quinn.«
»Lassen Sie mich meine Arbeit tun. Es wäre ihr bestimmt nicht recht, wenn Sie sich einmischten.«
»Einmischen? Ich stecke schon mittendrin. Wie kann ich –« Er hielt inne. »Haben Sie etwas Neues herausgefunden?«
»Wir glauben, dass sie möglicherweise in einem Parkhaus im Perimeter-Einkaufszentrum überfallen wurde. Ich habe jemanden hingeschickt, der die Angestellten befragt und die Überwachungskameras überprüft.«
»Warum im Perimeter-Einkaufszentrum?«
»Wir haben Nancys Mitbewohnerin Chelsea Burke befragt, Ihre Tochter wollte dort einkaufen. Chelsea wäre gern mitgekommen, aber sie hatte am nächsten Tag eine Prüfung.«
»Wenn sie dabei gewesen wäre, hätte er Nancy Jo vielleicht nicht überfallen. Manchmal liegt es an solchen Kleinigkeiten.«
Joe nickte. »Das stimmt.« Er wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie.« Norris zögerte. »Ich möchte auf dem Laufenden gehalten werden. Es würde sich für Sie lohnen, wenn Sie über jede entscheidende Entwicklung in dem Fall zuallererst mich informieren.«
Damit er den Kerl selbst verfolgen konnte. Nancy Jo hatte recht gehabt, er bot Geld an.
»Ich bin mir sicher, unser Captain wird Sie über die Ermittlungen informieren«, sagte Joe. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich muss einige Telefonanrufe erledigen.«
»Wenn Sie es sich anders überlegen … Warum sind Sie noch einmal zum Allatoona gefahren? Hatten Sie etwas vergessen?«
»Nein, ich hatte nichts vergessen. Aber ich hatte so eine Ahnung, dass sie im Wald und nicht am Ufer umgebracht worden ist. Ich habe die Kriminaltechniker gebeten, das zu überprüfen. In ein paar Stunden wissen wir mehr.«
»Wie kommen Sie darauf? Vielleicht verschwenden Sie damit nur Zeit. Er könnte entkommen, während wir Ihren ›Ahnungen‹ nachgehen.«
»Oder wir sind einen Schritt weiter«, sagte Joe. »Ich vertraue auf meinen Instinkt. Ich werde Ihnen Bescheid sagen, wenn ich richtig lag.«
Er spürte Norris’ Blick in seinem Rücken, als er davonging. Dieser Fall machte ihm in mehr als einer Hinsicht Kopfschmerzen. Norris würde ihm ständig im Nacken sitzen, und wie viel von dem, was Nancy Jo ihm berichtet hatte, konnte Joe mit seinem »Instinkt« erklären? Wenn er Norris erzählen musste, warum er auf den Überwachungsfilmen des Parkhauses nach einem großen hellen Lincoln suchen ließ, wäre er in ziemlicher Erklärungsnot.
Na gut, dann musste er die Wahrheit eben umschreiben und Norris ausweichen, so gut es ging. Keine leichte Aufgabe, denn Norris war verletzt und zornig und wollte über jedes Detail der Ermittlung informiert werden. Joe konnte es ihm nicht verdenken, an seiner Stelle wäre es ihm nicht anders gegangen. Nancy Jo machte sich auf jeden Fall zu Recht Sorgen um ihren Vater.
Verdammt, dieser Gedanke an Nancy Jo war aus dem Nichts gekommen und fühlte sich völlig normal an. Als wäre sie für ihn ein lebendiges, denkendes Wesen.
Schnell schob er diese Erkenntnis beiseite. Es war besser, sich auf den Fall zu konzentrieren, auf den Mann, der Nancy Jo umgebracht hatte. Er musste eine Verbindung zwischen Jelak und dem Mord finden.
Und das bedeutete, er musste in den sauren Apfel beißen und Montalvo anrufen.