4
Ich habe etwas vom Chinesen mitgebracht«, sagte Joe, als er das Haus betrat. »Ich weiß, ich hätte erst anrufen sollen. Hast du schon gegessen?« Er stellte die Tüte auf dem Küchentisch ab. »Wo ist Jane?«
»Sie macht einen Spaziergang. Patty hat vor ein paar Stunden Janes Hund vorbeigebracht.« Sie hob die Hand, als er etwas sagen wollte. »Wir wissen zwar, dass Toby freundlich ist, aber er sieht nicht so aus. Niemand wird ihr etwas tun, solange Toby bei ihr ist.«
»Ich bin froh, wenn du dir da so sicher bist. Ich bin es nicht.«
»Außerdem habe ich einen der wachhabenden Beamten gebeten, ihr hinterherzugehen. Und nein, wir haben noch nicht zu Abend gegessen. Wir hatten ein spätes Mittagessen und dachten, wir warten besser auf dich.« Sie begann die Schachteln aus der Tüte zu holen. »Hast du schon einen Bericht über das Blut in dem Kelch, den wir gefunden haben?«
»Menschliches Blut. Typ A negativ.«
»Das habe ich befürchtet.« Sie warf die leere Tüte in den Abfalleimer. »Ob das eine Warnung sein soll?«
»Ich habe keine Ahnung. Das wäre auf jeden Fall eine Möglichkeit.« Er holte Teller aus dem Küchenschrank. »Erinnerst du dich an die Zeichnungen auf dem Kelch?«
»Wie könnte ich sie vergessen? Ich habe das verdammte Ding ein paar Stunden lang angestarrt, während ich darauf gewartet habe, dass es abgeholt wird. So eine Art mittelalterlicher Festsaal, neun Männer, die sitzen, und einer, der steht, mit einem Kelch in der Hand. Ungewöhnlich.«
»Nicht so sehr ungewöhnlich. Wir haben einen weiteren in Nancy Jo Norris’ Hand gefunden, der ganz genauso aussah.«
Sie erstarrte. »Was?«
»Dieselbe Gravur.« Er nahm das Besteck heraus. »Sie prüfen gerade das Blut. Aber das von Nancy Jo war es nicht. Sie hatte B positiv.«
»Du liebe Güte. Wenn es nicht ihres war, muss es von einem anderen Opfer stammen. Was hast du gesagt, ihr Mörder ist –«
»Ich weiß es nicht.« Er fuhr plötzlich herum und warf das Besteck auf den Tisch. »Verdammt noch mal, ich weiß überhaupt nichts!« Mit zwei Schritten war er bei ihr, und sie lag in seinen Armen. »Das ist alles verrückt.« Seine Stimme wurde von ihren Haaren gedämpft. »Halt mich einfach fest, ja?«
»Okay.« Sie umarmte ihn fest und beschützend. »Was ist passiert, Joe?«
»Was soll schon passiert sein? Außer dass wir einen Ritualmörder haben, der sich offenbar dich als Opfer ausgesucht hat, ist alles ganz wunderbar.«
Irgendetwas war überhaupt nicht in Ordnung. In Joes Stimme klang so viel Verzweiflung, wie Eve es noch nie zuvor gehört hatte. Von dem Augenblick an, als er durch die Tür trat, war ihr klargewesen, dass sie sich geirrt hatte: Was ihn heute Morgen beunruhigt hatte, war keineswegs vorbei. »Das geht vorüber. Es ist ja nicht so, dass wir nicht schon mit –«
»Ich hatte damit noch nie zu tun.« Er schob sie von sich und drehte sich um. »Das ist verrückt.«
Verrückt. Schon in den letzten paar Sätzen hatte er dieses Wort zwei Mal verwendet. Eves Herz sank, während sie ihn unverwandt anblickte.
Rufen Sie mich an, wenn er sich nicht normal verhält, hatte Megan gesagt.
Aber Eve konnte nicht glauben, dass Joes Benehmen irgendetwas mit dieser Pandora-Sache zu tun haben könnte. Wie sie Megan gesagt hatte, es war außerhalb ihres Vorstellungsbereichs.
Er hatte jedes Recht, genervt zu sein. Er war ein Mann, der andere immer beschützte, und machte sich Sorgen um sie.
Genervt, aber nicht verzweifelt.
Und er schien nicht zugeben zu wollen, dass er verzweifelt war. Das war für ihn vermutlich eine Niederlage, ein Kontrollverlust.
Na gut. Sollte er auf seine Weise damit umgehen. Er war zu ihr zurückgekommen. Jetzt musste sie geduldig bleiben und warten, bis er auch den letzten Schritt machen konnte.
»Ja, es ist verrückt.« Sie verteilte den Reis auf die Teller. »Ich vermute, wir müssen einfach lernen, einen Sinn darin zu sehen. Ruf doch bitte Jane, ehe das Essen kalt wird.«
»Puh!« Eve keuchte, als sie von Joe weg auf ihre Seite des Bettes rollte. »Das war … interessant.«
»Habe ich dir weh getan?«
»Nein. Es war nur intensiv. Nichts dagegen zu sagen.«
An diesem Abend war der Sex explosiv und erschöpfend gewesen. Wieder die Verzweiflung. Sie ahnte, dass sein Begehren weniger mit sinnlichen Bedürfnissen zusammenhing. »Ein bisschen anders …«
Sie spürte, wie er neben ihr erstarrte. »Anders? Was zum Teufel meinst du damit? Entweder habe ich dir weh getan oder nicht.«
»Hast du nicht. Das habe ich doch gesagt. Es war ziemlich unglaublich.« Wie der Sex mit Joe immer war. Sie rutschte näher an ihn heran und schob den Kopf an ihren Lieblingsplatz an seiner Schulter. »Verteidige dich doch nicht ständig.«
Er entspannte sich wieder. »Tut mir leid. Wie gesagt, ich bin etwas genervt.«
»Habe ich bemerkt.« Sie schwieg einen Augenblick. Na gut, dann mal los. »Was ich dir noch nicht erzählt habe: Megan hat mich heute zwei Mal angerufen. Sie war sehr aufgeregt.«
»Schon wieder so ein übersinnlicher Hokuspokus?«
»Du bist ganz schön bissig. Dabei hast du mir erzählt, dass du ihr geglaubt hast, als sie dir von den toten Kindern erzählte.«
»Ich habe dir auch gesagt, dass ich sie bei keinem weiteren Fall dazuholen würde.« Er küsste sie auf die Schläfe. »Ich bin einfach ein bisschen zu pragmatisch. Es muss vernünftige Erklärungen geben. So lebe ich eben.«
»Megan ist Notfallärztin. Pragmatischer geht es kaum. Aber dann musste sie sich eben mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie diese sogenannte Gabe hat.« Eve hielt inne. »Aber sie hat Probleme mit dieser anderen Gabe, die sie angeblich auch noch hat, der Fähigkeit zu übertragen. Sie kann das nicht kontrollieren, und sie versteht es nicht.«
»Dann würde ich es sicher auch nicht verstehen«, sagte er trocken. »Reden wir nicht mehr drüber.«
Eve begriff, dass er alles, was mit Hellseherei zu tun hatte, vermeiden wollte. »Na gut, ich wollte dir nur sagen, dass Megan uns gewarnt hat wegen dem, was in dem Sumpfgebiet geschehen ist. Erinnerst du dich, dass sie sich nicht anfassen lassen wollte? Sie hat gesagt, manchmal löst es latente übersinnliche Fähigkeiten aus, wenn sie jemanden berührt. Und manche Menschen kommen damit nicht klar. Sie hatte Angst, weil ich sie angefasst habe.« Nur nicht erwähnen, dass auch Joe mit dieser Warnung gemeint war. Sonst würde er sie instinktiv zurückweisen. Er sollte seine eigenen Schlüsse ziehen. »Ich habe ihr erklärt, dass mit mir alles in Ordnung ist und dass ich mit ihr Kontakt aufnehme, wenn ich etwas merke.«
Nach einer Weile sagte er: »Sie denkt, du hörst tote Menschen, genau wie sie?«
»Sie hat gesagt, das hängt von der jeweiligen Person ab. Es könnte auslösen, dass jemand Gedanken lesen kann oder Heilkräfte bekommt oder vielleicht Blumen wachsen lassen kann. Die besondere Fähigkeit, die er eben in sich trägt.« Sie kuschelte sich an ihn. »Und ich habe ihr gesagt, dass ich es schwer fände, das zu glauben.«
»Natürlich.« Er wirkte abwesend. »Völlig lächerlich.«
»Nichts an Megan ist lächerlich. Es befindet sich nur außerhalb meines Erfahrungsbereichs, daher kann ich es mir nicht vorstellen.«
»Ich kann es mir vorstellen«, gab er mit plötzlicher Schärfe zurück. »Und ich finde es verdammt lächerlich.«
»Jetzt reg dich doch deswegen nicht auf.«
»Warum nicht? Es ist Blödsinn. Tote Kinder, die aus dem Jenseits sprechen, Leichen, die herumspazieren. Das ist Blödsinn.«
»Das werde ich ihr sagen, wenn sie wieder anruft. Sie wird dir vermutlich zustimmen. Aber mit diesem Blödsinn muss sie leben.«
»Nun, aber ich muss das nicht.« Er setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich kann jetzt nicht schlafen. Ich werde bei der Gerichtsmedizin anrufen und nachfragen, ob der Bericht über die Norris-Autopsie schon vorliegt.«
»Es ist fast Mitternacht.«
»Dort ist immer jemand. Wir arbeiten rund um die Uhr an diesem Fall.« Mit einem Schulterzucken schlüpfte er in den Bademantel. »Ed Norris’ Mitarbeiter sind uns bei jedem Schritt auf den Fersen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, bleib im Bett. Es wird nicht lange dauern.«
Eve sah ihm hinterher, als er das Zimmer verließ. Sie hatte getan, was sie konnte. Sie wusste nicht, ob es genug war. Es war, als müsste sie mit verbundenen Augen an einem Abhang entlanggehen. Zum ersten Mal hatte sie keine Ahnung, was Joe dachte. Und es war nur eine Vermutung, dass das Ganze etwas mit Megans Fähigkeit zur Übertragung zu tun hatte. Sie griff nach Strohhalmen. Ihr blieb nur, ihm Raum zu lassen und zu hoffen, dass er selbst damit fertig wurde.
Verdammt, das war schwer.
Worüber beklagte sie sich eigentlich? Auch wenn es schwer war, so bekam sie jetzt trotzdem nur einen Bruchteil der Hölle zu spüren, durch die Joe seit Jahren mit ihr ging. Von ihrer ersten Begegnung an, damals, als Bonnie entführt worden war, hatte er versucht, ihr jede Last abzunehmen, ihr den Schmerz zu erleichtern. Dabei war sie voller Abwehr gewesen, als er an jenem Morgen zum ersten Mal ihre Küche betrat.
Jemand klopfte vorsichtig an die Küchentür. »Ms Duncan, FBI. Ich habe an der Vordertür geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Darf ich hereinkommen?«
Weil sie die Klingel ignoriert hatte. Sie drehte sich wieder zum Herd um. »Ja, vermutlich dürfen Sie das.«
Sie hörte, wie sich hinter ihr die Tür öffnete.
»Ich kann verstehen, dass Sie keine Lust haben, auf das Klingeln zu reagieren. Wie ich gehört habe, wurden Sie von den Medien belagert. Ich bin Special Agent Joe Quinn, FBI. Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen.«
Sie warf einen Blick über die Schulter, während sie das Omelett in der Pfanne wendete. Dunkelblauer Anzug, eckiges Gesicht, braune Augen, vielleicht sechs-oder siebenundzwanzig, gutaussehend. Jung, zu jung. Warum hatten sie ihr nicht jemand Älteren geschickt, mit mehr Erfahrung? »Fragen? Ich habe schon eine Million Fragen beantwortet. Das steht alles in den Akten der Polizei von Atlanta. Fragen Sie doch dort.«
»Ich muss meinen eigenen Bericht schreiben.«
»Bürokratie. Vorschriften.« Sie hob das Omelett heraus und legte es auf einen Teller. »Warum wurde nicht gleich, nachdem es passiert ist, jemand geschickt?«
»Wir mussten auf eine Anfrage der örtlichen Polizei warten.«
»Sie hätten hier sein sollen. Alle hätten sofort kommen sollen.« Ihre Hand zitterte, als sie den Teller nahm und ihn auf ein Tablett stellte. »Ich muss wohl mit Ihnen reden, aber erst muss ich meiner Mutter dieses Omelett bringen. Seit Bonnies Verschwinden hat sie das Bett nicht mehr verlassen. Ich kriege sie nicht dazu, etwas zu essen.«
»Ich nehme das.« Er griff nach dem Teller. »Welches Zimmer?«
Sie hatte keine Lust, sich zu streiten. Soll er doch wenigstens irgendetwas tun. Das Wichtigste hatte er ohnehin nicht geschafft. Er hatte Bonnie nicht gefunden. »Die erste Tür oben an der Treppe.«
Sie brachte die Pfanne zum Spülbecken und wusch sie ab. Beschäftigt bleiben. Nicht nachdenken. Weitermachen.
»Sie hat angefangen zu essen«, sagte Quinn, als er wieder in die Küche kam. »Vielleicht war es der Schreck beim Anblick eines Fremden.«
»Vielleicht.«
»Und was essen Sie, Ms Duncan?«
»Ich esse genug. Ich weiß, dass ich meine Kraft brauche.« Sie trocknete die Pfanne ab. Wenn sie nichts mehr zu tun hätte, würde sie verzweifeln. »Was wollen Sie wissen, Agent Quinn?«
Er blickte in seine Notizen. »Ihre Tochter Bonnie ist vor einer Woche im Park verschwunden. Sie ging zum Kiosk, um sich ein Eis zu kaufen, und kam nicht mehr zurück. Sie trug ein Bugs-Bunny-T-Shirt, Jeans und Turnschuhe.«
»Ja.«
»Und Sie haben keine verdächtige Person in der Nähe gesehen?«
»Niemanden. Es war viel los. Ich habe nicht erwartet, dass jemand –« Sie holte tief Luft. »Niemand Verdächtigen. Ich habe der Polizei gesagt, dass vielleicht jemand gesehen hat, was für ein süßes Kind meine Bonnie ist, und sie mitgenommen hat. Vielleicht jemand, der ein Kind verloren hat und ein anderes dafür wollte.« Sie starrte ihn an. »Und dann schauten sie mich nur so an, wie Sie das jetzt tun, und gaben beruhigende Geräusche von sich. So könnte es passiert sein.«
»Ja, das könnte sein.« Er schwieg einen Augenblick. »Aber wahrscheinlich ist es nicht. Ich will Sie nicht anlügen.«
»Das weiß ich. Ich bin nicht dumm. Ich bin auf der Straße aufgewachsen und weiß alles über den Abschaum, der sich dort herumtreibt.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Aber ich darf die Hoffnung nicht aufgeben. Meine Kleine. Ich muss sie wiederhaben. Wie könnte ich ohne Hoffnung weiterleben?«
»Dann hoffen Sie.« Seine Stimme war rau. »Und ich hoffe mit Ihnen. Wir werden jeder Spur nachgehen, um Bonnie gesund und lebendig wiederzufinden. Es gibt nichts, was ich nicht tun würde. Halten Sie sich einfach an mich und helfen Sie mir.«
Sie glaubte ihm. Seine gefühlvolle Rede war überwältigend. Plötzlich sah er nicht mehr aus wie der junge Mann, den sie in ihm gesehen hatte, als er die Küche betrat. Er wirkte hart, reif und überaus fähig. »Natürlich helfe ich Ihnen.« Sie wandte den Blick ab, als sie die Pfanne in den Schrank zurückstellte. »Ich habe Angst, wissen Sie«, sagte sie stockend. »Ständig habe ich Angst. Meine Mutter hat aufgegeben und sich einfach ins Bett zurückgezogen, aber das kann ich nicht. Ich muss weiterkämpfen. Solange ich kämpfe, habe ich die Chance, Bonnie wiederzufinden.«
Er nickte. »Dann kämpfen wir gemeinsam. Ich bleibe bei Ihnen, bis wir das durchgestanden haben.« Er hielt inne. »Wenn Sie es zulassen.«
Gemeinsam.
Plötzlich fühlte sie sich etwas weniger einsam. Nichts konnte die brennende Furcht dämpfen, aber es war tröstlich, sie zu teilen. Langsam nickte sie. »Das wäre außerordentlich nett. Danke, Agent Quinn.«
Aber nicht im Traum hätte sie sich vorstellen können, dass Joe so lange Zeit bei ihr bleiben musste, um ihr bei der Suche nach Bonnie zur Seite zu stehen. Sie starrte in die Dunkelheit. Damals, als ihr Leben die reinste Hölle war und um sie herum die Welt zusammenbrach, war er alles für sie gewesen: Freund, Bruder, eine dauerhafte Stütze. Er wies jeden an, nach Bonnie zu suchen, dann kümmerte er sich um Eves geistige Gesundheit, als sie allmählich begriff, dass ihre Tochter tot war, ermordet und irgendwo verscharrt, wo Eve sie nie finden würde.
Ja, sie schuldete ihm mehr, als er je ahnen würde. Was auch immer in Joes Leben aus dem Gleichgewicht geraten war, sie musste ihm dabei helfen, es wieder in Ordnung zu bringen.
Das ist alles Blödsinn, dachte Joe und schaltete die Kaffeemaschine an. Vergiss es. Geister gab es nicht. Und übersinnliche Kräfte auch nicht.
Auch wenn er Megan in dieser Zeit im Sumpfgebiet kurzzeitig geglaubt hatte, nach seiner Rückkehr nach Atlanta war er wieder zur Vernunft gekommen.
Bis er geglaubt hatte, Bonnie Duncan zu sehen. Bis ihm Nancy Jo Norris einen Besuch abgestattet hatte.
Und falls das Halluzinationen gewesen waren, dann blieb immer noch die Tatsache, dass er offenbar von der Rolle war. Er würde wohl zum Polizeipsychiater marschieren müssen und sich von dem Typen Beruhigendes über Stress im Job erzählen lassen und dass er mal Urlaub machen sollte.
Er konnte nicht freinehmen. Nur seine Arbeit gab ihm sein inneres Gleichgewicht.
Zumindest irgendwie.
Wenigstens hielt sie ihn beschäftigt und gab seinem Leben einen Zweck. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer der Gerichtsmedizin.
»Tim Brooks.«
Einer der Assistenten. Joe hatte schon einmal mit ihm gesprochen. »Quinn. Ist die Autopsie schon erledigt?«
»Du lieber Himmel, nein«, antwortete Brooks säuerlich. »Die wird diesmal Tage dauern. Jeder auch nur mögliche Test muss durchgeführt werden.«
»Und was gibt es bis jetzt?«
»Verblutet wegen Durchtrennung der Halsvene.«
»Sonst noch was?«
»Ätherreste und Fasern in den Nasenlöchern. Er hat sie offenbar betäubt, ehe er sie umgebracht hat.«
Joe erstarrte. »Äther?«
»Sie haben richtig gehört. Ich muss wieder zurück. Sie wissen ja, dass wir nicht mit Ihnen sprechen sollen, ehe wir den Abschlussbericht haben.«
»Danke, Brooks.« Er legte langsam auf.
Er hat mich angegriffen und mir ein Taschentuch aufs Gesicht gedrückt. Es hat süßlich gerochen. Dann hat er mich hergebracht und mir die Kehle durchgeschnitten.
Nancy Jos Worte während seiner Halluzination heute.
Aber wie hätte er dieses eigenartige Detail halluzinieren können?
Spekulation aufgrund von Hunderten ähnlicher Fälle?
Aber es gab keinen Fall, der diesem hier glich. Um Gottes willen. Er war zunehmend davon überzeugt, dass das alles Wirklichkeit war. Und wenn es nicht geraten war, dann blieb ihm nur eine Wahl.
Zum Polizeipsychiater gehen oder kopfüber in den Fluss ohne Wiederkehr springen.
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging langsam zurück ins Schlafzimmer.
Eve sah Joe nach, als er davonfuhr. Erst dann griff sie zu ihrem Handy und wählte Megans Nummer. Nach dreimaligem Klingeln ging Megan an den Apparat. »Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe. Habe ich Sie aufgeweckt?«
»Das macht nichts. Ich hatte Sie ja gebeten, mich anzurufen, wenn Sie mich brauchen.« Sie machte eine Pause. »Und, brauchen Sie mich?«
»Das könnte sein. Vielleicht ist Joe auf dem Weg zu Ihnen. Ich dachte, ich warne Sie vor.«
»Vielleicht? Sie wissen es nicht?«
»Er hat gesagt, dass er von den Gerichtsmedizinern etwas erfahren hat, was er überprüfen muss. Das könnte wahr sein oder zumindest ein Teil der Wahrheit. Es ist ein schlimmer Fall, und es ist möglich, dass wir persönlich darin verwickelt sind. Aber ich habe so eine Ahnung, dass, was auch immer er überprüfen muss, er es zusammen mit Ihnen tun möchte.«
Stille. »Sie wollen mir sagen, dass sich Joe Quinn … irrational verhält?«
»Ich sage Ihnen, dass Joe zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, zweifelt an seiner …« Sie holte tief Luft. »Es gibt niemanden, der zuverlässiger und souveräner ist als Joe. Aber zurzeit ist er alles andere als das. Ich weiß nicht, ob das etwas mit Ihnen zu tun hat oder nicht, aber ich habe mich bemüht, ihn in Ihre Richtung zu schieben. Mehr konnte ich nicht machen.«
»Sie haben nicht mit ihm gesprochen?«
»Verdammt, er wäre mir nur ausgewichen. Sollte bei ihm irgendetwas Seltsames vorgehen, dann würde er das nie zugeben und schon gar nicht darüber reden. Er nennt das alles Blödsinn. Ich habe mein Bestes getan. Es muss von ihm selbst ausgehen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich mache mir Sorgen, weil ich ihm nicht helfen kann. Wenn er zu Ihnen kommt, dann helfen Sie ihm, Megan. Bitte.«
»Darum müssen Sie mich doch nicht bitten«, sagte Megan. »Ich tue, was ich kann, auch wenn ich nicht weiß, was das sein könnte. Aber ich sage Ihnen, es ist nicht immer schlimm.«
»Sie haben Irrsinn und Tod erwähnt. Ich würde sagen, das ist schon ganz schön schlimm.«
»Aber das hängt vielleicht davon ab, wie stark die einzelne Persönlichkeit ist.«
»Na ja, Joe ist stark genug. Und vielleicht hat es ja gar nichts mit Ihnen zu tun. Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.«
»Ich sage Ihnen dann Bescheid.« Megan legte auf.
Eve blickte hinaus auf den See. Hatte sie das Richtige getan? Sie hatte Joe auf Megan hingewiesen, obwohl sie gar nicht sicher war, dass Megans Fähigkeiten der Grund für Joes Problem waren. Sie hatte Angst gehabt, etwas anderes zu unternehmen.
Sie konnte nur hoffen, dass es eine Lösung gab und dass Megan sie fand.
Megan wandte sich an ihren Onkel, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. »Carey, vielleicht bekommen wir einen Besucher. Setz doch bitte mal Kaffee auf, während ich mir etwas überziehe.«
»Um diese Zeit? Wer denn?«
»Joe Quinn.«
Er runzelte die Stirn. »Ausgerechnet der? Nach den sarkastischen Bemerkungen, die er dir im Sumpf an den Kopf geworfen hat? Ich hätte ihm am liebsten einen Kinnhaken verpasst.«
»Ich auch. Aber du kannst ihm keine Vorwürfe machen, dass er mir gegenüber so zynisch war. Manchmal glaube ich diesen übersinnlichen Quatsch ja selber nicht.« Sie schnitt eine Grimasse. »Oder ich wünsche mir, ich würde nicht daran glauben. Dann wäre das Leben viel einfacher.« Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. »Und ich habe keinerlei Recht, ihm jetzt Vorwürfe zu machen.« Sie flüsterte: »Vielleicht habe ich ihm geschadet, Carey.«
»Die Sache mit der Übertragung?«
»Eve findet, er benimmt sich nicht normal. Und das zuzugeben fällt ihr bestimmt nicht leicht. Sie beschützt ihn sehr.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass er Schutz brauchte. Du warst doch diejenige, die angegriffen wurde.«
»Und sein Zynismus macht es für ihn noch schwerer … falls überhaupt etwas passiert ist.« Megan drehte sich um und ging auf das Schlafzimmer zu. »Vielleicht irrt Eve sich ja. Sie war sich nicht sicher. Vielleicht ist es etwas anderes.«
Vierzig Minuten später klingelte Joe Quinn an ihrer Tür.
Als sie öffnete, sah er sie von oben bis unten an, von ihren dunklen Haaren bis hinunter zu den Füßen. »Sie sind angezogen. Haben Sie mich erwartet?« Er grinste leicht. »Vielleicht eine übersinnliche Vorahnung?«
»Ich habe keine Vorahnungen. Soweit ich weiß, habe ich nur zwei übersinnliche Fähigkeiten. Das ist schon mehr, als mir lieb ist. Kommen Sie herein, Joe.« Sie trat beiseite. »Wir könnten in die Küche gehen und einen Kaffee trinken.«
»Ich habe nicht vor, mich gemütlich mit Ihnen zu unterhalten. Darum bin ich nicht hier.«
»Nein, gemütlich wirken Sie im Moment auch nicht.« Sie bezweifelte, dass diese Bezeichnung jemals auf ihn passte. Was man spürte, war eine harte, sehnige Kraft und eine scharfe Intelligenz. »Sie sind wütend und würden gern auf jemanden einschlagen. Nur zu. Ich habe es möglicherweise verdient.« Sie ging zur Küche. »Aber wir sollten wenigstens so tun, als ob wir uns verstehen. Mein Onkel beschützt mich sehr, und Sie stehen nicht auf der Liste der Leute, die er mag.«
»Das stört mich nicht.« Er folgte ihr. »Mit ihm kann ich umgehen.«
»Dann müssen Sie auch mit mir umgehen. Er ist alles, was ich noch an Familie habe, und ich beschütze ihn auch.« Sie setzte sich an den Tisch und bedeutete ihm, sich ihr gegenüber niederzulassen. »Ich habe ihm erklärt, dass Sie das Recht haben, sauer zu sein, aber das glaubt er mir nicht.«
Er setzte sich, aber seine Körperhaltung war so starr wie sein Gesichtsausdruck. »Und warum sollte ich auf Sie sauer sein?«
»Weil ich Ihnen möglicherweise geschadet habe.« Sie schenkte aus der Kanne, die auf dem Tisch stand, Kaffee in die Tassen. »Stimmt das?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem bösen Lächeln. »Lesen Sie meine Gedanken?«
»Nein, Ihre Körpersprache.« Sie hob die Tasse an die Lippen. »Sagen Sie, können Sie jetzt Gedanken lesen? Habe ich Ihnen das angetan?«
»Nein, verdammt noch mal.«
»Gut. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Alptraum wäre.«
»Wissen Sie das nicht?«
»Ich bin Amateurin. Das ist alles ganz neu für mich. Ich weiß, dass ich das bei einem Mann ausgelöst habe. Er ist verrückt geworden.«
»Ich bin nicht verrückt.« Sein Mund war angespannt, seine Augen glitzerten.
»Aber Sie haben sich das gefragt.«
Einen Augenblick schwieg er. »Ich hatte Zweifel. Doch ich bin zu dem Schluss gekommen, entweder ich akzeptiere, dass Sie nicht die Scharlatanin sind, für die ich Sie gehalten habe, oder ich bin auf dem Weg in die Klapsmühle. Ersteres finde ich wesentlich erträglicher. Daher bin ich gekommen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen. Bisher beruhigen Sie mich nicht sonderlich.«
»Schlimm. Aber ich glaube nicht, dass Sie beruhigt werden wollen. Sie wollen Antworten. Die kann ich Ihnen vielleicht nicht geben, aber ich werde versuchen, Ihnen dabei zu helfen, sie zu finden. Fragen Sie.«
»Geister. Sie hören die Toten. Sehen Sie sie auch?«
Ihre Tasse hielt auf dem Weg zu ihrem Mund inne. »Nein, und ich habe sie nie als Geister betrachtet. Eher als Echos dessen, was an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geschehen ist.« Sie sah ihn einen Augenblick lang an, ehe sie ihre Frage stellte: »Haben Sie sie gesehen?«
Er antwortete erst nach einer Weile. »Vielleicht.« Ein finsterer Blick. »Verdammt, es ist mir ganz schön schwergefallen, das zu sagen.«
»Wissen Sie, wer es ist?«
»Bonnie. Ich dachte erst, es wäre eine Halluzination, ausgelöst durch den Stress während der vielen Jahre der Suche nach ihr.«
»Wie oft haben Sie sie gesehen?«
»Einmal.«
»Dann könnten Sie recht haben.«
»Aber ich habe nicht versucht, Nancy Jo Norris zu finden, und ich habe sie ebenfalls gesehen.«
»Das ermordete Mädchen? Davon habe ich in den Abendnachrichten gehört.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Wie sehen sie aus? Sind es nur flüchtige Erscheinungen?«
»Nein, sie reden mit mir. Wie Sie, wie sonst irgendjemand.« Er stand auf. »Mir reicht’s. Ich verschwinde wieder. Ich höre mich wirklich wie ein Irrer an. Vielleicht bin ich es ja.«
»Warten Sie. Warum sind Sie gekommen? Was hat Sie Ihre Meinung ändern lassen, dass Sie nun glauben, ich könnte Ihnen helfen?«
»Nancy Jo hat mir erzählt, dass der Mann, der sie ermordet hat, sie von hinten gepackt und ihr ein Taschentuch auf die Nase gedrückt habe. Dann sei sie bewusstlos geworden. Die Autopsie hat gezeigt, dass sie mit Äther betäubt wurde. Es war ein winziger Beweis, aber ich habe danach gegriffen.«
»Das hätte ich auch getan«, sagte Megan. »Und so winzig ist er gar nicht.«
»Doch, ist er schon. Eigentlich würde ich sagen, es handelt sich um reines Wunschdenken, aber im Grunde gefällt mir keine der beiden Alternativen.«
»Aber eine davon haben Sie bereits akzeptiert, sonst wären Sie nicht hier.«
»Ein Hafen im Sturm. Wenn Sie mir das angetan haben, können Sie es auch wieder rückgängig machen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das bleibt Ihnen. Aber ich werde mich kundig machen.«
»Verflucht, wissen Sie das denn nicht?«
»Meine Güte, ich habe Ihnen doch gesagt, dass das alles noch ganz neu für mich ist. Vor ein paar Monaten wusste ich noch nicht einmal, dass ich sogenannte übersinnliche Fähigkeiten habe. Ich bin bestimmt keine Autorität auf dem Gebiet. Aber ich werde meine Freundin Renata Wilger in München anrufen, ob sie jemanden weiß, der Ihnen helfen kann.«
»Noch eine Voodoo-Priesterin mit übernatürlichen Kräften?«
»Nein, das nicht. Renata ist eine entfernte Cousine, und sie arbeitet als eine Art Repräsentantin für einen Familienbetrieb. Aber sie hat Kontakte.«
»Was für eine Familie? Das hört sich an wie die Mafia.«
»Nein. Es handelt sich um die Familie Devanez.« Sie zögerte. Aber sie musste es ihm sagen. Sie war ihm die ganze Wahrheit schuldig. »Es ist eine sehr alte Familie, und einige ihrer Mitglieder haben bestimmte … Fähigkeiten.«
»Eine ganze Familie von Freaks? Wo zum Teufel bin ich da hineingeraten?«
»Hören Sie, ich weiß, dass es schwierig ist für Sie. Aber für mich ist es auch nicht einfach.« Sie tadelte ihn nicht für seine Ungeduld. Ihre Erklärung würde es für ihn vermutlich nicht leichter machen. »Zur selben Zeit, als ich entdeckte, dass ich einer dieser ›Freaks‹ bin, wie Sie das nennen, habe ich festgestellt, dass ich zur Familie Devanez gehöre. Die Devanez’ waren ursprünglich Landbesitzer im südlichen Spanien. Von dort flohen sie 1485, um der Inquisition zu entkommen. Die örtlichen Bauern waren zu ihren Priestern gegangen und hatten die Familie jeder nur denkbaren Hexerei bezichtigt, vom Vorhersagen der Zukunft bis zum Gestaltwandeln. Manches davon war purer Aberglaube, doch es gibt keinen Zweifel daran, dass die Familie über gewisse Talente verfügt. Ihre Mitglieder zerstreuten sich praktisch über die gesamte zivilisierte Welt und tauchten unter. Aber José, das Familienoberhaupt, war von der Kraft der Einheit überzeugt und wollte nicht, dass die Familienmitglieder den Kontakt untereinander verloren. Er führte ein Stammbuch ein, in dem die Namen, Adressen und sogar die jeweiligen Fähigkeiten der Familienmitglieder verzeichnet waren, und schickte seinen Bruder Miguel damit außer Landes. Seit dieser Zeit gab es immer einen Bewahrer des Stammbuchs, der durch die Welt reist und den Überblick über die Familie behält.« Sie holte Luft. »Und über die Schwierigkeiten, in die wir wegen unseren Fähigkeiten geraten.«
»Und Renata Wilger kann sich mit diesem verdammten Bewahrer des Stammbuchs in Verbindung setzen, damit mir geholfen wird?«
»Renata ist die Bewahrerin des Stammbuchs.« Leise fügte sie hinzu: »Und sie ist meine Freundin. Sie wird alles tun, was in ihrer Macht steht.«
»Wie ich es hasse, auf Sie oder Renata oder sonst jemanden angewiesen zu sein.« Er klang sehr frustriert. »Ich will das alles nicht. Ich klammere mich an Strohhalme. Eigentlich möchte ich mit Ihrem ganzen faulen Zauber nichts zu tun haben.«
»Dann lassen Sie es. Gehen Sie zum Psychiater. Ich bin sicher, dass er Ihnen verspricht, nach ein paar hundert Sitzungen würden Sie keine Gespenster mehr sehen. Oder vielleicht können Sie einfach lernen, sie nicht mehr zu beachten.«
Er schwieg. »Glauben Sie, dass sie bloße Imagination sind?«
»Nein, ich glaube, für Imagination sind Sie viel zu stur.« Sie verzog das Gesicht. »Ich glaube, dass ich das bei Ihnen ausgelöst habe.«
Voller Abscheu schüttelte er den Kopf. »Wie weit ist es mit mir gekommen, wenn ich über solche Aussagen erleichtert bin.«
Sie erhob sich. »Ich werde Renata anrufen. Um Ihnen zu sagen, was Sie tun sollen, brauche ich jemanden, der sehr viel mehr Ahnung von der Sache hat als ich. Ich wüsste nicht einmal, wo ich anfangen sollte.«
»Das kann ich Ihnen sagen«, erklärte Joe. »Ich möchte, dass Sie mich zum Allatoona begleiten.«
Ihre Augen wurden groß. »Warum?«
»Ich möchte wissen, ob Sie Nancy Jo Norris hören können und was sie Ihnen über die Ereignisse erzählt. Solange ich genaue Informationen vom Opfer selbst bekommen kann, will ich das auch nutzen.«
»Sehr professionell. Ist das alles?«
»Nein.« Er zögerte, dann stieß er hervor: »Dieser Irrsinn macht mir eine Heidenangst. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich will jemanden bei mir haben.«