Kapitel 29
Coelestins Geschenk
Christopher bestand darauf, mich nach Hause zu bringen.
Meine Mutter schnappte nach Luft, als sie ihn an meiner Seite erblickte. Ich konnte das gut nachvollziehen, schließlich war auch ich noch niemandem zuvor begegnet, der einem Vergleich mit Christopher standgehalten hätte.
»Schön, dich kennenzulernen, Christopher. Linde hat gar nichts von dir erzählt.« Meine Mutter brach ab, da sie bemerkte, dass sie peinliches Terrain betrat.
»Ich habe Linde darum gebeten, nichts von meinem Besuch zu sagen, da es noch nicht sicher war, ob und wann ich vorbeikommen würde.« Christopher betonte meinen Namen mit einem süffisanten Zug um die Mundwinkel, was ihm einen bösen Blick von mir einbrachte.
»Kennt ihr euch schon länger?«, bohrte meine Mutter weiter. Im Klartext hieß das: Seit wann seid ihr zusammen, und warum weiß ich nichts davon?!
»Christopher ist auch auf dem Internat. Wir hatten anfangs so unsere Probleme miteinander und sind erst seit kurzem befreundet.«
Ich warf Christopher einen warnenden Blick zu. Er ignorierte ihn, legte stattdessen besitzergreifend einen Arm um meine Taille und zog mich an sich.
»Probleme, die wir glücklicherweise aus dem Weg räumen konnten.«
Meine Mutter verschüttete die Milch, die sie gerade in ihren Kaffee goss, und betrachtete mich ungläubig.
»Dann bleibst du sicher bis zum Ende der Ferien. Reist du in Begleitung?«
Ich hielt den Atem an, da ich ahnte, worauf meine Mutter hinauswollte. Und auch Christopher schien ihre Gedanken zu kennen. Das Glitzern in seinen Augen ließ keine Zweifel aufkommen.
»Nein, ich bin allein unterwegs. Und ich habe vor, Lynn keine Sekunde aus den Augen zu lassen.«
Die Reaktion meiner Mutter überraschte mich. Natürlich erfasste sie nicht die Bedeutung, die hinter Christophers Worten lag, und betrachtete sie als Scherz.
»Soll ich schon mal das Gästezimmer herrichten oder gilt dein Versprechen auch für die Nacht?«
Ich errötete in Rekordzeit und hätte mich am liebsten in ein Erdloch verkrochen, was Christopher natürlich nicht entging. Nachdenklich musterte er mich, während er antwortete: »Danke, ich habe bereits eine Unterkunft. Allerdings hätte ich gegen ein Frühstück mit Lynn nichts einzuwenden.«
Meine Mutter warf mir einen verstörten Blick zu, der mich veranlasste, schnellstens das Weite zu suchen.
»Wolltest du dir nicht noch Sulmona anschauen? Wir verpassen den Bus, wenn wir weiter trödeln.« Ich schnappte Christopher am Arm und schob ihn aus dem Haus, wobei ich meiner perplexen Mutter zurief, dass sie nicht mit dem Abendessen auf mich warten solle.
»Was hast du dir dabei gedacht? Wolltest du meine Mutter oder nur mich in Verlegenheit bringen?«, fragte ich Christopher, als wir außer Sichtweite waren.
»Habe ich das?« Sein Tonfall war gelassen, es entging mir jedoch nicht, dass er etwas vor mir verbarg.
»Christopher, ich bin nicht so gut im Gedankenlesen wie du. Sag mir, was du mit deinen Andeutungen bei meiner Mutter bezwecken wolltest!«
»Bei deiner Mutter?« Christopher hob vielsagend eine Augenbraue. »Deine Reaktion war viel aufschlussreicher.«
»Und was glaubst du, darin gesehen zu haben? Habe ich bei irgendeinem mir unbekannten Test versagt?« Ich klang nicht nur verärgert, ich war es auch.
»Lynn, wenn du schon über den Gedanken stolperst, eine Nacht mit mir verbringen zu müssen, wie kannst du dann daran glauben, dein ganzes Leben mit mir teilen zu wollen?«
»Ist es das, was du von mir willst? Eine gemeinsame Nacht?« Meine Stimme bebte vor Enttäuschung.
»Ich glaube, du hast noch immer nicht ganz verstanden. Wenn es nur das wäre, würde ich mir keine Sorgen machen. Du musst zu mehr bereit sein, wenn du willst, dass ich in deiner Welt lebe.«
»Es sind Bedingungen daran geknüpft?«
»Ja, denn wenn es so einfach wäre, als Engel auf Erden zu weilen, hätte ich dich schon längst daran gehindert, nach mir zu suchen.«
Die vertraute Angst kroch wieder meinen Nacken empor. »Und mir klargemacht, dass du mich im Grunde gar nicht willst.«
»Lynn! Glaubst du das wirklich?«
Ich wusste, dass meine Antwort ihn verletzt hatte, und bedauerte den Vorwurf. »Ich ... ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Zuerst beteuerst du, dass dir etwas an mir liegt, kurz darauf lieferst du mich der Totenwächterin aus, damit sie mich zurückbringt. Dann löschst du mein Gedächtnis, begleitest mich aber als mein Schutzengel, bevor du es dir wieder anders überlegst und mir klarmachst, dass du mich nie wolltest, um mich danach mit deiner Anwesenheit zu trösten.«
»Du konntest mein Wesen spüren?« Christopher war blass geworden, eine Reaktion, die ich zum ersten Mal bei ihm wahrnahm.
»Ja. Darum habe ich nicht aufgegeben«, flüsterte ich.
Ich wandte mich von ihm ab. Christopher ließ es nicht zu und zog mich an sich.
»Verzeih mir, ich wollte dir niemals wehtun. Aber ich dachte, es wäre das Beste für dich.«
Ich wehrte seine Umarmung ab. »Mich der Totenwächterin auszuliefern hieltest du für das Beste?«
»Du konntest nicht bleiben, das weißt du genauso gut wie ich!«
»Warum hast du mir dann Hoffnungen gemacht, wenn du wusstest, dass ich gehen muss?«
Christopher wich meinem fragenden Blick aus, und ich erkannte, warum.
»Sanctifer hatte recht. Du wusstest es nicht! Du hast dich in mich verliebt, weil du dachtest, ich wäre ein Engel!« Ich drängte den bitteren Geschmack in meinem Mund zurück. »Bist du gekommen, weil du dich schuldig fühlst? Hast du mich deshalb vor der Totenwächterin gerettet? Du hättest dir die Mühe sparen können!«
Ich war den Tränen nah. Christophers Schweigen verstärkte meinen Kummer. »Vielleicht ist es besser, wenn du in deine Welt zurückkehrst.« Ich wandte mich zum Gehen, doch Christopher versperrte mir den Weg.
»Ich wusste, dass du tapfer bist, aber dass du bereit bist, nach allem, was du durchgemacht hast, deine Liebe zu opfern, hätte selbst ich nicht für möglich gehalten.«
Ohne weitere Erklärung nahm Christopher mich an der Hand. Wir liefen aus dem Dorf Richtung Berge. Auf einer Felsnase, die den Blick auf das umliegende Tal freigab, setzte er sich und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen.
»Es ist Zeit, dass du verstehst, warum ich nicht anders handeln konnte. Darum bitte ich dich, mir bis zum Ende zuzuhören und erst dann eine Entscheidung zu fällen.«
Ich wollte nachhaken, aber sein eindringlicher Blick brachte mich zum Schweigen. Behutsam strich er über meine Finger. Die zärtliche Berührung erinnerte mich daran, wie sehr ich ihn liebte – wie lebensnotwendig er für mich war.
»Es stimmt. Ich dachte, ich hätte das Unmögliche geschafft und mich in einen Engel verliebt. In ein Wesen, das nach seiner Ausbildung fähig ist, an meiner Seite zu bestehen. Als ich erkannte, dass du ein Mensch bist, habe ich meinen Fehler bitter bereut.«
Christopher hielt meine Hand fest, da ich sie ihm entziehen wollte. Seine Augen baten um Vergebung.
»Ich glaubte, du wärst nicht stark genug, und nahm dir deine Erinnerungen. Aber ich habe dich unterschätzt. Du hattest niemals Zweifel an deiner Liebe. Doch das begriff ich erst, als es beinahe zu spät war und du bereit warst, Sanctifers Pakt zu besiegeln.«
Über Christophers Augen huschte eisiges Jadegrün, bevor sie wieder ihren weichen Farbton annahmen.
»Coelestin hat mir einen Weg offenbart, wie ich dich in deiner Welt beschützen kann. Dafür benötige ich jedoch deine Hilfe.«
Ich öffnete den Mund, um sofort meine Zustimmung zu geben, doch Christopher legte mir einen Finger auf die Lippen und brachte mich zum Schweigen.
»Du hast versprochen, bis zum Ende zuzuhören. Die Entscheidung musst du noch vor deiner Abreise ins Internat treffen – allerdings nicht heute. Und ich möchte, dass du dir diesen Schritt gründlich überlegst. Ich kann dich auch von meiner Welt aus beschützen. Solange du mich brauchst, werde ich bei dir bleiben.«
Christophers Versprechen ließ mein Herz höher schlagen. Unsere Blicke trafen sich und verloren sich ineinander. Der Sonntagsbrunch dehnte sich bis zum frühen Nachmittag. Christopher verstand es blendend, meine Eltern für sich zu gewinnen.
Warum überraschte mich das? Selbst mein zurückhaltender Vater taute unter Christophers Charme auf. Am Ende war er überzeugt, mich in guten Händen zu wissen. Als wir uns verabschiedeten, um uns mit meinen Freunden zum Eisessen zu treffen, ermahnte er mich, freundlich zu Christopher zu sein.
Ich schwieg – ich war verunsichert. Würde es mit ihm an meiner Seite immer so sein? Ich, die graue Maus, und er, der strahlende Held? Müsste ich auch in meiner Welt um ihn kämpfen? Christopher beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr.
»Vergiss nicht: Ich bin nur deinetwegen hier.« Dann wanderte sein Mund weiter und ich verdrängte meine Befürchtungen.
Emilias Pupillen weiteten sich, als ich mit Christopher den Innenhof des Cafés betrat. Auch Lucias und Stefanos Blick blieb an Christopher hängen. Stefanos Haltung veränderte sich sofort. Besitzergreifend legte er einen Arm um Emilias Schulter. Der Einzige, der uns mit einem Lächeln begrüßte, war Philippe. Er war es auch, der Christopher sofort in ein Gespräch verwickelte, fast, als würden sie sich schon seit langem kennen. Vielleicht taten sie das auch – aus Philippes Träumen.
Ich zog mich zurück und beschränkte mich aufs Beobachten. Christopher punktete auch bei meinen Freunden – sein Engelslächeln wirkte wohl bei jedem. Ich wurde von Minute zu Minute schweigsamer und geriet ins Grübeln. War auch ich nur seinem Charme erlegen? Wollte er sich deshalb mit meinen Freunden treffen, damit ich mir seiner übernatürlichen Anziehungskraft bewusst wurde?
Christopher lehnte sich zu mir herüber. Ich fühlte, wie sein Wesen mich berührte.
»Ich spüre, dass du mehr von mir fühlen kannst, als du solltest, und weiß, dass du mich dennoch liebst«, flüsterte er.
Ein zärtlicher Schauer durchzog mich, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn innig zu küssen.
Beim Abendessen, das wir bei Emilia zubereiteten, nahm sie mich beiseite.
»Warum hast du nichts von ihm erzählt? Ich dachte, wir wären befreundet? Weißt du eigentlich, wie unglaublich gut er aussieht? Pass bloß auf, dass keine andere sich ihn krallt.«
Ich seufzte. Auch Emilia hatte wohl inzwischen einen Crashkurs im Gedankenlesen absolviert.
»Und du solltest lieber darüber nachdenken, was Stefano von deiner Begeisterung hält«, erwiderte ich zickig.
»Ich habe keine Absichten, was deinen Freund betrifft«, konterte Emilia spitz. »Außerdem hat er nur Augen für dich, falls dir das nicht aufgefallen ist. Noch nie habe ich jemanden gesehen, der seine Freundin so ansieht wie er.«
Ich war sprachlos. Bislang hatte ich geglaubt, dass nur ich Christopher anhimmelte.
Der Montag war der letzte Tag vor meiner Abreise ins Internat. Deutlich spürte ich Christophers Anspannung, obwohl er versuchte, sie vor mir zu verbergen. Schließlich hielt ich es nicht länger aus.
»Heute ist der Tag der Wahrheit. Was muss ich tun, damit du bei mir bleibst?«, scherzte ich.
»Gönn mir noch ein paar Stunden, bevor du dich entscheidest.« Christopher ging nicht auf meinen unbesorgten Tonfall ein.
»Warum?«
»Vertraue mir und frag mich das heute Abend.«
Ich nickte und lief schweigend neben ihm die Wiese entlang. Christopher hatte mich gebeten, meine Wanderstiefel anzuziehen. Und obwohl ich nicht gerade erpicht auf eine Klettertour war, tat ich ihm den Gefallen. Wir waren von unserem Haus aus gestartet, nachdem Christopher meinen Rucksack mit Wasser und viel zu viel Proviant gefüllt hatte.
»Nicht dass ihr unterwegs hungrig werdet«, meinte meine Mutter und nötigte ihn, noch mehr mitzunehmen. Ich mischte mich nicht ein – solange ich das Ganze nicht tragen musste. Christopher würde die Last kaum merken – oder täuschte ich mich?
Ich warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Er schien mit seinen Gedanken weit entfernt zu sein. Befürchtete er, ich würde versagen, wenn er mir erklärte, was ich opfern musste? Würde ich das? Ein weiterer Gedanke drängte sich mir auf angesichts Christophers Verschlossenheit. Musste auch er ein Opfer bringen? Seine Flügel? Oder seine Engelskräfte? Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus, zog weiter und legte sich wie Blei auf meine Beine. Langsam wurde ich nervös.
Christopher spürte meine Unsicherheit und schenkte mir ein Lächeln.
»Es ist nicht mehr weit. Ich habe nicht vor, den ganzen Weg nach oben zu klettern.«
Wir verließen die fruchtbare Alm, auf der wir gerastet hatten, und folgten einem schmalen Taleinschnitt, dessen Rinnsal die Schneeschmelze in einen rauschenden Bach verwandelt hatte. Eigentlich kannte ich die Gegend, doch in diesem verlassenen Tal war ich noch niemals zuvor. Endlich blieb Christopher stehen. Seine warmen Smaragdaugen blickten mich erwartungsvoll an.
»Vertraust du mir? Dann schließ die Augen.«
Ich schluckte meinen Einwand hinunter. Es gab niemanden, dem ich mehr vertraute. Ich fühlte Christophers Körper an meinem Rücken, danach seine Hände: eine, die meine Taille umschloss, und die andere, die mir die Augen zuhielt. Kurz bevor ich den Halt unter meinen Füßen verlor, nahm ich sein Engelswesen wahr.
»Es ist der letzte Flug, den ich dir schenken darf«, flüsterte er und gab meine Augen frei.
Es war unglaublich. Mit schwindelerregendem Tempo glitten wir über üppig blühende Wiesen, karge Geröllfelder und schroffe Felskanten, bis hinauf zu den weißen Gipfeln. Der Wind rauschte in meinen Ohren und ließ mich alles andere vergessen. Nur der faszinierende Flug und Christophers Nähe waren noch von Bedeutung.
Christopher steuerte auf einen der höchsten Bergrücken zu, nutzte den Aufwind und schraubte sich in die Höhe, bis die massiven Felswände den Blick auf das glitzernde Meer freigaben – atemberaubend schön. Schließlich landete er auf einer vorstehenden Felskante und hielt mich lange in seinen Armen.
In der Nähe der Einsiedelei beendete Christopher unseren Ausflug. Die untergehende Sonne brachte die Bergspitzen zum Glühen, und ich wusste, dass nun eine Entscheidung anstand. Meine Nervosität war greifbar.
»Lynn, du musst das nicht tun. Ich werde dich nicht schutzlos zurücklassen.«
»Hast du so wenig Vertrauen zu mir?«
Ich war gekränkt. Christopher bemerkte es sofort. Zärtlich zeichnete er mit seinen Fingern die Konturen meines Gesichts nach.
»Es ist nur ...« Er brach ab und legte seine Hand um meine Schulter. »Lass uns reingehen. Meine Zeit in deiner Welt ist beinahe abgelaufen.«
Christopher spürte mein Entsetzen, doch er schwieg. Der Mann, den ich von meinem ersten Besuch in der Einsiedelei kannte, öffnete auch dieses Mal die Tür. Er begrüßte uns mit einem freundlichen Lächeln, bevor er uns allein ließ.
Christopher nahm meine zitternde Hand und führte mich durch eine verwirrende Anzahl von Korridoren, Türen, schmalen Räumen, Treppen und weiteren Fluren. In einem nur von brennenden Ölschalen beleuchteten Raum blieb er stehen. Die reichverzierten Wände bestanden aus behauenem Stein und deuteten darauf hin, dass wir uns tief im Inneren des Bergmassivs befanden.
»Es gibt einige Orte, an denen unsere Welten sich berühren, aber nur wenige, an denen man die Grenzen gefahrlos überschreiten kann. Coelestins Einsiedelei ist einer davon.«
»Und das Schloss der Engel ein anderer.«
»Ja«, bestätigte Christopher. »Um zu wechseln, bedarf es jedoch zweier Voraussetzungen: eine, die sich an dem Ort befindet, und eine, die man bei sich trägt.«
Mein Blick fiel auf Christophers Armband, das er seit ein paar Tagen trug. Eine massive silberne Spange, die von ledernen Bändern gehalten wurde. Zwei Flügel zierten ihre Mitte. Mein Herz begann laut zu hämmern. Würde er jetzt einfach so verschwinden und mich allein zurücklassen?
»Du wirst niemals allein sein. Ein Engel wird dich stets begleiten.«
Seine Worte sollten mich trösten, bewirkten aber das genaue Gegenteil.
»Und du? Wirst du jetzt in deine Welt verschwinden?«
Christophers Hände wanderten zu meinem Gesicht, umschlossen es und zwangen mich, ihm in die Augen zu sehen.
»Habe ich dir nicht versprochen, dass du die Entscheidung triffst?«
»Was muss ich tun?« Es drängte mich, zu handeln.
»Du musst mir erlauben, dass ich mich an dich binde.«
»Du musst dich an mich binden?«
Ich war überrascht. Irgendwie hatte ich erwartet, dass es andersherum sein würde. Christophers Augen verdunkelten sich, und ich erkannte die Trauer in ihnen. Verstört befreite ich mich aus seiner zärtlichen Umarmung. Nicht ich hatte ein Problem – er hatte eins.
»Was, wenn ich damit nicht einverstanden bin?«
»Dann werde ich deine Welt verlassen.«
Und damit mich, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Und wenn du bleibst, verlierst du deine Engelskräfte.«
»Einige, nicht alle. Ich werde immer ein Engel sein. Wie sollte ich sonst auf dich aufpassen?«
Er versuchte sorglos zu klingen, trotzdem spürte ich seine Anspannung. Und plötzlich erkannte ich den Grund. Er musste mehr von sich geben als ich – und er war nicht bereit dazu!
Die alte Wunde riss wieder auf. Ich liebte ihn, doch wenn ich das wirklich tat, durfte ich ihn nicht an mich binden. Ich würde ihm so viel nehmen und konnte ihm nichts zurückgeben. Meine egoistische Stimme schrie danach, ihn zu halten. Ich brachte sie zum Schweigen. Ich musste handeln, bevor ich es mir anders überlegte. So zwang ich die größte Lüge meines Lebens über meine Lippen.
»Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht darauf einlassen.«
Meine Gefühle rebellierten. Ich hielt sie verborgen. Christopher sollte nicht wissen, welcher Sturm in mir tobte. Als ich in seine Augen blickte, wankte mein Vorsatz. Nicht ich, er ging durch die Hölle.
»Warum?«
Ein einziges Wort brachte meine Mauern zum Einsturz.
»Weil du dann auf ewig an mich gebunden bist.«
Christopher kam auf mich zu. Er hielt sich zurück und vermied, mich zu berühren. Stattdessen blickte er mir nur in die Augen.
»Ich verstehe, dass ich dein Vertrauen nicht immer verdient habe. Aber ich weiß, was mich erwartet. Und es gibt nichts, was ich lieber wäre, als an dich gebunden.«
Ich stutzte. Er bat mich, ihm zu vertrauen?! Ihm, für den ich bereit war, alles zu geben?
»Du hattest mein Leben schon so oft in deinen Händen. Es gibt niemanden, dem ich mehr vertraue als dir. Was muss ich tun, damit du dich an mich binden kannst?«
Christopher ergriff meine Hände und führte sie an seine Lippen. »Ich kann nur in deiner Welt bleiben, wenn mich etwas in ihr hält. Wenn jemand bereit ist, sein Blut für mich zu opfern.«
Ich unterdrückte den Impuls, meine Hände von seinem Mund wegzuziehen. Er wollte mein Blut? Wie viel?
»Nur ein bisschen«, erriet er meine Gedanken. »Ein paar Tropfen genügen.«
»Und ... und wie?« Meine Fantasie trieb mir Bilder von reißenden Fangzähnen vor Augen, die gierig meine Haut durchstießen.
Christopher konnte sein Schmunzeln nicht verbergen, was mir zeigte, dass ich dringend an meiner Selbstkontrolle arbeiten musste. Er löste die silbernen Flügel aus seiner Armspange – ihre Spitzen waren messerscharf – und führte sie an mein Handgelenk.
»Es wird wehtun. Und es wird für immer sein.«
Ich nickte und drückte meinen Arm gegen die Silberschwingen. Der Schmerz war heftiger als erwartet, doch Christophers Mund betäubte ihn sofort. Sanft fuhr er mit seinen Lippen meinen Arm entlang, wanderte höher und erreichte mein Gesicht. In seinen Augen lag die Wärme, die für mich lebensnotwendig war.
»Dann also für immer«, flüsterte ich, bevor sein Kuss das Versprechen besiegelte.