Kapitel 6
Verborgene Ruinen
Als ich erwachte, konnte ich mich nicht mehr erinnern, wie ich auf mein Zimmer gekommen war. Sicherlich enthielt der heiße Tee, den Aron mir in der Kapelle eingeflößt hatte, ein Schlafmittel – K.-o.-Tropfen vielleicht. Das Einzige, was mir im Gedächtnis geblieben war, waren die Spekulationen über mich, die Aron anheizte.
»Eigentlich dürfte sie nicht mehr so frieren.«
»Sie ist erst seit ein paar Tagen hier«, verteidigte mich Christopher.
»Ja, ich weiß, doch normalerweise genügt das. Aber auch sonst finde ich sie anders.« Aron zog das letzte Wort deutlich in die Länge.
Ich hörte, wie Christopher angespannt die Luft einzog, bevor er etwas entgegnete. Allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt schon so müde, dass ich dem Gespräch nur noch verschwommen folgen konnte. Wahrscheinlich war es mein eigener Seufzer, nachdem ich erkannt hatte, dass ich mich gegen die Droge nicht länger zur Wehr setzen konnte.
»Gib ihr Zeit, sie hat noch nicht akzeptiert, wo sie sich befindet« war das Letzte, was ich wahrnahm – und es beunruhigte mich.
»Endlich wach?«
Ich schrak zusammen, als ich Arons Stimme hörte, obwohl er sehr behutsam mit mir sprach.
»Du hast sehr lange geschlafen, Lynn. Dafür siehst du jetzt wesentlich ... ruhiger aus. Als wir dich in der Kapelle fanden, hast du einen ziemlich verwirrenden Anblick geboten.«
Plötzlich war ich hellwach. Arons zweideutige Anspielung ließ mich aufhorchen. »Wie meinst du das?«
»Nun, deine Kleider, deine Haare, alles klebte klitschnass an dir. Du hast schrecklich gezittert und trotzdem glühten deine Wangen, als hättest du Fieber.«
Ich schwieg.
Den Grund für mein Glühen kannte ich – und Aron anscheinend auch! Ich prüfte den Duft in meiner Umgebung: ein wenig Lavendel von meinem Kissen und Arons frischer Meeresgeruch – sonst nichts. Vorsichtig schaute ich mich um, doch außer Aron war niemand da.
»Wie fühlst du dich?« Aron blickte mir prüfend ins Gesicht.
Was wollte er hören? Wie euphorisch und gleichzeitig verunsichert ich mich nach Christophers Kuss fühlte? Auf dieses Eingeständnis konnte er lange warten.
»Ausgeschlafen, dank des Gebräus, das ihr Tee nennt«, grummelte ich.
Aron lachte, fröhlich und ansteckend. Ich fiel halbherzig mit ein.
»Dann lasse ich dich jetzt allein, damit du dich umziehen kannst. Offensichtlich hast du keine größeren körperlichen Schäden davongetragen« – und offenbar fand er es lustig, mich mit Christopher erwischt zu haben.
Bevor Aron zur Tür hinausging, drehte er sich noch einmal zu mir um. Sein amüsiertes Grinsen war verschwunden.
»Übrigens, ich hab dir etwas zu essen auf deinen Schreibtisch gestellt. Vom Nachmittagsunterricht bist du heute befreit. Genieß die paar Stunden bis zum Sonnenuntergang – du hast mildernde Umstände bekommen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du Zimmerarrest. Aber wage es nicht, noch einmal allein in den Wald zu gehen!«
Mein Schweigen entging ihm nicht, ich hörte den leisen Seufzer, ehe er die Tür hinter sich schloss.
In Windeseile zog ich mich an. Alles in mir drängte zu Christopher. Ich musste ihn sehen – und in seine grünen Augen blicken. Sie würden mir verraten, ob er dasselbe empfand wie ich.
Ich stolperte beinahe die Treppe hinunter, so eilig hatte ich es. In zehn Minuten war die Mittagspause zu Ende – ich hatte wirklich lange geschlafen.
Außer Atem erreichte ich das Gelbe Haus und hastete in die Kantine. Susan saß mit Paul, Leonie und Markus an einem Tisch. Von Christopher war keine Spur zu entdecken. Als Susan mich sah, sprang sie überrascht auf und eilte mir entgegen.
»Was tust du denn hier? Hat Aron dir dein Mittagessen nicht gebracht?«
»Doch, das hat er, aber ich ...«, ich suchte verzweifelt nach einer Ausrede – auf keinen Fall wollte ich direkt nach Christopher fragen. »Ich hab noch Hunger.« Ich schnappte mir einen Teller, füllte ihn mit dem Erstbesten, was mir in die Hände fiel, und setzte mich zu Susan.
Sofort bombardierten mich Paul und Markus mit Fragen über mein nächtliches Abenteuer im Wald. Selbst Leonie ließ nicht locker, bis ich ihnen alles erzählt hatte – fast alles. Christophers Kuss verschwieg ich natürlich. Nicht jeder musste wissen, was in der Kapelle passiert war. Schlimm genug, dass Aron uns gesehen hatte.
Beiläufig erkundigte ich mich nach meinem Retter. Das Einzige, was ich erfuhr, war, dass Christopher nach dem Essen auf sein Zimmer gehen wollte. Irgendwie war ich enttäuscht. Eigentlich hatte ich gehofft, dass auch er mich schnellstens wiedersehen wollte.
Susan räumte ihr Tablett zusammen und wünschte mir einen erholsamen Nachmittag, bevor sie zum Unterricht ging. Und Paul ermahnte mich – mit einem ironischen Augenzwinkern –, nahe beim Schloss zu bleiben, damit er mich finden könnte, falls ich mich noch einmal verlaufen sollte. Die Buschtrommeln funktionierten offenbar perfekt.
Schließlich saß ich allein in der Kantine. Ich stocherte gedankenverloren in meinem Salat herum. Wich Christopher mir aus? Weil es ihm peinlich war, da alle wussten, dass er mich geküsst hatte? Oder weil er es bereute – wie beim letzten Mal, als er mich getröstet hatte? Ich spürte Mutlosigkeit in mir aufsteigen und hatte plötzlich Angst davor, Christopher zu begegnen und Ablehnung in seinen Augen zu lesen.
Nach dem Essen schlenderte ich zur Seemauer vor dem Schloss. Die Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne strahlte frühlingshaft vom Himmel. Ich schob die Ärmel meiner Jacke hoch, setzte mich auf die warme Mauer und beobachtete die Enten auf dem See, die friedlich zu ihren Nistplätzen am gegenüberliegenden Ufer schwammen.
Christophers Duft wehte zu mir herüber. Bei seinem Anblick wäre ich beinahe von der Mauer gestürzt. Wie gewelltes Gold leuchteten seine Haare im Licht der Sonne und umgaben ihn mit einem irisierenden Schimmer. Eigentlich war er viel zu perfekt für diese Welt. Dann begegnete ich seinen Augen – hart wie Jade blitzte seine Iris. Kälte sprach aus ihnen, Reue und Ablehnung.
Erschrocken wich ich zurück, bevor ich mich eines Besseren besann und ungelenk von der Mauer sprang. Er sollte nicht merken, wie sehr mich seine Zurückweisung verletzte.
»Bist du heute mein Bodyguard?« Ich hoffte, dass meine Stimme gelangweilt klang. Noch bevor er antworten konnte, fuhr ich fort. »Gib dir keine Mühe, ich werde brav sein und auf mein Zimmer gehen.« Um meine Enttäuschung zu verbergen, wandte ich mich schnell von ihm ab.
»Eigentlich hatte ich gehofft, du würdest mich begleiten. Ich wollte nach frischen Christrosen suchen für ...« Er beendete seinen Satz nicht, doch ich wusste, wofür er die Blumen brauchte.
Hatte ich mich getäuscht? Bedauerte er diesmal nicht, mir nähergekommen zu sein? Ich kämpfte meine Euphorie zurück. Nichts sprach dafür, dass er etwas für mich empfand: kein Lächeln, keine Umarmung, kein Begrüßungskuss. Möglicherweise wollte er nur klären, dass ein Kuss für ihn nicht viel bedeutete.
Ich beschloss, ihm entgegenzukommen. Wenn er mir etwas sagen wollte, konnte er das auch hier tun. »Darf ich denn überhaupt so weit weg vom Schloss?« Mein provozierender Unterton war unschlagbar.
»In Begleitung schon.«
»Wenn das so ist.« Ich zuckte ergeben die Schultern und verbot mir, mehr zu erhoffen als eine Erklärung.
Schweigend liefen wir nebeneinanderher, und ich vergaß seinen ablehnenden Blick. Wahrscheinlich hatte ich das Jadegrün in seinen Augen falsch gedeutet. Oder seine Gegenwart blendete mein Urteilsvermögen: Liebe machte eben nicht blind, sondern blöd!
Ich kämpfte mit mir. Sollte ich beginnen? Ihn fragen, ob er sich anders entschieden hatte? Oder ob er mich nur aus einer Laune heraus geküsst hatte – ein spontaner Blackout oder eine Art Wiederbelebungsversuch? Und warum eigentlich hatte er sich davor entschuldigt? Glaubte er etwa, er würde schlecht küssen? Diese Angst konnte ich ihm nehmen!
Je näher wir der Kapelle kamen, umso nervöser wurde ich. Was wollte er ausgerechnet dort? Schließlich hielt ich das Schweigen nicht länger aus.
»Christopher, wegen gestern Abend.«
Er blieb abrupt stehen. Seine Augen weiteten sich, als hätte ich mich in ein Gespenst verwandelt. Wie immer hatte er sich schnell wieder unter Kontrolle. Vielleicht sollte ich auch einen Animateurkurs belegen.
»Ja? An was kannst du dich denn noch erinnern?«
Ich schnappte nach Luft. Hatte ich richtig gehört? Feigling! Er erwartete von mir doch nicht etwa, dass ich so tat, als wäre nichts passiert? Ich verbarg meine Hände hinter dem Rücken, damit er nicht sehen konnte, dass ich sie zu Fäusten geballt hatte. Es wurde Zeit, dass ihn jemand von seinem hohen Ross schubste.
»Also ... was soll ich sagen. Ehrlich, ich war gestern ziemlich fertig. Du weißt schon, der Wald, der Regen, die Kälte und so«, faselte ich. »Ich bin so lange gelaufen und war so müde, und in der Kapelle, mit den paar Kerzen, da ... da dachte ich ...«, – ich stammelte absichtlich, obwohl sich mir vor lauter Lügen der Magen umdrehte – »du ... du wärst ...« Mit einem schmachtenden Seufzer brach ich ab. »Aber Philippe, nun ja, er ... er küsst besser.«
Ich blickte zu Boden. Tapfer hatte ich mich dazu gezwungen, Christopher anzusehen, damit er nicht auf die Idee kam, meine Geschichte wäre erfunden, doch das Funkeln in seinen Augen traf mich wie ein Fausthieb. Abscheu, gemischt mit Verachtung, las ich in ihnen – und diesmal lag ich ganz sicher richtig mit meiner Deutung.
»Dann wäre ja alles geklärt. Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte.« Er klang sarkastisch, verletzend, aber ich hatte nichts anderes verdient. Meine Lügen waren zu offensichtlich.
»Möchtest du umkehren?«
»Nein, wieso denn?«, fragte ich unschuldig, blickte ihn verständnislos an und lief weiter.
Wenige Minuten später bog Christopher auf einen schmalen, selten benutzten Trampelpfad ab. Ich zögerte. Ich wollte noch klären, wie ich ins nächste Dorf kam – für meinen Handykauf.
»Ist das die Richtung zum Nachbarort?« Ich deutete den Weg entlang, der weiterführte.
Christopher musterte mich so gründlich, dass ich wegschauen musste, um nicht rot anzulaufen.
Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen. Ihn noch einmal zu belügen, würde ich nicht fertigbringen.
»Mein Handy scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, und ich würde gerne ungestört mit meinen Eltern telefonieren. Im Sekretariat geht das ja wohl kaum.«
»Lynn?!«
Christophers Reaktion verblüffte mich. Mit einem schnellen Satz war er bei mir und umfasste meine Arme. In seinen Augen lag der weiche, beinahe traurige Blick, der mir den Verstand raubte. Trotz besseren Wissens genoss ich die tausend prickelnden Perlen, die seine Berührung über meine Haut jagte.
»Lynn, auch wenn es dir schwerfällt, du musst anfangen loszulassen und die Tatsachen zu akzeptieren.«
Ich starrte ihn verwirrt an. Was meinte er mit loslassen? In meinem Kopf krampfte sich plötzlich alles zusammen und begann sich zu drehen. Meine Eltern! Ich hatte von ihnen geträumt – wie damals bei meiner Großmutter. Ich spürte, dass meine Knie nachgaben.
Christopher hielt mich fester. Im Gegenzug wurde seine Stimme sanfter. »Lynn, du kannst nicht mehr mit deinen Eltern oder Freunden sprechen. Nie wieder.« Die letzten Worte flüsterte er nur.
Ein hysterisches Lachen hallte durch den Wald – meines! Laut Christopher musste halb Italien im Meer versunken sein.
Er schüttelte mich, damit ich wieder zur Vernunft kam, aber ich konnte nicht anders. Etwas Blöderes hätte ihm nicht einfallen können, das mich davon abhalten sollte, allein durch den Wald zu laufen, um mir ein neues Handy zu besorgen.
Mein Lachen stockte, als ich seinen samtgrünen Augen begegnete. Sein Blick brachte mich zum Schmelzen, erinnerte mich daran, dass er mich noch immer festhielt. Mehr denn je fühlte ich seine Wärme, atmete seinen berauschenden Duft ein, bis mein Herz aufhörte zu schlagen.
Doch bevor ich mich ihm an den Hals werfen konnte, brachte mich – völlig unerwartet – ausgerechnet mein Verstand wieder zur Vernunft. Es gab einen Grund für seinen dümmlichen Spruch und die vorgeschobene Blümchensuche: Er spielte mit mir! Wollte er sich für meine allzu offensichtlichen Lügen rächen und mir beweisen, dass er ein toller Typ und ich ihm verfallen war?
Nie gekannte Wut keimte in mir auf. Obwohl Christopher mich um Haupteslänge überragte und eindeutig stärker war als ich, schaffte ich es, mich aus seiner Umklammerung zu befreien. Mit aller Kraft holte ich aus und schlug ihm ins Gesicht.
Mein Angriff überraschte ihn, und ich nutzte meine Chance, um ihn beiseitezustoßen. Doch Christopher war schnell – viel zu schnell. Mit einem einzigen Schritt war er bei mir.
»Du glaubst mir nicht?« Seine Lippen pressten sich zu einer geraden Linie zusammen.
Ich schüttelte den Kopf und blitzte ihn herausfordernd an. »Wie könnte ich?! Da musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen, wenn du mich aufhalten möchtest.«
Christophers Stimmung veränderte sich. Mitleid lag nun in seinen Augen und etwas, das ich als Angst definiert hätte. Allerdings fand ich keine vernünftige Erklärung für dieses Gefühl – aber ich war ja auch kein geschulter Von-den-Augen-Ableser.
Zweifel schlichen sich in Christophers Züge, während er mich betrachtete. Schließlich rang er sich durch, mir zu antworten: »Gut. Ich werde es dir beweisen.«
Ohne auf meinen Protest zu achten, schob er mich vor sich her. Wir folgten einem kleinen, munter plätschernden Bachlauf, der sich durch den Wald schlängelte. Christopher drängte mich unnachgiebig weiter, wenn ich versuchte, stehenzubleiben oder mich aus seinem Klammergriff zu befreien. Als der Bach eine große, blassgrüne Aue erreichte, entfuhr mir ein erstaunter Pfiff. Rechts und links vom Ufer des Bachlaufs erstreckte sich eine uralte Siedlung – eigentlich waren nur noch Ruinen übrig, die zum größten Teil von Gras, Unkräutern und niedrigen Büschen überwuchert wurden. Die einstmalige Anordnung der Gebäude war jedoch deutlich zu erkennen.
Christopher ließ mich los, und ich trat schnell einen Schritt zurück. Seine Nähe beunruhigte mich – nicht nur aufgrund seiner Anziehungskraft. Er wirkte fremd, beinahe beängstigend.
»Als ich ein Kind war, befanden sich diese Häuser in einem besseren Zustand, doch schon damals begannen die Bewohner ihr Dorf zu verlassen.« Mit einer fließenden Bewegung sprang Christopher auf die steinernen Überreste einer der Grundmauern.
Beeindruckt verfolgte ich seinen anmutigen Sprung.
»Die Bewohner trugen die verwaisten Hütten ab und nutzten die Steine, um die Kapelle am See zu errichten.«
Ich schluckte – die Kapelle am See war mindestens dreihundert Jahre alt!
»Das ist einer der Gründe, warum ich sie aufsuche. Sie erinnert mich an meine Kindheit.«
Ich schwieg. Er scherzte nicht. Und gerade das beunruhigte mich. Auch wenn ich manchmal an meinem Verstand zweifelte, war ich mir sicher, dass hier nicht ich der Verrückte war.
»Du glaubst mir immer noch nicht.«
Christopher beobachtete mich prüfend, als wäge er seinen nächsten Schritt genauestens ab. Sorge lag in seinem Blick, dann zögerte er erneut, als hätte er sich anders entschieden. Seine Stimme nahm den vertrauten, weichen Klang an, den ich so liebte, und ich konnte nicht anders, als ihm zuzuhören – beim Weglaufen hätte ich eh den Kürzeren gezogen.
Ausführlich erklärte Christopher mir die Geschichte der alten Siedlung und verlor sich in Details, die unmöglich auf archäologische Untersuchungen zurückzuführen waren. Ich schwieg weiter – ich hatte gehört, dass man Menschen in verwirrtem Zustand nicht unterbrechen sollte. Zugleich schlugen mich seine lebendigen Schilderungen in ihren Bann. Alte Steine, geheimnisvolle Gemäuer und spannende Geschichten faszinierten mich eben.
Als seine Stimme unvermittelt erstarb, schaute ich automatisch von den Ruinen zu ihm auf. Er stand reglos, als wäre er selbst ein Teil der Mauern, mit verschränkten Armen und zu Fäusten geballten Händen. Ich erschauderte, Christophers Erscheinung jagte mir Angst ein. Er wirkte bedrohlich – unnachgiebig.
»Warum hast du mich belogen?«
Alles Blut wich aus meinem Gesicht. Ich rang um Fassung, wusste ich doch genau, was er meinte. »Wann ... wann meinst du?«
»Ach, du hast nicht nur einmal gelogen?« Seine Züge versteinerten.
Meine Angst verwandelte sich in Ärger. Er regte sich auf, weil ich zu ein, zwei Notlügen greifen musste?
»Warum hast du dein Tutorat abgegeben?«
»Ich glaube nicht, dass das von Bedeutung ist.«
»Ach nein?!«
»Nun, es lag auf der Hand.«
Ach so! Ich sollte meine Ausreden rechtfertigen, und er durfte ganz nach Lust und Laune meine Gefühle an- und ausknipsen? Nicht. Mit. Mir!
»Was willst du von mir, Christopher? Warum hast du mich hierhergebracht? Macht es dir Spaß, mich ... mich ... zu demütigen?« Meine Wut verpuffte mit einem Schlag, als mir klar wurde, wie ich mich fühlte. Verletzt starrte ich zu Boden.
Plötzlich stand Christopher direkt vor mir. Ich zuckte zusammen, da ich ihn nicht bemerkt hatte. Seine Hände berührten mein Gesicht und hoben es an, so dass ich ihn anschauen musste. Sein Blick verschlug mir den Atem. Weich, warm, voller Sorge.
»Lynn, du musst die Wahrheit wissen, die ganze Wahrheit, damit du dich nicht für etwas entscheidest, das du später bereust.«
»Nur zu. Ich werd schon nicht weglaufen!« Meine Stimme klang fest, beinahe abwehrend. Seine Stimmungsschwankung stachelte mich an.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du es verkraftest.«
»Keine Angst, ich bin stärker, als ich aussehe.«
Meine Antwort war flapsig, doch Christopher ging nicht darauf ein. Er blieb ernst und musterte mich – eingehend. Dann traf er eine Entscheidung. Mit einem gigantischen Sprung erklomm er die höchste Erhebung der Ruinen. Er stand im Gegenlicht der untergehenden Sonne. Sein Haar leuchtete Orangegold und ein flammender Schein umgab ihn.
Mein Puls raste. Alles in mir schrie nach Vergebung: für alles Unrechte, das ich je getan hatte, für all die schlechten Gedanken, die ich je gedacht hatte.
Christophers Züge erhellten sich – erstrahlten. Grüne Smaragdaugen funkelten ehrfurchtgebietend und schienen bis tief zum Grund meiner Seele zu blicken. Ich erschauderte. Sein ohnehin aufsehenerregender Körper schien über sich hinauszuwachsen, doch was mir endgültig die Fassung raubte, waren seine Flügel.
Zwei riesige, goldglänzende Schwingen, zusammengefügt aus unzähligen, irisierend schimmernden Lichtbündeln, überragten sein Wesen. Selbst die Sonne wurde von ihnen überstrahlt.
Ich wäre auf die Knie gefallen, wäre er mir in meinem Dorf erschienen, aber ich wusste, dass es sich um Christopher handelte – Christopher, den ich liebte. Er war ein Engel!
Alles in mir sträubte sich, das Offensichtliche zu akzeptieren. Ein himmlisches Wesen und ich?! Niemals! Nicht in tausend Millionen von Jahren.
Warum hatte ich mich ausgerechnet in ihn verliebt? Hatte mich ihm aufgedrängt, ihm – einem Engel, einem göttlichen Wesen? Wie konnte ich nur?!
Tiefe Scham erfüllte mich. Ich wagte nicht, ihn länger anzuschauen. Sein Anblick führte mir allzu deutlich das Unmögliche vor Augen. Und ich konnte – oder wollte – im Grunde meines Herzens nicht wahrhaben, was ich gesehen hatte.
Mein Entsetzen schlug in Panik um, und ich war nicht fähig, sie zu kontrollieren. Alles, woran ich geglaubt hatte, wovon ich dachte, völlig sicher zu sein, löste sich auf. Nichts war mehr wie vor ein paar Stunden. Meine Welt splitterte und zerfiel in Bruchstücke, wie die Ruinen der alten Siedlung.
Doch was ich brauchte, waren feste Mauern, die mir Halt gaben. Etwas Vertrautes, das mich stützte. Einen Ort, an dem ich mich verstecken und allein über alles nachdenken konnte, um meine Welt wieder ein wenig zusammenzupuzzeln.
Ich schaute weder zurück noch hielt ich an. Ich blendete einfach alles aus und stolperte zum Schloss, zu meinem Keller, den ich beinahe vergessen hatte. Dort würde mich niemand finden – dort würde er mich nicht finden, nicht sofort. Geistesgegenwärtig verriegelte ich die Tür und zog den Schlüssel ab, bevor ich verzweifelt zusammensackte.
Tränen liefen über mein Gesicht und tropften auf meine Hände. Philippes Armband blitzte mir entgegen. Ich umklammerte es, presste es gegen mein Handgelenk. Es beschützte mich, gab mir Sicherheit, sagte mir, dass alles noch genau so war wie immer. Es beruhigte mich, und ich fand allmählich wieder zu mir zurück.
Christopher war ein Engel! Unerreichbar!
Matt legte ich meinen Kopf auf die Knie und schlang die Arme um die Beine, um meinem zitternden Körper Halt zu geben. Warum hatte ich nicht einfach akzeptiert, dass es kein Lynn und Christopher geben konnte, als er sein Tutorat Aron überließ? Warum hatte ich nicht bemerkt, dass er anders war? War ich so blind, so unsensibel?
Ich kämpfte meine Tränen zurück. Er hatte mich geküsst – und davor um Verzeihung gefleht. Zu mir? Wohl kaum. Und vergib mir kannte ich aus der Kirche.
O Gott! Was hatte er getan? Mir verbotenerweise das Leben gerettet, nachdem ich erfroren war, oder ...?
Seine Worte drängten in mein Gedächtnis: Lynn, du kannst nicht mehr mit deinen Eltern oder Freunden sprechen. Nie wieder. Mir wurde schlecht. War ich tot?
Nein, ich war nicht tot! Ich wollte nicht tot sein. Aber wer wurde schon gefragt, ob er bereit war, zu sterben? Konnte ich Christopher deshalb als Engel sehen, weil ich nicht mehr lebte?
Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Meine Eltern! Meine Freunde, meine Nanny! Wussten sie es schon? Ich bekam kaum Luft. Meine Gefühle schienen mich zu ersticken. Doch wenn ich tatsächlich tot war, warum fühlte es sich dann so echt an? Warum konnte ich Schmerz, Kummer und Liebe, Liebe, wie ich sie noch nie empfunden hatte, fühlen? Musste nicht alles mit mir gestorben sein? War es das, was man Seele nannte, was überlebte? Das Denken, die Gefühle?
Ich blickte an mir hinunter. Nur meine Umrisse waren in dem dunklen Keller zu erahnen, aber ich wusste, dass ich aussah wie immer. Mein Gesicht, mein Körper, nichts hatte sich verändert, alles an mir war geblieben, wie es war. Die Tatsache beruhigte mich und half mir, meine Panik zu verdrängen und weiter zu denken.
Gut. Wenn ich wirklich nicht mehr lebte – es fiel mir schwer, das zu glauben, obwohl es nicht minder abstrus war zu akzeptieren, dass Christopher ein Engel sein sollte, und das hatte ich ja mit eigenen Augen gesehen –, wenn ich also wirklich tot war, warum um alles in der Welt war ich dann auf einer Schule? Konnte der Himmel wirklich so grausam sein? NEIN!
Und außerdem hatte ich Aron und Susan vor und nach dem Kuss gesehen – unverändert. Ich konnte nicht tot sein. Dazu fühlte ich mich viel zu verletzlich. Christopher musste etwas anderes damit gemeint haben.
Mein Blut begann wieder rascher zu zirkulieren, wärmte mich ein wenig und weckte mich aus meiner Erstarrung. Vielleicht musste ich lernen zu akzeptieren, dass Christopher ein Engel war – auch wenn das bedeutete, dass meine Liebe hoffnungslos blieb.
Aber warum hatte er mich geküsst? Und was hatte Christopher damit gemeint, dass ich die Wahrheit wissen müsste, die ganze Wahrheit. Gab es noch mehr zu begreifen, als dass er ein himmlisches Wesen war?
Ich stand auf, drückte meine Knie durch, die ganz steif vor Kälte waren, und straffte meine Schultern. Meine alte Zuversicht kehrte zurück und stärkte mich. Entschlossen drehte ich den Schlüssel im Schloss und verließ den Keller. Ich war mir sicher, dass nicht nur ich über Christopher Bescheid wusste – und irgendjemand auf diesem sonderbaren Internat musste mir Rede und Antwort stehen und erklären, welche Bedeutung der Kuss eines Engels hatte!