Kapitel 18
Tanzstunde
Mir war kalt, als ich aufwachte. Ich hatte geträumt – einen wunderschönen Traum: von einer glücklichen Zukunft, von einem erfüllten Leben in einem wunderschönen Haus an einem wunderschönen Ort mit zwei entzückenden Kindern und einem wunderbaren Mann an meiner Seite, der mich liebte und für mich da war: Philippe!
Zitternd tapste ich ins Badezimmer. Eindeutig zu viel Philippe. Ich drehte die Dusche auf heiß, um die Kälte zu vertreiben. Die wohlige Wärme würde nicht lange anhalten – der Norden wartete auf mich! Und davor noch das Gespräch mit meinen Eltern.
Sie zögerten es bis kurz vor meiner Abreise hinaus. Wahrscheinlich hofften sie auf einen Flashback, doch ich musste sie enttäuschen. Mein Gedächtnis blieb stumm.
»Bis Ostern fällt dir bestimmt wieder ein, mit wem du alles geflirtet hast«, scherzte mein Vater, als er mein Gepäck nach unten trug.
Ich verzog das Gesicht. Sah ich so aus, als bräuchte ich dringend einen Freund? Erst Philippe und jetzt auch noch mein Vater – von dem ich solche Sprüche am wenigsten erwartete.
»Oder warum ich in den Wald geflüchtet bin«, erwiderte ich bissig.
»Solange du in der Probezeit bist, werden sie dich nicht gleich köpfen, wenn du etwas ausgefressen hast. Du kannst uns ruhig sagen, warum du ...«
»Probezeit?!« Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Niemand hatte mir etwas von einer Probezeit erzählt.
Meine Mutter stand in der Diele und warf meinem Vater einen beschwörenden Blick zu. »Nur bis zu den Osterferien. Bis dahin wirst du dich eingelebt haben«, antwortete er.
»Und wenn nicht?«
»Dann kannst du ...«
»Dann hast du Zeit bis zum Sommer«, fiel meine Mutter meinem Vater ins Wort und erstickte meine aufkeimende Hoffnung, zurück auf meine alte Schule gehen zu dürfen. Ohne einen weiteren Kommentar öffnete sie die Tür und schob meinen Vater nach draußen, bevor der sich noch mehr verquasselte. Vielleicht konnte ich ihn an Ostern überreden, mich vom Internat zu nehmen.
Als am Abend das weiße Schloss wie in einem Märchen hinter den knorrigen Bäumen auftauchte, begann mein Herz schneller zu schlagen. Freute ich mich, wieder hier zu sein? Es fühlte sich beinahe so an. Oder war es Angst? Aber wenn, wovor – oder vor wem?
Energisch schob ich meine Befürchtungen beiseite: Vielleicht wurde ich ja positiv überrascht. Ich bezahlte den Taxifahrer und schnappte mir meinen neuen Lederrucksack vom Rücksitz. Meine Mutter hatte ihn extra für mich anfertigen lassen, damit er zu meinen rotbraunen Stiefeln passte. Ich mochte ihn auf Anhieb.
Es wartete mehr als eine Überraschung auf mich.
Die erste überbrachte Frau Schlatter. Sie fing mich ab und informierte mich, dass meine Sachen aus Italien endlich angekommen waren und in meinem neuen Zimmer im Gelben Haus für mich bereitstanden.
Die zweite Überraschung war, dass Hannah – meine Mitbewohnerin – unsere gemeinsame Behausung offensichtlich für sich allein beanspruchte. Sie hatte das ganze Zimmer im Barbie-Style eingerichtet. Barbierosa Wände, ein pastellblau lackierter Beistelltisch mit zwei rosa-weißen Sitzkissen im Kuhdesign auf einem rosaroten Flokatiteppich. Autsch!
Ich beruhigte meine Sehnerven mit einem Blick auf den weißen Schrank und das mit Kartons beladene Bett in der Ecke, das wohl mir gehörte, trat ins Zimmer und schloss die Tür.
»Kannst du nicht anklopfen, bevor du in ein fremdes Zimmer stürmst?!« Erst jetzt entdeckte ich das platinblonde Mädchen, das sich auf einer – natürlich rosafarbenen – Tagesdecke die Fingernägel lackierte. »Aber was kann man von jemandem aus der italienischen Provinz schon anderes erwarten?«
Mit einem verächtlichen Zug um die Lippen stand sie auf, während sie ihre Nägel trockenblies. »Und lass bloß deine Finger von meinen Sachen! Außerdem würde ich dir raten, dich zu beeilen und aus meinem Zimmer zu verschwinden, bevor ich zurück bin.«
Mir klappte die Kinnlade runter. Ich war zu verblüfft, um eine schlagfertige Antwort zustande zu bringen, und noch bevor ich Luft holen konnte, räkelte sie sich zur Tür hinaus.
Was hatte ich ihr getan? Sie kannte mich doch gar nicht! Dass sie nicht gerade erpicht darauf war, das Zimmer mit mir zu teilen, war mir nach dem zerrupften Kissen schon klar gewesen, obwohl ich – blöd, wie ich war – gehofft hatte, dass jemand anderes die Dachkammer verwüstet hatte. Anscheinend ging der Scherz doch auf ihr Konto. Ob sie auch mein altes Handy geklaut hatte? Zutrauen würde ich es ihr – allerdings war es rot, nicht rosa!
Ich warf meinen neuen Rucksack auf den leeren Schreibtisch, atmete dreimal tief durch, bis ich ruhiger wurde, und begann die erste meiner fünf Kisten auszupacken. Doch als ich meinen Kleiderschrank öffnete, verschwand meine erzwungene Ruhe. Die Hälfte meines Schranks war mit Hannahs Klamotten gefüllt!
Mein Magen rollte sich zusammen, wie immer, wenn ich am liebsten jemanden angeschrien oder auf etwas eingehämmert hätte. Aber ich hatte gelernt, mit meiner Wut umzugehen, sonst wäre ich bestimmt noch öfter in einen Busch geschubst worden, bevor Philippe zu meinem Beschützer ernannt wurde.
Beinahe gelassen pflückte ich Hannahs teure Designerkleidung von den Bügeln und drapierte sie über ihre Barbie-Kuh-Möbel, bevor ich zufrieden mein Werk betrachtete und mich ans Auspacken machte.
Dabei erlebte ich eine weitere Überraschung – eigentlich war es eher ein ungutes Gefühl. Bei den Teilen aus den Kisten bemerkte ich noch keinen Unterschied, als ich jedoch meinen alten Reiserucksack auspackte, lief mir ein eisiger Schauer die Arme hinauf. Es waren meine Sachen, aber sie rochen nicht so, wie sie sollten. Alles gehörte mir, auch die Schuhe und Bücher, doch selbst meine Schultasche roch anders. Fremd. Ich konnte nicht einmal sagen, ob gut oder schlecht, als fehlte mir die Erinnerung an diesen Geruch. Hatte meine Amnesie auch Auswirkung auf meine Sinne?
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und ignorierte mein wiederauftauchendes Kopfweh – es hätte mich am Nachdenken gehindert.
Hatte ich irgendetwas getan, das ich verdrängte? Weil es so übel war? Wusste Hannah mehr als ich und war deshalb so ätzend zu mir? Gut informiert war sie jedenfalls, aber auf einem Internat war das wohl zu erwarten.
Ich stand auf und ordnete meine Schulsachen auf dem Schreibtisch neu. Verdammt – ich musste mich erinnern! Also kramte ich weiter in meinem Gedächtnis: Versteckt hinter dem Pflanzkübel hatte ich den – zumindest von hinten – heißen Typen beobachtet, wie er unter der Treppe hervorkam. Ich stutzte. Unter der Treppe? Was sollte da sein?
Mein Schädel brummte, als mir endlich einfiel, dass ich irgendetwas – mich vielleicht – vor Hannah in Sicherheit bringen wollte. Und obwohl der Gedanke, hierzubleiben und Hannah die Stirn zu bieten, mich reizte, trieb es mich ins Schloss. Die Konfrontation mit Hannah konnte warten – ausbleiben würde sie auf keinen Fall.
Während des Abendessens war nicht viel Betrieb im Foyer, und ich konnte unbemerkt hinter der Treppe verschwinden. Die vertäfelte Wandtür fand ich sofort, und als ich mit dem Rücken an die Tür gelehnt in dem dunklen Raum stand, war ich mir sicher, dass hier Stufen nach unten führten.
Zielsicher fand meine Hand den Lichtschalter und knipste die funzelige Glühbirne an. Sie erhellte das Chaos nur unzureichend, aber es genügte, um mich in einen schockartigen Zustand zu versetzen. Eimer, Lappen, Besen, Wischmopps, Putzmittel, alles, was man in einer Besenkammer vermutete, türmte sich bis zur Decke – keine Stufen, keine Treppe!
Mein Kopf dröhnte in Höchstform. Vorsichtshalber stützte ich mich an der Wand ab und schloss die Augen. Ich war mir so sicher gewesen!
Um meine tobenden Nerven zu beruhigen, atmete ich tief durch. War mein Unfall daran schuld? Versuchte ich, die fehlenden Tage durch Fantasiegespinste zu ersetzen?
Ein zweiter Blick auf den Abstellraum bestätigte, dass ich mitten in einer Besenkammer stand. Ich tickte wohl nicht mehr richtig. Hoffentlich ging das wieder vorbei.
Ich hatte die Wandtür schon einen Spalt breit geöffnet, als mein Bauchgefühl meinen Verstand besiegte. Kurze Zeit später waren sämtliche Eimer, Besen und sonstigen Teile, die den Zugang zu meiner Fantasietreppe versperrten, weggeräumt. Das Ergebnis war frustrierend. Nichts, auch nicht das kleinste Anzeichen, dass hier jemals Stufen nach unten geführt hatten. Alte dunkelbraune Holzdielen mit fleckigen Rändern waren das Einzige, was zum Vorschein kam.
Nachdem ich alles an seinen Platz zurückgeräumt hatte, fühlte ich mich ziemlich angeschlagen. Schlimm genug, dass mein Gedächtnis eine Lücke aufwies, nun konnte ich mich nicht einmal mehr auf meine Erinnerungen verlassen.
Schon bevor ich unser gemeinsames Zimmer betrat, erreichten mich Hannahs wilde Flüche. Kampfbereit ballten sich meine Hände zu Fäusten. Ich war in bester Streitlaune.
»Du Miststück! Ausgerechnet so eine Provinzassel wie dich hat man mir aufs Zimmer gesteckt!«, begrüßte sie mich.
»Bestimmt, weil ich die Einzige bin, die es nicht abgelehnt hat, mit dir ein Zimmer zu teilen.«
Das saß. Hannahs rosafarben bemalter Mund schnappte nach Luft und suchte verzweifelt nach einer Antwort. Ich drehte ihr den Rücken zu – zufrieden über ihre Sprachlosigkeit –, bevor mir selbst der Atem wegblieb. Während meiner Abwesenheit hatte Hannah ihre Kleider eingesammelt und in ihrem eigenen Schrank verstaut. Aber sie hatte sich nicht nur um ihre Klamotten gekümmert, sondern auch um meine. Hinter den offen stehenden Schranktüren starrte mir gähnende Leere entgegen.
»Was hast du mit meinen Sachen gemacht?« Obwohl mein Magen erneut begann, zu rebellieren, blieb ich ruhig – fast so, als wäre Philippe an meiner Seite.
Hannah trippelte wie ein kleines Mädchen in zu hohen Stöckelschuhen auf mich zu und kräuselte ihren Mund zu einem widerwärtigen Grinsen.
»Weißt du, erst einmal möchte ich mich bei dir bedanken, dass du deinen Fummel nicht mit meinen Kleidern zusammen aufgehängt hast«, säuselte sie honigsüß. »Wer weiß, ob sie jemals wieder tragbar gewesen wären? Übler Gestank kann oft jahrelang haften bleiben. Um mich zu revanchieren, wollte ich dir etwas Gutes tun – leider ohne großen Erfolg, fürchte ich.«
»Was hast du mit meinen Sachen gemacht?«, wiederholte ich. Äußerlich noch immer gelassen, war mein Magen inzwischen ein harter Klumpen.
»Oh, ich hab nur versucht, sie zu waschen.«
»Wo?«
»In der Dusche.«
Ich ließ Hannah, die mit ihrer gehässigen Tat offensichtlich zufrieden war, stehen und eilte zum Duschraum. Unter dem tropfenden Duschkopf türmten sich in den aufgeweichten Kartons meine völlig durchnässten Klamotten. Der Anblick meines neuen Rucksacks, der jetzt formlos in sich zusammengesunken oben auf einem der triefenden Kleiderstapel lag, trieb mir Zornestränen in die Augen. Doch wenn ich gegen Hannah bestehen wollte, durfte ich mich nicht auf ihre fiesen Spielchen einlassen. Also biss ich die Zähne zusammen, drängte meine aufsteigende Wut zurück und bemühte mich, nicht an Rache zu denken.
Nachdem ich die Kartons ins Trockene gezerrt hatte, sortierte ich die Teile in brauchbar, vielleicht brauchbar und Müll. Die ruinierten Sachen entsorgte ich, den Rest trug ich in die Waschküche, um ihn zum Trocknen aufzuhängen. Anschließend stärkte ich mich in der Kantine an dem, was meine Mitschüler übrig gelassen hatten. Nun war ich bereit.
Der Aufenthaltsraum erschien mir genau der richtige Ort, um meine Stellung zu behaupten. Ich ließ mich laut in einen der schwarzen Clubsessel fallen – direkt gegenüber von Hannah, die auf der überdimensionalen Lümmelcouch mit ein paar Jungs flirtete.
»Was machst du denn hier?«, platzte sie heraus, als sie mich bemerkte.
»Warum? Hast du Angst, ich könnte dir in die Quere kommen? Keine Sorge, ein Internat kann nur eine Xanthippe verkraften.«
»Du meinst doch nicht etwa mich?«, trällerte Hannah. »Wenn ich mich nicht irre, bist du hier das No-go, für das sich keiner interessiert und das niemand vermisst. Also verschwinde – du bist hier nicht erwünscht!«
Die Gespräche in dem gut gefüllten Raum verstummten angesichts der drohenden Auseinandersetzung. Abschätzende Blicke trafen mich, die klarmachten, dass niemand mir zutraute, gegen Hannah zu bestehen. Das spornte mich an.
»Auch wenn du wahrscheinlich daran gewöhnt bist, dass alles so läuft, wie du es gerne hättest, werde ich nicht nach deiner Pfeife tanzen. Ob dir das passt oder nicht!«
Mit verschränkten Armen trotzte ich Hannahs hochnäsigem Blick. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als meine Gegenwart zu akzeptieren. Kampflos ergab sie sich natürlich nicht.
»Da hat wohl jemand seinen ganzen Mut zusammengenommen. Aber bleib nur hier – Asylantenkind.«
Darauf kannst du Gift nehmen, Prinzessin Viel-zu-lange-verwöhnt. Ich verbiss mir meinen Kommentar. Sollte sie doch glauben, etwas Besseres zu sein, weil ihre Eltern offenbar nicht nur das Internat bezahlen, sondern, ihrer Kleidung nach zu urteilen, es sogar kaufen konnten. Mich ließ das kalt – sollte es zumindest. Aber als sich zu der Gruppe um Hannah noch einige Mädchen scharten, die mich mit unverhohlener Abneigung anstarrten, fühlte ich mich schon ein wenig allein auf meinem Sessel. Trotzdem blieb ich sitzen.
»Das hast du gut gemacht. So was hat sie schon längst verdient«, flüsterte mir jemand ins Ohr.
Ich zuckte zusammen.
»Ich bin’s nur, Marisa. Komm, lass uns von hier verschwinden, bevor ihr Hofstaat sich zusammenrottet.«
»Ich kann nicht – noch nicht.« Marisa nickte. Sie verstand, dass ich nicht klein beigeben wollte, und setzte sich auf den Hocker neben mir.
Marisa und ich waren nicht die Einzigen, die mit Hannah ein Problem hatten. Juliane, Florian und Max – allesamt Freunde von Marisa – hatten anscheinend nur darauf gewartet, dass jemand den Mut aufbrachte und sich vor gesammelter Mannschaft gegen sie stellte.
»Willkommen im Anti-Hannah-Club«, begrüßte mich Max. »Du hast schneller als ich herausgefunden, wie sie tickt.«
»Kein Wunder. Sie muss ja auch ein Zimmer mit ihr teilen«, erklärte Juliane, ein hellhäutiges Mädchen mit aschblonden Haaren und einem schmalen Gesicht. »Du tust mir echt leid«, tröstete sie mich. »Aber wir haben immer einen Platz in unserem Zimmer, falls du es nicht mehr mit ihr aushältst.«
Eine halbe Stunde später kam ich auf das Angebot zurück, und wir machten es uns bei Juliane und Marisa gemütlich, knabberten Chips, tranken Fruchtshakes und beschnupperten uns. Sie waren okay. Alle vier.
Als Hannah lange nach mir unser Zimmer betrat, lag ich bereits in meinem Bett und stellte mich schlafend. Am nächsten Morgen würde mein Durchsetzungsvermögen erneut auf die Probe gestellt werden.
Ich hatte wahllos einen von Hannahs Pullovern aus ihrem Schrank gezogen – meiner hatte rote Kirschsaftflecken und meine anderen Sachen waren noch nass. Eine ihrer Jeans anzuprobieren, konnte ich getrost vergessen: Ihren ausgeprägten XXL-Rundungen hatte ich nur sanfte Hügel entgegenzusetzen.
Nach einem Blick in den Spiegel bereute ich jedoch meine voreilige Entscheidung. Der raffinierte Ausschnitt enthüllte mehr, als er verbarg, doch es war zu spät – Hannah kam gerade aus dem Badezimmer zurück.
»Was fällt dir ein?!«, fauchte sie. »Zieh sofort meinen Gucci-Pullover aus!«
»Das würde ich ja gerne, aber leider hab ich nichts zum Anziehen. Irgendwer hat gestern meine Kleider ruiniert.«
»Kleider? No-names! Los, her mit meinem Pulli!«
»Bist du dir sicher? Bestimmt interessiert es die Internatsleitung, wie meine neue Mitbewohnerin mich aufgenommen hat.«
Hannah erblasste. Doch sie fasste sich schnell wieder und drohte mir: »Das wagst du nicht!«
Ihr Blick wurde mörderisch. Die Folgen, wenn ich petzte, wollte ich mir lieber nicht ausmalen, aber zurückstecken konnte ich auch nicht.
»Und warum nicht? Weil du dann dafür sorgst, dass ich von der Schule fliege?« Ich lachte. »Glaub mir, das wäre mir so was von egal!« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und ließ die fassungslose Hannah einfach stehen.
»Wow! Du hast dich aus Hannahs Kleiderschrank bedient?«, begrüßte mich Juliane in der Kantine.
Nicht nur ihre Augen blieben auf dem Oberteil hängen. Ich versuchte, den Ausschnitt unauffällig nach oben zu ziehen.
»Lass das«, raunte Marisa leise und setzte sich mit Toast, Frühstücksei und Kaffee neben mich. »Du siehst aufsehenerregend aus. Hannah ist schon ganz grün vor Neid.«
Mit einem Kopfnicken deutete sie zum Nachbartisch. Und tatsächlich starrte auch Hannah mich an – stocksauer! Ich musste zugeben, dass mir ihre Reaktion gefiel, auch wenn es bestimmt nur an dem Schaut-her-was-ich-zu-bieten-habe-Pulli und den damit verbundenen Blicken der Jungs lag.
Mein Mathelehrer, Herr Julzke, war weniger begeistert – vielleicht hielt er auch nur Mädchen mit aufreizender Kleidung für unbegabt in Mathe. Er liebte es, zu Beginn jeder Stunde ein paar Aufgaben zu stellen, bei denen Kopfrechnen gefragt war – nicht gerade meine Stärke.
»Im Süden Europas nimmt man’s wohl nicht so genau mit dem Rechnen. Da musst du noch etwas nacharbeiten«, verkündete er betont nachsichtig, während er mir den Test zurückgab.
Ich unterdrückte eine bissige Bemerkung über seine Vorurteile, beschloss, ihn von meinen mathematischen Fähigkeiten zu überzeugen, und meldete mich besonders oft – Integralrechnung kannte ich schon.
Englisch war besser. Frau Kupferberg, eine quirlige Mittdreißigerin, war ganz zufrieden mit meinen Sprachkenntnissen, vor allem mit meiner Aussprache. Gut, dass meine italienische Lehrerin in Oxford studiert hatte.
»Habt ihr ihn schon gesehen?« Juliane war ganz aufgekratzt, als Marisa und ich sie auf dem Weg zur Schulversammlung aufgabelten. Ihr ansonsten so fahles Gesicht schimmerte rosig, was ihr ausgesprochen gut stand.
»Wen?«
»Den Neuen!«
Marisa runzelte die Stirn. Julianes überschwängliche Begeisterung überraschte sie. »Noch nicht. Aber wie’s aussieht, hat er bei dir einen bleibenden Eindruck hinterlassen – und das, nachdem ich schon dachte, dir müsste erst noch einer gebacken werden. Bist du auch so kompliziert?«, fragte sie mich.
»Eigentlich nicht – nur wählerisch.« Ziemlich wählerisch, also genau betrachtet: kompliziert.
»Anscheinend habt ihr Konkurrenz bekommen«, zog Marisa Max und Florian auf, die in der Aula auf uns warteten.
Max, der nicht gerade Modelmaße besaß, grinste breit. Florian hingegen warf Marisa einen missmutigen Blick zu – irgendwie hatte ihre Behauptung ins Schwarze getroffen. Der Neue musste wahrlich ein Prachtexemplar sein, sonst hätte der durchtrainierte Florian, der sicher schon vielen Mädchen den Kopf verdreht hatte, anders reagiert.
Nicht nur ich wurde neugierig. Fieberhaft suchte Marisa mit ihren wasserblauen Augen die Reihen ab, und auch ich begann Ausschau nach unserem Neuen zu halten.
Massenweise verdrehte und verrenkte Mädchenhälse entdeckte ich, nur keinen, an dem ihr Blick klebte. Selbst Hannah, die mit ihrer Röhrenjeans und der eng anliegenden Bluse ihre Kurven besonders gut zur Geltung brachte, schaute sich um, anstatt einfach dazustehen und die Blicke auf sich zu ziehen.
Frau Germann eröffnete die Schulversammlung und zog die gesammelte Aufmerksamkeit auf sich – zumindest die der Mädchen –, da sie nicht allein erschienen war. Sie hatte Raffael Montecelli, den neuen Schüler, mitgebracht. Er kam mir irgendwie bekannt vor, was wohl daran lag, dass er aus Italien kam – wie ich.
Juliane entfuhr ein leiser Seufzer, und auch ich musste zugeben, dass der Typ seinem vorausgeeilten Ruf gerecht wurde. Wie er da so lässig und souverän mit seinen halblangen, schwarz gewellten Haaren neben der Direktorin stand, hatte schon etwas Anziehendes an sich. Er war breitschultrig, hatte dennoch schmale Hüften und überragte unsere großgewachsene Direktorin beinahe um einen Kopf.
»Sieht er nicht umwerfend aus?«, fragte Juliane, ohne den Blick von Raffael zu wenden.
Ich grummelte ein »Ja, der ist schon ganz okay«, woraufhin sich Florians Gesichtszüge deutlich entspannten.
»Ganz okay? Brauchst du eine Brille?« Juliane warf mir einen verständnislosen Blick zu und wandte sich an Marisa – mein Kommentar war wohl zu wenig begeistert ausgefallen. »Aus der Nähe sieht er noch besser aus. Und hast du schon bemerkt, wie lecker er riecht? Wie eine frisch gefällte Tanne«, erklärte sie verzückt.
Ich unterdrückte ein Grinsen, als ich mir meinen neuen Mitschüler mit Christbaumkugeln, Lebkuchenherzen und Lametta geschmückt vorstellte.
Florian verarbeitete Julianes Schwärmerei weniger dezent. »Anscheinend benutzt er das richtige Deo!«
Max und ich prusteten gleichzeitig los, als er Massen unsichtbaren Parfums in die Luft sprühte und lasziv mit den Hüften kreiste, woraufhin Juliane uns für den Rest der Schulversammlung nicht weiter beachtete.
Raffael zog auch im Unterricht die Aufmerksamkeit auf sich. Juliane und ich hatten Französisch, Geo und Informatik mit ihm. Ihr Enthusiasmus ging auch mir langsam auf die Nerven. Ständig informierte sie mich über die neuesten Ereignisse, die ich selbst vor Augen hatte: Mit wem Raffael sprach oder gesprochen hatte, wem er ein Lächeln zuwarf oder wer mit ihm gemeinsam zum Unterricht gegangen war und neben ihm saß.
»Vielleicht solltest du ihn einfach mal ansprechen«, schlug ich vor, um ihren Redefluss zu unterbrechen.
»Ich?!«
»Klar, wo ist dein Problem? Nicht jeder steht auf Hannah Platinblond.«
Am Ende der Stunde hielt ich ihre Begeisterung nicht länger aus. Ich schnappte mir Juliane und verstellte Raffael den Weg.
»Hallo«, begrüßte ich ihn. »Willkommen in Torgelow. Ich bin Lynn, und das ist meine Freundin Juliane.«
Ich schubste Juliane unauffällig in seine Richtung, doch sie brachte nur ein gestammeltes »Hi« zustande.
»Ich habe mich schon gefragt, wann ich die zwei hübschen Mädchen aus der hinteren Reihe kennenlerne«, erwiderte Raffael mit einem hörbar italienischen Akzent und ließ seine Augen über meinen enganliegenden, viel zu tief ausgeschnittenen Hannah-Pullover gleiten.
Ich verzog meinen Mund zu einem müden Lächeln – sein italienischer Charme imponierte mir nicht, dazu hatte ich zu lange in Italien gelebt –, aber Julianes Blick schien geradezu an seinen Lippen zu kleben. Das konnte ja heiter werden! Ihr hatte es doch tatsächlich die Sprache verschlagen! Also musste ich aktiv werden, um die peinliche Pause zu füllen.
»Ich kann verstehen, dass du am Anfang noch etwas schüchtern bist, da ich auch noch nicht allzu lange hier bin«, konterte ich – keine gute Eröffnung.
»Dann haben wir also etwas gemeinsam?«
»Scheint so«, antwortete ich unsicher. Seine Stimme hatte einen weichen Klang angenommen, den ich mochte, obwohl ich das eigentlich nicht wollte.
»Und sie kommt auch aus Italien – wie du«, warf Juliane verträumt dazwischen.
Ich verdrehte die Augen. Musste sie ihm auch noch das Stichwort liefern?
»Wirklich? Du sprichst akzentfrei Deutsch!«, antwortete Raffael, ohne Juliane eines Blickes zu würdigen, während seine schwarzen Augen versuchten, mich zu hypnotisieren.
»Das ist eine lange Geschichte«, wehrte ich ab.
»Nun bin ich erst recht neugierig. Lass uns zusammen mittagessen«, schlug er vor.
Gezwungenermaßen willigte ich ein. Schließlich war er neu und kannte niemanden. Außerdem wollte ich nicht unhöflich sein.
Juliane verkrümelte sich, da die Einladung eindeutig an mich gerichtet war, und ich verbrachte ungewollt die Mittagspause mit Raffael – was mir ziemlich viele giftige Blicke einbrachte. Die Tatsache, dass ich ein paar Jahre im selben Land wie er gelebt hatte, schien für ihn Grund genug zu sein, sich eingehend mit mir zu beschäftigen.
Ich beschleunigte das Ganze und schlang mein Essen hinunter, während ich erzählte, wie ich nach Italien und danach aufs Internat gekommen war. Anschließend hastete ich zu Marisa und Juliane, beschwerte mich über Raffaels Aufdringlichkeit und seine langweilige Gesellschaft – was gelogen war, denn eigentlich war er ein ganz passabler Gesprächspartner.
Juliane glaubte mir nicht.
»Warum bist du dann mit ihm essen gegangen, wenn du ihn so schrecklich findest?«
»Hallo? Du warst doch dabei! Es wär ziemlich unfreundlich gewesen, wenn ich ihn abgewimmelt hätte.«
»Bestimmt hätte er Ersatz gefunden«, erwiderte Juliane sarkastisch. »Im Übrigen fand ich es nicht gerade nett von dir, dass du mich vorgeschoben hast, um ihn anzuquatschen.«
»Wie kommst du bloß auf die Idee?« Ich brauchte eine Weile, um ihre Anschuldigung zu verarbeiten. Sie hatte zwar anquatschen gesagt, aber anmachen gemeint.
»Weil es mehr als offensichtlich ist, dass du was von ihm willst!«
Ich schaute an mir herunter. Da war was dran – auch wenn das mit dem Pulli nicht geplant war, sah ich so aus, als hätte ich vor, jemanden aufzureißen.
Natürlich ging ich sofort zur Waschküche im Schlosskeller, um nach meinen Sachen zu sehen und mich umzuziehen. Bis auf meinen neuen Rucksack, der aussah wie verschrumpelte Hühnerhaut, war alles trocken. Mit der ersten Ladung auf dem Arm lief ich durchs Foyer, vorbei an der Wandtür, hinter der die Besenkammer lag – und die nicht vorhandene Treppe. Beim dritten Mal hielt ich es nicht länger aus und warf einen Blick hinein. Natürlich gab es immer noch keinen Zugang nach unten, aber ich konnte mich wieder daran erinnern, dass ich meine Abschiedsgeschenke vor Hannah in Sicherheit bringen wollte. In meinem Reiserucksack waren sie nicht mehr – und irgendwo musste ich sie ja versteckt haben. Nur wo, fiel mir einfach nicht ein.
Meine erste Schulwoche auf dem Internat wurde ziemlich stressig. Abgesehen davon, dass ich mich bemühte, Hannah aus dem Weg zu gehen – weshalb ich mein Zimmer nur zum Schlafen benutzte –, holten mich meine Wissenslücken ein. Frau Germann verordnete mir nach unangekündigten Kontrolltests Extrastunden in Französisch, Biologie und deutscher Rechtschreibung. Auch am Wochenende.
Anstatt mit Marisa, Max und Florian meine ersten Schritte auf dem zugefrorenen See zu wagen, saß ich jeden Nachmittag im Studierzimmer und lernte. Mit Raffael. Auch er hatte einiges nachzuholen. Zudem war ich für ihn wohl so anziehend wie ein Magnet: Nicht nur, dass er mit mir die Zeit bis zum Abendessen verbrachte und sich danach in der Kantine zu mir setzte – was ich und vor allem Juliane völlig in Ordnung fanden. Immer wenn ich versuchte, unbemerkt im Besenschrank zu verschwinden, tauchte er auf.
Erst nach meinem Pflichtanruf – seit dem Unfall bestanden meine Eltern darauf, dass ich mich jeden Freitag meldete –, gelang es mir, Raffael abzuschütteln. Ich behauptete, wegen Kopfschmerzen früh ins Bett zu wollen. Davor hatte ich dafür gesorgt, dass er in angenehmer Gesellschaft war, indem ich ihn in den Aufenthaltsraum schleppte, wo ein paar Mädchen sich sofort auf ihn stürzten.
Ich wollte mir den Putzmittelraum noch einmal genauer anschauen. Meine Überlegungen hatten mich immer wieder in einen darunterliegenden, nicht existierenden Kellerraum mit allen möglichen Kuriositäten geführt. In bester Erinnerung waren mir ein mannshoher Spiegel und eine Harfe geblieben. Ich war über sie gestolpert und hatte mir – wie so oft in letzter Zeit – den Kopf angestoßen. Eventuell hatte sich schon damals mein Gedächtnis getrübt, obwohl die Bilder vom Zusammenstoß mit dem Instrument zu lebhaft waren, um sie nur geträumt zu haben.
Mit größter Sorgfalt strich ich über den Boden des Putzraums. Nichts, keine Vertiefung, keine Erhebung, keine Unregelmäßigkeiten. Wenn hier jemals eine Treppe nach unten geführt haben sollte, hatte jemand wirklich gute Arbeit geleistet! Schon in der Woche darauf stand die erste Prüfungswelle an. Sonderbarerweise häuften sich Klassenarbeiten immer, egal auf welche Schule man ging.
Marisa hatte mir angeboten, mit ihr und Juliane zu lernen. Ich willigte dankbar ein. Eine Unterstützung in Französisch hatte ich bitter nötig, und ich war gerne bereit, mit meinen Mathekenntnissen zu helfen. Zudem konnte ich so Raffaels Bitte, gemeinsam mit ihm zu üben, ablehnen, ohne lügen zu müssen. Auf keinen Fall wollte ich Juliane noch mehr Grund zur Eifersucht geben: Ich hatte schon den vorigen Abend komplett mit ihm verbracht. Er hatte eines meiner Lieblingsthemen angeschnitten – italienische Kunst –, weshalb ich länger mit ihm zusammenblieb, als ich beabsichtigt hatte.
»O Mann! Langsam wird mir die Büffelei zu viel«, seufzte Marisa.
»Allerdings. Ich nehm mir morgen Nachmittag frei. Sonst werd ich niemals fertig und sitz hier noch die ganze Nacht«, erwiderte Juliane, die sich mit Max und Florian im Gemeinschaftsraum verabredet hatte – wo auch Raffael sein würde.
Obwohl er sich deutlich weniger mit den anderen unterhielt als mit mir, verstand Raffael es, seinen Charme in der nötigen Dosierung einzusetzen, um das Interesse erstaunlich vieler Mädchen aufrechtzuerhalten. Auch wenn er für mich davon immer eine besonders große Portion reserviert hatte!
»Du willst schwänzen? Und wenn dich jemand erwischt?«, nahm ich Julianes Ankündigung auf. Mich interessierte, welche Konsequenzen Blaumachen hatte.
Juliane lachte über meine Naivität. »Wenn du mir sagst, wie man Magenschmerzen nachweist? Du darfst dich nur nicht draußen erwischen lassen, sonst gibt’s Arbeitsdienst.«
Ich widerstand am nächsten Tag, mein Kunstprojekt zu schwänzen und mich auf die kommende Klausur vorzubereiten. Deutsch würde schon irgendwie hinhauen.
»Meinst du nicht, dass die Flügel etwas zu groß geraten sind?« Frau Kluck, unsere Kunsterzieherin, inspizierte die Skizze für meine Projektarbeit mit einem abschätzenden Blick durch ihr rot gerahmtes Brillengestell.
»Nein, ich glaub nicht«, erwiderte ich selbstbewusst. Ich mochte die Größe der Flügel. Sie passten zu der Engelsskulptur, die ich modellieren wollte.
Frau Kluck verzog nachdenklich ihre akkurat gezupften Augenbrauen. »Du solltest dir eine Vorlage suchen – bei Tintoretto vielleicht, der hat viele Engel gemalt – und nicht ganz so viel von deiner Fantasie miteinfließen lassen. Vor allem bei den Flügeln!«
Ich ersparte mir einen Kommentar. Frau Kluck zog weiter, und ich atmete erleichtert auf. Wozu gab es künstlerische Freiheit? In meinen Augen waren die Flügel perfekt. Tintoretto hin oder her.
Um uns bei Laune zu halten, hatte sich die Schulleitung für die jährlichen Kulturtage etwas Besonderes einfallen lassen: ein langes, lateinamerikanisches Wochenende.
Mehrere Südamerikaspezialisten, darunter ein Geschichtsprofessor für präkolumbische Kultur, der Übersetzer eines bekannten brasilianischen Autors und eine argentinische Tanzlehrerin, waren eingeladen. Zudem gab es chilenisches Essen.
Überraschenderweise war der Vortrag des grauhaarigen Geschichtsprofessors spannender als die Lesung. Er stellte uns Chan Chan vor, eine gigantische Wüstenstadt in Peru. Der Tanzunterricht übertraf jedoch alles.
Meine Klassenstufe sollte Tangotanzen lernen! Die meisten der Mädchen brezelten sich auf wie für einen Tanzabend. Ich hatte meine Jeans anbehalten. Juliane, deren pastellfarbenes Kleid ausgesprochen gut zu ihren hellen Haaren passte, warf mir einen kritischen Blick zu.
»Du hättest ruhig auch einen Rock anziehen können. Immerhin hast du ja welche in deinem Schrank hängen.«
»Die sind ausschließlich für Schönwetterperioden reserviert. Bei diesen Arktistemperaturen ist es mir im Rock viel zu kalt – und Strumpfhosen hasse ich!«
Marisa stieß zu uns. »Ich auch«, bekräftigte sie und stolzierte in ihren Stilettos und ihrer ausgeblichenen Stretchjeans neben uns zum Festsaal.
Der Raum war mit schwarzen Fächern, roten Tüchern und künstlichen Blumen auf den Tischen geschmückt und wirkte tatsächlich ein wenig lateinamerikanisch – wenn man die florale Wandbemalung, die Brokatvorhänge und den Kronleuchter ignorierte. Vielleicht hätte ich wenigstens andere Schuhe anziehen sollen.
Natürlich fiel der Blick der strengen Tanzlehrerin, die ihre schwarzen, von silbergrauen Strähnen durchzogenen Haare zu einem schlichten Knoten geschlungen hatte, auf meine Füße.
»Beim nächsten Mal bitte ich alle Teilnehmer, passendes Schuhwerk zu tragen. Turnschuhe lasse ich dann nicht mehr durchgehen!«
»Beim nächsten Mal?«, flüsterte ich Marisa ins Ohr.
»Ja. Hast du denn bei der Schulversammlung nicht zugehört? Der Kurs wird jeden Donnerstag fortgesetzt und endet mit einem Abschlussball vor den Pfingstferien.«
»Was?« Mein entgeisterter Aufschrei lenkte erneut die Aufmerksamkeit der Tanzlehrerin auf mich. Ich verstummte augenblicklich, lächelte und ließ mir meinen Schock nicht anmerken. Paartanz war nicht mein Ding.
Im Anschluss an die erläuternde Einführung teilte die Argentinierin jedem von uns einen Partner zu. Ich bekam Harald, einen plumpen Tollpatsch, der besser aussah, als er tanzen konnte, und war froh, Sneakers zu tragen. In meinen offenen Sandalen – den einzigen Schuhen mit hohen Absätzen, die ich dabeihatte – wären meine Zehen bei weitem nicht so gut geschützt gewesen.
Nach einer kurzen Pause durften wir Mädchen unseren Partner selbst wählen. Ich wollte Max auffordern, der schon einen Tanzkurs hinter sich hatte und mir mit Sicherheit seltener auf die Füße trampeln würde als Harald. Er stand neben Raffael. Ich vermied, Max ein Zeichen zu geben – nicht dass Raffael etwas missverstand –, und kämpfte mich durch den Raum.
Ausgestreckte Beine, am T-Shirt und meinen Haaren zerrende Hände behinderten mich. Hannah hatte ihr Gefolge gut im Griff. Noch bevor sich ein Mädchen Raffael nähern konnte, wurde es aufgehalten. Bei mir waren sie besonders gründlich. Ein Büschel Haare und mindestens zwei blaue Flecken musste ich einstecken. Ich blieb ruhig – was mir extrem schwerfiel. Aber Gelassenheit würde Hannah sicher mehr ärgern als jeder Wutanfall.
Natürlich war sie die Schnellste beim Gerangel um Raffael. Mit siegessicherem Lächeln blickte sie auf ihre Untertanen – einschließlich mir – und ließ sich von Raffael, der sich als ausgezeichneter Tangotänzer entpuppte, über das Parkett schieben.
Max war noch solo, als ich ihn endlich erreichte. Er war mir eine große Hilfe, da ich – außer in der Diskothek – noch nie getanzt hatte. Geduldig bugsierte er mich in die richtige Richtung, wenn ich mal wieder einen anderen Weg einschlagen wollte.
In der Pause kam Juliane mit erhitztem Gesicht an unseren Tisch und stürzte ihre Cola hinunter. Auch ihr war Hannahs Getrickse und wie dicht sie mit Raffael getanzt hatte, nicht entgangen. Sie kochte vor Wut.
Gut, dass ich andere Probleme hatte – wie meine Gedächtnislücke zum Beispiel. Vielleicht gab es da aber auch gar nichts Besonderes, und ich sollte endlich aufhören, mir meinen Kopf darüber zu zerbrechen.
Ich warf Max einen auffordernden Blick zu, als die Jungs die Wahl hatten. Raffael, der am Nebentisch Platz genommen hatte, kam ihm zuvor.
»Darf ich bitten?«, fragte er mit einer eleganten Verbeugung und hielt mir seine Hand entgegen.
Ich nickte – schließlich war uns vorher ausdrücklich erklärt worden, dass es unhöflich war, abzulehnen – und stand auf, ohne Juliane anzusehen. Ihren Gesichtsausdruck konnte ich mir auch so vorstellen. Vielleicht sollte ich sie mit Raffael verkuppeln, dann wäre sie sicher ein wenig entspannter.
»Ich habe zugesehen, wie du tanzt«, begann Raffael, nachdem er mich an der Hand genommen und wir die ersten gemeinsamen Schritte hinter uns hatten.
»Ach ja? Kaum zu glauben, dass du bei Hannahs Zuwendung dazu in der Lage warst.«
Raffaels Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Gleichzeitig hob er fragend eine Augenbraue.
Ich stutzte. Dachte er etwa, ich wäre eifersüchtig? Ich geriet aus dem Konzept und tanzte nach hinten anstatt zur Seite. Raffael glich meinen Fehltritt gekonnt aus und verstärkte den Druck seiner Hände.
»Mit der richtigen Führung würdest du schnell lernen. Aber ich lasse meiner Partnerin natürlich viel lieber ihren Freiraum. Vor allem, wenn sie so viel Geschick beim Tanzen aufweist wie du.«
Sein zweideutiges Kompliment beschäftigte mich. Ich freute mich, dass es etwas gab, bei dem ich mich nicht allzu blöd anstellte. Gleichzeitig fragte ich mich, ob er mich für völlig naiv hielt und glaubte, mit dieser Art Anmache bei mir punkten zu können.
Erst als ich am Abend in meinem Bett lag, der verärgerten Hannah die Schlafende vorspielte und noch einmal über die Tanzstunde nachdachte, fiel mir die Ungereimtheit an Raffaels Kompliment auf: Ich konnte gut tauchen und ein wenig klettern. Außerdem malte und modellierte ich gern, weshalb ich auch das Kunstprojekt gewählt hatte. Seit wann glaubte ich eigentlich, ungeschickt zu sein?