Kapitel 17

Meeresbrandung

Bleib!

Der Schrei erstickte in meiner Kehle, bevor er zu hören war. Meinem Körper fehlte die Kraft, dem Licht zu folgen. Erneut verdichtete sich der Nebel zu zäher Schwärze, drängte in mein Bewusstsein, bis mein Widerstand brach. Was blieb, war unendliche Leere.

Meine Augen füllten sich mit schweren Tränen, die ich nicht weinen wollte. Die Traurigkeit in mir war nicht real – durfte es nicht sein. Ich versuchte aufzuwachen und suchte nach etwas Vertrautem: die Bettdecke fühlen oder das morgendliche Vogelgezwitscher hören.

»Schhh! Du bist in Sicherheit«, flüsterte eine Stimme.

Ich klammerte mich an ihren Klang, zwang die beängstigenden Gefühle beiseite und kämpfte mich in die Wirklichkeit zurück. Das Gewicht neben mir und die behutsamen Finger, die über meine Stirn streichelten, halfen mir dabei. Mit einem tiefen Atemzug sog ich den vertrauten Geruch ein, bis die Dunkelheit nur noch ein weit entfernter Schatten war.

Ich unterdrückte ein Stöhnen, als ich versuchte, mich aufzurichten – mein Kopf drohte auseinanderzuplatzen. Kopfschmerzen waren übel, aber Nervenzellen, die einen Tobsuchtsanfall erlitten? – Höllisch!

Mir wurde schlecht. Ich presste eine Hand vor die Augen, um das grelle Licht auszublenden, das brennend meinen Sehnerv entlangkroch. Vergeblich.

Warum wollte ich noch mal aufwachen?

Ich sehnte mich nach der Dunkelheit, doch etwas in mir warnte mich, und im selben Moment schrumpfte der Schmerz zu einem erträglichen Ziehen hinter meiner Stirn. Okay. Damit konnte ich umgehen – eine Weile zumindest. Vorsichtig öffnete ich meine Augenlider.

»Hallo Süße. Wie fühlst du dich?« Die steile Stirnfalte zwischen den Brauen verriet die Sorge, die die fröhliche Stimme verheimlichen wollte.

Hatte ich irgendetwas verpasst? Offensichtlich: Der dumpfe Schmerz erreichte meine Glieder, als ich mich aufsetzte, und ich ahnte, dass – abgesehen von dem erneuten Gewitter in meinem Kopf – etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Aber ich kam erst darauf, als mir klar wurde, dass ich mich in der Dachkammer befand, in die ich vor kurzem eingezogen war.

»Mam, was machst du denn hier?«

»Sachte, Lynn. Du musst liegen bleiben. Du hast eine Gehirnerschütterung.« Sanft, aber bestimmt drückte meine Mutter mich auf das Kopfkissen zurück.

Ich schluckte den Einwand, dass ich schon wüsste, was gut für mich ist, hinunter und gab nach. Es musste ernst sein – sie hatte mich Lynn genannt!

Im selben Moment, in dem mein Kopf das Kissen berührte, verhallte das Gewitterdröhnen. Danke! Wem auch immer.

»Eine Gehirnerschütterung? Wieso das denn?«

Die Sorgenfalten in dem perfekt geschminkten Gesicht meiner Mutter vertieften sich. Sie strich ihre glatten, dunklen Haare hinters Ohr, was sie immer dann tat, wenn nicht sie, sondern ihr Gegenüber die Antwort wissen sollte.

»Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?«

Eine Gegenfrage – klar. Ich schüttelte den Kopf, worauf das Donnern, begleitet von einem hässlichen Schwindelgefühl, neue Kraft gewann und mich daran hinderte, intensiver über ihre Frage nachzudenken.

»Nein. Erzähl du es mir«, bat ich, während sich der Sturm in meinem Kopf allmählich beruhigte.

»Nun, es ... Ich ... ich kann es dir auch nicht sagen.« Meine Mutter verstummte – was völlig untypisch für sie war. Wollte oder konnte sie nicht?

»Und wie bin ich ins Bett gekommen? Vielleicht hilft das meinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge.« Es war besser, sie reden zu lassen – dann konnte ich mir inzwischen eine passende Ausrede überlegen.

Meine Mutter nahm meine Hand und drückte sie leicht, wobei sie mit einem flüchtigen Blick meinen Unterarm streifte. Als ich die Finger zurückzog, um die roten Striemen auf meiner Haut zu betrachten, wo mein Armband sein sollte, presste sie für einen kurzen Moment ihre Lippen zusammen. Sie war unsicher, was bei ihr nur selten vorkam. Doch sie fing sich schnell wieder und zwang sich zu einem Lächeln.

»Die Jogginggruppe hat dich im Wald gefunden – mit einer Platzwunde. Du wusstest nicht mehr, wo du warst und wie du das Internat finden solltest. Also schafften sie dich ins Krankenhaus. Dort wurdest du untersucht und danach ins Schloss zurückgebracht.«

Meine Finger wanderten zu meiner Stirn und ertasteten den Verband an meiner Schläfe. Ich kramte in meinem Gedächtnis. An das Krankenhaus hatte ich eine vage Erinnerung. Aber sonst ...?

Meine Mutter kämpfte gegen ihre aufsteigende Besorgnis an, als sie meine Unsicherheit bemerkte, doch ich kannte den Schimmer in ihren Augen, der sich immer dann dort zeigte, wenn ich krank war oder etwas angestellt hatte. Dass es mir nicht besonders gut ging, war offensichtlich, dass mich eine Gardinenpredigt erwartete, gut möglich. Doch viel schlimmer war, dass mir nichts Passendes zu meiner Verteidigung einfallen wollte. Vielleicht stand ich unter Drogen?! Aber auf die Idee würde ich sie besser nicht bringen.

»Linde, wo warst du?«

Ich sollte schneller denken – meine Mam wurde ernst.

»Du hast dich in keine der Projektgruppen eingetragen, obwohl wir vereinbart hatten, dass du dir wenigstens die Angebote anschauen würdest. Sonst hättest du die Winterferien gleich zu Hause verbringen können!«

»Doch dort war ich nicht?«, rutschte mir mein Gedanke laut heraus.

Die Frage verwirrte meine Mutter. »Linde, was soll das? Du solltest die Ferien auf dem Internat verbringen, um dich dort einzuleben, bevor die Schule losgeht, nicht damit du dich auf dein Zimmer verdrückst oder allein im Wald umherschleichst!« Ihre Stimme verlor den scharfen Ton, während ihre Finger über meine Haare streichelten. »Warum hast du dich aus den Ferienaktivitäten gemogelt? Gab es da wirklich nichts, das dich interessiert hätte?«

Ich zuckte mit den Schultern, da ich es selbst nicht wusste.

Meiner Mutter entwich ein leiser Seufzer. »Lass gut sein. Wahrscheinlich sollten wir darüber lieber ein anderes Mal reden – wenn es dir besser geht.«

War das alles? Ich musste wirklich schlimm aussehen. Zu meiner Überraschung ließ sie das Thema tatsächlich fallen. Allerdings war das Feriencamp auch nicht meine Idee gewesen.

Meine Mutter stand auf, füllte aus der bereitstehenden Thermoskanne dampfenden Tee in eine Henkeltasse, stellte sie auf ein Tablett, auf dem bereits zwei Sandwiches lagen, und brachte es zu mir ans Bett.

»Hier, trink etwas Warmes. Es wird dir guttun.«

Ich schnupperte an dem dunkelroten Gebräu und verzog angewidert die Nase: Der Tee war mit Honig gesüßt.

»Gibt es auch was anderes zu trinken? Wasser vielleicht?« Angeekelt schob ich den Becher von mir.

»Ja, natürlich.« Meine Mutter zog verwundert ihre schmalen Augenbrauen zusammen. »Aber du warst doch sonst immer so verrückt nach Tee mit Honig. Und bei dieser Kälte dachte ich ... Nun, wenn du willst, hol ich dir auch ein Glas Wasser.«

Sie verließ das Zimmer, um kurz darauf mit einer vollen Wasserflasche und einem Glas zurückzukehren. »Wenigstens hast du Hunger«, stellte sie zufrieden fest, da ich schon eines der beiden Sandwiches verschlungen hatte.

Abgesehen von meinen Kopfschmerzen, die der Arzt, der mich später besuchte, mit einem Schmerzmittel vertrieb, und gelegentlichem Ohrensausen, fühlte ich mich in meinem Zimmer beinahe wie zu Hause – zumindest am ersten Tag.

Dank der Bettruhe, die mir verordnet wurde, bekam ich nicht nur Frühstück ans Bett, sondern auch meine Hausaufgaben. Marisa, die Rothaarige mit den auffallend wasserblauen Augen, an die ich mich sonderbarerweise noch erinnern konnte, besuchte mich am nächsten Tag gleich nach dem Mittagessen. Als ob sie mich schon ewig kennen würde, setzte sie sich zu mir aufs Bett.

»Hi Lynn. Ich bin Marisa, deine Schülerpatin«, stellte sie sich mir nochmals vor – anscheinend hatte sich mein Gedächtnisschwund schon herumgesprochen. »Ich soll dich auf dem Laufenden halten, damit du auch ja nichts verpasst!«

»Nett!«, entgegnete ich trocken. Wo war ich hier? Durfte man nicht mal entspannt krankfeiern?

Marisa grinste – offensichtlich war sie meiner Meinung. Doch sie widerlegte ihre Zustimmung, indem sie einen vollgekritzelten Aufgabenzettel und die dazugehörenden Bücher aus ihrer Tasche kramte und auf meinen Schreibtisch stapelte.

»Damit du dich nicht langweilst. Und glaub bloß nicht, dass deine Hausarbeiten nicht kontrolliert werden«, antwortete sie nachdrücklich, bevor sie mit einem unmissverständlichen Lächeln fortfuhr. »Aber wenn du willst, bring ich dir die korrigierten Lösungen vorbei.«

Marisa wurde mir noch sympathischer. Was sich auch nicht änderte, als meine Erinnerungen an den ersten Tag im Internat zurückkehrten. An den Tag, als sie mich in der Kantine verteidigt hatte, an dem mein Handy geklaut und mein Kissen geschlachtet wurde. Doch abgesehen davon fehlte mir jede Erinnerung an das, was ich während der Ferien gemacht hatte.

Meine Mutter drängte mich nicht, über meinen Unfall – wie sie es nannte – nachzudenken. Obwohl ich ihr ansah, wie brennend es sie interessierte, mehr zu erfahren. Stattdessen unterhielt sie mich mit dem wenigen, was in der kurzen Zeit zu Hause passiert war.

»Übrigens, Philippe will sich am Samstag mit dir treffen«, erwähnte sie betont gelassen. Wahrscheinlich dachte sie, dass sich meine Mädchenträume endlich erfüllten. Doch wir waren nur Freunde.

»Was? Philippe kommt hierher?«

»Nein, aber wenn der Arzt es erlaubt, nehme ich dich am Freitag mit nach Hause – nur für ein paar Tage. Frau Germann und Herr Sander denken auch, dass dir ein wenig Erholung guttun würde.« Meine Mutter starrte für einen kurzen Moment auf mein geschundenes Handgelenk, ehe sie bemerkte, dass ich sie beobachtete.

Sie umschiffte auch am nächsten Tag das Unfallthema. Erst als wir nebeneinander im Flugzeug saßen, kam sie darauf zu sprechen.

»Linde, sag mir endlich, was los ist! Ich hatte gehofft, du würdest es von selbst erzählen. Ohne dass ich dich dränge – doch anscheinend habe ich mich geirrt.« Ihr verzweifelter Unterton war nicht zu überhören.

»Mam, du hast nichts falsch gemacht.«

»Dann erklär mir bitte, woher die Schnittwunden auf deinem Arm kommen!«

Lange genug hatte sie ihre schlimmsten Befürchtungen zurückgehalten. Doch erst jetzt wurde mir klar, warum ihr Blick so oft besorgt – manchmal beinahe hysterisch – zu meinem verletzten Unterarm gewandert war.

»Ich ... du, du glaubst, ich hätte ...?« Ich brach ab, als sich ein paar neugierige Köpfe zu uns umdrehten. Offenbar war ich ein wenig zu laut geworden. Ich wusste nicht, ob aus Wut oder Schock über ihre absurde Vermutung.

»Okay, Mam, es ... es klingt vielleicht verrückt, aber auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann, warum ich allein im Wald spazieren war: Wie die Verletzung an meinen Arm kam, weiß ich« – vermutete ich.

Meine Mutter presste ihre Lippen zusammen, um mir nicht ins Wort zu fallen. Und ich fuhr schnell fort, bevor sich meine erzwungene Gelassenheit wieder verlor.

»Kannst du dich noch an die Kette erinnern? Das von Philippe?«

»Das alte Ding mit dem Engelsmedaillon, das er dir zum Abschied geschenkt hat?«

Ich zuckte unweigerlich zusammen. Ich mochte das alte Ding. Es passte zu mir – es hatte Macken und Kanten.

»Ja, genau. Ich wollte die Kette nicht ablegen, solange ich auf dem Internat bin. Jetzt ist sie weg. Ich muss irgendwo hängengeblieben sein, als ich gestürzt bin« – so erklärte man meinen Unfall. »Und als das Band riss, habe ich mir die Haut aufgeschürft.«

Da die Besorgnis nicht aus ihren dunklen Augen weichen wollte, redete ich weiter, obwohl ihr offensichtlicher Zweifel an meiner Geschichte es mir nicht gerade leichter machte, selbst daran zu glauben.

»Mam, auch wenn ich nicht mehr weiß, was in den beiden Ferienwochen passiert ist, so schlimm kann es nicht gewesen sein. Sonst hätte ich mir ein Ticket besorgt und wäre nach Hause geflogen. Warum sonst habt ihr mir eine Kreditkarte auf ein Internat mitgegeben, wo es weit und breit nichts zu kaufen gibt?«

Endlich löste sich ihre Anspannung ein wenig. Ich sprach vom Shoppen – das Stichwort für meine Mam –, es musste mir wieder bessergehen.

»Entschuldige. Ich ... du bist zum ersten Mal von zu Hause weg, und ich mache mir Sorgen um dich.« Fürsorglich legte sie ihre Finger auf meine Hand.

Ich schluckte. Auch wenn mir das irgendwie klar war, so direkt hatte sie das noch nie gesagt.

Mein Vater erwartete uns am Flughafen in Rom. Trotz seiner freudigen Begrüßung zeigte sich auch bei ihm ein besorgter Zug um seine hellblauen Augen, als er mich in die Arme schloss und an seine breite Schulter drückte, wie ein verlorengegangenes Kind.

Zur Feier des Tages durfte ich das Restaurant für unser Abendessen auswählen. Natürlich entschied ich mich für die Trattoria in unserem Ort, da ich hoffte, Emilia dort zu treffen – die Tochter der Besitzer und meine beste Freundin.

Als hätte sie gewusst, dass wir vorbeikommen würden, stand sie wartend am Eingang. Freudestrahlend rannte sie mir entgegen, so dass ihre dicken dunkelbraunen Zöpfe hin und her schaukelten, bevor sie mich mit einer Herzlichkeit begrüßte, die mir Tränen in die Augen trieb. Kaum hatte ich die Trattoria betreten, stürzte sich ihre Mutter auf mich, als wäre ich nicht nur drei Wochen, sondern drei Jahre fort gewesen.

Mit einem erleichterten Nicken, mich so fröhlich und unbeschwert zu erleben, entließen mich meine Eltern nach der ausgiebigen Pasta-Mahlzeit, und ich zog mit Emilia los, auf der Suche nach unseren Freunden. Es fühlte sich gut an, mit ihr und dem schlaksigen Stefano, einem Klassenkameraden von Philippe, durch die engen Gassen unseres Dorfes zu schlendern. Und es roch herrlich: nach Frühling. Der milde Winter, der in diesem Jahr nur wenig Schnee gebracht hatte, trat bereits seinen Rückzug an – und ich würde übermorgen wieder in die sibirische Kälte geschickt werden!

»Lynn, wenn du so weitermachst, läufst du bald rückwärts. Philippe und Antonio warten auf uns«, drängte Stefano weiter, als ich an einer zartrosa Kirschblüte schnupperte, die über eine Gartenmauer lugte.

Das Leuchten in Philippes dunkelbraunen Augen verriet, dass ich ihm mehr gefehlt hatte als er mir. Stürmisch umarmte er mich. Vielleicht lag es daran, dass er endlich erkannte, was er an mir hatte – hätte haben können! Er ließ mich erst los, als Antonio, sein jüngerer Bruder, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, ihn grob zur Seite schubste.

»Philippe, du erdrückst sie ja! Geh weg und gib mir auch ein Stück von ihr, bevor sie erstickt. Du hast sie ja morgen den ganzen Tag für dich.«

»Ich ... ich weiß nicht, ob Lynn vielleicht schon etwas anderes vorhat«, antwortete er beinahe schüchtern?!

Was war los mit dem großgewachsenen, selbstsicheren Philippe? Verunsicherte ich ihn? Ich presste meine Lippen zusammen, bis ich mir sicher war, dass mir nicht irgendetwas Dummes herausrutschte.

»Meine Mutter hat mich schon darauf vorbereitet, dass ich den Samstag mit dir verbringen muss. Und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen als eine Spritztour mit euch allen.«

Emilia quietschte vor Vergnügen. Philippe hingegen schien wenig begeistert zu sein und fuhr sich durch seine schwarzen Wuschelhaare, hatte ich doch, durch meine großzügige Einladung an die anderen, seinen allzu offensichtlichen Plan zunichtegemacht. Aber ich wollte nicht einen ganzen Tag allein mit ihm verbringen – nicht wenn er solo und so drauf war. Seine großzügige Vorliebe für alles Weibliche zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig, einschließlich der dazugehörenden Baggertechniken, kannte ich nur allzu gut. Und ich wollte unsere Freundschaft nicht gefährden. Er war mein bester Freund – und das sollte auch so bleiben!

»Wenn du nur unter dieser Bedingung bereit bist«, knurrte er.

Doch seine gute Laune ließ nicht lange auf sich warten, als wir mit vier riesigen Freundschaftsbechern meine unerwartete Rückkehr in unserem Lieblings-Eiscafé feierten, bis uns die Bedienung kurz nach ein Uhr rausschmiss.

Wie üblich brachte Philippe mich nach Hause. Das hatte sich eingebürgert, seit er seine Beschützerrolle übernommen hatte. Er drückte mir einen Kuss auf die Wange – ungewohnt linkisch, als wäre es sein erster Abschiedskuss.

Was war bloß in ihn gefahren?

»Ich freu mich schon auf morgen«, flüsterte er, bevor er mich losließ.

Ich trat schnell einen Schritt zurück, als mein Vater die Tür öffnete. Er musterte mich überrascht, und in seinen hellen Augen stand eine unausgesprochene Frage. Dann zog er eine seiner ausgebleichten Brauen nach oben, so dass sie beinahe seine strohblonden Haare berührte, während er mahnend auf seine Armbanduhr schaute.

»Du bist später dran als vereinbart.«

»Ich muss fast einen ganzen Monat nachholen. Im Internat ist um halb elf Zapfenstreich«, übertrieb ich und mogelte mich an ihm vorbei, da ich wusste, dass seine ernste Miene nur aufgesetzt war.

Martin, mein Vater, war alles andere als streng. Fürsorglich, ja, und nachgiebig, wenn meine Mutter oder ich etwas von ihm wollten.

»Weck mich bitte nicht vor zehn. Ich möchte ausschlafen. Außerdem wird es morgen noch um einiges später. Stefano, Emilia und Antonio kommen mit zu unserem Ausflug.«

Mein Vater sah mir kopfschüttelnd hinterher. Er mochte Philippe, der ab nächsten Sommer in Rom Wirtschaft studieren wollte, obwohl er seine schlechte Angewohnheit, was Mädchen betraf, kannte. Denn er wusste, dass ich von meiner Schwärmerei geheilt und gegen Philippes italienischen Charme inzwischen immun war.

Glücklich und müde kuschelte ich mich unter die Bettdecke und genoss meine vertraute Umgebung: die Bilder in den weißen Rahmen an der Wand, die erdbeerrot gestrichen war, meinen meerblauen Teppich, den ich selbst ausgesucht hatte, und meinen vertrauten Kuschelbären mit meinem aufgestickten Namen, der meine Schlafbrille aufhatte, die ich nie benutzte, aber unbedingt haben wollte. Ich war wieder zu Hause – bei allem, was ich liebte!

Philippe kam eine Stunde, nachdem ich mich aus dem Bett geschält hatte, mit Antonio vorbei, um mich abzuholen.

»Brauchst du noch lange?«, fragte er mit einem ungeduldigen Blick auf meine halbvolle Cappuccinotasse.

»Ja. Ich muss den Kaffee hier genießen. Im Internat bekomme ich so was nicht!«

Ich leerte die Tasse mit einem Schluck, schnappte mir meine Strandtasche und folgte Philippe zu seinem Wagen. Wir holten Emilia und Stefano ab, der sich mit seinen langen Beinen in dem kleinen Fiat Punto zwischen Emilia und Antonio auf die Rückbank quetschte.

Philippe wählte den Umweg über die Berge – trotz Antonios und Stefanos Protest. Es wäre schließlich mein Tag, erstickte er ihre Einwände. Ich dankte ihm im Stillen und genoss den Anblick der malerischen Bergdörfer, deren bescheidene Häuser sich dicht gedrängt an die schroffen Bergrücken schmiegten.

Als wir die Stelle passierten, an der zum ersten Mal das Meer zu sehen war, hielt ich den Atem an. Tiefblau erstreckte es sich unter dem wolkenlosen Himmel bis zum Ende des Horizonts.

»Danke«, nuschelte ich Philippe zu, da er die nächstmögliche Parkbucht ansteuerte.

»Ist schon okay. Ich weiß ja, wie sehr du das Meer liebst.«

Philippes Augen richteten sich auf mich, als suchte er etwas anderes als Dankbarkeit. Hatte er eine Abfuhr erhalten, während ich im Internat war? Eigentlich dachte ich, wir hätten geklärt, dass ich nicht die Lückenbüßerin spielen würde.

Nachdem der Fiat angehalten hatte, stürmte ich förmlich zur Tür hinaus. Die Kieselsteine knirschten unter meinen Sohlen, als ich, leicht außer Puste, die schmale Steinmauer am Rand der Felskante erreichte. Wie einen glitzernden Teppich, gewebt aus Millionen von Edelsteinen, ließ die Sonne das kristallklare Blau des Meeres auffunkeln. Kein Wunder, dass mir der Atem stockte.

Ein gleißender Lichtstrahl spiegelte sich auf der glatten Oberfläche und bohrte sich meinen Sehnerv entlang. Tränen schossen mir in die Augen – meine Kopfschmerzen kehrten zurück. Vielleicht hätte ich meine Medizin besser doch genommen.

Am anderen Ende des Parkplatzes knallten Autotüren. Anscheinend hatte Philippe die Jungs überredet, auszusteigen. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht – nicht dass einer von ihnen auf die Idee kam, mich trösten zu wollen.

Feuchter Nebel stieg vom Abgrund herauf. Wohltuende Schatten in der Tiefe versprachen Schutz vor der unerträglichen Helligkeit. Schon der Gedanke an die grelle Sonne verstärkte das Pochen hinter meinen Augäpfeln. Ich lehnte mich über die niedrige Brüstung, um mein Gesicht in dem sanften Hauch zu kühlen.

Komm zu mir.

Bei mir findet dein Schmerz ein Ende.

Ich erlöse dich.

Vertrau mir.

Mein Kopf explodierte. Dröhnende Stimmen wühlten sich durch meinen Schädel und jagten Schmerzwellen durch ihn hindurch. Übelkeiterregender Schwindel ließ mich taumeln. Haltsuchend klammerte ich mich an die Mauer. Steine lösten sich aus der dünnen Wand, und ich verlor das Gleichgewicht.

Ein aufheulender Wind trieb den kalten Nebel ins Tal hinab. Gleichzeitig schlangen sich zwei stählerne Arme um meine Taille und rissen mich zurück.

Ich schloss die Augen. Tausend Empfindungen schossen durch mich hindurch: Angst, Kälte, Tod, aber auch Sicherheit, Wärme und vertraute Nähe, verbunden mit den Vorzeichen eines heraufziehenden Sturms. Die Luft um mich begann zu vibrieren, verdichtete sich und raubte mir den Atem. Ich verlor mich in dem berauschenden Gefühl. Ich kannte es – brauchte es. Es schützte mich. Und ich hielt mich an ihm fest, obwohl es versuchte, mir zu entkommen.

»Lynn!«

Der Klang meines Namens spülte mich fort. Ich kämpfte mich zurück. Tief verborgene Erinnerungen warteten, das fühlte ich – wusste ich!

»Lynn?!« Philippes Stimme riss mich in die Wirklichkeit, und meine Vergangenheit verblasste zusammen mit meinen Kopfschmerzen zu einem undeutlichen Gefühl.

»Was um Himmels willen hast du vor?!«

Philippes Stimme holte mich aus meiner Starre. Dreißig Meter, vielleicht auch mehr, stürzte der Abhang vor mir in die Tiefe. Noch immer hallte der Aufschlag der hinabkullernden Steine empor.

»Ich ... ich wollte nur ...« Sprachlos vor Entsetzen verstummte ich. Erst jetzt erkannte ich, dass ein Sturz in die Tiefe wahrscheinlich mehr als Schürfwunden nach sich gezogen hätte. Meine Beine knickten ein. Zitternd klammerte ich mich an Philippe, der noch immer meine Taille umschlossen hielt.

»Non è successo niente!«, beruhigte er mich und zog mich dichter an sich.

Ich ließ es zu, genoss Philippes Gegenwart und seine tröstenden Hände, die behutsam über meinen Rücken glitten. Erst ein Blick in Stefanos und Antonios betretene Gesichter holte mich zurück. Verlegen befreite ich mich aus Philippes Umarmung.

»Nichts passiert«, wiederholte ich Philippes Beteuerung. »Mir geht’s gut. Es ist noch alles dran.« Zum Beweis drehte ich mich mit einem erzwungenen Lächeln im Kreis. »Ich hab genug gesehen, wir können weiterfahren, bevor auch ihr euch von der Aussicht überwältigen lasst.«

Emilia verarbeitete ihren Schreck, indem sie pausenlos auf Stefano und Antonio einredete. Philippe schwieg und konzentrierte sich auf die kurvige Straße. Ich verdrängte mein mulmiges Gefühl mit dem Blick aus dem Fenster.

Wir passierten die Costa dei Trabocchi mit ihren gespenstischen Pfahlbauten. Als Kind hatte ich mich immer vor den zum Fischfang errichteten Gebilden gefürchtet. An dem nebeligen Tag, an dem ich zum ersten Mal eines von ihnen sah, konnte ich nur die Umrisse erkennen. Wie eine im Meer stehende riesige, dürre Spinne, ragte es mit seinen langen Beinen gespenstisch aus dem Wasser. Und auch heute jagte mir der Anblick der im Dunstschleier stehenden Gebilde eine Gänsehaut über den Rücken. Noch nie wirkten sie lebendiger, und ich war froh, als wir unsere kleine Bucht erreichten.

Wie übermütige, junge Hunde tollten Antonio und Stefano ausgelassen über den einsamen Strand, bevor Philippe sie zum Beachvolleyballspielen überredete. Er hatte tatsächlich seine Tauchausrüstung zu Hause gelassen, obwohl wir in der Nähe seines Lieblingsreviers waren. Meinetwegen! Ich hatte ihm am Abend zuvor gesagt, dass ich wegen der Gehirnerschütterung nicht tauchen durfte.

Während Emilia und die Jungs ein improvisiertes Netz aus altem Strandgut montierten, beobachtete ich das Auf und Ab der Wellen und ließ die feinen Sandkörnchen zwischen meinen Zehen hindurchrieseln. Sie fielen schnell. Ich erschauderte. Was war an der Klippe passiert?

Der Abgrund hatte mich gelockt. Ich hatte Stimmen gehört – wie gruselig! Und dann das Gefühl, das die Windböe in mir ausgelöst hatte. Meine Kehle schnürte sich zusammen. Es war neu, aber nicht fremd. Und ich wollte es noch einmal fühlen – es war so unglaublich gewesen und doch so real, dieses tiefe Vertrauen, die allumfassende Sicherheit.

Meine Kopfschmerzen kehrten zurück, da ich versuchte, mich an meinen zweiwöchigen Blackout zu erinnern. Ich ignorierte sie und kramte weiter in meinem Gedächtnis. Das letzte Bild, das mir geblieben war, zeigte einen dunkelhaarigen, breitschultrigen Typen, der, wenn er nicht so riesig gewesen wäre, als Italiener durchgegangen wäre. Ich hatte ihn im Treppenhaus gesehen, wo ich ...

Moment! Im Treppenhaus? Was wollte ich mit meinem vollgepackten Rucksack auf der Treppe?

Ich bohrte intensiver, um ein weiteres Stück des verschütteten Puzzles aus meinen Erinnerungen hervorzuholen. Ich hatte ihn beobachtet, nachdem ich mich hinter einer Pflanze versteckt hatte.

Ich hatte mich versteckt? Warum? Wollte ich unbemerkt abhauen? Das passte nicht. Wenn, dann hätte ich die Sache vorher geklärt.

Das Dröhnen in meinem Kopf wurde bösartig. Ich holte die Tabletten aus meiner Tasche, die ich schon am Morgen hätte nehmen sollen, und schluckte sie – auch wenn sie meinen Verstand benebelten. Ich würde schon noch dahinterkommen. Später.

Die laute Musik und das Tanzen in der Diskothek, in die Philippe uns am Abend reinschmuggelte, hatten mich mehr erschöpft als sonst. Müde kuschelte ich mich in den Autositz und überließ mich Philippes Fahrkünsten. Das leise Nach-Disko-Summen in meinen Ohren und das sanfte Vibrieren des Motors schläferten mich ein, und ich begann zu träumen.

Philippe stand vor mir und lud mich mit einem breiten Grinsen ein, ihm zu folgen. Hand in Hand schlenderten wir am Meeresufer entlang. Obwohl es sich eigenartig anfühlte, so vertraut an seiner Seite zu sein, genoss ich es, bis das Gefühl umschlug – in heißes Verlangen. Verwundert blieb ich stehen und blickte in seine – grünen? – Augen, die mir alles zu versprechen schienen, bevor er mich an sich zog.

Seine Hände erahnte ich eher, als dass ich sie spürte. Voller Ungeduld sehnte ich mich nach mehr – und bekam mehr: viel mehr, als ich wollte. Scharfe Klauen bohrten sich in meine Haut und hinterließen blutige Striemen auf meinem Rücken. Ich schrie, aber meine Lippen wurden von einem brutalen Mund verschlossen, dessen raubtierhafte Fangzähne sich hart gegen meine Kiefer pressten.

Ich wehrte mich, trat und boxte, doch das Monster hielt meine Taille in einem eisernen Klammergriff gefangen. Mit unaufhaltsamer Kraft drängte es gegen meinen Körper und sog mich in sich hinein, bis sich alles, was ich jemals war, in nichts auflöste.

Ich keuchte, als ein zarter Kuss mich aus meinem Albtraum riss.

»Lynn, wir sind da.« Wie zufällig streiften Philippes Lippen mein Gesicht, als er mich weckte.

Ich zuckte nicht zurück – schlaftrunken war ich zu langsam zum Reagieren –, obwohl mir seine sanfte Berührung einen Angstschauer über den Rücken jagte.

O Gott! Was war los mit mir? Philippe war mein bester Freund! Fürchtete ich mich so sehr vor seiner Berührung, dass ich schon von ihm als grünäugiger Bestie träumte?

Er half mir beim Aussteigen und begleitete mich zur Tür – ganz Gentleman, was nicht unbedingt seine übliche Anmache war. Auch versuchte er nicht, den coolen Typen zu spielen, wie normalerweise, wenn er ein Mädchen rumkriegen wollte. Trotzdem verhielt er sich anders als sonst, vorsichtiger und zugleich liebevoller. Hatte er mich vermisst? Lächerlich! Ich bildete mir etwas ein.

Entschlossen stellte ich mich auf die Zehenspitzen und drückte ihm zum Abschied einen Kuss auf sein stoppeliges Kinn. Er sollte meine Unsicherheit nicht bemerken. Und schließlich waren wir befreundet!

»Danke, Philippe. Du hast mir heute das Leben gerettet!«

Er hatte mehr verdient – aber ich wusste nicht, wie ich auf sein ungewohntes Verhalten reagieren sollte.

Seine eindeutig dunkelbraunen Augen leuchteten noch, als mein Vater die Tür öffnete, um mich einzulassen. Vielleicht sollte ich Philippe an unsere Abmachung erinnern, dass wir nur Freunde bleiben wollten.