Kapitel 10
Heilmittelkunde
Ungeduldig fummelte ich die Knöpfe meiner Bluse zu, zog meinen Pulli darüber und schlüpfte in das nächstbeste Paar Schuhe. Alles in mir drängte hinaus aus meinem Zimmer, hinein in die fremde Welt der Engel – zu Christopher. So schnell ich konnte, sauste ich über den spärlich beleuchteten Vorraum zur Treppe.
»Was treibt dich denn so zur Eile?« Christopher stand lässig an die Wand gelehnt, während seine grünen Augen mir erwartungsvoll entgegenfunkelten.
Noch bevor ich Luft für ein Lauerst du öfter in dunklen Fluren herum und erschreckst kleine Mädchen? holen konnte, zog er mich in seine Arme. Und ich wusste, dass nichts auf dieser Welt so richtig war, wie hier bei ihm zu sein.
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte mir Christopher ins Ohr.
Sein Geständnis brachte mich zum Lachen – und ihn zum Grübeln.
»Du amüsierst dich über meine Aufrichtigkeit?«
»Wie könnte ich?«, fragte ich betont ernst und kuschelte mich an seine Brust, um ihn vom Nachdenken abzulenken.
Doch Christopher durchschaute mein Manöver, umfasste meine Schultern und schob mich von sich. Sein Blick glitt forschend über mein Gesicht und blieb auf meinen Augen hängen. Ich schob das Gefühl, dass Aron mit seinem Ich hoffe, du enttäuschst ihn nicht! recht behalten könnte, beiseite und suchte nach einer ehrlichen Antwort.
»Eigentlich ist es doch erst ein paar Minuten her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben – wenn man die Zeit, die ich verschlafen hab, nicht mitzählt.«
»Für dich vielleicht, nicht für mich. Und deshalb: eindeutig zu lang!«
Mit dem Hauch eines Kusses – viel zu wenig für meine aufgewühlten Gefühle – löste Christopher sich vollends von mir, als die ersten Schüler die Eingangshalle bevölkerten. Und ich beschloss, Arons Unkenrufe in den Wind zu schlagen und das Grün von Christophers Augen als amüsiert zu deuten.
Bestens gelaunt genoss ich nach dem Frühstück meine Chorstunde. Christopher und ich hatten uns zum Mittagessen verabredet, und ich freute mich schon jetzt auf den gemeinsamen Unterricht danach – auch wenn es sich um Gefahrenabwenden handelte.
Während wir zusammen zum Kursraum gingen, erklärte mir Christopher die theoretische Vorgehensweise, und ich bemühte mich, nicht allzu blöd dreinzuschauen.
»Vielleicht ist es einfacher, wenn ich es dir zeige, anstatt es zu erklären«, endete er, kurz bevor wir unser Ziel erreichten, wobei mir wieder einmal bewusst wurde, wie viel ich noch über Engel im Allgemeinen und Christopher im Besonderen zu lernen hatte.
Konnte er meine Gedanken lesen? Susan sollte das beim Mentaltraining. Oder besaß Christopher nur ein besonders ausgeprägtes Gespür? Meine Darbietung, Gefahren abzuwenden, wäre kein Problem für mich, konnte unmöglich so schlecht gewesen sein. Oder doch?! Nun, das ließ sich leicht überprüfen.
Ich konzentrierte mich und spulte den gleichen Gedanken immer wieder ab. Ich hasse dich, du arroganter Möchtegern-Macho, und bin nur nett zu dir, damit du mich beim nächsten Mal nicht im See ertränkst.
Christophers Miene blieb unbewegt – weder Verwunderung noch Belustigung war darin zu entdecken.
Ich probierte etwas anderes. Wenn er wüsste, wie viele Jungs ich schon hatte, würde er mich auch für eine Schlampe halten, wie Aron.
Christopher blieb stehen und betrachtete mich mit einem Stirnrunzeln. »Ich wüsste zu gern, was dir gerade durch den Kopf geht.«
Ich konzentrierte mich auf Ich bin eine Schlampe und antwortete: »Sieht man mir das nicht an?«
»Schon möglich.«
»Und, an was denke ich?«
Ein zweideutiges Grinsen huschte über Christophers Gesicht. »Also, du erkennst gerade, dass ich nicht nur ein toller Typ, sondern auch ein ganz exzellenter Menschenkenner bin.«
»Und, es schockiert dich nicht?«
»Was?«
»Zu glauben, dass ich eine Schlam...«, ich brach ab, als mir klar wurde, dass Christopher mich reingelegt hatte. »Gib’s zu, du kannst gar keine Gedanken lesen!«
»Nein. Nur wenn du es zulässt oder wenn du etwas Unvernünftiges planst und dich in Gefahr begibst.« Christopher schob mich ohne weitere Erklärung durch die nächste Tür, während ich endlich begriff, warum Aron mir geraten hatte, nicht an Christopher zu denken.
Rafek, ein drahtiger Typ, der – nach menschlichen Maßstäben – aussah wie zwanzig, begrüßte Christopher mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, wobei er mich mit einem argwöhnischen Blick begutachtete. Er schien über unser gemeinsames Erscheinen nicht besonders begeistert zu sein und ihm lag wenig daran, das vor mir zu verbergen.
Natürlich teilte er mich nicht Christophers, sondern seiner Gruppe zu, was seine Sympathiepunkte nicht gerade erhöhte. Mit einem knappen Befehl beorderte er mich zu Paul und bat ihn, nach einer ausführlichen Erklärung, die Augen zu schließen.
»Und du, Lynn, machst bitte einen Schritt auf Paul zu. Er wird dir ausweichen – also mach es ihm nicht allzu schwer und öffne ihm deine Gedanken.«
Ich nickte mit vorgetäuschtem Selbstbewusstsein und stellte mich Paul gegenüber ohne den geringsten Plan, was ich tun sollte – abgesehen von dem Schritt nach vorn.
»Und noch etwas«, setzte Rafek hinzu. »Versuche dieses Mal bitte, bis zum Ende des Unterrichts auszuharren.«
Mit Höchstgeschwindigkeit schoss mir das Blut in die Wangen. Ich war aus seinem Unterricht geflohen. Also deshalb konnte er mich nicht leiden.
Rafeks Kommentar und meine Schuldröte weckten die Neugier meiner Mitschüler. Auch Christopher beobachtete mich. Ich ignorierte alle – ausnahmslos. Ich hatte nicht überreagiert! Woher sollte ich denn beim letzten Mal wissen, dass das hier kein Scherz war, wenn niemand es für nötig gehalten hatte, mir zu sagen, wo und was ich war?!
Völlig überhastet begann ich die Übung und rannte förmlich in Paul hinein, dem es nicht gelang, rechtzeitig auszuweichen. Paul, peinlich berührt, im Mittelpunkt zu stehen, manövrierte mich verärgert zurück auf meine Position.
»Wenn du die Liebenswürdigkeit besitzen und kurz warten könntest, bis ich meine Vorbereitungen abgeschlossen habe, würden wir den Kursraum mit deutlich weniger blauen Flecken verlassen«, raunte er mir zu.
Ich stammelte eine Entschuldigung und bat ihn, mir ein Zeichen zu geben, wann ich beginnen konnte. Drei Runden später, bei denen ich jedes Mal mit Paul zusammengerasselt war, beendete Rafek unsere Übung. Seine Unzufriedenheit versuchte er erst gar nicht zu verbergen.
»Genug!«, unterbrach er uns und nahm Pauls Position ein. »Lass mich erst einmal prüfen, ob sie es richtig macht.«
Das sie betonte er alles andere als freundlich, und ich fragte mich, was ich – außer aus seinem Unterricht zu flüchten – noch angestellt hatte. Aber wenn ich schon hier sein musste, war jetzt vielleicht der Zeitpunkt, meinen verpatzten Flugunterricht wettzumachen.
Also atmete ich tief durch, feuerte mich mit dem Gedanken Ich bin ein Engel, ich kann das an und bemühte mich, meinen Geist zu öffnen – oder zumindest das, was ich darunter verstand –, bevor ich einen Schritt nach vorn machte.
Rafek wich mit einer hastigen Bewegung zur Seite, die eher nach Reflex als nach Vorhersehung aussah, riss die Augen auf und funkelte mich ungläubig an.
»Du bist verschlossen, als ob es dein erster Tag an der Schule wäre. Hast du beim Meditationstraining nicht gelernt, wie du deinen Geist öffnest? Oder hattest du Besseres vor, als dem Unterricht zu folgen?«
Rafeks Strafpredigt ließ mich innerlich schrumpfen. Sein Tonfall erinnerte mich an unseren Pastor, wenn er die Jungs unseres Dorfes abkanzelte, nachdem sie etwas wirklich Schlimmes angestellt hatten. Bevor ich mich rechtfertigen und ihm erklären konnte, dass – zumindest in meinem bisherigen Leben – noch kein Meister vom Himmel gefallen war, befahl er mir, beiseitezutreten und mich aufs Zuschauen zu beschränken.
Ich rührte mich den Rest der Stunde nicht von der Stelle – selbst Christophers aufmunternde Blicke konnten meine zunehmende Aversion gegen Rafek nicht vertreiben – und flog förmlich zur Tür hinaus, als er den Unterricht beendete.
Kaum hatte ich das Schulgebäude verlassen, legte sich Christophers Arm um meine Schulter. Seine unerwartete Nähe überraschte mich, und ich wäre beinahe vor ihm zurückgewichen.
»Was hast du?« Die Stirnfalte zwischen Christophers Augen blitzte auf.
»Nichts«, beschwichtigte ich. Da er seine angespannte Haltung beibehielt, fügte ich hinzu: »Ich bin es nicht gewohnt, auf diese Weise getröstet zu werden, wenn ich etwas vermasselt hab – aber ich könnte mich durchaus daran gewöhnen.«
Christophers Gesichtszüge glätteten sich, doch seine achtsame Körperhaltung blieb.
»Dann betrachte meine Aufmerksamkeit während des nächsten Meditationstrainings als weiteren Zuspruch. Ich habe Rafek versprochen, ein wenig mit dir zu üben.«
Ich verkniff mir einen Kommentar über Rafek. Eine Meditationsstunde unter Christophers Aufsicht hörte sich vielversprechend an und half mir, nicht länger über die offensichtliche Abneigung meines Gefahrenabwenden-Lehrers nachzudenken.
Wir ließen das Schulgelände hinter uns und steuerten auf die verlassene Siedlung zu. Ich genoss Christophers Nähe – sie beruhigte mich nicht nur, sondern ließ mich auch meine Unzulänglichkeit vergessen. Gleichzeitig suchte ich nach Antworten auf die vielen Fragen, die sich angesammelt hatten.
»Ich kann immer noch nicht so recht verstehen, wie ich gestorben und im Schloss der Engel gelandet bin. Werden denn alle Menschen nach ihrem Tod zu Schutzengeln?«
Christopher, der auf einem Mauersockel Platz genommen hatte, entspannte sich ein wenig. »Fragestunde, wie es scheint.«
Ich nickte und blieb vor ihm stehen.
»Natürlich werden nicht alle Menschen Schutz- oder Wächterengel, sonst wäre es hier schnell überfüllt.« Das amüsierte Grinsen über meine anscheinend dämliche Frage verschwand und wich einem undefinierbaren Ausdruck. »Nur wenigen wird diese Aufgabe zuteil. Es bedarf gewisser Eigenschaften, um Schutz gewähren zu können.«
Die Christopher in meinen Augen im Überfluss besaß – aber offenbar nicht in seinen. Ich verschob meine drängendste Frage auf später. Es gab so vieles, was ich wissen wollte.
»Gibt es nur diese eine Schule hier?«
»Nein. Engelschulen gibt es überall auf der Welt. Je nachdem, in welchem Alter man stirbt und welche Eigenschaften einem obliegen, wird man einer entsprechenden Einrichtung zugeteilt.«
»Dann«, ich runzelte vor Unbehagen automatisch die Stirn, »dann behalten Menschen, die im hohen Alter sterben, ihre gebrechlichen Körper?«
Christophers samtwarmes Lachen hallte über die Wiese. Als er meine Verärgerung bemerkte, nahm er meine Hand, drehte sie um und küsste entschuldigend die Innenfläche.
Ich widerstand dem Impuls, meine Augen zu schließen und mich dem verlockenden Prickeln hinzugeben, das meinen Arm emporkroch – und Christopher fuhr mit seinen Ausführungen fort.
»Ab einem gewissen Alter darf man sich aussuchen, ob man eine seiner jüngeren Erscheinungsformen annehmen möchte. Aber du wärst überrascht, wie viele das ablehnen, wenn ihr betagter Körper erst einmal von den Gebrechen des Alters befreit ist.«
Ich entzog Christopher meine Hand – seine Berührung erschwerte mir das Denken, und so leicht wollte ich mich nicht ablenken lassen.
Eine Zeitlang lief ich auf und ab, um über seine Erklärungen nachzudenken. Ich war noch jung und auch so geblieben – was völlig okay war –, und bei all meinen Mitschülern war es genauso. Doch nicht jeder Mensch wurde zum Engel, was in mir wiederum ein ungutes Gefühl hinterließ. Und nicht alle Engel besaßen dieselben Eigenschaften. Selbst einem Blinden wäre der Unterschied zwischen Aron und Christopher aufgefallen. Aber war es überhaupt wichtig, zu erfahren, was ihn von den anderen unterschied?
Mein Blick wanderte zu Christopher hinüber. Er wartete auf meine nächste Frage, doch ich wusste nicht, ob ich für seine Antworten bereit war.
»Drei Fragen? War das alles?« Christophers provozierender Unterton erstickte meine Bedenken.
»Sehen sich Schutz- und Wächterengel ähnlich?«
»Ja.« Christopher nickte gelassen, doch seine Züge verhärteten sich ein wenig. Er wusste, worauf ich hinauswollte.
»Warum gleichst du ihnen nicht?«
»Weil es viele verschiedene Arten von Engeln gibt, um die Aufgaben abzudecken, die sich uns stellen. Nimm zum Beispiel die Wächterengel. Sie sind Schutzengel mit besonderen Fähigkeiten, die sich im Laufe ihrer Ausbildung herauskristallisieren – so wie bei Paul.«
»Paul? Er hat besondere Fähigkeiten?!«
»Ja, die hat er. Und wenn du dich mit ihm ein wenig genauer beschäftigst, müssten sie dir auch auffallen. Oder hast du etwa ein Problem damit, dass er anders ist?«
Christophers Frage sollte gelassen klingen, doch ich ließ mich nicht täuschen und schon gar nicht fiel ich auf sein unerwartetes Ablenkungsmanöver herein, mich mit seinen funkelnden Smaragdaugen becircen zu wollen.
»Und, welche spezielle Aufgabe hast du?«
Das Leuchten in Christophers Iris verblasste und an seine Stelle trat das kalte Jadegrün. Als er antwortete, wich er meinem Blick aus.
»Ich betreue in der Schule ein paar Neuzugänge und helfe ihnen dabei, ein guter Schutzengel zu werden.«
»Und was hast du davor getan?«
Die Härte in seinem Gesicht jagte mir Gänsehaut über den Rücken. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück, bis ich den Schmerz in seinen Augen sah. Tiefe, uralte Pein spiegelte sich darin wider. Ohne Zögern stürzte ich auf Christopher zu, schlang meine Arme um seinen Hals und erstickte seine Antwort mit einem Kuss.
»Ich will es nicht wissen«, raunte ich und versuchte, ihn am Sprechen zu hindern.
Leider hatte ich Christophers Stärke nichts entgegenzusetzen. Er schob mich von sich und hielt mich auf Abstand, wobei ich wieder die Kraft fühlte, die von ihm ausging.
»Du hast ein Recht, es zu erfahren.«
»Es ist mir egal«, versicherte ich.
»Das sollte es aber nicht. Du musst wissen, auf was du dich einlässt.« Anmutig straffte er seinen Körper und streifte mich mit dem Anflug einer Warnung im Blick, die sicherstellen sollte, dass ich ihm aufmerksam zuhörte, bevor seine Augen sich in der Ferne verloren.
»Meinem Vater gehörte das Land, der See und die alte Burg, in der ich geboren wurde. Ich war das Einzige, das ihm von seiner Liebe blieb, als meine Mutter bei der Niederkunft meines totgeborenen Bruders starb. Er schenkte mir seine ganze Zuneigung und verkörperte alles, was ich werden wollte.
Als ich acht war, zerschlug ich mit meinem Schwert vor Wut sämtliche Äpfel, die in den Gewölben eingelagert werden sollten, da er mich nicht mitnahm, um die herumziehenden Plünderer zu verjagen. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich war zu stolz, mich von ihm zu verabschieden, und habe ihn im Zorn verlassen.« Christophers klare Stimme war rau geworden, so dass ich den Selbstvorwurf in ihr wahrnehmen konnte.
»Mein Onkel übernahm die Vormundschaft. Er sollte sich um mich und das Anwesen kümmern, bis ich mit einundzwanzig mein Erbe antreten konnte. Doch er ließ mich spüren, dass ich nicht sein eigener Sohn war. So oft wie möglich schlich ich mich aus der Burg, um hierherzukommen. Im Dorf fand ich das, was ich verloren hatte: Zuneigung, Geborgenheit – und Liebe.«
Ich schluckte – meine Eifersucht. Vielleicht hatte ich sie auch lautstark hinuntergewürgt. Christopher war es jedenfalls nicht entgangen.
»Nein, nicht die Liebe eines Mädchens, sondern die seiner Mutter. Ich wurde zu dem Sohn, den sie nicht hatte, und zweifelsohne hoffte sie, dass ich eines Tages ihre Tochter als Gemahlin in Betracht ziehen würde.«
»Und, war sie hübsch?« Natürlich konnte ich mir diese Frage nicht verkneifen.
Christopher sah mich an und in seinem Gesicht lag so viel Zuneigung, dass ich das Atmen vergaß, denn sie gehörte nicht dem Mädchen, sondern mir. So kam ich auch darüber hinweg, dass sie groß, blond und wunderschön war.
»Als ich neunzehn war, traf mein Vormund alle Vorbereitungen, mich loszuwerden. Der Krieg kam ihm zuvor. Soldaten überfielen das Dorf, jagten alle Frauen und Kinder in die Kapelle und steckten sie in Brand. Kurz bevor ich zu Hilfe eilen und die Tür eintreten konnte, wurde ich abberufen.«
Ich sah den Zorn in Christophers Augen und kämpfte gegen den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. Meine Angst würde seinen Glauben bestärken, dass er das todbringende Wesen war, das er hasste und das nicht fähig war, die Menschen, die er liebte, vor dem Tod zu retten.
»Mein Übergang verlief anders als der der meisten Engel. Ich wurde in Zorn und Wut wiedergeboren. Meine Ausbildung war gnadenlos und grausam. Sie steigerte diese Gefühle in mir ins Unermessliche. Lehrte mich, aus tiefstem Herzen zu hassen, und eröffnete mir dadurch den Blick auf das Böse. Dank Coelestin widerstand ich seinen Verlockungen, seinen leichtfertigen Versprechungen und wurde zu dem, was ich heute bin.«
Nun wusste ich, warum er anders war und warum es ihm so schwerfiel, meine Liebe zu ihm zuzulassen. Ich war bereit, alles zu tun, um ihn davon zu überzeugen, dass er es wert war, geliebt zu werden. Doch während Christopher fortfuhr, musterte er mich mit einer Bitterkeit, die Zweifel in mir weckte, ob ich das jemals schaffen würde. Im Augenblick schien er meine Gefühle eher zu dulden als zu glauben, dass ich ihn wirklich liebte – und das schmerzte mehr, als ich erwartet hatte.
»Es gibt nicht viele Tage, an denen der Zorn in mir schläft. Früher wurde er oft so mächtig, dass ich darum bitten musste, mich einzusperren, und noch immer fällt es mir schwer, ihn zu beherrschen.«
Christopher erhob sich – nur eine Armeslänge trennte uns voneinander, was meine Anspannung zum Zerreißen brachte. Er hatte eine Warnung ausgesprochen und mir eine elegante Möglichkeit gegeben, einen Rückzieher zu machen – oder sich selbst!
»Hier, im Schloss, bin ich abgeschottet vor dem, was außerhalb lauert. Und trotzdem ist die Wut mein ständiger Begleiter.«
Ich begann zu zittern. Er hatte eine Entscheidung getroffen, und ich fürchtete mich davor, dass er mich wegschicken könnte. Christopher bemerkte meine Reaktion. Sein Blick wurde weich und mich durchströmte ein unbändiges Glücksgefühl.
»Doch mit dir hat sich alles verändert«, flüsterte er, bevor er mich an sich zog.
Mit seiner Berührung verflogen all meine Zweifel und Fragen. Wen interessierte es, wie weit sich die Siedlung erstreckte, was mit den Menschen geschah, die keine Schutzengel wurden, und was er denn nun genau war, wenn sein Mund unwiderstehlich sanft meine Lippen streifte, sie vorsichtig erkundete, bevor er mich küsste, um dann noch mehr zu ergründen? Er liebte mich – mehr brauchte ich nicht! Dachte ich zumindest.
Auch am nächsten Morgen erwartete mich Christopher. Mit einem innigen Kuss, der mir den Atem verschlug, begrüßte er mich. Bevor wir uns zum Unterricht trennten, nahm er mich noch einmal beiseite. Ich musste blinzeln, um meine Aufmerksamkeit von seinen verführerischen Lippen abzulenken.
»Treffen wir uns zum Mittagessen?«
Christopher lockerte seine Umarmung, zugleich verhärteten sich seine Züge. »Leider nein. Ich kann nicht. Und auch heute Abend können wir uns nicht sehen«, kam er meiner nächsten Frage zuvor.
»Dann vielleicht morgen.« Ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust, um meine Enttäuschung zu überspielen, doch Christopher hob behutsam mein Kinn, damit ich ihm nicht ausweichen konnte, und hauchte mir einen Abschiedskuss auf die Nase.
»Versprich mir, auf Aron zu hören und keine Dummheiten zu machen, während ich fort bin.«
Ich nickte artig. Schließlich war Aron mein Tutor und für mich verantwortlich, nicht Christopher. Dennoch beschlich mich das Gefühl, wieder einmal abgeschoben zu werden. Schließlich hatte er mir weder verraten, wohin er ging, noch wann er wieder zurückkommen würde. Und seit gestern wusste ich, dass es für Christopher außerhalb des Schlosses gefährlich werden konnte – was mich nicht gerade beruhigte.
Modrige Luft strömte über die enge Wendeltreppe empor, als ich mich zu der wartenden Schülergruppe in den Keller gesellte. Dass Heilmittelkunde in einem zweiten Kellergeschoss unter einem der Türme unterrichtet wurde, übertraf selbst meine klischeehaften Vorstellungen von mittelalterlicher Medizin.
Ernesta, unsere Lehrerin, öffnete die eiserne Tür, um uns einzulassen. Ich rümpfte angewidert die Nase, da der Gestank eine Intensität annahm, die zwischen Kuhmist, ranzigem Schweineschmalz und altem Turnschuh mit einer Prise Mottenkugeln lag. Unter der gewölbten Kellerdecke entdeckte ich die Ursache. Endlos spannten sich Schnüre von einer Wand zur nächsten. Jede Reihe bestückt mit einem Kraut oder sonst etwas, dessen Herkunft ich gar nicht wissen wollte. Dass es schon lange tot war, roch man, auch wenn in dem düsteren Raum nur Umrisse erkennbar waren. Denn anstatt elektrischer Beleuchtung bevorzugte Ernesta brennende Ölschalen, um ihren Kursraum zu erhellen.
In dem Moment, in dem ich den Raum betrat, warf sie eine Handvoll erlesener Kräuter hinein. Mein Magen rebellierte, als sie lodernd in den Flammen aufgingen. Ich steuerte die hintere Reihe an, doch Ernesta tippte mir bestimmt auf die Schulter und wies mir einen Platz neben Markus und Erika zu.
»Die Neuen sitzen bei mir immer vorne«, dabei wedelte sie mit ihren fleischigen Fingern, die penetrant nach den undefinierbaren Zutaten rochen, die sie gerade in Öl siedete, und scheuchte mich zu meinem Tisch.
Mit feurig erhobener Stimme begann sie ihren Unterricht, wobei ihre orangeroten, vom Kopf abstehenden Locken bei jeder Bewegung auf und ab wippten. Ich presste meine Lippen zusammen, um ein Grinsen zu unterdrücken. Beim besten Willen konnte ich mir Ernesta nicht als Engel vorstellen – zu sehr glich sie mit ihrer wilden Mähne, ihren Knitterfalten und den Utensilien, die sie für den Unterricht brauchte, einer durchgedrehten Kräuterhexe.
Ehe ich mich mit der Unterstützung eines fortgeschrittenen Schülers – zu meiner Freude mit Paul – an die Zubereitung meiner ersten Kräutermischung heranwagen durfte, wiederholte Ernesta den Unterrichtsstoff der vergangenen Stunde. Sie mahnte uns zur Vorsicht beim Umgang mit Fingerhut und Küchenschelle sowie weiteren Pflanzen, deren Namen mir nicht geläufig waren, oder anderen Zutaten, deren Ursprung meine anfänglichen Befürchtungen bestätigten.
»Du siehst ziemlich blass aus«, begrüßte mich Paul mit einem seit meiner Unaufmerksamkeitsnummer offenbar für mich reservierten Grinsen an unserem Arbeitsplatz in einer der bogenförmigen Nischen der Turmwand.
»Der Geruch scheint mir nicht zu bekommen«, entgegnete ich.
»Gestank trifft’s wohl eher. Aber keine Sorge, du wirst dich daran gewöhnen, wenn dir deine Duftmischung gelingt.«
Ich hob besorgt die Augenbrauen. »So wie bei Bös muss Bös vertreiben?« Eine Mischung, die diesen Gestank überlagern konnte, wollte ich mir gar nicht ausmalen, geschweige denn selbst zusammenmixen.
»So in etwa«, antwortete Paul mit einem verzückten Ausdruck auf dem Gesicht. Anscheinend standen angehende Wächterengel auf skurrile Sachen: in Formaldehyd eingelegte Monster, stinkende Kräuter und verwesende – was auch immer!
Ich verschränkte die Arme und warf ihm einen gelangweilten Blick zu, was seine Erwartung, dass ich zu würgen begann, zunichtemachte.
»Also gut. Dann eben Unterricht und keine Freistunde, in der ich mit dir zum Frische-Luft-Schnappen nach draußen gehe.«
Ausführlich erklärte mir Paul die Verarbeitungsmethode und Wirkungsweise der einzelnen Zutaten, mit denen sich jeder in seiner ersten Stunde ein sogenanntes Schlafsäckchen anfertigte.
»Das legst du dann am Abend vor der nächsten Heilmittelstunde unter dein Kopfkissen. Wenn du alles richtig gemacht hast, riechst du nach dem Aufstehen bestimmte Gerüche eine Zeitlang nicht mehr. Deshalb solltest du auch nicht vergessen, an welchem Tag du Heilmittelkunde hast.«
Er überreichte mir eine Liste der Kräuter und erklärte mir, wie ich sie in der chaotischen Anordnung von Schubladen, Kästen und Kästchen finden konnte, die sich in den restlichen Nischen des Turmkellers stapelten. Bevor ich zur Tat schritt und die erste Schublade öffnete, verpasste mir Paul mit einem weiteren unverschämten Grinsen eine überdimensionale Nasenklammer.
»Glaub mir, es wird auch mit ihr schlimm genug.«
Ich bedachte Paul mit einer garstigen Grimasse, doch schon nach der ersten Zutat wusste ich, was er meinte.
Das stinkende Übel – wie ich mein Kräutersäckchen nannte – verlor seinen widerlichen Geruch, noch bevor ich es in mein Zimmer bringen konnte, wo es völlig unscheinbar in einer Schublade meines Schreibtisches auf seinen ersten Einsatz wartete.