Kapitel 1

Abschied

Einer meiner schlimmsten Albträume ging heute in Erfüllung – nicht, dass ich von Monstern gejagt oder in Flammen aufgehen sollte. Mich erwartete eine besondere Art der Folter. Der Höhepunkt meiner Schulkarriere: Abitur in meiner alten Heimat – so jedenfalls sahen es meine Eltern. Ein abseits menschlicher Zivilisation gelegenes Internat, das mit den guten Noten seiner Schüler warb. Was nichts anderes heißen konnte als: Bei uns wird gepaukt statt gepostet.

Genervt stopfte ich meinen dicken Winterpulli tiefer in den prall gefüllten Reiserucksack und zog ein weiteres Mal an dem Zipper. Er schien genauso wenig begeistert zu sein wie ich.

»Bist du endlich fertig, Linde? Wenn du so weitertrödelst, kommen wir noch zu spät zum Flughafen!«

Linde! Konnte meine Mutter mich nicht wenigstens heute Lynn nennen, wie alle anderen? Bestimmt hatte sie im Anmeldeformular meinen richtigen Namen angegeben. Ein weiterer Grund, nicht abzureisen: Linde?! Wurdest du etwa unter einem Baum gezeugt? Die spöttischen Kommentare konnte ich schon hören.

Mit aller Kraft zerrte ich an dem störrischen Verschluss – er blieb, wo er war. Warum konnte ich nicht bleiben? Was hatte ich verbrochen, um verbannt zu werden? Ausgerechnet jetzt, da mein bester Freund seinen Führerschein und einen fahrbaren Untersatz besaß?

Zugegeben, ich hatte meine Eltern angefleht, mich wenigstens auf ein Internat nach Deutschland zu schicken, wenn ich schon zur Schule musste – vor fünf Jahren, als sie den Sitz ihrer Taschenfirma verlegt hatten und Italien noch fremd für mich war. Als ich mir wünschte, dass alles wieder so werden sollte wie vor unserem Umzug. Klar hatte ich mich über meine neuen Lehrer beklagt. Und über das marode Schulgebäude. Aber welcher halbwegs normale Schüler tat das nicht? Vielleicht wäre es auch klüger gewesen, alle ausgefallenen Stunden in der Stadt zu verbummeln, anstatt nach Hause zu fahren. Dass auf dem Internat alles besser sein sollte, bezweifelte ich – auch wenn es sich um ein Schloss an einem See handelte. Ich war sechzehn und glaubte nicht mehr daran, eines Tages Prinzessin zu werden.

Der Reißverschluss gab endlich nach. Ich schulterte den schweren Rucksack, zerrte meine Haare unter den Schulterriemen hervor und betrachtete ein letztes Mal mein Zimmer – meine Schutzzone für Notfälle –, bevor ich mit einem leisen Seufzer die Tür hinter mir zuzog. Das Schlimmste hatte ich bereits hinter mich gebracht, den Abschied von meinen Freunden, für die ich schon lange nicht mehr die tedesca – die Deutsche – war. Doch in ein paar Stunden würde ich wieder die Neue sein. Dort würde es keine Nanny geben, die ihren Neffen verpflichtete, sich um mich zu kümmern: Philippe – heute mein ältester und bester Freund.

In der Schule hatte er schnell klargestellt, dass ich unter seinem persönlichen Schutz stand, und da er zwei Jahre älter war als meine Mitschüler, wagte niemand mehr, mich blöd anzumachen. Ich hatte ihn vergöttert – meinen Beschützer –, drei lange Jahre, bis er mich wegen der Ersten seiner inzwischen zahlreichen Freundinnen im Stich ließ. Es hatte wehgetan, als er mir damals erklärte, dass er mich zwar mochte, aber nur so etwas wie eine kleine, nervtötend anhängliche Schwester in mir sah – doch ich war darüber hinweggekommen.

Und nun wiederholte sich das Ganze: Ich würde wieder die Neue sein – das ideale Opfer!

Ich verdrängte das flaue Gefühl in meinem Magen mit dem Gedanken an meine Abschiedsgeschenke. Ein dunkelrotes samtbezogenes Kästchen, gefüllt mit Erinnerungen – Muscheln von meinem Lieblingsstrand, Fotos unserer Clique und Tagebuchseiten meiner besten Freundin mit meinem Lieblingsbild vorne drauf, auf dem wir beinahe aussahen wie Schwestern: beide mit langen, dunklen Haaren und schokoladenbraunen Augen – meine eher Zartbitter als Vollmilch und in einem schmaleren Gesicht – das gleiche pinkfarbene T-Shirt, ausgewaschene Jeans und High Heels, die uns größer aussehen lassen sollten.

Und natürlich das zerkratzte Armband mit dem alten silbernen Engelsmedaillon an meinem Handgelenk, das Philippe mir geschenkt hatte – es sollte mir Glück bringen.

Kälte und Schneegrieseln empfingen mich in Berlin. Was hatte ich anderes erwartet? Eine halbe Stunde Aufenthalt auf dem Flughafen lag vor mir. Ich nutzte die Zeit und erledigte den Pflichtanruf bei meinen Eltern, damit sie wussten, dass ich gut angekommen war.

Nervös strich ich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und wartete am vereinbarten Treffpunkt, wo einer der schuleigenen Minibusse mich abholen und zum Internat bringen sollte. Ich war die Einzige. Der Internatsleiter und die Rektorin wollten mich noch vor ihren wohlverdienten Winterferien kennenlernen.

Also durfte ich einen Tag früher anreisen zum zweiwöchigen Ferienlager, das interessierten Schülern die Möglichkeit bieten sollte, das Internat zu testen – was ich bei meiner Anmeldung im letzten Frühjahr verpasst hatte. Und da ich ja inzwischen angemeldet war, wurde mir, wie den paar Schülern, die ihre Ferien im Internat verbrachten, die Teilnahme an den Freizeitaktivitäten mehr oder weniger freigestellt – was immer das heißen sollte. Zudem hatte die Schulleitung sich für mich eine besondere Aufgabe ausgedacht: Ich sollte in den zwei Wochen meine Wissenslücken füllen. Und so was nannte sich dann Ferien!

Der Busfahrer, ein korpulenter Mann mit Halbglatze, half mir meinen Rucksack einzuladen, wobei er mir ein paar genuschelte Begrüßungsworte zumurmelte. Ich verkrümelte mich auf die hintere Sitzreihe, blätterte hin und wieder in dem Modemagazin, das ich aus dem Flugzeug mitgenommen hatte, oder schaute aus dem Fenster und weigerte mich, darüber nachzudenken, wie mich meine neuen Mitschüler wohl aufnehmen würden.

Schneebedeckte Felder und endlose Wälder wechselten sich ab mit alten, winterkahlen Alleen. Die Gegend hier war genauso menschenleer wie die einsamen Berggipfel der Abruzzen, die ich am Morgen hinter mir gelassen hatte. Allerdings wirkte sie kühler und weniger einladend.

Es war schon nach Mitternacht, als wir endlich die Zufahrt zum Internat erreichten. Ein schwarzes, aus spitz zulaufenden Metallstäben gefertigtes Tor, das von einem schmiedeeisernen Bogen überspannt wurde, versperrte den Weg. Dahinter verlor sich eine dunkle Allee mit knorrigen Baumriesen im Nichts. Ich war froh, dass ich im Bus bleiben konnte, während der Fahrer das Tor öffnete.

Als sich der schmale Weg durch eine weitläufige Gartenanlage schlängelte, drosselte der Fahrer das Tempo, bevor er den Bus vor meiner neuen Schule zum Stehen brachte.

Majestätisch erhob sich das weiße Schloss gegen den dunkelgrauen Nachthimmel. Schmale Türmchen mit schneebepuderten Hauben, hervorspringende Erker, zusammengesetzt aus filigranen Sprossenfenstern, und Gauben, die das Mansardendach ebenso zahlreich durchlöcherten wie die Schornsteine, wetteiferten um Aufmerksamkeit mit kunstvoll gearbeiteten Wasserspeiern, stuckverzierten Giebeln und dem von Säulen getragenen Bogengang, der die steinerne Eingangstreppe flankierte. Zu allem Überfluss lag hinter dem Schloss ein von einer dünnen Eisschicht überzogener See: ein Wintertraum – Märchenschloss inklusive!

Ich atmete noch einmal tief durch – bei all der Schönheit –, um mir Mut zu machen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Hoffentlich waren die Zimmer nicht ganz so museumsmäßig eingerichtet.

Eine verschlafen wirkende Frau, Anfang fünfzig, mit braunem Kräuselhaar, das wirr ihr rundes Gesicht umspielte, nahm mich in Empfang.

»Willkommen in Torgelow, Linde. Hattest du eine gute Anreise?«

»Ja, danke. Die hatte ich«, antwortete ich höflich. Linde – natürlich!

»Schön, dann zeig ich dir mal dein Zimmer, bevor du hier draußen noch erfrierst. Ich hoffe, du hast genügend warme Sachen zum Anziehen dabei. Deine Kisten aus Italien sind nämlich noch nicht eingetroffen. Ich bin übrigens Frau Schlatter.«

»Und mich nennen alle nur Lynn«, erklärte ich schnell, bevor Frau Schlatter auf die schwere Eichenholztür des Schlosses zusteuerte und mich mit einer einladenden Geste aufforderte, einzutreten.

Mit seinem großen, schwarz-weiß verkleideten Marmorkamin – sicher eine hervorragende Stelle für kitschige Familienbilder –, dem dazu passenden Mosaikfußboden und einer elegant geschwungenen Treppe stand das Foyer dem äußeren Prunk des Schlosses in nichts nach. Bestimmt gab es auch einen Ballsaal – mit Spiegeln, wie in Versailles.

Irgendwie fühlte ich mich fehl am Platz ohne Armani-Jeans und Prada-Täschchen, die ich nun mal nicht besaß.

»Während der Ferien wird in den anderen Gebäuden ein wenig renoviert. Bis dein Raum im Gelben Haus fertig ist und du umziehen kannst, bekommst du erst mal ein Zimmer im Schloss – ein Einzelzimmer unterm Dach«, betonte Frau Schlatter ehrfürchtig und bugsierte mich die Treppe hinauf.

Ob Schloss oder nicht, war mir im Moment ziemlich egal. Ich war müde von der langen Anreise und wollte nur eins: schlafen und nicht allzu viel über meine Zukunft nachdenken.

Ganz oben, im dritten Stock, steuerte Frau Schlatter auf eine einsame Holztür zu und kramte einen alten Messingschlüssel hervor.

»So, da sind wir. Vielleicht musst du noch ein bisschen lüften. Das ist eigentlich ein Gästezimmer und wird nur selten benutzt.« Sie öffnete die Tür und ließ mich ein, bevor sie sich mit einem flüchtigen Lächeln verabschiedete.

Ich versuchte flach zu atmen – mit dem Lüften hatte sie definitiv recht! Doch der Rest war besser, als ich erwartet hatte: ein weiß gestrichener Schrank mit Schnitzereien und einem dazu passenden Regal, in dem sich ein paar angestaubte Bücher stapelten, stand neben dem Schreibtisch mit einem – natürlich – royalblau gepolsterten Stuhl, der zu dem flauschigen Teppichboden passte. Das Schönste jedoch war das breite Bett, auf dessen meerblauem Bezug mindestens zehn weiße spitzenverzierte Kissen aller Form und Größe lagen, und – es stand direkt unter einem der beiden Dachfenster.

Ich kramte mein Waschzeug und einen Schlafanzug aus dem Reiserucksack, schob das Verdunkelungsrollo über meinem Bett nach oben und kuschelte mich kurze Zeit später in mein Fast-Himmelbett, mit Blick in die Wolken – die Sterne wollte ich mir herbeiträumen.

Leider verpasste ich sie. Stattdessen riss mich einer meiner Albträume aus dem Schlaf: Ein in fliegende Gewänder gehülltes Wesen zerrte an meiner linken, eine lichtlose, vermummte Gestalt an meiner rechten Seite. Beide wollten mich zu sich ziehen, bis ich schließlich mit zitternden Fingern meine Nachttischlampe anknipste, um mich zu versichern, dass ich tatsächlich allein in meiner Kammer war.

Dick eingepackt in meine neue Daunenjacke, um gegen die Kälte gewappnet zu sein, überquerte ich am nächsten Morgen den Hof und meldete mich pünktlich, zehn Minuten nach zehn, im Sekretariat. Das Frühstück ließ ich ausfallen. Ich war weder hungrig, noch hatte ich, nach dieser unruhigen Nacht, Lust früh aufzustehen, um mir in der Mensa neben irgendjemandem, den ich nicht kannte, einen Platz zu suchen.

Frau Germann, die Rektorin, wartete bereits auf mich. Der dunkel gebeizte Schreibtisch, auf dem neben einem Telefon und einer ledernen Schreibmappe nur ein auffallend roter Ordner lag, wirkte geradezu zierlich angesichts ihrer beeindruckenden Körpergröße.

»Hallo Linde. Schön, dich kennenzulernen. Konntest du in deinem neuen Zimmer gut schlafen?«

»Ja, wie eine Prinzessin«, antwortete ich – immerhin hatte ich ein Himmelbett in einem Schloss. Und dass ich schon in der ersten Nacht von Albträumen verfolgt wurde, brauchte sie ja nicht zu wissen.

Frau Germann schaute irritiert auf mich herab und strich sich mehrmals über den Rock ihres marineblauen Kostüms, bevor sie ihre rahmenlose Lesebrille zurechtrückte und mich aufforderte, Platz zu nehmen. Anscheinend hatte ich sie aus dem Konzept gebracht.

»Schön, ... dann können wir ja anfangen. Am besten erkläre ich dir zuerst, welche Räume du wo findest, bevor wir den Lernstoff der einzelnen Fächer durchgehen, damit du weißt, was du nachholen musst.«

Ich unterdrückte den Seufzer, den das Wort nachholen bei mir auslöste, und betrachtete das Luftbild, mit dessen Hilfe Frau Germann mir die verschiedenen Gebäude erklärte. Neben dem Schloss gab es eine Sporthalle mit einem Kunstrasenplatz, mehrere Wohntrakte für die Unter- und Mittelstufe, natürlich die üblichen Klassen- und Fachräume sowie das Gelbe Haus, das die Schlafräume der Mädchen meiner Klassenstufe und die Kantine beherbergte.

Schließlich legte Frau Germann den roten Ordner in die Mitte des Tisches und öffnete ihn geradezu ehrfürchtig langsam. Für jedes Fach war fein säuberlich aufgelistet, was ich wissen musste. Nach zwei quälenden Stunden intensiven Verhörs fragte ich mich, wo oder eher ob ich mit dem Lernen überhaupt anfangen sollte.

»Die Schulbücher findest du in deinem Spind. Den Schlüssel und die Materialliste gibt dir Herr Sander. Und vergiss nicht, morgen deine Lernliste im Sekretariat abzuholen! Bis dahin habe ich sie fertig.« Frau Germanns strengen, stets wachsamen Gesichtszügen war abzulesen, dass sie nicht akzeptieren würde, wenn ich mich weigerte, ihren Plan bis Ferienende durchzuarbeiten.

»Und falls du deinen Eltern kurz Bescheid sagen möchtest, dass du gut angekommen bist, kannst du jetzt von meinem Apparat aus telefonieren. Oder du rufst nächsten Freitag an, der ist für die K1 reserviert – außer bei Notfällen natürlich. Bis das Sekretariat schließt, kannst du dort das Telefon benutzen. Mit dem Handyempfang ist es hier nämlich ein bisschen schwierig. Da musst du schon zur Meierei hoch oder ins Nachbardorf laufen, wenn du eine gute Verbindung haben möchtest. Dort bekommst du auch Handykarten. Ansonsten sehen wir uns erst nach den Ferien wieder. Bis dahin hast du dich bestimmt ein wenig bei uns eingelebt.«

Natürlich nutzte ich Frau Germanns Angebot, obwohl ich bereits am Abend zuvor mit meinen Eltern telefoniert hatte, doch leider war niemand zu Hause. So hinterließ ich nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Um noch rechtzeitig zum Mittagessen zu kommen, hetzte ich zur Mensa. Das Wissenslückengespräch mit Frau Germann war mir auf den Magen geschlagen, weshalb ich mir erst mal nur eine Banane schnappte, die ich bei den großen Aussichtsfenstern verdrückte.

»Isst man in Italien nicht zu Mittag?«

Ich drehte mich zu der hübschen Rothaarigen mit den auffälligen, wasserblauen Augen um und hielt ihr die halbleere Bananenschale entgegen.

»Ich seh schon, du konntest dich nicht zwischen der orangeroten und der gelbgrünen Pampe entscheiden. Komm mit, ich zeig dir, was man essen kann und was lieber nicht – außer du stehst auf Gemüsematsche ... Linde, nicht wahr?« Sie zögerte. »Was für ein seltener Name.«

Ich bemühte mich, nicht überrascht zu wirken, dass sie wusste, woher ich kam und wie ich hieß, und brachte ein halbwegs freundliches Lächeln zustande. Sie konnte ja nichts für die exotischen Vorlieben meiner Mutter.

»Eigentlich nennen mich alle Lynn.«

»Schön – dann Lynn. Und ich bin Marisa.«

Marisa empfahl mir Putensteak, Kräuterkartoffeln und Salat vom Buffet. Mit zwiespältigen Gefühlen füllte ich meinen Teller und folgte ihr zu einer eifrig tuschelnden Gruppe, die mich bereits erwartungsvoll beäugte.

»Hallo Linde, oder war’s Buche?« Die Jungs am Tisch brachen in schallendes Gelächter aus. Die Mädchen, ein paar zumindest, versuchten vergeblich, nicht mit einzustimmen, und kicherten albern hinter ihren vorgehaltenen Händen.

Na toll! – es begann schon wieder! Doch dieses Mal hielt ich mich zurück und kickte niemandem vors Schienbein – schließlich war ich lernfähig.

»Wie wär’s mit Stechpalme oder Vergissmeinnicht, falls du dir das besser merken kannst?«, konterte ich. Niemand lachte über meinen Witz.

»Lynn. Sie heißt Lynn. Benehmt euch gefälligst, sie ist neu hier – für ... Su«, versuchte Marisa ein wenig verzweifelt die Situation zu retten.

Ich setzte mich auf einen der freien Stühle am Rand der Gruppe, aß schweigend meine Mahlzeit und überlegte, wie beliebt meine Vorgängerin bei ihnen wohl war. Von mir nahmen die meisten jedenfalls kaum Notiz – abgesehen von ein paar abschätzigen Blicken –, während sie sich mit ihren Urlaubszielen gegenseitig übertrumpften: Lech lag dicht hinter Sankt Moritz. Von ihnen verbrachte anscheinend keiner seine Ferien hier – und schon gar keiner mit Lernen!

Nach dem Mittagessen rief mich der Internatsleiter zu sich. Seine schwarzen Haare und dunklen Augen erinnerten mich an die Bewohner meines Dorfes in den Abruzzen. Schnell blinzelte ich die Erinnerung weg, als Herr Sander mich mit einem fragenden Blick musterte.

»Weißt du schon, an welchen Aktivitäten du teilnehmen möchtest?«

Ich stutzte. War das eine Fangfrage, um zu prüfen, ob ich tatsächlich vorhatte, etwas zu lernen?

»Also, eigentlich wollte ich ja in den Ferien meine Wissenslücken schließen«, begann ich vorsichtig.

»Zwei ganze Wochen lang?! Die müssen ja riesig sein.« Herr Sander schmunzelte, legte ein paar der Prospekte auf seinem vollbeladenen Schreibtisch zur Seite und wühlte in dem Papierchaos darunter, ehe er mit einem Schulterzucken aufgab.

»Linde oder lieber Lynn?«

»Lynn!«, sagte ich schnell.

»Also, Lynn, auch wenn du bei den Freizeitaktivitäten eigentlich nicht mit eingeplant bist und Frau Germann eine andere Meinung vertritt, würde ich es gut finden, wenn du wenigstens in ein paar der Kurse reinschnupperst.«

Bevor ich Luft holen konnte, um zuzustimmen, fuhr Herr Sander fort. »Leider hab ich im Moment keinen Plan mehr übrig, aber ich werde dafür sorgen, dass morgen einer für dich im Sekretariat bereitliegt. Und falls du mal eine Lernpause brauchst, dann such dir einfach ein Angebot aus und geh hin. Wenn du im neuen Schulhalbjahr mit guten Noten glänzt, wird niemand danach fragen, was du in den Ferien gemacht hast. Und wenn nicht, hattest du wenigstens ein paar entspannte Tage, bevor Frau Germann dich mit Nachhilfestunden eindeckt.«

Herr Sander wurde mir von Minute zu Minute sympathischer. Auch wenn er mir anschließend erklärte, in welchem Gebäudetrakt ich meinen Spind mit den Schulbüchern finden konnte, und mir die Materialliste zum Abhaken überreichte.

»Und bitte kontrollier, ob alles, was du an Arbeitsmaterialien brauchst, in deinem Schrank ist – auch die Bücher«, fügte er mit einem süffisanten Unterton hinzu. »Der Schlüssel steckt.«

Da ich sowieso nichts anderes vorhatte, beschloss ich, gleich nach meinem Spind zu suchen. Die verwinkelten Korridore im Schulgebäude machten es mir mit meinem ohnehin schlechten Orientierungssinn nicht gerade leicht. Ich lief einmal im Kreis, bevor ich ihn endlich fand – ohne Schlüssel! Zumindest steckte er nicht, wie ich erwartet hatte, im Schlüsselloch. Stattdessen hing er, mit einem dünnen Faden befestigt, oben an der Tür. Zu hoch für mich, um ihn ohne weiteres erreichen zu können. Wirklich witzig!

Nach mehreren erfolglosen Sprüngen bekam ich ihn endlich zu fassen. Ungeduldig fummelte ich den kleinen Schlüssel in das zierliche Schloss. Wenn ich aufmerksamer gewesen wäre, hätte ich vielleicht die inzwischen im Flur herumlungernden Schüler bemerkt. Möglicherweise hätte ich auch kapiert, dass der klägliche Schrei aus meinem Schrank kam. Doch ich übersah alle Warnzeichen.

Ein schwarzes Fellknäuel sprang mir fauchend entgegen. Mit spitzen, ausgefahrenen Krallen landete die zornige Katze in meinen Armen und hakte sich in meiner veilchenblauen Bluse fest, ehe sie den zarten Stoff fein säuberlich in dünne Streifen riss. Ich kreischte um Hilfe – spöttisches Gelächter war die Antwort! Die verschworene Gemeinschaft der Internatsschüler amüsierte sich prächtig über meinen erfolglosen Versuch, mich aus den Fängen der verstörten Katze zu befreien.

Mein Magen rollte sich zusammen – wie immer, wenn ich wütend wurde. Was für ein arrogantes Pack! Nicht einer dachte daran, mir zu helfen. Ich bemühte mich, die Flüche, die mir auf der Zunge lagen, nicht laut auszusprechen. Auch wenn ich mir wirklich wünschte, dass die Hälfte von ihnen tot umfiel.

Während ich mich und die Katze langsam beruhigte, tippte mir plötzlich jemand auf die Schulter: Frau Germann.

»Linde?! Anscheinend sind dir unsere Internatsregeln noch nicht geläufig. Doch da du ganz neu bei uns bist, will ich heute mal ein Auge zudrücken. Aber dass du’s weißt, lebende Tiere bleiben draußen!«

Ich nickte ergeben und versprach, die Katze ins Freie zu bringen. Dass ich sie in meinem Schrank gefunden hatte, verschwieg ich. Petzen war nicht mein Ding.

Um mich abzureagieren, beschloss ich, mein Zimmer später einzuräumen und trotz der Kälte einen Spaziergang am See entlang zu machen. In meine dicke Jacke gewickelt, genoss ich die Stille des Winterwaldes, der hier so anders war als in Italien – dunkler, geheimnisvoller, aber auch ein wenig beängstigend –, und versank in meinen Erinnerungen.

Eine Windböe holte mich in die Gegenwart zurück, als ich die eisigen Spuren fühlte, die meine Tränen hinterließen. Obwohl es nur ein paar Wochen bis zu den Osterferien waren, litt ich schon jetzt unter Heimweh, sehnte mich nach meinen Freunden, meinen Eltern und der Wärme Italiens.

Im Dämmerlicht stolperte ich über abgestorbene Wurzeln und vermodernde Äste. Ich musste die falsche Richtung eingeschlagen haben, weshalb ich am See auch nicht das Schloss, sondern einen halbverfallenen Pavillon entdeckte. Er war bestimmt wunderschön gewesen.

In Italien hatte ich eine Vorliebe für Kunst und alte Gemäuer entwickelt. Ich schleppte all meine Freunde – ob sie nun wollten oder nicht – mindestens zweimal im Jahr in ein Museum, eine Kirche oder zu sonst einer Sehenswürdigkeit. Hier, mitten im Wald, auf so ein interessantes Objekt zu stoßen, damit hatte ich nicht gerechnet. Natürlich zögerte ich nicht – noch konnte ich genügend sehen.

Wie auf Kommando erhoben sich Hunderte schwarzer Krähen gleichzeitig in die Luft, als ich auf den Pavillon zusteuerte. Ich fühlte den gespenstischen Hauch ihres Flügelschlags als Kribbeln auf meiner Haut, noch bevor ihr grelles Krächzen in meinen Ohren dröhnte. Mir wurde schwindelig. Alles in mir drängte wegzurennen, warnte mich weiterzugehen, doch meine Neugier siegte – zumal ich nicht mehr allein war.

Helle gewellte Locken, scharfgeschnittene Gesichtszüge und gefährlich sanft geschwungene Lippen. Er stand neben dem Pavillon und starrte gedankenverloren auf den See. Selbst als der eisige Wind durch sein weißes Hemd fuhr, so dass sein Körper sich darunter abzeichnete, rührte er sich nicht.

Mir hingegen stockte der Atem: perfekt!

Der durchdringende Schrei einer Krähe riss mich aus meiner Betrachtung. Im Sturzflug stieß sie herab. Ein Gewirr aus Federn, scharfen Klauen und schwarzen Flügeln schoss auf mich zu, verfing sich in meinen langen Haaren und versuchte vergeblich, sich zu befreien.

Ich schrie erschrocken auf, schlug nach der Krähe, riss meine Haare aus ihren Fängen und wehrte den aufgeregt flatternden Vogel ab, während ich in den Schutz eines überhängenden Gestrüpps flüchtete. Gleich zwei Mal an einem Tag von durchgedrehten Tieren attackiert zu werden, war mindestens einmal zu viel!

Als ich vorsichtig wieder aus meiner Deckung hervorkroch, war er verschwunden – noch so ein eingebildeter Kerl, der sich zu fein war, mir zu helfen! Solche Typen schien es hier wie Sand am Meer zu geben. Schönheit kommt mit Arroganz traf da eindeutig zu.

Inzwischen war es fast dunkel. Ich fühlte leise Panik in mir aufsteigen. Herr Sander hatte mich gewarnt, abends allein in den Wald zu gehen. Sumpfige Moorlöcher konnten schnell zu einer gefährlichen Falle werden. Außerdem gab es in der Gegend Wildtiere: Rehe, Wildschweine und seit kurzem sogar wieder Wölfe. Und ich traute den Beteuerungen nicht, dass Wölfe völlig harmlos waren – zumindest wollte ich keinem bei Nacht begegnen.

Nachdem ich, eine Stunde nach Sonnenuntergang, glücklich ins Schloss zurückgefunden hatte, begrüßte mich ein gelbes Post-it an meiner Zimmertür:

Deine Eltern wollen wissen, wie es dir geht. Bitte ruf sie zurück.

Ich knüllte den Zettel zusammen und schob ihn in meine Hosentasche. Das musste warten. Das Sekretariat war um diese Zeit längst geschlossen – ich wollte sowieso nicht unter Aufsicht telefonieren –, und ich hatte wenig Lust, noch mal die Gegend zu durchforsten, um herauszufinden, wo mein Handy funktionierte. Außerdem hatte ich mich bereits zweimal bei ihnen gemeldet. Und schließlich war es nicht meine Idee gewesen, so weit von zu Hause weg zu sein.

Schon während ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete, flogen mir die ersten Federn entgegen: weiche, flauschige Daunenfedern. Der Inhalt eines meiner Kissen lag gleichmäßig über Boden, Schreibtisch und Bett verstreut, und an meinem Rucksack klebte ein weiteres Post-it:

Wage es nicht, mein Zimmer zu beziehen, bevor die Ferien zu Ende sind, Hannah!

Hannah? Schön, dass sich wenigstens meine neue Mitbewohnerin um mich kümmerte! Dass ich mich nach dem Chaos, das sie veranstaltet hatte, nicht besonders darauf freuen würde, sie kennenzulernen, war ihr bestimmt klar. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in meiner Magengegend aus. Hatte Hannah – oder wer auch immer – das Post-it an der Tür geschrieben?

Ich öffnete meinen Rucksack, den ich noch nicht ausgepackt hatte. Er war völlig durchwühlt. Mein Geld war da, aber mein Handy fehlte! Ohne lange darüber nachzudenken, stopfte ich alles zurück, schnappte mir den Rucksack und stürmte aus dem Zimmer. Ich wollte auf keinen Fall, dass sich noch einmal jemand an meinen Sachen vergriff, während ich meine Wertsachen und die Abschiedsgeschenke meiner Freunde in Sicherheit brachte. Zu meinem Spind. Den Schlüssel trug ich seit heute Mittag bei mir.

Leise eilte ich die Stufen hinab – vielleicht wartete diese Hannah irgendwo, um sich über mich lustig zu machen. Gut möglich, dass ich ihr auch die Überraschung mit der Katze zu verdanken hatte. Kurz bevor ich die Eingangshalle erreichte, hörte ich Frau Schlatter. In Windeseile suchte ich hinter einem der großen Pflanzkübel Deckung. Mit ein paar Mädchen stand sie am anderen Ende des Foyers. Sie unterhielten sich – zum Glück hatte mich keiner gesehen.

Ich kramte nach einer plausiblen Erklärung, falls sie mich doch bemerkten. Aber wie sollte ich – ohne mich lächerlich zu machen – erklären, warum ich mit meinem vollgepackten Reiserucksack in einer dunklen Ecke kauerte und mich versteckte? Genauer betrachtet, sah es nach Flucht aus. Besser, ich suchte einen geeigneten Platz, an dem ich wenigstens meinen Rucksack unauffällig deponieren konnte, ehe ich das Schloss verließ.

Wie der Zufall es wollte, sah ich gerade noch rechtzeitig – bevor ich aus meinem Versteck gekrochen kam –, wie ein großer, breitschultriger Junge mit tiefschwarzen, kinnlangen Haaren unter der Treppe auftauchte. Ich duckte mich tiefer hinter die großblättrigen Pflanzen, um ihn zu beobachten – was nicht bloß an seinem ansehnlich geformten Rücken lag. Obwohl ich nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen konnte, verriet seine Körpersprache, dass er etwas zu verbergen hatte. Klar, dass mich das interessierte.

Sobald er verschwunden war – Frau Schlatter und die Mädchen hatten sich inzwischen in den hinteren Teil des Schlosses zurückgezogen –, schnappte ich meinen Rucksack und huschte in die Nische neben der Treppe. Trotz des schummrigen Lichts entdeckte ich schnell ein kleines Loch in der Holzvertäfelung, gerade groß genug, um einen Schlüssel hineinzustecken. Mein Spindschlüssel passte natürlich nicht, doch nach einem kräftigen Ruck sprang mir die Tür entgegen – er hatte wohl vergessen, sie abzuschließen!

Als die dünne Wandtür zufiel, hüllte mich feuchte Finsternis ein. Es war stockdunkel. Nervös glitten meine Fingerspitzen an der kalten Wand entlang, bis ich den Lichtschalter fand. Die beinahe schon antike Glühbirne flimmerte auf – sie schien kurz vor dem Durchbrennen zu sein. Ein alter Wischmopp lehnte verloren in einer Ecke und auf der anderen Seite des Verschlags klaffte ein dunkles Loch – natürlich siegte mein Forscherdrang.

Eine steile, ausgetretene Treppe führte in die Tiefe. Sie endete vor einer alten, einst reichverzierten Holztür, deren Farbreste ihre vergangene Schönheit nur noch erahnen ließen. Ich wappnete mich, eine große Anzahl unliebsamer Insekten vorzufinden – oder gar pelzige Tiere –, und drückte mutig die Klinke nach unten. Ein großer Raum, unerwartet schön und von einem vergitterten Kellerfenster erhellt, lag dahinter. Überrascht trat ich ein, schloss vorsorglich die Tür und schob meinen Rucksack unter einen der Tische. So würde mir ein wenig Zeit bleiben, um mich zu verstecken, falls der dunkelhaarige Typ wieder auftauchte.

Neben dem Eingang stapelten sich, außer den Tischen und den dazugehörenden, blau gepolsterten Stühlen, riesige, bunt bemalte Leinwände. Ich hatte offenbar den Abstellraum des Theaterprojekts gefunden. Weiter hinten türmten sich andere Möbelstücke, ältere, verstaubte, manche mit großen, grauen Tüchern abgedeckt, die sicher einmal weiß gewesen waren. Hier konnte ich keinen Schritt wagen, ohne mich in einem der ebenso staubigen Spinnennetze zu verfangen. Doch das störte mich nicht – der Raum hatte mich zu sehr in seinen Bann gezogen.

Ich trat tiefer ein in das verwirrende Gewühl antiker Schätze und übersah den Gegenstand vor meinen Füßen. Haltsuchend klammerte ich mich an einem der Regale fest – dummerweise an einem recht betagten. Gemeinsam stürzten wir zu Boden. Mein Kopf schlug hart gegen eines der Möbelstücke. Kaum dass ich den Aufprall spürte, wurde mir auch schon schwarz vor Augen.

Als ich mich wieder aufrappelte, pochte mein Schädel, meine Knie waren aufgeschlagen, auf meiner Schläfe wuchs eine hässliche Beule und in meiner linken Hand steckte ein fieser Holzsplitter. Vor mich hin fluchend, zog ich ihn heraus und ballte meine Hand zur Faust – nicht nur um die Blutung zu stillen –, bevor ich mit zusammengebissenen Zähnen nach der Ursache für meinen Sturz suchte.

Das Ende einer großen Harfe lugte zwischen dem Gerümpel hervor. Unglaublich! Mein Ärger erlosch augenblicklich. Zu gerne hätte ich Harfe spielen gelernt. Meine Mutter weigerte sich jedoch, nach meinen vergeblichen Versuchen am Klavier, Schlagzeug und Saxophon, ein weiteres Instrument anzuschaffen, das in der Ecke verstauben würde.

Ich seufzte sehnsüchtig und ließ die Finger meiner unverletzten Hand über die Saiten der Harfe gleiten. Es hörte sich grausam schief an, aber das störte mich nicht.

Ein kalter Windhauch strich an meinem Gesicht vorbei. Ich zuckte zusammen. Hatte der Typ mich aufgespürt? Erschrocken schaute ich zur Kellertür. Keine Spur von ihm. Stattdessen entdeckte ich einen notdürftig verhängten Spiegel. Vorsichtig zog ich das vergilbte Tuch zur Seite und befreite das Prachtstück – eindeutig venezianische Abstammung.

Mein Herz jubelte und weinte zugleich. Ich hatte schon immer ein Faible für venezianische Kunst, und dieser Spiegel war etwas ganz Besonderes mit seinem ovalen, mit filigranen Schnitzereien verzierten Rahmen und dem atemberaubenden, weiß gekalkten Engel, der den krönenden Abschluss bildete – und mich an Italien erinnerte.

Mein Armband blitzte mir im Spiegel entgegen, was mein Heimweh verstärkte. Ich verdrängte das Gefühl. Es war sinnlos, der Vergangenheit nachzutrauern. Meine Eltern wollten, dass ich hier mein Abitur machte, und waren überzeugt, dass ich mich auch auf dem Internat schnell wohlfühlen und Freunde finden würde. Anscheinend hatten sie vergessen, wie schwer es beim letzten Mal gewesen war.

Das Pochen hinter meiner Stirn verstärkte sich. Dazu gesellte sich ein unangenehmes Schwindelgefühl. Als auch noch die Wände begannen, sich übelkeiterregend schnell im Kreis zu drehen, musste ich mich festhalten, um nicht umzukippen. Vielleicht hatte mein Kopf mehr abbekommen, als er vertragen konnte. Ich sollte mich lieber hinlegen und meine einzigartigen Fundstücke später begutachten.

So verließ ich, halb benebelt, den Keller, um mich in meinem Zimmer ein wenig auszuruhen. Nur am Rande bemerkte ich den tollen Service – jemand hatte die Federn und leider auch alle Kissen, bis auf eines, beiseitegeräumt und mein Bett frisch bezogen –, da eine dunkle, dumpfe Müdigkeit mich übermannte und ich beinahe augenblicklich einschlief.