Kapitel 9

Himmel und Hölle

Wir sollten zum Schloss zurückgehen.« Christopher drängte zum Aufbruch. Schützend legte er einen Arm um mich, während wir zur Schule liefen.

Ich spürte seine Unruhe, es war Schlafenszeit – und schon lange dunkel. Doch ich wollte mich noch nicht von ihm verabschieden. Irgendwie befürchtete ich, er könnte am nächsten Morgen nicht mehr da sein. Und anscheinend fühlte auch er meine Unsicherheit. Anstatt mich auf mein Zimmer zu bringen, nahm er den Abzweig zur Schlossmauer am Seeufer.

An Christopher gekuschelt, beobachtete ich, wie das blassgelbe Mondlicht über das dunkle Wasser zog, bevor der Morgen ein purpurfarbenes Tuch über den See breitete. Trotz all der Schönheit war für mich nur wichtig, dass Christopher mich in seinen Armen hielt.

»Du musst müde sein.« Besorgt glitt sein Blick über mein Gesicht. »Wenn du möchtest, werde ich dich für heute entschuldigen, damit du ein wenig schlafen kannst.«

»Nein, das brauchst du nicht.« Ich fühlte mich so lebendig wie nie zuvor – unmöglich, jetzt an Schlafen zu denken!

Ein Lächeln huschte über Christophers Lippen, dann erreichte es seine Augen und ließ sie erstrahlen. »Gut.« Mehr sagte er nicht. Sein Lächeln blieb, selbst als er das Thema wechselte. »Lass uns frühstücken gehen, hungrig bist du ja wohl.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Magen deutliche Zeichen aussandte. Ich nickte und ließ mir von ihm von der Mauer helfen, wollte mich aber mit seinem allzu offensichtlichen Ablenkungsmanöver nicht zufriedengeben.

»Gut?! Was ist gut?«

»Dass du deinen Unterricht nicht versäumst.«

Ich verdrehte die Augen, da Christopher mir auswich. »Und was bringt dich dann dazu, so ... so unwiderstehlich zu grinsen?«

»Tue ich das?«, fragte er unschuldig und kam meinem Gesicht gefährlich nah.

»Ja, allerdings.« Ich zwang mich, ihn anzuschauen und mich seiner verführerischen Anziehungskraft zu widersetzen – was mir unheimlich schwerfiel. Aber wo sollte das hinführen, wenn er mich so leicht um den Finger wickeln konnte, ohne dass ich wenigstens versuchte, Widerstand zu leisten?

»Hab ich heute etwas Besonderes auf dem Stundenplan?« Mein Herzschlag beschleunigte sich. »Vielleicht mit dir?«

Christophers Lächeln verzog sich zu einem schiefen Schmunzeln. »Nein, leider wird sich heute ausschließlich Aron um dich kümmern. Aber keine Sorge, ich werde dich nicht aus den Augen verlieren.« Seine Lippen berührten sanft meine Stirn, bevor er mich zum Gelben Haus manövrierte.

Aron schien auf mich gewartet zu haben. Seine Freude über unser gemeinsames Erscheinen war ihm deutlich anzumerken, doch er hielt seine Fragen zurück. Und nachdem sich Paul, Leonie und Markus zu uns gesellt hatten, widmete er ihnen seine ganze Aufmerksamkeit.

Ich hingegen hatte nur Augen für Christopher.

Aron räusperte sich. »Es wird Zeit, Lynn. Bist du schon aufgeregt?«

»Sollte ich das?« Meine Verwirrung war mir anzusehen.

»Hat Chris dir nichts verraten?«

»Nein.« Christophers spitzbübisches Grinsen ließ mich aufhorchen.

»Gut.«

Gut? – schon wieder! »Was, gut

Ein nicht minder schelmischer Ausdruck überzog Arons Gesicht. »Lass dich einfach überraschen, Lynn.«

Ich seufzte theatralisch. Anscheinend hatten sich die beiden gegen mich verschworen – und bei so viel männlicher Geheimniskrämerei war ich machtlos.

Nach dem Frühstück führte Aron Markus und mich durch den Park und steuerte auf eines der Nebengebäude zu. Erst als er Markus zur Seite zog und ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte, bemerkte ich Markus’ rot geäderte Augen, die sein fahles Gesicht noch blasser machten als sonst. Betroffen blieb ich ein paar Schritte zurück – Markus brauchte Aron im Augenblick dringender als ich. Ich fing Arons Blick auf, der mir signalisierte, ihm nicht zu folgen.

Ich setzte mich auf die nächstgelegene Bank und wartete. Es schien mir ungerecht, dass ich so glücklich war, während Markus vermutlich um sein zurückliegendes Leben trauerte – und falsch. Mein schlechtes Gewissen erwachte. Auch ich hatte geliebte Menschen hinter mir gelassen, die mich sicherlich vermissten: meine Eltern, meine Freunde, Philippe. Trauerten sie um mich? Übelkeit stieg in mir hoch. Ich wäre zusammengebrochen, falls einem von ihnen etwas zugestoßen wäre.

Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich ließ es zu. Sie trösteten, und schließlich beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass sie mein Glück teilen und mich mit Vorwürfen überhäufen würden, wenn ich auch nur eine Minute damit verschwendete, es nicht zu genießen.

Bis Aron zurückkehrte, hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Er kam allein und setzte sich zu mir auf die Bank.

»Geht es Markus besser?«

»Ja. Spätestens in ein paar Tagen wird er wieder strahlen – wenn auch kaum so sehr wie du heute Morgen beim Frühstück.«

Seine Anspielung brachte mich in Verlegenheit.

»Ich bin froh, dass du ihn zurückgebracht hast«, fuhr Aron nach einer Weile fort. »Niemand sonst hätte das geschafft.«

»Wie meinst du das?« Ich zog ungläubig meine Augenbrauen nach oben. War ich es nicht, die ihn vertrieben hatte?!

»Ich kenne Christopher schon seit langem, und noch nie habe ich ihn so aufgewühlt erlebt. Zuerst dachte ich, ich würde etwas sehen, das nicht sein konnte, und nachdem ich ihn mit dir in der Kapelle am See gefunden hatte« – Arons Augen ruhten auf mir, mit einem flüchtigen Lächeln quittierte er mein Erröten –, »machte ich mir große Sorgen um ihn. Als du dann am nächsten Tag wie von Geistern verfolgt ins Schloss geflüchtet bist, ahnte ich, dass etwas passiert war. Ich versuchte, Christopher zum Bleiben zu überreden. Natürlich hörte er nicht auf mich. Im Gegenzug nahm er mir das Versprechen ab, dich aufzuhalten.« Aron schwieg und starrte in die Ferne. Mit Sicherheit dachte er an unsere letzte Begegnung.

»Glaub mir, ich wollte dich nicht zu ihm lassen. Du wirktest so ... so verletzlich, doch in deinen Augen lag eine Gewissheit ...« Aron brach ab und zuckte die Schultern. »Lynn, es ist für Christopher nicht einfach, ein Gefühl wie Freundschaft zu akzeptieren. Dass er jemals mehr empfinden könnte, hielt nicht nur ich für unmöglich. Ich hoffe, du enttäuschst ihn nicht.«

Arons heitere Gelassenheit kehrte zurück, doch seine letzten Worte hatten ihr Ziel nicht verfehlt, und ich wäre beinahe aufgesprungen, um ihn zu ohrfeigen.

Für was hielt er mich? Glaubte er, dass ich meine Freunde so oft wechselte wie er seine Unterhosen? Ich schluckte meine zynische Bemerkung, dass er nicht von sich auf andere schließen sollte, hinunter und folgte ihm schweigend zu einem der Klassenzimmer. Schließlich hatte ich keinen Grund, mich vor ihm zu rechtfertigen.

Zwei Stunden lang erklärte er mir die Theorie des Fliegens, erläuterte den Nutzen von Aufwinden und die Gefahren der Fallwinde. Am Ende war mein Ärger verraucht und mir schwirrte der Kopf vor lauter Fakten, aber ich hatte ungefähr begriffen, wie Engel flogen.

Nach der anstrengenden Theoriestunde genoss ich die wärmenden Sonnenstrahlen. Während wir auf den See zusteuerten, hielt ich nach Christopher Ausschau. Endlich entdeckte ich ihn, unten, am Steg vor dem Gelben Haus. Seine Augen leuchteten, als er mich sah – was mir natürlich sofort weiche Knie bescherte. Erst Markus’ Jubelschrei lenkte meine Aufmerksamkeit auf das umliegende Geschehen.

Eine riesige Plattform, erbaut aus aneinandergebundenen Flößen, trieb in der Mitte des Sees. Zwei schmale, im Wind hin und her schaukelnde Röhren, verziert mit roten, gold- und silberfarbenen Ranken, ragten nebeneinander in die Höhe. Oben erweiterten sie sich zu breiten, tulpenförmigen Kelchen, an deren Rändern sechs doldenförmige Gebilde herabhingen.

Meine Beine drohten nun doch nachzugeben, als ich die anmutigen Gestalten entdeckte, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit über den See flitzten: Engel! Aber Christophers Arm hatte sich bereits um meine Taille gelegt und gab mir Halt. Ich schmiegte mich dankbar an ihn, um den Schock zu verkraften, dass meine Mitschüler Engel waren, bis Arons tadelnder Blick mich wieder zur Vernunft brachte.

»Steigt ein! Chris wird euch zur Plattform rudern.«

Noch während er Markus und mich aufforderte, im Boot Platz zu nehmen, verwandelte sich Aron in einen Engel. Markus entfuhr ein beeindrucktes »Wow!«, während ich Aron überrascht musterte.

Auch er war bemerkenswert, allerdings unterschied sich seine Erscheinung deutlich von Christophers Engelsgestalt: Arons Körper blieb unverändert, und das Licht seiner Flügel besaß bei weitem nicht die Vielfalt von Christophers gigantischen Schwingen – sie schimmerten nur weiß, wie Schnee. Der größte Unterschied jedoch lag in seiner Ausstrahlung. Wirkte Christopher als Engel mächtig und ehrfurchtgebietend, so strahlten Arons Züge weich, beinahe fürsorglich. Eine beruhigende Wärme ging von ihm aus, als wäre er von einem schützenden Mantel umgeben.

Aron schien die Fragen, die mir durch den Kopf schossen, zu erahnen. »Später, Lynn. Nach dem Spiel werde ich euch alles erklären. Und nun genießt das Match und lernt.«

Auf der Plattform, die einen fantastischen Blick über den See bot, war die ganze Schule versammelt. Die Bohlen gaben unter meinem Gewicht ein wenig nach, doch ich schaffte es, aus dem Boot zu klettern und die für uns reservierte Holzbank zu erreichen, ohne ins Wasser zu fallen.

Christopher blieb vor uns stehen und begann zu erklären. »Was ihr gleich sehen werdet, ist eines der ältesten und beliebtesten Freizeitspiele unter Engeln. Es wird schon seit Ewigkeiten gespielt und wurde ursprünglich nicht zum Vergnügen, sondern zur Ertüchtigung erfunden – eigentlich dient es auch heute noch dazu. Aber die wenigsten sehen das so.«

Es gab zwei Mannschaften mit je sechs Spielern und einem Kapitän, die abwechselnd spielten. Ein Ball pro Runde mit sechs Scheiben mussten eingefangen und in die kugeligen Auswüchse am Ende des Kelchs gelegt werden – natürlich wollte die gegnerische Mannschaft das verhindern. Gewonnen hatte, wer die Dolden an seinem Kelch am schnellsten füllte.

Ich entdeckte Aron, der hoch über der Plattform schwebte. Rechts und links von ihm gruppierten sich die Mannschaften, bereit zum Spiel. Meine Überraschung wuchs, als ich die Engel genauer betrachtete – alle waren wie Aron, keiner glich Christopher. Ich warf ihm heimlich einen Blick zu. Christopher entging meine Aufmerksamkeit nicht – Besorgnis schlich sich in seine Züge, und ich beeilte mich, ein Lächeln zustande zu bringen und meine Fragen auf später zu verschieben.

Ein markerschütternder Ton hallte aus den Kelchen über den See und läutete den Beginn des Spiels ein. Rhythmischer Applaus unterstützte Aron, der mehrere Ringe nach oben hielt, sie mit einer geschickten Drehung zum Rotieren brachte und aus ihnen einen hell leuchtenden Ball formte. Schwungvoll schleuderte er die Kugel senkrecht in den Himmel, während der Kapitän der ersten Mannschaft versuchte, ihr zu folgen und den Ball mit einem länglichen Paddel von unten so schnell und hart wie möglich zu treffen. Die Kugel zerbarst unter dem mächtigen Schlag und zerfiel in ihre Bestandteile. Sechs schimmernde Ringe, Frisbeescheiben ähnlich, stoben in alle Himmelsrichtungen über den See.

»Wie groß ist das Spielfeld?«, wollte ich wissen.

»So weit wie der See.«

Ich schwieg beeindruckt.

Die Mannschaften formierten sich. Ich erkannte Paul unter ihnen. Auf seinem Gesicht lag eine lauernde Anspannung, die ich nicht bei ihm erwartet hätte. Seine Flügel zuckten unruhig. Alles in ihm drängte, seiner Scheibe nachzujagen. Doch erst nachdem sie die Wasserfläche durchbrochen hatte, stob er mit dem Rest der Sammlermannschaft davon – Sekunden darauf verfolgt von seinem Gegner.

Einen Engel zu sehen war beeindruckend, ihn im rasenden Verfolgungsflug zu erleben unglaublich. Wie ein Pfeil schoss Paul auf die Wasseroberfläche zu. Kurz bevor er eintauchte, verschwanden seine Flügel, und er glitt elegant ins Wasser. Sein Gegenspieler versank nur wenig nach ihm in der Tiefe mit dem Ziel, den Ring vor Paul zu finden.

Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe und beobachtete gebannt die Schiedsengel, die dicht über dem See den Weg der Kontrahenten verfolgten. Paul war schon ziemlich lange unter Wasser, weshalb ich mir die entsetzlichsten Dinge ausmalte.

»Es ist nicht so einfach, wieder aufzutauchen. Der See ist tief und man sollte ihn nicht unterschätzen. Nicht umsonst heißt das Spiel Himmel und Hölle

Christophers Erklärungen beruhigten mich nicht gerade, doch der Jubel, als der erste Spieler wieder auftauchte, riss mich aus meinen Überlegungen, was hier alles im See verborgen sein könnte.

Es war einer der Sammler. Mit Schwung stob er aus dem Wasser und verwandelte sich zum Engel. Noch während er auf den Kelch zuhielt, schleuderte er seinem Kapitän die Scheibe zu, der sie zielsicher in eine der durchsichtigen Dolden warf, wo sie sich schillernd im Kreis drehte.

»Wenn das Gefäß mit sechs Scheiben gefüllt ist, wird aus ihnen wieder eine Kugel«, erläuterte Christopher.

Der nächste Engel erschien – auch ein Sammler. Danach tauchte einer der Gegner, ein sogenannter Jäger, aus dem Wasser. Mit einer triumphierenden Geste schleuderte er die Scheibe zu seinem Kapitän, der sie beinahe an den Mannschaftsführer der Sammler verlor, bevor er sie in der Mitte des Kelches versenken konnte. Rotierend fiel der gegnerische Ring durch den Stiel und galt als verloren.

Endlich tauchte Paul wieder auf. Stolz präsentierte er seine Scheibe und warf sie zu seinem Teampartner, der sie mit den beiden anderen vereinte – drei Ringe wirbelten glitzernd umeinander. Vier zu zwei endete die erste Runde.

Die nächsten Spielzüge gingen an die gegnerische Mannschaft, die ihre erste Kugel zum Leuchten brachte, was mit stürmischem Beifall belohnt wurde. Mit zunehmender Dauer wurde ersichtlich, wie anstrengend das Spiel war. Die ständigen Wechsel zwischen Fliegen und Schwimmen sowie das präzise Timing beim Ein- und Auftauchen erschöpften die Spieler, was mich gleichzeitig beruhigte und nervös machte: Zum einen war ich froh, dass auch Engel nicht über unbegrenzte Kräfte verfügten – obwohl ich mir da bei Christopher nicht so sicher war –, zum anderen hatte ich Mitleid mit den vor Nässe triefenden Engeln, und ich fror mit ihnen.

Fast am Ende, Pauls Mannschaft fehlten nur noch drei Ringe zum Sieg, verlor eine Spielerin ihre sicher geglaubte Scheibe, da ihr der Sprung aus dem Wasser misslang. Ein ängstliches Raunen lief durch die Menge, als das Leuchten ihrer Flügel erlosch. Unaufhaltsam sogen sie sich voll Wasser und zogen das Mädchen hinab in die Tiefe. Plötzlich herrschte Totenstille.

Mit einem gewaltigen Sprung tauchte Christopher in den See. Ich starrte entsetzt auf die Stelle, an der er verschwunden war. Aron und einer der Schiedsengel, die das Spiel überwachten, folgten seinem Beispiel.

Niemand regte sich.

Der Schiedsengel tauchte wieder auf. Ein paar Minuten danach Aron. Wie lange konnte ein Engel unter Wasser bleiben? Es war schon viel zu viel Zeit verstrichen. Ich fühlte, wie mein Blut ins Stocken geriet, wie die Furcht um das Mädchen und um Christopher mich lähmte.

Ich schloss die Augen. Die Stille war erdrückend, selbst der Wind hatte sich gelegt.

Schrille Freudenschreie rissen mich aus meinen Gedanken. Christopher hob das erschöpfte Mädchen aus dem Wasser. Sie lebten! Gemeinsam mit Aron hievte er den schweren Engelskörper an Land.

Die Reihen um mich lichteten sich. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich das einschüchternde Schauspiel. Einer nach dem anderen verwandelte sich. Alle wurden zu Engeln, breiteten ihre Schwingen aus und erhoben sich in die Luft. Das Rauschen der vielen Engelsflügel klang unheilbringend – allzu sehr erinnerte es mich an die Krähen, die mich vor nicht allzu langer Zeit im Wald attackiert hatten, nur dass der Flügelschlag der Engel um ein Vielfaches beängstigender war. Sämtliche Härchen auf meinen Armen und im Nacken richteten sich auf. Jetzt spürte ich die Angst, die Christopher von mir erwartet hatte.

Ich blickte zu Markus. Wie ich hatte er keine Flügel. Unbeeindruckt zuckte er die Schultern und sprang ins Wasser, und ich blieb allein zurück – vor Kälte und Anspannung zitternd. Auch wenn ich eine gute Schwimmerin war, bestimmt wäre ich vor Angst auf halber Strecke ertrunken.

Schließlich landete Aron auf der Plattform. Er beobachtete mich aufmerksam, half mir ins Boot und ruderte mich zurück an Land.

»Ich bringe dich am besten ins Schloss.«

Um ihm zu zeigen, dass ich mich nicht so leicht einschüchtern ließ, wollte ich widersprechen, doch Aron kam mir zuvor.

»Chris geht es gut. Er kümmert sich um Estell, und ich denke, du solltest dich erst ein wenig beruhigen, ehe er dich ...«

Aron verstummte. Christopher stand plötzlich vor uns. Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen, als er mich sah.

Ich versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, doch noch bevor mir das gelang, hatte er seine Arme um meine Taille gelegt und mich an sich gezogen. Seine Wärme vertrieb die Kälte in mir und mit ihr verschwand auch die Angst. Nur Arons Blick, mit dem er Christopher musterte, verunsicherte mich.

Hatte er ihm nicht zugetraut, dass er sich verlieben würde – in mich verlieben würde?! Oder missgönnte Aron mir Christophers Zuneigung, da er davon ausging, dass ich ihn enttäuschen würde? Aber warum? Meine Gefühle für Christopher waren echt, und ich war alles andere als untreu! Vielleicht würde sich Arons Misstrauen legen, wenn er begriff, dass ich keine Spielchen spielte.

Christopher begleitete mich auf mein Zimmer und drängte mich, auszuruhen.

»Du bist kreidebleich und hast kaum geschlafen. Ich werde Aron bitten, deine Stunde am Nachmittag auf später zu verschieben.«

Auf keinen Fall! Aron sollte nicht glauben, dass Engel mich überforderten. »Nein, das brauchst du nicht. Mir geht es gut. Ich bin nur ein bisschen durcheinander wegen des Mädchens.«

Christopher schüttelte den Kopf, schob mich Richtung Bett, schlug die Patchworkdecke zurück, rückte das Kissen für mich zurecht und bugsierte mich zwischen die Laken.

»Du bist störrisch wie ein Maulesel. Estell geht es gut. Sie ruht sich aus, und du solltest das auch tun.« Mit einem sanften, aber bestimmten Kuss auf die Stirn drückte er mich auf mein Kissen und zog die Bettdecke hoch bis unter mein Kinn.

»Schlaf schön. Ich werde dich rechtzeitig wecken.«

Kaum hatte ich die Augenlider geschlossen, überfiel mich eine bleierne Müdigkeit. Und mein Versuch, dem Schlaf zu widerstehen, um Christopher zu zeigen, wie schlecht er mich einschätzen konnte, scheiterte kläglich.

Christophers Duft übertrumpfte den Wohlgeruch des Essens, das er mitgebracht hatte. Meine Mundwinkel zuckten, als er mir das Tablett mit Steak, Pommes und Salat ans Bett stellte – er bemutterte mich!

»Es scheint dich zu amüsieren, dass ich mich um dich kümmere.«

Christophers Ton war streng, darum bemühte ich mich, meine Lippen zu einer geraden Linie zusammenzupressen – was mir gänzlich misslang.

»Es ist nur ... Nun ja, meine Mutter bringt mir auch immer das Essen ans Bett, wenn ich krank bin.«

Die Erinnerung an zu Hause entzauberte den Moment. Noch bevor sie sich ausbreiten konnte, spürte ich Christophers tröstende Umarmung.

»Kann ich ... werde ich sie je wiedersehen?« Der Gedanke, meine Eltern niemals wieder in die Arme schließen zu können, riss ein schmerzendes Loch in meine euphorischen Gefühle.

»In ein paar Wochen darfst du sie besuchen.«

»Warum nicht früher?«

Ein Hoffnungsfunke erwachte in mir, doch Christopher schüttelte bestimmt den Kopf. Seine bekümmerte Miene verriet mir den Grund: Erst wenn sich ihre Trauer etwas gelegt hatte, durfte ich zu ihnen. Eine Träne lief über meine Wange. Dann noch eine. Christopher fing alle auf.

»Sie wären nicht traurig, wenn sie wüssten, dass du hier bist.«

Eine Stunde vor Sonnenuntergang lieferte Christopher mich bei Aron ab, der an einem mächtigen, weit über den See ragenden Baum lehnte und sich mit Markus unterhielt. Aron unterzog mich einem prüfenden Blick, der reichte, um meinen Kampfgeist anzustacheln.

»Schön. Da ihr nun in der Theorie beide auf dem gleichen Stand seid, werden wir zur Praxis übergehen. Kannst du ohne Hilfe auf den Baum klettern, oder soll ich dich nach oben bringen?« Arons Frage galt mir.

Ich blitzte ihn empört an – anscheinend hatte er an Markus’ Fähigkeiten keine Bedenken.

»Selbstverständlich kann ich das!«

Ohne darüber nachzudenken, warum ich mein Können ausgerechnet auf einem Baum unter Beweis stellen sollte, klammerte ich mich an einen der tiefhängenden Äste und schwang mich kurzerhand hinauf. Dank seiner Krümmung war der Baum einfach zu erklettern – fast wie mein Olivenbaum, auf dem mein Vater mir eine Aussichtsplattform gebaut hatte. Erst nachdem Aron hinter Markus oben ankam, erkannte ich, dass er mich absichtlich provoziert hatte.

»Ich sehe schon, dein alter Kampfgeist ist zurückgekehrt. Nach dem Spiel hatte ich doch tatsächlich ein wenig Zweifel an deiner Courage.« Ich blitzte ihn böse an, doch Aron blieb unbeeindruckt. »Wer von euch beiden will beginnen?«

Markus meldete sich mit einer Begeisterung, die ich ihm nicht zugetraut hätte.

»Womit?« Ein ungutes Gefühl beschlich mich.

»Mit deinem ersten Versuch!«

»Mit. Was?«

»Mit deinem ersten Sprung – um fliegen zu lernen! Was sonst?!«

In Arons Grinsen lag eine unverschämte Arroganz, die ganz und gar nicht zu seinem bisherigen Verhalten passte. Wollte er mich für blöd verkaufen? Oder mir demonstrieren, was mich von einem Engel unterschied?

Ich spähte den Baum hinunter – viel zu hoch, um einen Sprung zu riskieren. Mein Kopf begann zu dröhnen. Zwanzig, vielleicht dreißig Meter unter mir glitzerte der See in der tief stehenden Sonne. Augenblicklich sackte mir das Blut in die Beine, und ich musste mich festklammern, um nicht vom Baum zu fallen.

Arons Miene veränderte sich, als er meine Reaktion bemerkte. »Du schaffst das schon. Alle lernen es – die meisten auf Anhieb«, munterte er mich auf, doch ich hörte nur die Zweideutigkeit in seinen Worten.

Markus drängte nach vorne, und ich ließ ihn bereitwillig passieren.

»Denk daran, du musst es glauben, dann werden sich deine Flügel ganz von selbst entfalten.«

Markus nickte. Seine Wangen glühten vor Aufregung, während er geschickt auf einen kahlen Ast kletterte.

Ich presste die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzukreischen, als er sprang. Viel zu schnell näherte er sich der Wasseroberfläche. Dann – völlig aus dem Nichts – wuchsen ihm Flügel. Durch seine Kleidung bohrten sich weiß schimmernde Engelsflügel und breiteten sich anmutig aus.

Markus’ Freudenjuchzen hallte zu uns herauf. Aron zollte ihm anerkennenden Beifall. Ich jedoch presste mich mit schlotternden Knien haltsuchend gegen den Baum. Das war nichts für mich. Ich war hier falsch! Merkte das denn keiner?

Arons Hand legte sich beruhigend auf meine Schulter. »Ich weiß, dass du es kannst!«

Ich blieb, wo ich war. Die Szene am Morgen, als die schweren Flügel den Engel nach unten zogen, drängte sich in mein Bewusstsein. Aron schien meine Gedanken zu erraten.

»Ein Unfall, wie heute beim Spiel, ist sehr selten. Außerdem werde ich dir sofort hinterherspringen, falls du mit deinen Flügeln unter Wasser gerätst – was nicht passieren wird. Sie werden dich tragen, du wirst es sehen. Fliegen ist ganz einfach. Wie atmen.«

Ich rührte mich nicht.

»Lynn, was ist los?«

»Ich ... ich dachte, ich weiß nicht, ich ... bin ich denn auch ein Engel?«

Arons Lachen tönte warm durch die Baumwipfel. »Lynn, was dachtest du denn? Hast du bei der Einweisung nicht aufgepasst? Im Schloss der Engel werden Schutz- und Wächterengel ausgebildet. Deshalb bist du hier. Auch du wirst bald einer sein – bestimmt ein besonders beeindruckender«, setzte er hinzu.

Sein belustigter Unterton entging mir nicht, doch der Tatsache, dass ich ein Engel sein sollte, traute ich nicht. Und an eine erklärende Einweisung konnte ich mich auch nicht erinnern. Obwohl ich zugeben musste, dass alle meine Mitschüler Engel waren und das mit der Engelschule sicher stimmte.

Noch einmal wagte ich, nach unten zu sehen. Sofort wurde mir schwummrig, und ich klammerte mich am nächstbesten Ast fest.

»Sieh dir Markus an. Schau, wie glücklich er jetzt ist.«

Ich wagte einen Blick zu ihm. Markus glitt mühelos über den See. Die Flügel ausgebreitet, genoss er mit sichtlicher Freude seine neue Fähigkeit. Ich hingegen blieb, wo ich war. Maulesel hin oder her. Im Moment hätte ich nicht einmal den Abstieg vom Baum geschafft.

Aron seufzte, dann zückte er sein letztes Ass. »Schade, Christopher hat sich so darauf gefreut, dich endlich in deiner Engelsgestalt zu sehen. Aber ich werde dich nicht drängen. Wenn du willst, bringe ich dich wieder nach unten.«

Ich presste die Zähne zusammen. Christopher beobachtete uns? Und ich stand stur wie der besagte Esel und traute mich weder vor noch zurück! Arons Taktik, mich herauszufordern, ging auf. Warum sollte ein anderer Zeitpunkt besser geeignet sein als dieser?

Mit hämmerndem Herzen ließ ich den Zweig los und schob mich auf den fußbreiten Ast vor mir. Ein Blick in die Tiefe ließ mich erschaudern, und ich schloss schnell die Augen, um den bohrenden Schmerz dahinter zu vertreiben. Bloß nicht nach unten sehen!

»Glaub an deine Fähigkeiten! Lynn, du musst vertrauen.«

Arons Stimme schenkte mir Zuversicht, und ich öffnete mutig die Augen, atmete noch einmal tief durch – und sprang.

Der Fall schien kein Ende zu nehmen. Ich stellte mir Flügel vor, die meinen Körper trugen, malte mir aus, wie gigantische Schwingen sich auf meinem Rücken ausbreiteten, den Wind einfingen und mich in die Lüfte emporhoben – doch nichts geschah. Näher und näher rückte die spiegelnde Oberfläche. Panik breitete sich in mir aus, als ich die Dunkelheit in der Tiefe entdeckte. Sie würde mich nicht mehr hergeben – ich würde in ihr ertrinken.

Der Schmerz, als mein Körper die Wasseroberfläche durchdrang, raubte mir den Verstand. Wütend schien er mich entzweizureißen. Allzu schnell sank ich hinab.

Grüne Pflanzen umgaben mich, hüllten mich ein in ihr waberndes Gewand und schlangen sich um meinen Körper. Ich schrie, doch mein Hilferuf verhallte und mit ihm meine Reserve an lebensnotwendiger Atemluft.

Die Dunkelheit streckte ihre Fühler nach mir aus, verdichtete sich zu etwas Greifbarem, das mich zu sich zog – und ich fiel weiter, hinab in die Tiefe, hinein in das undurchdringbare Pflanzennetz.

Ich fühlte, wie meine Lungen nach Sauerstoff verlangten, mich drängten, meinen Brustkorb auszuweiten. Entschlossen widerstand ich dem Zwang, einzuatmen. Ich musste nach oben. Sofort! Zurück zum Licht.

Mit aller Macht versuchte ich, mich aus dem dichten Blätterwald zu befreien, und verstrickte mich nur noch tiefer in seinen Fängen. Je heftiger ich mich wehrte, umso fester hielt er mich umschlungen. Es war ein aussichtsloser Kampf – er würde mich nicht freigeben. Ich war gefangen, wie die Fliege im Spinnennetz, und je mehr ich zappelte, umso fester zog sich die Falle um ihre Beute – um mich!

Mein Kopf dröhnte. Vernunft kämpfte gegen Panik. Mein Körper reagierte mit Flucht – Lähmung wäre so viel klüger gewesen.

Vor meinen Augen verschwammen die Pflanzen zu einer schemenhaften Gestalt. Kälte griff nach mir und schnürte mein Herz zusammen. Ich schloss die Augen und blendete das Trugbild aus. Trotz meiner Angst ließ ich alle Muskeln erschlaffen und verharrte reglos in meinem grünen Gefängnis. Der Griff der Schlingpflanzen lockerte sich. Langsam gaben sie mich frei.

Meine Lungen brannten unbarmherzig und forderten nach frischer Luft. Ich zwang mich zu äußerst vorsichtigen Bewegungen – jedes hektische Rudern, jede unerwartete Erschütterung weckte die grüne Flora erneut zum Leben.

Der Schmerz in meiner Brust wurde unerträglich. Ich ahnte, dass ich die rettende Oberfläche nicht mehr erreichen würde. Meine Aufwärtsbewegung geriet ins Stocken, und ich sank zurück, hinab in die frostige Finsternis.

Zwei Hände packten mich und rissen mich nach oben. Christophers Lippen legten sich auf meinen Mund.

Wie konnte er mich ausgerechnet jetzt küssen?!

Ich spürte, wie er meine Lungen füllte. Willkommener Sauerstoff belebte meinen Körper und linderte den Schmerz in meiner Brust.

Als ich endlich die Sonne wieder erblickte, schnappte ich keuchend nach Luft. Ein unsagbares Glücksgefühl, den Tiefen des Sees entronnen zu sein, erfüllte mich – bis ich in Christophers jadegrüne Augen blickte. Lodernde Blitze schossen aus ihnen hervor. Ich ruderte mit den Armen, um Abstand zu gewinnen. Er sah so wütend aus, als hätte er mich nur gerettet, um mir eine Standpauke zu halten und mich danach wieder auf den Grund des Sees zu befördern.

»Lynn! Halt endlich still!« Entschlossen schnappte Christopher meine Arme, unterband meine Gegenwehr, drehte mich auf den Rücken und schleppte mich zum Ufer.

Zum zweiten Mal an diesem Tag packte er mich in dicke Decken und verordnete mir Bettruhe. Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen, und schluckte den süßen Tee, den er mir verabreichte. Mein ausgekühlter Körper zitterte erbärmlich und benötigte dringend Wärme und Erholung.

Das Letzte, was ich noch fühlte, waren seine Hände, die zärtlich eine verirrte Strähne aus meinem Gesicht strichen. Christopher war bei mir. Alles würde gut werden. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich ein.