Kapitel 5

Engel aus Stein

Es war schwierig, sich im Dickicht der Bäume zurechtzufinden. Der schmale Pfad forderte meine ganze Aufmerksamkeit, was mir half, meinen Kummer zu verdrängen. Der Weg führte tiefer in den Wald hinein, wo der fahle Mond nur noch die Wipfel der engstehenden Fichten erreichte.

Ein dunkler Schatten huschte zwischen dem Unterholz hindurch – alarmiert blieb ich stehen. Mein Herz raste. Ein wildes Tier! Jagende Wölfe vielleicht. In Panik hielt ich nach einem geeigneten Baum Ausschau, auf den ich flüchten konnte, doch meine Beine schienen mit der Erde verwurzelt.

»Buh!« Wie aus dem Nichts stand er neben mir. »Ich hoffe, ich hab dir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Chris hatte recht. Man darf dich keine Minute aus den Augen verlieren. Was machst du hier, allein? Und erzähl bloß nicht, du hättest dich verlaufen!« Arons Miene wurde ernst, als er mir ins Gesicht sah.

Ich wandte mich ab. Es war dunkel und bestimmt hatte er nicht gesehen, dass ich geweint hatte. Nochmals getröstet zu werden, würde ich nicht verkraften. Also ging ich, anstatt mich zu verteidigen, auf Konfrontationskurs. Streiten war einfacher.

»Stehe ich unter Arrest oder nur unter Dauerbeobachtung?«

»Momentan nur unter Beobachtung, aber wenn dir so viel daran liegt, kann ich dich auch einsperren.«

Ich zwang mich, nicht vor Aron zurückzuweichen. Seine Bemerkung erschreckte mich – er scherzte nicht –, weshalb ich fieberhaft nach einer logischen Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten suchte.

»Gibt es irgendetwas, das mir entgangen ist?« Ich wusste, dass es Sicherheitspersonal an der Schule gab, um die Kinder zu beschützen, deren Eltern vermögend oder berühmt waren. Doch darunter fiel ich nicht. Meine Eltern hatten zwar eine eigene Firma und konnten das Schulgeld für mich aufbringen, mehr Luxus war aber nicht drin.

»Wenn du ein paar der Grundregeln nicht nur kennen, sondern auch beherzigen könntest, wäre das schon mal ein Anfang«, erklärte Aron. »Ganz allein nachts im Wald umherschleichen gehört zum Beispiel nicht dazu.«

So etwas Ähnliches hatte ich schon von Herrn Sander gehört.

»Und vor was genau sollte ich mich fürchten?«

»Du könntest dich verlaufen«, wich Aron aus.

»Das hast du bereits verhindert.« Ich drängte weiter, da ich den Eindruck hatte, dass er das Thema beenden wollte.

»Eine wilde Bestie könnte dich anfallen.«

»Dann würde ich auf einen Baum flüchten.«

»Du wärst niemals schnell genug.« Aron warf mir einen undefinierbaren Blick zu. »Du musst noch viel lernen. Vor allem musst du lernen, deine spontanen Gefühlsausbrüche unter Kontrolle zu halten.«

Ich schwieg. Aron schien mehr über meine Begegnungen mit Christopher zu wissen, als mir lieb sein konnte.

»Sollte ich dich noch einmal erwischen, wie du dich nachts allein im Wald herumtreibst, werde ich dir Zimmerarrest erteilen.«

Sein strenger Tonfall unterstrich die Drohung, so dass ich keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit hatte. Also trottete ich Aron folgsam hinterher. Er sorgte dafür, dass ich das Schloss ohne Umwege erreichte, und begleitete mich bis zu meiner Tür.

»Denk daran, Zimmerarrest kann sehr eintönig werden.«

Ich erwiderte nichts und verzog mich in meine Kammer. Ich war verärgert, obwohl ich einsah, dass es unvernünftig war, in der Dunkelheit allein durch die Gegend zu spazieren. Doch mein angeborener Widerstandsgeist drängte, Arons aufgestellte Regel erneut zu brechen – schließlich war ich auf einem Internat und nicht in einem Gefängnis.

Mein Kopf dröhnte, als ich mitten in der Nacht mit einem panischen Gefühl erwachte, wie in der Nacht, als meine Großmutter starb. Meine Eltern! Ich hatte von ihnen geträumt. Bitte nicht!

Dann fiel mir wieder ein, dass ich vergessen hatte, mich nochmals bei ihnen zu melden. Und dann erinnerte ich mich an den vergangenen Abend. An meine Übereinkunft mit Christopher und wie ich mich dabei gefühlt hatte. Was machte ich bloß falsch, dass ich den Jungs, die ich mochte, auf die Nerven ging?

Ich zog mir das Kissen, das beruhigend nach Lavendel duftete, über den Kopf. Vergiss ihn, flüsterte mein Verstand, und mein Herz gab nach, da es wusste, dass es stärker war.

Bis kurz vor Ende der Frühstückszeit blieb ich auf meinem Zimmer. Ich wollte weder Aron noch Christopher begegnen. In der Kantine traf ich dann tatsächlich nur auf Paul. Er hatte gewartet, um mich zum Tierkundeunterricht zu begleiten. Aron hatte ihn darum gebeten.

»Schade, dass wir so spät dran sind. Sonst hätte ich dir noch den Vorbereitungsraum gezeigt«, erklärte Paul, wobei ein diabolisches Grinsen über sein Gesicht huschte. Er glaubte wohl, mich mit dem Plastikskelett und ein paar ausgestopften Vögeln erschrecken zu können.

Wir betraten als Letzte den kleinen Hörsaal und stiegen die Holzstufen hinauf zu den beiden freien Plätzen in der oberen Reihe. Frau Kast, die Biologielehrerin – ich schätzte sie auf Ende zwanzig –, löschte das Licht und begann mit einer Smartboard-Präsentation. Katzen waren das heutige Thema. Nach ein paar Minuten schaltete ich ab und beobachtete die Spatzen vor dem Fenster – die Anatomie der kleinen Raubtiere kannte ich bereits. Allerdings hatten mir bei der Abfrage von Frau Germann ein paar Fachbegriffe gefehlt, was wahrscheinlich der Grund war, warum sie mich in diesen Kurs gesteckt hatte.

Als ich den Biologiesaal verließ, kam Aron auf mich zu. Er hatte mich abgepasst.

»Hast du Sportsachen dabei?« Kritisch musterte er meine Jeans.

»Warum? Sollte ich? Da hab ich anscheinend mal wieder was verpasst! Wie blöd, dass ich noch keinen Kursplan habe.«

»Deshalb bin ich hier. Ich warte vor dem Schloss, bis du dich umgezogen hast – damit du dich nicht verläufst.«

»Tausend Dank! Ohne deine Hilfe wäre ich aufgeschmissen«, antwortete ich ebenso sarkastisch.

»Immer wieder gern.«

Aron lachte und zückte einen himmelblauen Zettel, den er mir überreichte. Unter Tierkunde stand Lanze – was auch immer das bedeuten mochte. Wahrscheinlich war Lanze ein Kürzel für eine Kampfsportart wie Taekwondo oder so was wie Speerwerfen. Ich fragte nicht nach. Spannender als Bio war es bestimmt.

Aron wartete tatsächlich vor dem Schloss auf mich. Seine Gegenwart verunsicherte mich. Er schien eher mein Bodyguard als mein Tutor zu sein. Hatte ich etwas ausgefressen, wovon ich nichts wusste? Oder hatte er mitbekommen, dass ich ein neues Handy brauchte und deshalb die Schule verlassen wollte? Aber vielleicht war er gegenüber seinen neuen Schülern auch nur hilfsbereit – so, wie Susan ihn beschrieben hatte.

In dem Moment, in dem ich die Sporthalle betrat, vollführte mein Herz eine irrwitzige Bewegung: einen euphorischen Salto, da ich Christopher entdeckte, gefolgt von einem tiefen Absturz Richtung Magengrube, als ich in seine Augen blickte, die mich vorwurfsvoll musterten. Ich wollte schnell zu Aron aufschließen, bevor Christopher mich auf meinen nächtlichen Waldspaziergang ansprechen konnte, doch er versperrte mir den Weg.

»Du bist meiner Gruppe zugeteilt«, war alles, was er sagte.

Ich zuckte gelassen die Schultern. »Wenn’s sein muss.«

Christopher ging nicht auf mein Grummeln ein. Als wäre es das Normalste auf der Welt, eine bockige Schülerin zum Sport zu bewegen, brachte er mich zu Markus, dem blassen, zurückhaltenden Jungen, der gestern mit mir bei der Schulversammlung vorgestellt wurde, Erika, die seit Freitag hier war, und Susan, die mich – warum auch immer – böse anfunkelte.

Christopher demonstrierte uns die Grundlagen des Trainings, und ich folgte tatsächlich gebannt seinen Erläuterungen. Obwohl ich versuchte, mich dagegen zur Wehr zu setzen – seiner Anziehungskraft konnte ich nicht widerstehen. Ich wusste, ich sollte wegschauen, anstatt jede seiner Bewegungen zu verfolgen; die Augen verschließen, anstatt das Spiel seiner Muskulatur unter dem hellen T-Shirt zu studieren.

Christophers Darbietung zeugte von jahrelanger Übung. Er bewegte sich schnell und anmutig, fast als würde er schweben. Mit unglaublicher Geschwindigkeit wirbelte er herum, dann griff er zur Lanze und vollführte dieselben Muster.

Mit offenem Mund schaute ich ihm zu, obwohl ich Kampfsportarten mit todbringenden Waffen eigentlich nicht besonders mochte. Christopher allerdings schien mit der Lanze zu tanzen. Er bildete eine Einheit mit ihr, als wären sie ein eingespieltes Paar.

Meine Fantasie ging mit mir durch: Ich übernahm die Rolle der Waffe – wiegte mich in Christophers Armen, fühlte seinen aufregenden Körper und seine Hände, die mich festhielten. Sein Duft strömte zu mir herüber. Ich hielt den Atem an und schloss die Augen. Das. War. Zu viel!

Ich spürte, wie er vor mir stehen blieb, hörte bereits, wie er mich mein Aufmerksamkeitsdefizit erklären ließ. Als ich die Augen öffnete, sah er mich nur an – prüfend, dann unergründlich. Schließlich wandte er sich wortlos ab.

Und ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Warum hängte ich mir nicht gleich ein Schild um den Hals, auf dem stand: Bitte nimm mich noch einmal in die Arme!

Markus drückte mir einen Stab in die Hand, und ich überspielte meine Verlegenheit, indem ich mich auf Markus statt auf Christopher konzentrierte. Doch ich war viel zu abgelenkt, um auch nur annähernd irgendeine Bewegung kopieren zu können. Mehrmals glitt der Stab aus meinen zitternden Fingern.

Erika und Markus bemühten sich erfolglos, ihr Gekicher zu unterdrücken. Selbst Susan grinste. Christopher zuckte nicht einmal mit den Wimpern – er ignorierte mich.

Nach dem Kurs sprach Markus mich an. Offenbar suchte er Anschluss.

»Und, wie findest du unseren Trainer?«

»Gut, und danke, dass ihr mich nicht aus eurer Gruppe geschmissen habt«, lenkte ich ab. Auf keinen Fall wollte ich über Christopher reden.

»Nichts zu danken. Es war sehr lustig, dir zuzusehen.«

»Das glaub ich sofort. Schließlich war es ja nicht eure Schuld, dass ich mich lächerlich gemacht hab.«

Markus’ blasse Haut wurde um einen Tick heller, so dass er mit seinen dunklen Haaren aussah, als wäre er einem Schwarzweißfilm entsprungen. Anscheinend wusste er, wovon ich sprach.

»Hat man dich auch mit ein paar Streichen begrüßt?«, fragte ich.

»Hier? Nein. Warum? Dich etwa?«

»Na ja, am Anfang. Obwohl ich finde, dass auch einige der Kurse gewöhnungsbedürftig sind.«

»Klar. Aber das ist ja gerade das Coole. Ich bin so froh, dass ich hier gelandet bin. Noch nie hat mir Schule so viel Spaß gemacht, dir etwa nicht?«

»Ich dachte, du wärst gerade dabei gewesen!«

Wie erwartet, begann Markus zu lachen. Das Rekrutierungsprogramm für zukünftige Schüler war bei ihm wohl erfolgreich.

Vor der Sporthalle wartete Susan. Ihre Miene verhieß nichts Gutes.

»So, du wirst also schon mit dem Schwert unterrichtet und kannst dir das Lanzentraining sparen!«

Sie war sauer und glaubte, dass ich sie belogen hatte. Doch mir fehlte im Moment die Geduld, mich auf eine längere Diskussion einzulassen. So entschuldigte ich mich nur mit einem knappen: »Es tut mir leid. Das war nicht meine Absicht«, bevor ich zum Gelben Haus eilte.

Mein Bedürfnis, allein zu sein, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, war größer als der Wunsch, mich zu rechtfertigen: Ich wurde in martialischer Waffenkunde unterrichtet, von einem Lehrer, dem ich auf die Nerven ging – der mir aber den Atem raubte –, und ich hatte keine Ahnung, wie ich gegen seine Unwiderstehlichkeit immun werden sollte. Also schnappte ich mir am Buffet einen Apfel und ein paar Müsliriegel und verkroch mich in meinem Zimmer.

Arons himmelblauer Zettel leuchtete mir vom Schreibtisch entgegen. Mentaltraining. Das konnte ja heiter werden!

Es wurde schlimmer als befürchtet. Christopher wurde mir und Markus als Spezialcoach überstellt. Markus befolgte eifrig Christophers Anweisungen, was ihm ein Lob unserer Kursleiterin einbrachte. Allerdings erwartete sie von mir jetzt dieselbe Begeisterung.

»Konntest du eine Veränderung bei Christopher fühlen?«, hakte sie nach.

Ich schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. Sehen – ja, fühlen – nein. Ich hatte mich Christophers Nähe entzogen und auf das Beobachten von ihm und Markus beschränkt. Schlimm genug, dass ich zuschauen musste, wie er mich unergründlich musterte, während er mit Markus übte.

Frau Klar kniff die Augen zusammen. »Zeig mir, wie du vorgehst«, verlangte sie.

Ich versteifte mich, als Christopher mir seine Hände anbot.

»Nun, worauf wartest du?« Der ungeduldige Tonfall meiner Lehrerin ermahnte mich, zu handeln.

Christopher bemerkte meine abweisende Reaktion und zog fragend eine Augenbraue nach oben. Ich blieb weiterhin reglos sitzen. Ich konnte ihn nicht berühren – schließlich war ich auf Entzug!

Obwohl meine Ablehnung offensichtlich war, ergriff Christopher meine Handgelenke und führte meine Finger an seine Schläfen.

»Schließ deine Augen und konzentrier dich auf Christopher«, befahl Kassandra Klar.

Ich wehrte mich nicht – äußerlich. Innerlich jedoch kämpfte ich gegen den Gefühlssturm, den seine Nähe, sein Duft, seine warme Haut unter meinen Fingerspitzen entfachte. Ich biss die Zähne zusammen, um meine Gefühle zu unterdrücken, wusste ich doch, dass sie mir nichts als Kummer einbrachten.

»Fühlst du etwas?« Frau Klars Stimme klang fordernd.

Ich nickte – und ob ich etwas fühlte!

»Gut. Übt weiter«, entschied sie.

Meine Fingernägel gruben sich ungewollt in Christophers Stirn, bis er meine Hände von seinen Schläfen löste – erleichtert atmete ich auf.

»Es tut mir leid, wenn es dir zuwider ist, mit mir zu arbeiten. Ich werde Kassandra bitten, dir einen anderen Betreuer zuzuweisen.«

Wie ein eisiger Regenguss rann Christophers Stimme meinen Rücken hinunter. Er klang grausam kalt. Ich wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. Sie würden mehr verraten, und ich fürchtete mich davor, etwas Schlimmeres als Ablehnung in ihnen zu finden.

Ich schaffte es bis zum Ende der Stunde, meine Gefühle zusammenzuhalten. Aufgewühlt schnappte ich meine schwarze Jacke und zog meine bequemen Stiefel an. So konnte das nicht weitergehen! Ich musste meinen Verstand zurückgewinnen, damit er mir über meine irrationale Gefühlsduselei hinweghelfen konnte. Bestimmt würden ein Vier-Kilometer-Marsch durch den Wald und ein Gespräch mit meinen Eltern mir helfen, mich wieder zu beruhigen.

»Wo willst du hin?« Noch bevor ich das Schloss verlassen konnte, lief ich Aron in die Hände.

»Es ist noch nicht dunkel«, erwiderte ich mühsam beherrscht. Ich war stocksauer – Aron überwachte mich!

»Aber das wird es bald.«

»Ich werde pünktlich zurück sein.«

»Darauf lasse ich es nicht ankommen.«

Ich verdrehte die Augen. Er würde nicht lockerlassen. »Na gut, dann komm mit, wenn du mir nicht traust.«

Somit verschob ich mein Vorhaben, im Nachbarort ein neues Handy zu kaufen, damit ich endlich ungestört telefonieren konnte, und schlug den direkten Weg zum See ein. An der alten Steinmauer blieb ich stehen und beobachtete die Enten im Licht der tiefstehenden Sonne, wobei ich vorgab, mich ausgiebig der vor mir liegenden Natur zu widmen. Zufrieden spürte ich Arons wachsende Ungeduld.

»Wenn ich dich langweile ...«, ich ließ den Satz unvollendet. »Ich finde auch ohne dich zurück. Es sind nur ein paar Meter.«

»Wie kommst du darauf, dass du mich langweilst? Ganz im Gegenteil. Wir haben selten Schüler, die so sind wie du.«

»Wie meinst du das?« Ich war auf der Hut.

»Du bist irgendwie ... Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Es ist nur so ein Gefühl, als ob du anders schwingen würdest.«

»Vielen Dank, dass endlich mal jemand den Mut aufbringt, mir zu sagen, dass ich anders ticke.«

Aron runzelte die Stirn. »Nein. So meine ich das nicht.« Nun starrte auch er auf den See. »Du reagierst anders. Einerseits bist du impulsiv, andererseits versuchst du, dich zurückzuziehen, um deine Gefühle zu verbergen. Du erlebst alles sehr intensiv, fast als wärst du ...« Aron brach ab, und ich war froh darüber. So viel Wahrheit wollte ich gar nicht hören.

Der Wind frischte auf und blies schneidend über den See. Ich hüllte mich in meine Daunenjacke. Die Kälte konnte ich dennoch nicht vertreiben. Vermutlich war ich wirklich anders: dachte zu viel nach und suchte nach etwas, von dem ich selbst nicht genau wusste, was es war, anstatt mich einfach zu amüsieren wie die meisten in meinem Alter.

»Du solltest heute früher zu Bett gehen, auch wenn morgen unterrichtsfrei ist. Du siehst müde aus«, unterbrach Aron meinen Gedankengang. »Übrigens, Susan möchte gern mit dir reden. Vielleicht könntet ihr gemeinsam zu Abend essen.«

Ich nickte, froh, dass am nächsten Tag frei war und Susan mich nicht abgeschrieben hatte, und versprach, mich bei ihr zu melden.

Als Versöhnungsangebot überraschte ich Susan mit einer Kanne heißem Tee und meinen letzten Süßigkeitsvorräten. Wir machten es uns in ihrem Zimmer mit Keksen, Chips und ein paar Kräckern gemütlich. Ich war noch immer aufgewühlt von meinem verpatzten Mentaltraining, doch Susan schnitt weder das Schwert- noch das Christopher-Thema an, wofür ich ihr sehr dankbar war. Stattdessen unterhielten wir uns lange über die zurückliegende Feuernacht, und Susan erzählte ausführlich von ihren Tanzpartnern, bis ich tatsächlich müde wurde und mich von ihr verabschiedete.

Ich war die Erste beim Mittagessen, das Frühstück hatte ich verschlafen. Heute war unser freier Tag, und ich hatte Susans Angebot, eine Kanutour mit ihr, Paul und ein paar anderen zu machen, ausgeschlagen, weil ich endlich mit meinen Eltern telefonieren wollte. Da laut meiner Berechnung Dienstag sein musste, stand meinem Handykauf nichts mehr im Weg.

Noch bevor die anderen in der Kantine auftauchten, befand ich mich auf dem Feldweg, der zum Nachbarort führte. Nach den letzten beiden Sonnentagen erschien mir der heutige Mittag besonders grau und trüb. Dunkle Wolken jagten am Himmel vorüber und verdeckten die tiefstehende Wintersonne.

Ich passierte den Abzweig zur Wiese, auf der die Feuernächte stattfanden. Schnell blendete ich die Erinnerung an Christopher, wie sein Gesicht vom flackernden Feuerschein erhellt wurde, aus und lief zügig weiter, bevor Aron oder sonst jemand mein Fehlen bemerken konnte.

An einer Kreuzung folgte ich dem schmalen Pfad Richtung See und stieß auf eine kleine, verlassene Kapelle. Der Ort kam mir seltsam bekannt vor. Das achteckige Gebäude mit seinem sternförmig zulaufenden Dach hatte ich allerdings noch nie zuvor gesehen. Neugierig umrundete ich die Kapelle – sie musste uralt sein. Efeuranken überzogen die mit rötlichen Feldsteinen ausgefachten Wände. Sechs Öffnungen, fünf bunt verzierte Fenster und eine Tür, durchbrachen das Mauerwerk. Ich zögerte nicht lange und öffnete die schwarze Eisentür, bevor ich ehrfürchtig den Innenraum betrat.

Das süße Aroma frisch geschnittener Blumen erreichte mich. Ein kleiner Altar, geschmückt mit einer Schale blühender Christrosen, stand vor den beiden fensterlosen Nischen. In einer thronte eine überlebensgroße Skulptur: ein aus weißem Stein geschlagener Engel – eine perfekte Mischung aus Michelangelos und Donatellos David. Bildschön und zugleich furchterregend, blickte er allwissend auf mich herab. Seine Züge waren so rein und makellos und dennoch so vertraut, so menschlich – unglaublich, wie der Künstler das fertigbringen konnte.

Ich fragte mich, ob es auch eine zweite Skulptur gegeben hatte, und kletterte in die leere Nische, um nach verbliebenen Spuren zu suchen. Der Engel sah mir zu, als würde er mich beobachten. Ich schüttelte den gruseligen Gedanken ab, doch der missbilligende Blick des Engels kam mir beunruhigend bekannt vor. Wären seine Augen grün, hätte ich gewusst, wer dem Bildhauer Modell gestanden hatte.

Als ich die Kapelle verließ, neigte sich der kurze Wintertag schon seinem Ende entgegen. Ich hatte völlig die Zeit vergessen und musste mich jetzt beeilen – eigentlich wollte ich bei Nacht den Wald verlassen haben. Wahrscheinlich würde ich mit dem Taxi zum Internat zurückfahren müssen. Mir schauderte, wenn ich an Arons Drohung dachte. Zimmerarrest war mir sicher!

Um abzukürzen, lief ich quer durch den Wald. Trotz des dichten Gestrüpps glaubte ich, schneller voranzukommen als unten am See. Die Dämmerung setzte ein, und es begann zu nieseln. Ich verfluchte mich, keine Mütze mitgenommen zu haben, und zog den Kragen meiner Daunenjacke nach oben. Weit konnte es nicht mehr sein. Hoffte ich zumindest.

Ich vernahm ein Flüstern. Mir schauderte. Die leisen Geräusche des Waldes hatten im Zwielicht eine bedrohliche Intensität angenommen. Vielleicht hörte ich sie auch nur besser, da meine Augen Unterstützung brauchten. Was würde ich wohl bei Nacht wahrnehmen? Besser, ich dachte gar nicht erst darüber nach.

Erneut kündigten sich Kopfschmerzen an. Ich ging schneller. Bei Nacht würde ich sowieso nicht mehr im Wald sein. Der Wind frischte auf. Klagelaute übertönten das Rascheln. Nur Äste, die sich berührten, beruhigte ich mich. Kein Grund zur Panik.

Als in der Ferne flackernde Lichter vor mir auftauchten, entfuhr mir ein geflüstertes »Danke!«. Das musste die Siedlung sein. Na endlich! Der harmlose Nieselregen hatte sich inzwischen zu einem wahren Sturm entwickelt. Dicke Regentropfen klatschten herab. Heftige Windböen peitschten mir schonungslos meine nassen Haare ins Gesicht. Ich fror erbärmlich.

Um die Kälte zu vertreiben, begann ich zu rennen, immer den Lichtern entgegen. Die zunehmende Dunkelheit erschwerte es mir, einen sicheren Weg zu finden, und ich verfing mich immer öfter in den dürren Zweigen des wild wuchernden Gestrüpps. Ein besonders störrischer Ast riss mir ein großes Loch in die Hose – und wenn schon. Nun wurde mein Oberschenkel eben direkt beregnet, meine Hose war eh schon völlig durchnässt und schützte mich kaum noch vor dem heftigen Niederschlag. Außerdem hatte ich im Moment andere Probleme.

Die Lichter schienen sich im Kreis zu bewegen – oder ich mich! Das eisige Band, das sich um meinen Kopf gelegt hatte, verstärkte anscheinend nicht nur meine Kopfschmerzen, sondern beeinträchtigte auch meine Wahrnehmung. Und dann gab es da noch Arons Drohung. Vermutlich war es gut, dass ich gerade nicht so klar denken konnte. Aber wenn ich nicht bald einen Platz zum Aufwärmen fand, würde ich eh erfrieren und der Zimmerarrest wäre hinfällig.

Ich stolperte vorwärts, ohne mein Ziel zu erreichen. Ein abgebrochener Baumstamm brachte mich zu Fall. In seinem Schutz blieb ich einfach liegen. Meine Kräfte waren am Ende. Ich konnte nicht mehr. Ohnehin hatte ich keine Ahnung, in welche Richtung ich weiterlaufen sollte.

Ich verbarg mich so weit wie möglich unter dem dicken Stamm, zog meine Jacke über meinen schmerzenden Kopf und presste die Beine gegen meinen Körper, um mich vor dem prasselnden Regen zu schützen. Neben meinem Verstand lähmte die Kälte inzwischen auch meine Muskeln. Ich konnte beinahe fühlen, wie sie tiefer kroch – bis ins Innerste meiner Knochen.

Ein unregelmäßiges Klappern ließ mich aus meinem Dämmerschlaf aufschrecken. Meine Zähne schlugen aufeinander. Ich zitterte am ganzen Leib. Die eisige Luft war unerträglich.

Geäst knackte in meiner Nähe, doch ich war zu müde, um nach Hilfe zu rufen.

Starke Arme hoben mich hoch und trugen mich durch den Wald. Ich glaubte Christophers Geruch wahrzunehmen. Seine Stimme wiederholte meinen Namen, verfluchte meinen Eigensinn und meine Dummheit, mich von Irrlichtern verwirren zu lassen.

Kerzen erhellten flackernd die kleine Kapelle und füllten den Raum mit einem weichen Schimmer. Tausend Gefühle rasten durch mich hindurch: Christopher hielt mich schützend in seinen Armen – ich war mir sicher, dass es ein Traum war.

Ich musste geschlafen haben – ich fühlte mich besser –, aber ich träumte wohl noch immer. Sanfte Finger strichen mir über die Haare. Ich kämpfte gegen den Drang, die Augen aufzuschlagen, und ließ mich in den Schlaf zurückfallen, damit dieser wundervolle Traum nicht verblasste ...

Sein alarmierender Duft brachte mich schließlich zurück in die Wirklichkeit: Christopher. Ich zwang meine Lider, sich zu öffnen. Da waren sie, seine funkelnden Smaragdaugen, die mein Herz schneller schlagen ließen. Auf Ärger gefasst, erwartete ich eine scharfe Zurechtweisung – immerhin hatte ich Arons Anordnungen zuwidergehandelt –, doch ich las nichts davon in Christophers Zügen. Warm und voller Zärtlichkeit sah er auf mich herab. Das konnte unmöglich wahr sein. Ich musste tot und im Himmel sein!

Damit Christophers Geruch mir nicht den letzten Rest meines Verstandes raubte, hielt ich den Atem an. Den Schmerz, ihm zu nahe gekommen zu sein, kannte ich bereits. Eine Erfahrung, die ich nicht noch einmal machen wollte.

Entgegen meinen geheimsten Wünschen unternahm ich einen vagen Versuch, mich aus seinen Armen zu winden. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Als hielt die Kälte, die bis tief in mein Innerstes vorgedrungen war, mich noch immer mit ihrem eisernen Griff gefangen – oder Christopher. Etwas lag in seinem Blick, das mich verwirrte: Sehnsucht, gemischt mit Traurigkeit.

»Lynn, schließ die Augen und ruh dich aus! Die Lichter haben dich verwirrt, aber ich werde dafür sorgen, dass sie dir nichts tun. Und morgen wirst du ohnehin nicht mehr wissen, was passiert ist.«

Christophers Finger strichen sacht über meine Augenlider. Doch ich wollte sie nicht schließen, ich wollte mich erinnern, an ihn, seine Berührungen und die Wärme in seinen Augen – auch wenn ich es anschließend bereute.

Unsere Blicke kreuzten sich, verloren sich ineinander. Stunden oder vielleicht auch nur Sekunden konnten vergangen sein, während ich in seinen tiefgrünen Augen versank. Zärtlich strich er meine nassen Haare aus der Stirn und ließ seine Finger über meine Wange gleiten – vorsichtig, um diesen unwirklichen Moment nicht zu zerstören. Sein Atem streifte mein Gesicht, bevor seine betörende Wärme und sein verwirrender Geruch endgültig meinen Verstand lahmlegten.

Weiche Lippen fanden meine Lider. »Schlaf – und vergiss«, flüsterte er, während ich dem sanften Druck nachgab und meine Augen schloss. »Und vergib mir«, flehte Christopher, bevor er mich küsste. Unendlich behutsam, als fürchte er, mich zu verängstigen.

Die Stimmen, die sich der Tür näherten, hörte nur er. In mir gab es keinen Platz mehr, etwas anderes wahrzunehmen als ihn. Seine Hände, seine Wärme, seine Zärtlichkeit ließen mich tatsächlich alles vergessen, und die Welt versank im funkelnden Nebel meiner Gefühle.