Kapitel 21

Madonna che scappa in piazza

Es gelang mir nicht, das Bild zu vertreiben. Sobald meine Gedanken abschweiften, fanden mich diese smaragdgrünen Augen, die mich mit einer Sehnsucht betrachteten, für die wohl die meisten weiblichen Wesen alles aufgegeben hätten. Erst nachdem ich Philippe am Ausgang des Flughafenterminals entdeckte, verblasste die Illusion.

Philippes Umarmung und sein gehauchter Begrüßungskuss waren echt – greifbar. So ließ ich meine Arme etwas länger auf seiner Schulter liegen. Seine körperliche Nähe besänftigte meine aufgewühlten Gefühle, und ich nahm mir eigennützig, was ich brauchte, um nach der langen Anreise mit viel zu viel Zeit zum Nachdenken zu mir zurückzufinden.

Schließlich war es Philippe, der sich meiner Umarmung entzog. Er betrachtete mich mit einem eigenartigen Blick, bevor er sich geradezu übereifrig meinem Gepäck zuwandte und meine Reisetasche zu seinem Wagen bugsierte.

Die Fahrt von Rom nach Sulmona dauerte beinahe drei Stunden, und ich fühlte mich ziemlich erschöpft, als wir endlich das Haus meiner Eltern erreichten. Philippes Enttäuschung, dass ich nicht zu Stefano mitkommen wollte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Da ich ihm jedoch hoch und heilig versprach, mir dieses Jahr die Karfreitagsprozession anzusehen, hellte sich seine Miene wieder auf.

Philippe durfte als Ersatz für seinen kranken Onkel als Sänger im Chor am Festzug teilnehmen – und er war sehr stolz darauf. Die Osterfeierlichkeiten in Sulmona waren in ganz Italien bekannt. Die nächtliche Prozession am Karfreitag und am Ostersonntag die Madonna che scappa in piazza lockten Tausende Besucher in die Stadt.

Wie üblich quetschten wir uns zu fünft in Philippes kleinen Fiat. Da er rechtzeitig vor Beginn der Prozession in Sulmona sein musste, ergatterten wir hervorragende Plätze in der vorderen Reihe. Nach und nach füllten sich die festlich beleuchteten Straßen, bis wir dicht nebeneinanderstanden: ich neben Emilia, hinter uns Stefano und Antonio.

Das Spektakel begann. Von weitem hörten wir die Trommeln der herannahenden Musikanten. Ernst dreinblickende Männer, gekleidet in die traditionellen roten und grünen Gewänder, näherten sich. In ihren Händen hielten sie lange Stangen, an deren oberen Enden Laternen flackerten. Hinter ihnen folgte der Spielmannszug, danach die Sänger.

Emilia stupste mich in die Seite. »Da, da ist Philippe.« Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Kichern zu verbergen. »Sieht er nicht putzig aus in seinem knielangen Kleidchen und dem weißen Latz?«

Ich biss mir auf die Lippen, um nicht ebenfalls laut loszukichern. Philippe nahm seine Sache sehr ernst und es wäre unfair, ihn aufgrund des weißen Tuches auszulachen, das in fein säuberlich gelegte Falten sein Gewand schmückte – auch wenn es wirklich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Latz besaß.

Zielsicher, als hätte er gewusst, wo wir standen, wanderte Philippes Blick zu uns herüber. Stolz und Ehrfurcht spiegelten sich in seiner Haltung. Ich schenkte ihm ein Lächeln und warf einen Kussmund in seine Richtung.

»Wenn ich nicht wüsste, dass es unser Philippe ist, könnte er mir direkt gefallen«, kommentierte Emilia Philippes Erscheinung, woraufhin Stefano ihr besitzergreifend seine Arme um die Taille schlang.

»Zu spät. Du bist schon an mich gebunden«, scherzte er – Emilia war seit kurzem mit ihm zusammen.

Als sie mir am Tag nach meiner Ankunft die Neuigkeit anvertraute, war ich nicht allzu begeistert. Schließlich brachte dies die langjährige Freundschaft zwischen uns allen durcheinander, und ich befürchtete, dass Emilia und Stefano sich ausklinken würden. Doch die vergangenen Tage hatten gezeigt, dass sich nichts verändert hatte. Im Grunde standen sich die beiden schon immer sehr nahe.

Meine Aufmerksamkeit kehrte zu den Feierlichkeiten zurück. Dem Chor folgte der eigentliche Höhepunkt der Prozession. Auf einen mit vier kunstvoll gestalteten Engeln geschmückten Katafalk gebettet, führten die Würdenträger die Figur des verstorbenen Christus an uns vorbei. Ihr folgte die Marienstatue, aus deren Leib der Schaft eines Dolchs ragte – das Symbol ihres Leidens.

Ein leises Kribbeln zog über meine Haut. Angeregt durch den getragenen Gesang des Chors, drängten die Menschen näher. Jeder wollte einen Blick auf die Madonna werfen. Ich spürte Antonio in meinem Rücken, der nach vorne geschoben wurde, und war froh, in der ersten Reihe und nicht mittendrin zu stehen.

Nach einer Stunde endete der Festzug. Die meisten Besucher schlossen sich der Prozession an und folgten ihr durch die nächtliche Stadt. Wir schlugen den entgegengesetzten Weg ein – Philippe im Gedränge der Masse wiederzufinden, wäre aussichtslos. Darum hatten wir einen Treffpunkt vereinbart, der abseits lag.

Während wir auf Philippe warteten, überredete Emilia Stefano, auch das Spektakel der Madonna che scappa anzuschauen. Ich stöhnte innerlich auf – eigentlich hatte ich nach dem heutigen Abend genug von Menschenansammlungen.

Meine Eltern waren am Sonntag bei Freunden eingeladen, deren Palazzo direkt an die große Piazza grenzte. Da ich den Tag lieber mit meinen Freunden verbringen wollte, anstatt dem Spektakel zuzusehen, hatte ich abgelehnt, sie zu begleiten. Wie es aussah, blieb mir nichts anderes übrig, als mit nach Sulmona zu fahren und die rennende Madonna anzuschauen, wenn ich nicht allein zu Hause bleiben wollte.

Nach italienischer Tradition hatte ich Riesenostereier für meine Freunde besorgt – nach meiner eigenen Tradition weitere Leckereien und für jeden ein passendes Geschenk, die ich bei mir zu Hause verstecken wollte. Obwohl wir inzwischen eigentlich zu alt für derartigen Unfug waren, bestand ich auch in diesem Jahr auf meiner Ostersuche und meine Freunde taten mir den Gefallen und spielten mit.

Es fühlte sich gut an, in mein altes Leben abzutauchen. Nach den Albträumen waren auch die grünen Augen verschwunden und meine Angst, bald ein Fall für die Psychiatrie zu werden, legte sich. Vielleicht half auch, dass ich ausschlafen konnte und mich kein Internatsstress erwartete.

Am späten Nachmittag hatte ich alle Vorkehrungen getroffen und das letzte Geschenk an seinem vorgesehenen Platz verstaut, als das Telefon klingelte.

»Hallo Lynn, ich bin’s«, meldete sich Emilia. »Ich ... ich kann heute nicht bei dir übernachten. Ich muss meinen Eltern in der Trattoria helfen.« Sie klang wenig begeistert.

»Dann komm vorbei, wenn sie dich nicht mehr brauchen. Ich bleib wach, bis du da bist.«

»Nein, das geht nicht. Unsere Küchenhilfe ist krank, und ich muss auch noch morgen früh in der Küche aushelfen.«

»Soll das heißen, dass du nicht zu unserer Ostersuche kommst?«

»Sieht ganz so aus«, jammerte sie.

»Und wenn ich dir helfe? Kannst du dann wenigstens morgen frei machen?« Ohne Emilia wäre die Suche nur der halbe Spaß.

»Das ist lieb von dir, aber ...«

»Kein aber! In zehn Minuten bin ich bei euch.«

Emilia seufzte dankbar. »Wenn es dir nichts ausmacht, in der Küche Gemüse zu schnippeln und Salat zu putzen ...«

Eine viertel Stunde später stand ich in der kleinen Küche und befolgte die Anweisungen von Emilias Mutter. Für den nächsten Tag hatten sich drei große Familien angemeldet, so dass ausreichend Arbeit anstand.

Ich hatte immer noch nicht alle Teigtäschchen gefüllt, die nach dem Gemüse und dem Salat auf mich warteten, als sich Emilia zu mir gesellte. Sie hatte den ganzen Abend im Gastraum bedient.

»Ich übernehme den Rest. Du solltest nach Hause gehen. Es ist nach zwölf und deine Eltern warten bestimmt schon auf dich.«

»Was? So spät schon?« Ich warf einen Blick auf die noch zu füllenden Tortellini. »Und du willst die alle allein füllen? Dafür brauchst du mindestens zwei Stunden.«

Emilia lachte. »Wenn ich mit deiner Geschwindigkeit arbeite, schon. Aber du hast recht, es sind noch ganz schön viele«, seufzte sie.

»Dann bleib ich hier und helf dir.«

»Das ... Nein. Ich glaub nicht, dass deine Eltern begeistert wären, wenn du bei uns so lange in der Küche stehst.«

»Das müssen sie ja nicht wissen. Ich ruf sie an und sag ihnen, dass ich bei dir übernachte – wenn das geht.«

»Klar, du hast doch schon oft bei mir geschlafen.« Emilia warf mir einen warmen Blick zu. »Danke«, nuschelte sie. »Ich bin froh, dass du bleibst.«

Eine halbe Stunde später brachte ich das letzte Teigstück in seine obligatorische Form, die angeblich einem weiblichen Bauchnabel gleichen sollte.

»Lass uns in mein Zimmer gehen. Ich bin hundemüde. Das Bedienen war anstrengend.«

»Und was ist mit Aufräumen?«, entgegnete ich.

»Das macht meine Mutter. Dafür, dass du auf dem Boden schlafen musst, hast du schon mehr als genug geschuftet.«

Mit einem energischen Griff zog mich Emilia aus der Küche. In kürzester Zeit hatte sie für mich ein bequemes Lager zurechtgemacht und war in ihr Nachthemd geschlüpft.

»Stopp, ich geb dir was von meinen Sachen. Darin kannst du dich unmöglich hinlegen, es sei denn, du willst, dass Cane dich zum Nachtisch vernascht.«

Ein unangenehmes Schlabbergefühl kroch von meinen Beinen hoch bis über mein Gesicht, als ich an mir herunterschaute. Nudelteig, Fleischfüllung und andere Lebensmittelreste zierten mein T-Shirt. Cane würde sich freuen. Er war Emilias Findelkind. Ein grauer, zotteliger Straßenköter mit heftigem Mundgeruch, den sie heimlich mit Küchenresten fütterte.

»Wie du meinst.« Ich zuckte mit den Schultern und nahm Emilias Nachthemd gleichmütig entgegen. Canes speicheltriefendes Maul blieb mir damit hoffentlich erspart.

Natürlich lieh sie mir auch am nächsten Morgen etwas aus ihrem Schrank – zum Glück hatten wir dieselbe Größe. Allerdings bestand sie auf ihrem neuesten Kleid.

»Du kannst es heute Nachmittag bei der Prozession tragen – wenn du möchtest. Deine Eltern haben sicher kein Problem mit der Länge.«

Ich wollte widersprechen, aber ich hätte sie damit nur gekränkt. Es war ihre Art, sich so bei mir für meine Hilfe zu bedanken.

»Wow!« Nicht nur meine Eltern kommentierten mein Outfit.

»Du solltest öfter ein Kleid tragen. So kommen deine Beine besser zur Geltung. Meinst du nicht auch, Philippe?«, fragte Antonio, als er zu meiner Ostersuche mit seinem Bruder unser Haus betrat.

Philippe blickte schnell zur Seite und bestätigte Antonios Frage mit einem verschluckten »Mhm«. Er hatte tatsächlich auf meine Schenkel gestarrt!

Bevor ich rot anlief, drängte ich beide in den Garten, wo Emilia und Stefano auf uns warteten. Wie immer entwickelte sich die Suche zu einem Wettstreit, wer die meisten Geschenke finden würde. Da ich mir dieses Mal besondere Mühe gegeben hatte, erwachte bei den Jungs ihr angeborener Jagdinstinkt. Mit Hingabe versuchten sie, meine verschlüsselten Botschaften zu enträtseln. Jeder Hinweis brachte sie Schritt für Schritt näher an ihr Ziel. Letztendlich errang Stefano den Ehrentitel des besten Ostersuchers, und wir beschlossen, frühzeitig nach Sulmona aufzubrechen.

Der Andrang auf der Piazza war enorm. Trotz seiner Größe füllte sich der Platz rasch. Unablässig strömten Menschen aus den umliegenden Straßen und drängten die anderen dichter zusammen.

Obwohl ich Emilias dünnes Kleid trug, geriet ich ins Schwitzen. Es hatte seine Gründe, warum ich lieber zu Hause geblieben wäre – ich hasste Menschenansammlungen. Das Geschiebe und Gedränge an Bushaltestellen oder im Zug reichte aus, um ein flaues Gefühl in meiner Magengrube hervorzurufen.

Ich blendete die Frage, wie viel Tausend Menschen wohl um mich herumstanden, aus und konzentrierte mich auf meine Freunde neben mir und das beginnende Schauspiel.

Eine breite Schneise teilte die Massen und schuf eine Gasse für die Akteure. Langsam wurden die wertvollen Statuen der Heiligen neben der gepeinigten Madonna aus der Kirche getragen. Den gemäßigten Schritten der Träger folgend, stimmten die Zuschauer mit ein – wie eine rhythmische Woge, die über den Platz brandete. Auch ich wurde von der Begeisterung mitgerissen und fügte mich dem vorgegebenen Takt.

Die Heiligen entdeckten den wiederauferstandenen Jesus und versuchten, die Madonna aus ihrer Trauer zu erwecken. Sie wehrte ab, bis sie ihren Sohn schließlich selbst erblickte.

Die ersten Schritte der Ordensbrüder, die die Marienstatue über den Platz trugen, an dessen Ende ein Abbild Jesu wartete, spiegelte die Ungläubigkeit Marias wider: Zögernd schritt sie voran. Die Masse folgte ihrem langsamen Rhythmus, beschleunigte ihn und trieb die Madonna vorwärts.

Ich fühlte die Aufregung der Gläubigen um mich, die Marias Erkenntnis entgegenfieberten. Die Anspannung wuchs, da die Träger sich dieses Jahr besonders viel Zeit ließen. Immer dichter schob sich die Welle der wogenden Menschenmenge der Marienstatue entgegen, spornte sie an, endlich den sichtbaren Beweisen Glauben zu schenken.

Eine ungeduldige Gruppe zwängte sich an uns vorbei und trennte mich von meinen Freunden. Ich wollte zurück, doch der kurz bevorstehende Lauf der Madonna heizte die Euphorie der Besucher an. Immer weiter trennte mich die nach vorn strömende Masse von ihnen, quetschte mich zwischen den Leibern fremder Menschen ein und zog mich mit sich.

Ich rief nach Emilia und Philippe, aber mein Hilferuf ging im allgemeinen Trubel unter. Mein Magen zog sich zusammen, als ich erkannte, dass ich wohl nicht mehr so schnell zu ihnen zurückfinden würde. Panik breitete sich in mir aus, trieb meinen Puls in die Höhe und zwang mich zu einem hyperventilierenden Keuchen. Schon flimmerte schwarzer Nebel in meinem Blickfeld. Entsetzt wehrte ich mich gegen seinen Zugriff. Ich musste die Kontrolle über meinen Körper behalten, um nicht von der Masse erdrückt zu werden, wenn sie beim Fall des schwarzen Trauermantels der Marienstatue mit ihr liefen.

Obwohl ich dagegen kämpfte, schoben sich furchteinflößende Bilder vor meine Augen. Hunderte Menschen drängten auf mich zu, drückten mich zu Boden und überrannten mich. Ich fühlte kantige Ellbogen und knochige Arme, die meine Rippen zu durchbohren schienen; spürte derbe Sohlen und spitze Absätze, die auf meinem Körper herumtrampelten. Ich schrie – der Schmerz war real.

Im selben Moment, in dem die Marienstatue ihren Mantel verlor und ihre Träger mit ihr nach vorne stürmten, wurde ich zu Boden gestoßen. Mein verzweifelter Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, scheiterte kläglich. Der Höhepunkt der settimana santa zog alle in ihren Bann.

Ein derber Tritt in die Rippen raubte mir den Atem. Der schwarze Nebel weitete sich aus und verdichtete sich zu einem dunklen Abgrund, aus dessen Tiefe unzählige, weiß gebleichte Totenhände emporragten, um mich hinabzuziehen. Kurz bevor sie mich zu fassen bekamen, umhüllte mich der Duft eines Sommergewitters und mit ihm kehrte meine Erinnerung zurück. Schlagartig und vollständig!

Christopher!

All meine Gedanken waren auf ihn gerichtet. Mit jeder Faser spürte ich seine berauschende Nähe. Er war kein Traum, er existierte! Und er war hier. Bei mir.

Ich ließ meinen Blick entlang der zurückweichenden Menschen schweifen, die mit gebührendem Abstand einen Kreis um mich gebildet hatten und entsetzt auf mich herabstarrten. Er war nicht unter ihnen!

Mit einem tiefen Atemzug sog ich die Luft ein – deutlich nahm ich ihn wahr. Er musste in meiner Nähe sein! Dann dämmerte mir die Wahrheit und mit ihr kehrten auch all meine Gefühle zurück, die ich empfand, als er mich der Totenwächterin überlassen hatte. Ich krümmte mich vor Schmerz. Die unerwartete Erinnerung überstieg meine Kräfte. Er war hier – und doch unerreichbar!

Philippe, gefolgt von Emilia und Stefano, zwängte sich durch die Reihen. Besorgt kniete sich Philippe neben mir auf den Boden.

»Lynn! Bist du verletzt? Hast du Schmerzen?«

Trotz meiner quälenden Erinnerungen schüttelte ich den Kopf. Was meine äußere Hülle betraf, war ich unversehrt.

»Nein. Es ist alles in Ordnung«, log ich.

Philippe zog mich auf die Beine und legte mir einen Arm um die Taille – was ich dankbar annahm –, bevor ich noch einmal einen tiefen Atemzug wagte. Christophers Duft war noch immer präsent und doch trennte mich eine Welt von ihm.

In meinen Augen sammelten sich Tränen. Philippes Blick heftete sich auf mich. Meine Reaktion drängte ihn zum Handeln.

»Ich bringe dich heim – in Sicherheit«, flüsterte er mir beruhigend ins Ohr.

Souverän wie ein Bodyguard führte er mich durch die sich teilende Menschenmenge. Meine Freunde folgten uns. Niemand sprach. Erst auf der Rückfahrt wagte Emilia ein paar aufmunternde Worte.

Bei mir zu Hause angekommen, sorgte Philippe für Ruhe, schickte die anderen weg und kümmerte sich um meine Schürfwunden.

»Ich bleibe bei dir, bis deine Eltern zurückkommen.«

»Das ist wirklich lieb von dir, Philippe. Aber inzwischen geht’s mir schon wieder besser.«

»Keine Chance, ich warte!«

Ich seufzte, da ich allein sein wollte, und änderte meine Taktik.

»Ich möchte mich ein bisschen hinlegen – und dabei würdest du nur stören. Oder willst du mir etwa zusehen, wie ich in meinem Bett schlafe?«

Philippe errötete. Er kannte mich gut genug, um den Wink zu verstehen.

»Ich geh ja schon. Aber du musst mir versprechen, anzurufen, wenn du wieder wach bist.« Kurz vor der Tür kramte Philippe ein kleines Päckchen aus seiner Hosentasche. »Übrigens, ich hab da noch was für dich – zu Ostern und als Ersatz für das Armband.«

Ein wenig verlegen nahm ich das Geschenk entgegen und öffnete die schmale Schachtel. Ein zierliches Madonnenbild an einer silbernen Kette kam zum Vorschein.

»Es ist zwar nicht das Medaillon eines Engelpapstes, doch dafür ist die Jungfrau Maria drauf.«

»Engelpapst?«

Philippe schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast wohl noch nicht viel von der Gegend mitbekommen, in der du lebst. Der Anhänger an der Kette, die ich dir zum Abschied geschenkt hab, soll von Pietro del Murrone sein. Der sagt dir hoffentlich was.«

»Klar.« Wie jeder hier kannte ich die nahezu unerreichbare Festung in der steilen Felswand über Sulmona, in die sich der Einsiedler vor achthundert Jahren zurückgezogen hatte.

»Er war mal Papst – mehr oder weniger freiwillig – und konnte angeblich heilen. Deshalb hielten die Leute ihn für einen Engel.«

Ich atmete erleichtert auf – das war schon lange her. Ein Engel genügte mir im Augenblick.

»Danke, Philippe. Für alles. Jetzt hast du mich schon zweimal gerettet.«

»Schon gut. Ich spiele gern den Lebensretter. Außerdem finde ich die Madonna hübscher als den Coelestin-Engel.«

Coelestin?! Wie der Schulleiter? Meine Anspannung stieg. Er war wirklich ein Engel – wie Christopher. Kaum hatte ich die Tür hinter Philippe geschlossen, stürmte eine Bilderflut auf mich ein, die – so absurd sie auch war – nur aus meinen Erinnerungen stammen konnte.

Ich sah Coelestin und die Engelsschule. Susan, Paul, Markus und all die anderen. Aron, der sich mit der Totenwächterin unterhielt. Und Christopher. Wie er in der Kapelle vor mir stand und versuchte, mir mit seiner Engelsgestalt Angst einzujagen. Es hatte nicht funktioniert, und er hatte akzeptiert, dass ich ihn liebte, bis er herausfand, dass ich gar kein Engel war. Er gab mich auf und überließ mich der Totenwächterin.

Meine Knie gaben nach. Unzählige Male durchlebte ich den Abschiedsschmerz und beschwor Christopher, mich nicht zu verlassen, bevor ich erneut in der Hölle der Wächterin versank.

Schließlich erlöste mich mein Verstand: Ich hatte Christopher wahrgenommen! Er war in meiner Nähe gewesen. Er hatte mich beschützt! Auch wenn er mich – laut meinem Gedächtnis – aus seiner Welt verbannt hatte, so war er doch bei mir gewesen. Als mein Schutzengel! Und das nicht nur heute.

Ich schöpfte Hoffnung. Wenn Christopher tatsächlich mein Schutzengel war – und das, was ich glaubte als meine Erinnerungen wiedererkannt zu haben, kein Fantasiegespinst –, dann müsste er auch jetzt in meiner Nähe sein.

Bis zum letzten Rest leerte ich meine Lungen – mein nächster Atemzug sollte so intensiv wie möglich sein. Der Gedanke an seinen Duft weckte vergessene Gefühle in mir, bis die Realität mich aus meinen Träumen riss: nicht die geringste Spur von Sommergewitter.

»Verdammt, wo steckst du? Ich weiß, dass du da bist.« Langsam wurde ich unruhig – und führte weitere Selbstgespräche. Genau genommen waren es ja keine.

Wie ein jagendes Raubtier lief ich durch das Haus und schnupperte in jeden Winkel. Selbst im Garten suchte ich nach seiner Fährte. Fehlanzeige! Schließlich gab ich auf. Zitternd stand ich auf der Terrasse und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Ein nach Sommerregen duftendes Parfum in der Menschenmenge gerochen und es auf mein Traumbild projiziert?

Waren meine wiederaufgetauchten Erinnerungen Wirklichkeit oder doch nur Illusion?

Wurde ich langsam verrückt?

Wie auch immer. Ich musste wissen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Geistererscheinung im Wald, meinen Träumen und den merkwürdigen Erinnerungen gab. Also wischte ich mir die Tränen aus den Augen und sortierte meine Gedanken: Ich war überzeugt, einem Engel begegnet zu sein – und nicht nur einem! Ich glaubte, für eine gewisse Zeit in ihrer Welt gewesen zu sein. Dort hatte ich gelebt, gegessen, geschlafen, gelernt, neue Freundschaften geschlossen und mich unsterblich in einen von ihnen verliebt: in Christopher!

Mein Herz zog sich zusammen. Ich liebte ihn. Und ich wusste, dass nichts auf dieser Welt das je ändern würde. Aber was war mit ihm? Brachte er mir dieselbe Zuneigung entgegen? Liebte Christopher mich?

Für einen beängstigend langen Augenblick setzte mein Herz aus, bevor es mit einem dumpfen Schlag weiterpochte. Und wenn nicht? Was, wenn er anders empfand? Er hatte mich der Totenwächterin übergeben, nachdem sie entdeckt hatte, dass ich kein Engel war – als er festgestellt hatte, dass ich ihm nicht ebenbürtig war. Diese Erkenntnis bohrte sich in mein Inneres wie der Dolch, der die Marienstatue peinigte – ich genügte ihm nicht!

Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte und sich mir eine weitere Frage aufdrängte: Warum hatte er mich dann beschützt? Es konnte unmöglich irgendein Parfum gewesen sein, das ich auf der Piazza gerochen hatte. Mit dem Duft, mit seinem Duft, war meine – wie auch immer geartete – Erinnerung zurückgekehrt, und ich sträubte mich zu glauben, dass es Zufall war.

Christopher hatte mich vor der aufgebrachten Menschenmenge beschützt und sie daran gehindert, mich niederzutrampeln.

Ein beängstigendes Gefühl breitete sich in mir aus, als mir klar wurde, wie nah ich dem Tod gewesen war. Auf der Terrasse war es plötzlich eisig kalt, und ich beschloss, ins Haus zu gehen, um mich aufzuwärmen. Noch einmal versuchte ich, seinen Duft zu erschnuppern – erfolglos.

War es mir nur möglich, ihn wahrzunehmen, wenn ich mich in Gefahr befand? In Lebensgefahr?

Ich verdrängte den Gedanken, doch er stahl sich zurück. Hatte Christopher die Menge aufgehalten? War er mir deshalb nähergekommen als sonst? War das die Lösung?

Ganz von selbst suchte ich nach Möglichkeiten, die ihn dazu bewegen konnten, mich aus nächster Nähe zu beschützen. Drachenfliegen wie Stefano – dazu war ich, wie ich nach meinem Kurs im letzten Sommer wusste, zu feige. Eher würde ich eine waghalsige Klettertour in den Bergen unternehmen. Vielleicht konnte ich vor ein Auto oder einen Bus laufen oder mich mit dem Fahrrad auf die Straße wagen. Bei der italienischen Fahrweise wäre es nicht allzu schwierig, sich in Gefahr zu bringen.

Eine Gänsehaut überzog mich, als mir klar wurde, worüber ich gerade nachdachte. Ich spielte mit meinem Leben! War ich noch zu retten? Dachte ich ernsthaft darüber nach, mich in den Tod zu stürzen?

Eine Träne lief über mein Gesicht. Ich liebte Christopher und wünschte mir nichts sehnlicher, als bei ihm zu sein, aber ich liebte auch meine Eltern und meine Freunde. Ich würde sie für immer verlieren. Wollte ich das? War ich dazu wirklich bereit? Hatte Christopher mich gerettet, weil er wusste, dass der Abschied für mich zu früh gekommen wäre? Weil er wusste, dass die Ewigkeit auf uns wartete? Oder dass es keine gemeinsame Zukunft für uns geben würde?!

Meine Verzweiflung wuchs. Liebte er mich überhaupt, oder hatte er nur seine Pflicht als Schutzengel erfüllt? Weitere Tränen sammelten sich in meinen Augen. Es gab nur einen, der meine Fragen beantworten konnte – und der wollte sich nicht zeigen!

Doch ich war nicht bereit zu warten, bis er es für angebracht hielt, mich aufzuklären. Ich hatte ihn schon einmal gefunden und würde ihn wieder finden: den Zugang zum Schloss der Engel.