11. Der Zauberer von Oz
Der Mann hat immer schon bewiesen, dass er für Großes bestimmt ist. Er kommt immer an die Spitze, sei es wegen seines sechsten Sinnes in Geschäftsfragen, sei es wegen seiner guten Menschenkenntnis. Er kann jede Gewinnbeute kilometerweit wittern und er spielt auf den Leuten wie auf einer Fiedel, indem er die Saiten ihres Egos zupft.
Er hat die
Kooperative aus einem Luftschloss zu einem weltweiten Machtfaktor
gemacht, den niemand herauszufordern wagt. Nur zu gerne würde er
seine Erfolgsgeschichte seinen Kritikern ins Gesicht schleudern –
denjenigen, die ihm kein Anfangskapital geben wollten und –
schlimmer – die ihn auslachten und ihm Misserfolg voraussagten.
Aber noch ist die Zeit dafür nicht gekommen. Er wird sein Imperium
ausbauen, bis die Zeit reif ist. Jeder Obstbaum hat eine Saison, in
der seine Früchte am süßesten sind.
Der Mann rückt seine Brillen mit dem auffälligen grünen Drahtgestell zurecht und liest den Bericht über die reizende, aber jämmerliche Partnerschaft zweier Unbekannter: SR Inc. und Dr. Amanda Webber. Er findet die Geschichte unterhaltsam, beinahe interessant. Er wird den Fall studieren und herausfinden, wie ihre Schwächen und Egos beschaffen sind. Es ist klar, dass er sie auf seine Seite ziehen wird, so wie alle anderen. Marcus Waller erscheint besonders attraktiv, wegen seiner »mysteriösen« öffentlichen Erscheinung. Er kann nur sehr wenig über ihn ausfindig machen, aber er hat das Gefühl, dass Marcus ihm sehr ähnelt. Aus eigener Kraft emporgekommen durch besondere Fähigkeiten – aus demselben Holz geschnitzt wie er …
19. März 2014
Indonesien
Ein lästiges Summen weckt Mandi. Sie schlägt nach den Moskitos und legt sich den Arm auf die Stirn. Als sie die Augen öffnet, sieht sie schwaches Licht, das von einer Laterne am Fenster in ihren Raum fällt. Von draußen vor der Hütte dringt das Gemurmel der Männer herein.
Mandi fühlt sich etwas besser als vor dem Schlaf, aber immer noch sehr niedergeschlagen. Und vor allem sehr durstig. Mühsam erhebt sie sich langsam und streift sich den Schmutz von der Kleidung. Sie geht zum Fenster und ruft nach Wasser.
Nach einem kurzen Schweigen bellt einer der Männer einen Befehl. Mandi hört jemanden laufen, dann ist es wieder still, mit Ausnahme des Summens der Moskitos. Eine kleine Wolke der Insekten schwirrt um die Laterne und Mandi spürt sie auf der Stirn, auf Armen und Beinen. Ein Mann in Militärkleidung reicht ihr eine Flasche mit Wasser durch das Fenster.
Mandi schüttet fast das ganze lauwarme Wasser in sich hinein. Ihr Kopf wird etwas klarer. Sie setzt sich auf den Boden, kratzt ein kleines Häufchen Staub zusammen und nimmt es auf ihre linke Handfläche. Dann schüttet sie vorsichtig etwas Wasser dazu und mischt daraus eine dicke Schlammpaste. Die schmiert sie sich auf ihre Arme und Beine und ins Gesicht.
»Fast so gut
wie echter Insektenschutz«, murmelt sie vor sich
hin.
Da geht die Tür auf, und ein Mann kommt herein. Ein paar Sekunden lang steht er vor ihr und runzelt die Stirn vor Erstaunen und Abscheu über den Dreck in ihrem Gesicht. Dann reicht er ihr eine Schale Reis und geht wieder.
»Ich kenne ihn.« Mandi schließt die Augen und denkt angestrengt nach. »Wo … Bahtera Hotel – das ist es! Ich bin ganz sicher, das ist der Mann, der im Whirlpool war. Was geht da vor … der Knall, die Schlange, der ‚Biss‘ – Pfeil – oder was auch immer das war – der Mann aus dem Bad, der zufällig hier ist …«
Mandi fragt sich, wie weit sie gehen werden, um sie auszuschalten. Mit der Hand streicht sie über die geschwollene Stelle am Oberschenkel.
Während Mandi in der Hütte ihren Reis isst, sitzen Marcus, Maria und Barry an einem mit einem teefleckigen Linoleumtuch bedeckten Tisch in der Kantine der Senaggin-Mine. Asep, der mit ihnen isst, sieht besorgt drein. Er hat Mandi nicht gesehen.
In gebrochenem Englisch erzählt er, dass er vor ein paar Tagen von ihr angerufen worden ist. Sie sagte, sie würde sich kurz vor ihrer Ankunft noch einmal melden, aber er hat seitdem nichts mehr von ihr gehört. Asep nimmt an, dass Mandi bei der Anlage im Dschungel ist, aber er spricht darüber nicht mit Marcus und den anderen. Er spricht nur über Mandis Projekt im Bergwerk.
Die Blicke, die Marcus, Maria und Barry wechseln, machen ihm klar, wie besorgt sie sind. Aber auch er ist besorgt und er hat allen Grund dazu! Jeder weiß, dass es strengstens verboten ist, sich der Anlage zu nähern. Um die Anlage ranken sich Geheimnisse und Geschichten. Einiges von dem, was man sich erzählt, so denkt Asep, ist wahrscheinlich erfunden. Aber die Geschichten erfüllen ihren Zweck: Sie halten die Leute von der Anlage fern und sie helfen den Leuten hier, die Zeit totzuschlagen. Manchmal sind die Abende sehr lang in der abgelegenen Mine.
Von zwei Geschichten weiß Asep, dass sie wahr sind, weil er selbst Zeuge war. Und das sind die Geschichten, über die er jetzt spricht. Es waren zwei Personen – Leute wie Mandi –, die in den Dschungel gegangen sind und niemals wiederkehrten. Asep bittet Allah, Mandi sicher wiederzubringen.
Marcus beobachtet, wie Maria Asep in ein Gespräch verwickelt. Im Gegensatz zu Sarif, dessen klare Absicht es war, sie so schnell wie möglich von der Mine wegzubringen, scheint Asep ihnen bei der Suche nach Mandi helfen zu wollen.
»Asep, können Sie uns bitte zu der Anlage im Dschungel führen? Wir müssen dorthin«, sagt Maria.
Marcus blickt sie scharf an. Warum fragt sie ihn das? Vielleicht weiß Asep gar nichts über die Anlage! Will sie ihren gesamten Plan preisgeben, noch bevor sie die involvierten Firmen in die Ecke getrieben haben? Sie können nur dann mit ihnen verhandeln, wenn sie sie in flagranti ertappen. Wenn die Firmen wissen, dass sie kommen, können sie ihre eigene Geschichte präsentieren und den Spieß umdrehen. Dann könnte es ihnen vielleicht sogar gelingen, alle Spuren zu verwischen und woanders weiterzumachen. Mandi ist zufällig auf diese Anlage gestoßen, aber wie könnte man sie wiederfinden, wenn sie woandershin verlegt würde? Und können sie überhaupt sicher sein, dass nicht jetzt schon woanders ähnliche Anlagen existieren?
Maria ignoriert Marcus und blickt gespannt auf Asep, dessen Augen bei dieser überraschenden Frage weit geworden sind.
»Nein. Nicht … gehen«, stammelt Asep. »Gefahr … wir gehen Tanggar, aber nicht …«
»Können wir unsere Passierscheine für die Mine heute Abend bekommen?«, fährt Maria fort. »Wir wollen sichergehen, dass wir alle Vorschriften der Mine einhalten. Wir wollen nichts tun, was wir nicht tun sollten, aber es ist wichtig, dass wir zu der Anlage gelangen.«
33 Siehe XPERTEN: Der Paradoppelgänger.
Später fragt Marcus Maria,
wie sie erraten konnte, dass Asep von der Anlage weiß. Sie runzelt
die Stirn und schüttelt den Kopf. Sie erinnert Marcus an das
Gespräch mit Mandi, als sie auf Great Barrier Island
waren.
»Erinnere dich doch!«, sagt Maria. »Mandi sagte, hier gebe es keine Geheimnisse. Jeder weiß über alles Bescheid. Wahrscheinlich ist es richtiger zu sagen, dass fast jeder fast alles weiß. Nur Terry ist eine Ausnahme. Er weiß nichts davon, weil es ihn nicht betrifft. In seiner Welt dreht sich alles um Verträge und Produktion. Aseps Welt ist hier, im Dschungel. Er arbeitet hier seit mehr als zehn Jahren. Wie könnte er da nichts über die Anlage wissen!«
Marcus sieht
seine Frau an und lächelt. Sie sind ein großartiges Team. Nicht
nur, dass sich ihre Parafähigkeiten ergänzen – manchmal führt sie
mit ihrer Parasicht seine Pseudohände –, auch ihre Persönlichkeiten
sind ineinander verwoben. Sie ist außergewöhnlich empfindsam,
während er in Strategie und Forschung brilliert.
SR Inc. hat unter der Führung von Marcus im Bereich der elektromagnetischen Forschung in den letzten zweieinhalb Monaten einen großen Sprung nach vorne gemacht. Schon damals, vor mehr als einem Jahrzehnt, als sie die e-Helper auf ihre emittierte Strahlung testeten, war Marcus sofort von diesem Forschungsfeld fasziniert. Ursprünglich wollte er diese Forschung weiterführen und auch alltägliche elektrische Haushaltsgeräte testen, aber es kam anderes dazwischen. Mit dem Erscheinen ihrer e-Helper auf dem Markt hat sich in seinem Leben und im SR Inc. Forschungslabor eine intensive Geschäftigkeit entwickelt. Und dann wurde seine Aufmerksamkeit und die von Klaus ganz von ihrer Erforschung des Silatraviats in Anspruch genommen33.
Mit Mandis Entdeckung der raubkopierten e-Helper kann Marcus allerdings die Erforschung des Phänomens Elektrosmog nicht mehr länger hinausschieben. Es liegen handfeste Beweise eines Bruchs ihres Patentrechts vor. SR Inc. hält das Patent an den e-Helpern und Marcus ist im Besitz von zwei Geräten, die nicht von SR Inc. produziert wurden.
Die Folgen der raubkopierten e-Helper sind vielfältig. Finanziell gesehen läuft SR Inc. Gefahr, ein Segment des Telekommunikationsmarktes an Raubkopierer zu verlieren. Marcus wagt es kaum abzuschätzen, welchen Prozentsatz des Umsatzes sie schon bisher an nachgemachte e-Helper verloren haben. Allein der indonesische Markt umfasst fast eine Milliarde Menschen! Wie viele andere Länder importieren wissentlich oder unwissentlich die Raubkopien?
Noch viel
schlimmer als die finanziellen Einbußen sind allerdings die
gesundheitlichen Folgen. Die Raubkopien emittieren wesentlich mehr
elektromagnetische Strahlung als die Originale von SR Inc. Die
Untersuchungen zeigen, dass es gefährliche Strahlungsmengen sind,
die bei Laborraten und Affen eine Reihe von Symptomen hervorrufen
können. Obwohl die Versuchsreihen noch nicht abgeschlossen sind,
kann man jetzt schon sagen, dass elektrosensitive Versuchtiere
vermehrt mit Symptomen wie Hautausschlägen, schweren Kopfschmerzen,
Unfruchtbarkeit und epilepsieartigen Anfällen reagieren. Zwar sind
nur die wenigsten ihrer Versuchstiere elektrosensitiv, aber auch
bei den scheinbar »nichtreagierenden« Tieren besteht der Verdacht,
dass sie ebenso betroffen sind, jedoch keine offensichtlichen
Symptome zeigen. Für Marcus ist dieser Mangel an offenkundigen
Reaktionen besonders heimtückisch und beunruhigend, denn bei den
Tieren ist sehr wohl eine durchschnittlich reduzierte Fruchtbarkeit
nachweisbar und auch Abnormitäten auf Zellebene. Alles
scheint normal zu sein, aber es gibt viele
Veränderungen des Körpers, die ohne sichtbare Symptome vor sich
gehen!
Marcus graut es bei dem Gedanken daran, was mit den Leuten passiert – besonders elektrosensitiven –, die die raubkopierten e-Helper benutzen!
Die letzten beiden Monate haben Marcus und Klaus buchstäblich im Labor von SR Inc. gelebt. Die Auswertung der Messungen an den Raubkopien ist alles andere als erfreulich, aber konsistent. Zudem zeigen die vorläufigen Ergebnisse, dass der kombinierte Effekt der e-Helper mit alltäglichen Haushaltsgeräten besonders hoch ist – kritisch hoch! Auf diesen Bereich hat sich auch Mandi in ihren Arbeiten konzentriert.
Die vorläufigen Resultate von Mandis Untersuchungen sind konsistent mit den Ergebnissen von SR. Inc. Das bedeutet, dass von zwei unabhängigen Labors Daten vorliegen, die eine Auswirkung auf das Leben Tausender, Millionen von Menschen haben. Millionen von Menschen leben Tag für Tag inmitten eines hochgefährlichen Cocktails von elektromagnetischer Strahlung …
Während Marcus, Maria und Barry von Asep ihre Passierscheine für das Bergwerk entgegennehmen, ändert Dave seine Flugpläne so weit, dass er am nächsten Tag zum Fluss nahe bei der Dschungelanlage fliegen kann. Er kann es nicht riskieren, sofort aufzubrechen, denn es ist eine mondlose Nacht und der Fluss ist unbeleuchtet. Er könnte nicht sicher sein, dass er mit seinem Wasserflugzeug bei der Landung nicht in ein kleines Boot oder in ein Kanu kracht. Elly hat ihm erzählt, dass es bereits einen Toten am Fluss gegeben hat – der alte Mann, der ihnen geholfen hat. Dave will weitere Opfer vermeiden – egal, ob durch Unfall oder auf andere Weise.
Dave ist müde, aber trotzdem kann er nicht schlafen. Das letzte Mal, als er in seinem Bett geschlafen hat, lag Mandi neben ihm. Sie hat sich an ihn geschmiegt und gelegentlich einen Arm oder ein Bein über ihn gelegt, während sie nach der Liebe entspannt plauderten. Er vermisst die Wärme ihres Körpers und die Zärtlichkeit ihrer Küsse. Er erinnert sich an das Gefühl ihres regelmäßigen, warmen Atems auf seiner Brust, nachdem sie eingeschlafen war. Auch wenn sie nur kurz schlafen konnten, bevor sie durch seinen Wecker geweckt wurden, war der Schlaf doch tief und erholsam. Er hatte sich seit Jahren nicht so frisch gefühlt!
Dave denkt an
die letzten zwei Jahre zurück. Die Dinge geschahen überraschend und
doch hatte er jetzt das Gefühl, dass das Richtige geschehen war. Es
war, als ob ein Teil von ihm endlich am Ziel angekommen wäre. Er
denkt an Mandis wunderschöne blaugrüne Augen. Sie leuchteten, als
sie von ihrer Forschung erzählte, und sie weinten, als sie von
ihrer Fehlgeburt sprach. Sie ist so voll Energie und Leidenschaft,
etwas, das er seit dem Tod seiner Frau nicht mehr gekannt
hat.
Dave ist nicht lange allein geblieben nach dem Tod seiner Frau. Viele indonesische Frauen besuchten ihn, kochten für ihn und boten ihm ihre Gesellschaft an. Aber er lehnte alle ihre Angebote ab, bis es die Frauen schließlich aufgaben und ihn allein ließen.
Dave war bewusst, dass er seinen Lebenshunger verloren hatte. Eine Weile dachte er, der Appetit auf Liebe würde mit der Zeit von selbst zurückkommen, aber je mehr er versucht hatte, etwas – irgendetwas – zu fühlen, desto flüchtiger wurden seine Gefühle. Nach einem halben Jahr der vergeblichen Versuche Emotionen heraufzubeschwören gab er es auf und fand sich damit ab, dass die gefühlsmäßige Abstumpfung bleiben würde. Das Leben ging weiter und er flog mehr denn je zuvor. Er weitete seine Geschäfte aus und war viel auf Reisen. Dann kam Mandi in sein Leben, eine angeblich verirrte Wanderin im Dschungel. In den letzten 36 Stunden hat er mehr empfunden als in den zwei Jahren davor. Er kann Mandi nicht verlieren!
An diesem Abend hat Dave wegen der Dschungelanlage herumgefragt. Bei dem, was er hörte, hätte er sich am liebsten die Ohren zugehalten und geschrien. Mandi hatte Recht! Es wurden dort tatsächlich illegal e-Helper hergestellt.
Jeder – auch er selbst – weiß von der Anlage bis zu einem gewissen Grad. Er hat Leute und Geräte dorthin gebracht und er ist sicher, dass enorm viel Geld dahinter steckt. Seine Kunden aus den großen Städten, die er hingebracht hat, zahlen ihm dreimal mehr als seinen normalen Tarif. Im Gegenzug spricht Dave zu niemandem über diese Flüge.
Dave sieht seinen e-Helper an; er hat ihn vor Jahren in Palankaraya gekauft. Da es sich um eine Raubkopie handelt, gibt er wahrscheinlich eine gefährliche Menge von e-Smog ab. Dave denkt an Mandis Worte – es ist ihm nicht wohl bei dem Gedanken, dass sich in seinem Körper abnormale Zellaktivitäten abspielen, ohne dass er davon etwas merkt – ohne jedes Symptom.
Er hat Mandi versprochen, dass er sich das nächste Mal, wenn er nach Singapur kommt, einen legalen, »sicheren« e-Helper kaufen wird. Aber er lebt in einer Stadt, die voll von illegalen e-Helpern ist, die alle e-Smog abstrahlen. Was wird es ihm nutzen, wenn nur sein e-Helper innerhalb der »empfohlenen« Werte bleibt?
Mandi und Marcus halten den Schlüssel – ihre Daten – in ihren Händen, um die Gesundheit von Millionen von Menschen positiv zu beeinflussen. Über diese Daten spricht Mandi mit Ehrfurcht. Obwohl sie es nie erwähnt hat, nimmt Dave an, dass ihre große, schwere Handtasche einen Großteil dieser Unterlagen enthalten muss, wenn nicht sogar alle. Sie nennt den Inhalt der Tasche »ein wenig leichte Literatur für den Flug«, aber er weiß es besser. Er kann sich vorstellen, dass diese Informationen eine wesentliche Rolle bei der Aufdeckung der Anlage spielen werden.
Dave fürchtet, dass Mandi für ihr Wissen einen hohen Preis bezahlen wird. Das einzige Beruhigende ist, dass sie nicht allein damit ist – auch SR Inc. ist im Besitz dieser Informationen. Es ist leicht, eine einzelne Stimme zum Schweigen zu bringen, aber es ist ungleich schwieriger, Anschuldigungen abzuschmettern, die aus mehreren Richtungen kommen.
Dave kann immer noch nicht schlafen, also steht er auf. Zur Ablenkung gräbt er den kleinen Gemüsegarten hinter seinem Haus um, fast bis zum Sonnenaufgang. Die körperliche Arbeit befreit seinen Geist und baut die Spannungen ab.
Bei
Tagesanbruch verlässt er sein Haus. Sein müder, aber dennoch
entschlossener Gesichtsausdruck entspannt sich, als er Elly und Eko
sieht, die geduldig bei seinem Wagen auf ihn warten. Elly spricht
ein paar Worte mit Eko, der zu ihr aufblickt und nickt. Sie halten
sich kurz an den Händen, dann lässt Eko los und entfernt sich ein
paar Schritte vom Auto. Elly hebt abwehrend die Hand gegen Dave und
schüttelt den Kopf. Am Abend zuvor hatten sie eine heftige
Diskussion; Dave will nicht, dass Elly mit in den Dschungel kommt,
es ist zu gefährlich für sie. Aber Elly besteht darauf und Dave
weiß, dass er sie nicht umstimmen kann. Also steigen sie beide in
den Wagen und fahren zum Fluss zu seinem
Wasserflugzeug.
Der Morgen ist nebelig und dichter Dunst verzögert ihren Abflug. Ungeduldig geht Dave in seinem kleinen Büro auf und ab. Nach einer Stunde löst sich der Nebel endlich auf und sie heben ab in Richtung Tanggar.
An diesem Morgen fährt auch Asep nach Tanggar,
aber viel früher, als sie am Abend zuvor ausgemacht haben. Schon um
4:20 Uhr erscheinen Marcus, Maria und Barry bei Aseps Zimmer und
bestehen darauf abzufahren. Asep ist verärgert, aber er kann das
Drängen verstehen. Auch er hat schlecht geschlafen, denn es ist ihm
bewusst, dass Zeit ein wesentlicher Faktor ist, wenn sie Mandi
helfen wollen.
In fünfzehn Minuten hat Asep geduscht und sein Morgengebet verrichtet und schon sind sie auf dem Weg nach Tanggar. Asep denkt nostalgisch an das letzte Mal zurück, als er diese Strecke gefahren ist. Es war mit Mandi und sie haben die ganze Zeit Indonesisch geübt. Asep mag Mandi. Sie ist anders. Sie will die indonesische Sprache verstehen, die Kultur und Lebensart.
Daves Landung
nahe der Dschungelanlage bleibt nicht unbemerkt. Einer von Sarifs
Männern ruft Sarif an und fragt, was zu tun sei. Sarif lächelt über
die zeitgerechte Ankunft Daves. Sarif und Mandi brauchen sowieso
einen Flug. Jetzt haben sie sowohl ein Flugzeug als auch einen
Piloten. Er hätte es nicht besser arrangieren
können.
»Geh zu ihm und bring ihn hierher«, sagt Sarif. »Beide?«, fragt der Mann. »Was heißt beide?«, schnappt Sarif verärgert zurück. »Na, den Piloten und die Frau?«
»Elly …«, seufzt Sarif. »Ja, beide!«
Dave ist zwar größer als die indonesischen Männer, die ihm entgegentreten, aber sie sind in der Überzahl und bewaffnet. Die Männer fesseln Dave und Elly die Arme auf dem Rücken und knebeln sie. Zwei Jeeps, jeweils mit mindestens einem halben Dutzend bewaffneter Männer an Bord, eskortieren ihren Wagen durch den Dschungel. Auf dem Weg zur Anlage begegnen ihnen viele mit Kisten und Containern beladene Fahrzeuge, die anscheinend zum Fluss unterwegs sind. Beim Landeanflug hat Dave mehr Schnellboote als sonst gesehen und jetzt weiß er, warum. Die Anlage wird übersiedelt. Als sie sie erreichen, stellt er fest, dass sie schon weitgehend geräumt und verlassen ist.
»Gerade rechtzeitig«, sagt Sarif zu Dave. »Wir müssen nach Java fliegen. Hast du genug Sprit?«
Dave schüttelt langsam den Kopf. Er hofft Zeit zu gewinnen, indem er fürs Auftanken einen Umweg machen muss. Er sieht auf Elly, die trotzig dasteht und mit scharfem Blick die Hütten ringsum mustert. Sie nickt leicht in die Richtung zu ihrer Rechten.
»Sehr gut, Elly«, sagt Sarif zynisch. »Dort ist Mandi. Du weißt noch genau, wo unser Verließ ist.«
Elly unterbricht ihn mit einem verächtlichen Zischen durch ihren Knebel hindurch. In seinem Wutausbruch wechselt Sarif ins Indonesische. »Unterbrich mich nicht!«, brüllt er sie an und versetzt ihr einen Schlag ins Gesicht, sodass sie rücklings zu Boden fällt.
Dave prescht vor, um Sarif seinen Kopf in den Bauch zu rammen, aber im Laufen spürt er einen krachenden Schlag auf den Hinterkopf und fällt bewusstlos zu Boden.
Sarif tritt auf Elly ein. »Vergiss es endlich!«, schreit er. »Du bist nicht mehr meine Frau. Du hattest eine Missgeburt von Sohn. Er war nicht mein Sohn! Du bist selbst eine Dayak-Missgeburt! Ich sollte dich töten!«
Während er seine Pistole zieht, rappelt sich Elly hoch, immer noch voller Widerstandswillen. Hasserfüllt starrt sie Sarif an. Blut tropft ihr von der Nase.
Sarif lässt die Pistole sinken und steckt sie langsam in das Halfter zurück. Er dreht sich auf der Stelle um und stampft davon. Elly wird hochgezogen und unsanft in Richtung der Hütte gestoßen.
Sarif und einige seiner Leute gehen zu Mandis Hütte. »Wir gehen jetzt«, sagt Sarif zu Mandi. Wieder sieht er voll Abscheu auf sie und befiehlt einem Mann, etwas Wasser zu bringen.
»Ich werde nirgends hingehen«, sagt Mandi wütend und steht auf. Sie ist müde und hungrig. Die ganze Nacht hindurch haben Männer herumgeschrien und Kisten wurden polternd vor dem Fenster vorbeigeschafft. Alles, was sie die letzten 24 Stunden gegessen hat, ist eine kleine Schüssel Reis.
»Wer ist er Verantwortliche hier? Ich verlange, mit dem Verantwortlichen zu sprechen«, sagt sie fordernd.
»Sie verlangen gar nichts«, schnappt Sarif zurück. »Ich bin der Verantwortliche. Sie sind hier nicht in der Position etwas zu verlangen. Waschen Sie sich, Sie ekeln mich an.«
»Wo gehen wir hin?«, fragt Mandi in etwas neutralerem Ton.
Ohne auf Mandis Frage zu reagieren, dreht sich Sarif um und geht weg.
Mandi ruft ihm nach: »Sie sind nicht der Verantwortliche! Sie können mich nicht für dumm verkaufen. Ich habe Sie im Bahtera Hotel gesehen – Sie sind ein Niemand! Wenn Sie der Verantwortliche wären, würden Sie nicht die Drecksarbeit machen. Sie sind ein Niemand!«
Durch diese Worte provoziert macht Sarif abrupt kehrt und stürzt sich auf Mandi. Er versetzt ihr einen Faustschlag, sie pariert und verpasst ihm einen Hieb auf Auge und Nase. Er schlägt zurück und sie fällt zu Boden. Vor Zorn stoßweise atmend und aus der Nase blutend steht er über ihr und zieht seine Pistole.
»Na los! Erschießen Sie mich!«, schreit Mandi mit sich überschlagender Stimme. »Ich habe Beweise, die euch alle für den Rest des Lebens ins Gefängnis bringen. Wenn Sie mich töten, ändert das gar nichts. Auch andere besitzen diese Beweise.«
Sarif starrt sie an: »Sie bluffen. Ich werde Sie töten und es hat überhaupt keine Auswirkung für mich.«
Sarif spricht mit einer Überzeugung, die er nicht wirklich empfindet. Wenn er sie tötet, was hat das wirklich für Konsequenzen? Wissen seine Bosse, dass sie Informationen hat? Sie haben nichts dergleichen erwähnt, aber sie haben ihm aufgetragen, sie ihnen lebend zu bringen. Das ganze Schlamassel könnte so einfach mit drei Kugeln beendet werden, je eine für jeden von ihnen: Dave, Elly und Mandi. Wozu das ganze Theater? Außer das, was sie sagt, ist wahr. Arbeitet sie mit anderen zusammen?
Sarif versetzt
Mandi einen Tritt in die Seite und geht. Sie haben gesagt, sie soll
leben, aber niemand hat etwas von unverletzt
gesagt.
Nach ein paar Minuten bekommt Mandi langsam wieder Luft. Sie wäscht sich das Blut vom Gesicht und reinigt sich, so gut es mit dem wenigen Wasser, das in der Schale ist, geht. Wieder kommen Männer herein und binden ihr die Arme auf den Rücken. Sie wird geknebelt und in ein Fahrzeug gesetzt.
Als sie am Fluss ankommen, sieht sie Dave in seinem Flugzeug warten. Elly ist ebenfalls da und wartet anscheinend. Durch hohes Gras verborgen, ist sie kaum zu sehen. Mandi will ihren Augen nicht trauen. Sie warten hier zusammen mit diesen Bestien auf sie?! Arbeiten sie vielleicht sogar in der Anlage? Mandi ist wie vom Blitz getroffen. Sie versucht einen klareren Blick auf Dave zu erhaschen, aber er sieht in die andere Richtung. Wie konnte er … sie hustet und würgt. Ihr ist übel.
Sarif lacht gehässig: »Dein Lover – nicht gut.«
Während sie näher kommen, dreht sich Dave um und Mandi kann jetzt sehen, dass er geknebelt ist. Dave und Elly werden mit vorgehaltener Waffe in Schach gehalten. Sie hat sich geirrt. Natürlich hat sie sich geirrt! Sie sind auf ihrer Seite. Sie blickt Sarif hasserfüllt und voller Abscheu an. Der lacht nur und zuckt die Achseln.
Als sie nahe genug sind, wechseln Mandi und Dave Blicke. Sie hört, wie er nach Luft schnappt, und sieht, wie sein Gesicht sich rötet. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie möchte sich so gern bei ihm dafür entschuldigen, dass sie ihn in diese Sache hineingezogen hat. Aus der Art, wie Dave sie ansieht, wird ihr klar, wie entsetzlich sie aussehen muss. Sie ist schmutzig und hat wahrscheinlich Blut im Gesicht von der Rauferei mit Sarif.
Sarif sieht Dave an und warnt ihn: »Dave, du willst nicht noch einmal Kopfschmerzen, oder? Also flieg!«
Er reicht ihm
einen Zettel und sagt: »Wir fliegen hierhin. Wenn ich den Knebel
wegnehme – kein Sprechen. Du sprichst nur das Notwendige am Funk.
Wenn du etwas anderes sagst, erschieße ich Mandi.«
Um das Gesagte zu unterstreichen, lässt er ein Klappmesser aufspringen und ritzt Mandi durch ihr T-Shirt. Sie macht einen Sprung und schreit auf. Ein Blutfleck breitet sich auf dem weißen Stoff aus. Als Dave und Elly einen Schritt auf Mandi zu machen, zieht Sarif seine Pistole. Dave und Elly erstarren. »Los, ins Flugzeug«, sagt Sarif gepresst. »Ich habe genug von euch.«
Marcus, Maria und Barry unterbrechen ihren Marsch, als sie über sich ein Flugzeug hören. Sie sind erst eine Viertelstunde unterwegs im Dschungel bei Tanggar. Ihr Ziel ist die Anlage im Dschungel. Asep hat dem Druck nachgegeben und zugestimmt, sie einen Teil des Weges zu führen. Den Rest müssen sie allerdings allein zurücklegen. Asep weigert sich rundheraus, sie bis zur Anlage zu bringen.
Maria konzentriert ihren Blick in die Richtung des Motorengeräusches. Dank ihrer Parasicht kann sie durch das dichte Blätterdach bis zum Flugzeug sehen.
»Es ist Daves Flugzeug«, ruft sie lächelnd. Aber dann fügt sie entsetzt hinzu: »Oh, mein Gott!«
»Was!?«, ruft Marcus.
»Ich glaube, es ist Dave«, sagt Maria, »… und Mandi, Elly und Sarif. Es sieht aus, als ob Sarif eine Pistole hat, aber langsam wird die Entfernung zu groß. Ich kann nichts Genaues mehr erkennen.«
Asep sieht verblüfft von Maria nach oben ins Blattwerk und wieder zurück. »Wie können Sie Flugzeug sehen?«, fragt er leise.
Ohne ihn zu beachten sagt Maria: »Ich glaube, sie fliegen in südliche Richtung.« »Kota Baru«, schlägt Asep vor.
Maria sieht Marcus an und schüttelt den Kopf. Das Flugzeug ist zu weit entfernt, als dass Marcus mit seinen Pseudohänden Sarif entwaffnen und festhalten könnte. Sie haben keine andere Wahl als zu versuchen, sie zu verfolgen.
»Los«, sagt
Marcus, »gehen wir.« Er nickt Maria zu, die zurückzwinkert. Bevor
Marcus in Richtung Straße losrennt, greift er mit einer Pseudohand
in Aseps Hosentasche und nimmt dessen Schlüssel.
In Sekundenschnelle ist Marcus aus der Sicht der anderen verschwunden. Er hat seine subjektive Geschwindigkeit drastisch erhöht und stürmt durch den Wald.
Mit Aseps Schlüssel sperrt er den Lastwagen auf, schaltet das Funkgerät ein und probiert die Stationen durch. Marcus erinnert sich daran, dass Dave Station 257 benutzt hat, als sie auf der Suche nach Mandi waren. Mit einer Pseudohand reißt er die Antenne ab und hebt sie hoch in die Luft. Nur atmosphärisches Rauschen. Er macht seine Pseudohand noch länger, sodass sie über das Blätterdach hinausragt und er dreht sie langsam. Immer noch nichts anderes als Rauschen. Er dreht die Antenne langsam weiter. Da hört das Rauschen auf.
Marcus nimmt das Mikrofon und räuspert sich.
»Echo Lima Bravo sieben eins eins. Wiederholen Sie Destination«, sagt Marcus in einer tiefen, möglichst respektheischenden Stimme.
Im Wasserflugzeug blickt Dave überrascht auf das Funkgerät. Es ist der Name seines Flugzeugs und jemand bittet um Wiederholung der Bekanntgabe des Flugziels. Aber er hat bisher noch gar kein Ziel bekannt gegeben, sondern nur gemeldet, dass er über Kota Baru fliegen will. Er ist noch nicht in Reichweite von Balikpapan. Wer ist es, der ihn nach der Information fragt?
»Was ist da los?«, fragt Sarif fordernd.
»Starker Flugverkehr. Manchmal fragen die Fluglotsen nach der Destination, wenn der Luftraum überfüllt ist«, lügt Dave. Er weiß nicht, wer um die Auskunft gebeten hat, aber die Stimme ist die eines Ausländers und sie klingt irgendwie bekannt …
»Echo Lima Bravo sieben eins eins. Ziel Yogyakarta via Kota Baru und Manggar zum Auftanken. Bitte um Bestätigung«, gibt Dave durch.
»Bestätigt«, kommt die strenge Antwort von Marcus. Dave drückt schnell einige Knöpfe – einer davon schaltet das Funkgerät von Lautsprecher auf Kopfhörer um, sodass Sarif sie nicht mehr hören kann.
»Kota Baru Tower. Luftraum frei machen«, kommt eine knappe Anweisung. Dave bleibt still.
Gerade als Marcus den Lastwagen umgedreht hat, kommen Maria, Barry und Asep atemlos aus dem Dschungel – sie sind den ganzen Weg hierher gerannt. Als Asep Marcus im Laster sieht, greift er an seine Hosentasche.
»Das mit dem Schlüssel ist erst der Anfang«, sagt Marcus schmunzelnd zu Asep. »Sie werden jetzt die Fahrt Ihres Lebens mitmachen. Also schnallen Sie sich an! Wir müssen nach Yogyakarta, so schnell wir können. Asep, wo ist das nächste Flugzeug?«
»Ich, Dave …«, stammelt Asep.
»Das habe ich befürchtet. Alle einsteigen, wir müssen los«, kommandiert Marcus.
Leise fragt er Maria, ob sie etwas Vergessenspulver dabei habe, und sie nickt. Er wirft einen Blick auf Asep, der sichtlich verwirrt auf den Rücksitz klettert.
Maria und Marcus wirken zusammen, um so schnell wie möglich an den Anlegesteg der Mine zurückzukommen. Wenn sie durch die Kurven rasen, klammert sich Asep verkrampft am Sitz fest. Er weiß, was einem auf der Straße alles entgegenkommen kann: Kohlentransporter, Planierraupen, Straßenwalzen, aber auch Ochsenkarren, beladen mit Baumstämmen, oder Kinder auf Tretrollern.
Aber Maria sieht mit ihrer Parasicht weit voraus und warnt Marcus rechtzeitig vor jedem Hindernis. Ab und zu schiebt Marcus mit seinen Pseudohänden Zweige zur Seite. Ihre ruckelnde Fahrt ist ein einziger Wechsel zwischen Gasgeben und Bremsen, denn Marcus muss immer wieder verlangsamen, um Unfälle zu vermeiden.
Marcus bringt sie in ungefähr der halben Zeit, die Asep für die Strecke gebraucht hätte, zur Anlegestelle. Asep steigt aus und schüttelt wild Marcus’ Hand; offensichtlich ist er schwer beeindruckt von dessen Fahrkünsten. Von der Motorhaube des Lastwagens steigt flirrende Hitze auf.
An der Anlegestelle ist ein Boot, aber die planmäßige Abfahrt ist erst am Abend. Marcus verhandelt mit Asep, um das Boot früher zu bekommen. Er wird die eingeschobene Fahrt bezahlen und das Boot wird rechtzeitig vor der regulären Fahrt wieder zurück sein. Er entschuldigt sich auch bei Asep für die ruinierte Antenne und gibt ihm Geld für einen Ersatz. Was Asep aber keinesfalls annehmen will – egal in welcher Form, ob in Tee, Kaffee oder Wasser –, ist das Vergessenspulver.
Marcus sieht Asep sehr direkt in die Augen, aber dieser hält seinem Blick stand. Als Asep dann Marcus seine Hand entgegenstreckt, schütteln sie schließlich in stillem Einverständnis die Hände.
»Finden Sie Mandi«, sagt Asep und Marcus nickt nur.
Marcus, Maria und Barry nehmen ein Boot nach Kota Baru und fliegen von dort nach Balikpapan. Sie stellen fest, dass Schmiergeld – oder »Amplop«, wie Mandi es nennt – ihre Reise wesentlich erleichtert. So handeln sie sich einen Direktflug von Balikpapan nach Yogyakarta in einer zweimotorigen Chartermaschine aus und kommen in nur vier Stunden dort an. Sie nehmen an, dass sie damit Dave mindestens eine, wenn nicht sogar zwei Stunden voraus sind.
Leider verlieren sie ihren Vorsprung, weil sie nicht wissen, wo Dave landen wird. Als sie es schließlich herausfinden, nehmen sie ein Taxi und lassen sich dort hinbringen. Sie steigen an einer Stelle aus, wo ein schmaler Pfad, der offensichtlich zum Fluss führt, in die Straße mündet. Und tatsächlich, da ist Daves Flugzeug. Es ist leer.
Maria beginnt
sofort hektisch das ganze Gebiet mit ihrer Parasicht abzusuchen.
Sie kann weder Dave noch die anderen in der unmittelbaren Umgebung
sehen. Allerdings ist es extrem schwierig, die vielen kleinen
Hütten, die am Flussufer stehen, mit all den Leuten, die sich darin
aufhalten, schnell und gleichzeitig präzise
abzusuchen.
Barry ist angeekelt von dem Dreck im Wasser und dem fauligen Gestank. Während Maria und Marcus hinunter zum leeren Flugzeug laufen, bleibt er oben am Anfang des Weges. Um dem Schmutz zu entgehen, dreht er den Pfahlbauten den Rücken zu und geht zur Straße zurück.
Als er auf einer Bank sitzt und wartet, kommt eine Gruppe Kinder daher und umringt ihn. Ihre Kleider sind ausgewaschen, ihre Haare wirr, aber ihre Augen strahlen. »Hello, Mister«, rufen sie. Barry lächelt und fragt, ob sie eine Frau gesehen haben, die so aussieht wie er – er deutet auf seine helle Haut. Schließlich tritt ein älterer Bub vor, deutet die Straße hinauf und sagt: »Mister.«
Barry zeigt ebenfalls hinauf und fragt: »Missus? Taxi?« »Nicht Taxi«, sagt das Kind und deutet weiter.
Barry läuft zum Anfang des Pfads und pfeift. Als Maria und Marcus aufblicken, fuchtelt er wild mit den Armen. Es ist wenigstens ein Anfang! Mandi hat Recht, nichts bleibt unbemerkt in Indonesien!
Während Barry auf Maria und Marcus wartet, winkt er ein Taxi herbei. Dann rollen sie langsam durch die belebte Straße, bis diese schließlich in die vierspurige Hauptstraße einmündet.
Wieder wird Maria aktiv und durchleuchtet all die Fahrzeuge. Schließlich entdeckt sie Sarif mit Dave, Mandi und Elly in einem Auto, etwa einen halben Kilometer vor ihnen.
»Sie sind vor uns – rechts! Rechts!«, ruft Maria und zeigt dem Fahrer die Richtung an. Der gibt langsam Zeichen und wechselt auf die rechte Spur. Unzufrieden mit der Geschwindigkeit, drückt Marcus mit einer seiner Pseudohände sachte aufs Gaspedal – und der Fahrer sitzt plötzlich kerzengerade. Er blickt von der Straße auf den Tacho, wieder zurück auf die Straße und fasst das Lenkrad fester. Erst als sie nur noch wenige Autolängen hinter dem Wagen mit Sarif sind, lässt Marcus das Pedal wieder los.
»Zuerst dachte ich, wir sollten sofort Sarif festhalten und Mandi befreien«, sagt Marcus. »Aber vielleicht ist das nicht die beste Strategie. Sarif bringt sie zu irgendjemandem. Ich glaube, wir sollten herausfinden, wo sie Mandi hinbringen, und erst dann entscheiden, was wir weiter tun. Was meint ihr?«
Maria und
Barry nicken. Während sie an grünen Reisfeldern vorbeifahren, die
sich zwischen blassen Holzhütten ausbreiten, beobachten sie mit
Hilfe von Marias Parasicht genau das Geschehen im Auto vor ihnen.
Als sie an einer großen, weiß getäfelten Moschee vorbeikommen,
deren Kuppel im Sonnenlicht glänzt, packt Maria plötzlich die
Tasche von Marcus und beginnt in ihr zu wühlen.
»Dieser Halbmond«, sagt sie außer Atmen. »Seht!«
Maria nimmt einen der raubkopierten e-Helper. »Seht! Die gleiche Form des Halbmondes!« Maria zeigt zuerst auf die Rückseite des Gerätes, dann auf die Moschee. Auf der Spitze jeder Kuppel ist ein kleiner Stern und ein Halbmond zu sehen. »Genau das Gleiche!«
In diesem Moment biegt das Auto vor ihnen
links von der Hauptstraße ab. Marcus ruft und deutet, aber sie sind
nicht auf der richtigen Fahrspur, um links abzubiegen. Jetzt muss
schnell gehandelt werden! Marcus beschleunigt seine individuelle
Zeit und verschafft sich einen Überblick über den Verkehr rundum.
Sie müssen quer über eine Fahrspur schneiden, ohne von einem
Zementtransporter gerammt zu werden, der auf der linken Spur von
hinten schnell näher kommt. Außerdem sind sie eingekeilt, das
heißt, sie müssen sich zuerst Raum verschaffen.
34 »Mandi« ist das indonesische Wort für Toilette. Derartige Toiletten bestehen oft nur aus einem Loch im Boden mit zwei Stellen daneben für die Füße.
Marcus schert schnell nach links aus und hält den Betontransporter mit seinen Pseudohänden auf. Die drei Passagiere im Wagen – Marcus, Maria und Barry – werden in die Sicherheitsgurte gedrückt. Der Fahrer, der nicht angeschnallt ist, wird unsanft gegen die Autotür geschleudert. Keiner von ihnen merkt, dass es noch viel unangenehmer gewesen wäre, hätte Marcus nicht das Schlimmste mit seinen Pseudohänden abgefedert!
Marcus steuert den Wagen inzwischen selbst, um dem Taxichauffeur eine Erholung zu gönnen. »Maria, wo sind sie hin?«, ruft Marcus.
»Sie sind in eine Zufahrt mit einem Tor eingebogen und fahren jetzt einen langen, gepflasterten Weg entlang. Da ist ein Haus in der Entfernung … nein, da ist eine Villa in der Entfernung. Und da sind noch einige andere Villen mit Toren davor in dieser Gegend, alle hinter dichten Bäumen versteckt«, erklärt Maria.
»Wow! Schaut euch diese Prachtvillen an«, fährt sie verblüfft fort. »In jeder einzelnen Villa steckt mehr Reichtum als in ganz Tanggar zusammen – und Tanggar ist kein armes Dorf. Außerdem sind diese Villen sehr unindonesisch … westliche Toiletten statt ‚Mandis‘34. Wir sind da definitiv auf etwas gestoßen!«
Maria, Marcus und Barry nehmen sich Zimmer in einem Hotel in der Nähe der Villa. An Unterkünften gibt es eine große Auswahl, denn in der Nähe befindet sich der Tempel von Borobudur aus dem achten Jahrhundert, der als eines der sieben Weltwunder gilt. Maria und Marcus bestehen auf ein Zimmer im dritten Stock, damit Maria eine gute Sicht auf die Villa hat. Obwohl hohe Baume und eine Moschee die direkte Sicht verstellen, hat Maria kein Problem, das Haus zu beobachten. Mit ihrer Parasicht kann sie durch diese Hindernisse hindurchsehen.
Als Maria vom langen, angestrengten Parasehen müde wird, projiziert Barry ein Bild von sich selbst – Para-Barry – vor die Villa, um sie weiter zu überwachen. Er hat einen e-Helper bei sich und wird sofort anrufen, wenn jemand das Haus verlässt.
Nach einer Stunde hat noch immer niemand das Haus verlassen. Da auch sonst nichts Auffälliges passiert, beendet Para-Barry seine Projektion und beschließt, sich erneut ins Haus, und zwar ins Arbeitszimmer zu projizieren.
Dort angelangt, ist er überrascht, in dem Raum einen großen, gemauerten Kamin vorzufinden. »So nahe am Äquator wird es doch nie kalt«, denkt er. »Wozu dann so eine große Feuerstelle, außer es sind Gewohnheitsmenschen: Kamin zuhause, also auch Kamin hier …«
Auf dem Kamin ist eine kleine Fotosammlung aufgereiht: Einige sind Familienfotos, aber die meisten zeigen ungefähr ein Dutzend Männer in verschiedenen Szenen: beim Golf in Balikpapan, beim Tauchen am Großen Barriereriff in Australien, beim Segeln, Camping und Wandern. Ein Bild wirkt fast surreal: Die Männer stehen vor einem großen, roten kegelförmigen Erdhügel. Handgeschrieben steht darunter: »Projekt Australien, Kakadu Nationalpark, Northern Territory«. Auf einem anderen Bild sieht man die zwölf vor einer großen, pyramidenartigen Struktur stehen. Darunter in goldenen Lettern geprägt: »Borobudur, Indonesien«.
Para-Barry
überblickt schnell den Raum und geht dann rasch zur Tür. Dort
lauscht er eine Zeit lang angestrengt, aber absolut nichts ist zu
hören. Vorsichtig öffnet er die Tür und betritt den Gang. Nach und
nach erforscht er das gesamte Erdgeschoß, in dem sich eine große,
helle Küche, ein Freizeitraum mit Billard, Tischtennistisch und
Dartscheibe sowie mehrere exquisit eingerichtete Besprechungsräume
befinden.
»Wer auch immer hier wohnt, er hat einen ausgezeichneten und teuren Geschmack«, denkt Para-Barry, während er die Wendeltreppe in den zweiten Stock hochgeht.
Oben sind ein großes Schlafzimmer und drei kleinere Schlafzimmer, die aussehen, als wären sie vor kurzem benutzt worden, sowie einige weitere geschmackvoll eingerichtete Zimmer mit angrenzenden Badezimmern.
»Warum sind in dem Haus so viele Schlafzimmer und Besprechungsräume?«, fragt sich Para-Barry. »Vielleicht weil hier Gäste und Reisende untergebracht werden … Führungskräfte mit anspruchsvollem Geschmack.«
Para-Barry rätselt, wo Sarif, Mandi und die anderen sein könnten. Sie haben das Haus nicht verlassen und doch sind sie nirgends zu finden. Bei einem Blick aus einem Fenster der Schlafzimmer sieht er, dass zur Rückseite des Hauses eine zweite Zufahrt hinführt und dass dort einige Autos geparkt sind.
»Scheiße!«, sagt Para-Barry. »Sie können schon seit Stunden weg sein.« Schnell ruft er Marcus am e-Helper an.
Mit erhöhter subjektiver Geschwindigkeit läuft Marcus zur Villa, mit Maria in seinen Armen. Er umgeht die Moschee und rast quer über die Reisfelder. Para-Barry öffnet die Eingangstür der Villa.
»Hast du irgendetwas gehört?«, fragt Marcus. »Du hättest doch wahrscheinlich gehört, wenn ein Auto weggefahren wäre, sogar von der Hinterseite.« Bevor Barry etwas antworten kann, kommt Maria aufgeregt angerannt.
»Ich weiß nicht, warum ich das nicht früher gesehen habe!«, flüstert sie. »Ich habe meine Augen auf das Haus konzentriert, auf den Hauptteil des sichtbaren Gebäudes. Aber es gibt noch eine unterirdische Ebene, anscheinend mit einem ganzen Tunnelsystem! Einige der Tunnel sind dunkel, sodass ich nichts sehen kann. Aber ich kann in einiger Entfernung Leute im Haupttunnel sehen! Ich kann nicht sagen, ob Mandi unter ihnen ist, aber ich sehe Leute.«
Es ist die einzige brauchbare Spur, also folgen sie ihr. Maria verfolgt mit ihrer Parasicht den Tunnel auf seine ganze Länge zurück – er mündet geradewegs in das Arbeitszimmer! Sie laufen dorthin und gehen direkt zum Kamin; er ist der offensichtlichste Kandidat für eine versteckte Tür.
»Nein«, sagt Maria. Sie zeigt zur gegenüberliegenden Ecke des Raumes, wo eine große Kopie der Skulptur »Der Denker« von Auguste Rodin steht. »Hier hinten«, sagt sie, »ganz klar, hier ist es. Der Haupttunnel mit mehreren Seitengängen. Der Hauptgang ist beleuchtet, aber die Nebengänge sind dunkel, sodass ich nichts sehen kann.«
Nach einigem Herumtappen, Ziehen und Drücken öffnet sich die Tür schließlich und sie betreten den dämmrig beleuchteten Tunnel. Marcus tastet sich mit seinen Pseudohänden an den roh behauenen Felswänden entlang und führt so die anderen.
Plötzlich werden sie von scharfem Licht geblendet. »Wir haben Sie erwartet«, sagt eine Stimme.
In diesem Moment hören sie ein lautes Krachen und eine Art Käfig fällt rund um sie nieder. Para-Barry schreit vor Schmerz auf, denn sein Fuß ist unter dem Käfig eingeklemmt. Marcus hebt schnell mit einer Pseudohand das Eisen hoch und befreit Para-Barrys Fuß. Das Scheinwerferlicht wird noch greller.
»Hatten Sie Spaß bei der Erkundung meines Hauses?«, fährt die Stimme fort.
Da sie vom Licht geblendet sind, tastet Marcus mit seinen Pseudohänden die Umgebung ab. Er kann sechs Menschen fühlen, die mit gezogenen Pistolen auf ihren Käfig zulaufen. Sie kommen aus Seitentunnels angelaufen und da es dort dunkel ist, kann Maria sie nicht sehen.
»Wir sind von sechs Männern umzingelt«, keucht Marcus. »Sie zielen mit Pistolen auf uns.«
Sie hören das Klicken von sechs Magazinen. Marcus beschleunigt wieder seine subjektive Zeit und in nur fünf normalen Sekunden hat er eine Strategie geplant. In seiner subjektiven Zeit hat er eine halbe Stunde Zeit gehabt, die Möglichkeiten abzuwägen.
»Ich zähle bis drei und wir gehen aus dem Käfig raus, nach rechts, aus dem Scheinwerferlicht hinaus«, sagt Marcus. »Eins, zwei, … drei.«
Mit seinen Pseudohänden, und seine beschleunigte Zeit nutzend, biegt Marcus die Eisenstäbe des Käfigs auseinander und sie entfliehen. Mit sechs seiner Pseudohände schlägt er den Männern die Pistolen aus den Händen und stößt sie in den Käfig. Er biegt die Stäbe zurück und geht zu Para-Barry und Maria in einen Seitentunnel, der im Schatten liegt. Innerhalb von Sekunden ist die Aktion wie ein Wirbelwind beendet.
»Nicht schlecht«, sagt die Stimme sichtlich beeindruckt. »Ich werde das Band Schritt für Schritt abspielen, um zu sehen, wie Sie das geschafft haben. Weil ich so verblüfft bin, werde ich mit Ihnen noch etwas länger plaudern. Aber erinnern Sie sich: Sie sind und bleiben ungebetene Gäste.«
Marcus macht einen Schritt hinaus in den Hauptgang. Mit seinen Pseudohänden bildet er einen Schutzschild um sich selbst. Er traut der Stimme nicht.
»Kein Supermann«, sagt die Stimme sarkastisch. »Heraus mit euch. Alle oder niemand!«
Maria und Para-Barry stellen sich neben Marcus und er erweitert den Schutzradius etwas. Beim Aufprall der ersten Kugel auf seiner Pseudohand schreit Marcus: »Los!«
Barry beendet seine Paraprojektion, um sich gleich darauf tiefer im Tunnel zu projizieren. Er wiederholt dieses Zickzack, bis er in einen Seitentunnel neben einem großen, erleuchteten Raum gelangt.
Währenddessen
schnappt sich Marcus Maria und sprintet mit ihr durch den
Haupttunnel. Maria umfasst den Hals von Marcus und schließt die
Augen. Marcus spürt die Hitze von Marias Parafähigkeit durch seinen
Körper fließen – nun verfügt auch er über ihre Fähigkeit der
Parasicht. Irgendwo abseits des Haupttunnels erkennt Marcus Dave,
Elly, Sarif und dessen Leute. Marcus rennt los, läuft in Sackgassen
und wieder zurück, bis er einen dunklen Tunnel erreicht, der sich
ganz in der Nähe von Elly und den anderen befindet. Er kann
Bewegung in dem abgedunkelten Tunnel auf der anderen Seite des
Raumes ausmachen und er hofft, dass es Para-Barry ist. Wen er aber
immer noch nicht gefunden hat, das ist Mandi.
Ein Schuss lässt sie alle hochschrecken. Maria öffnet die Augen und Marcus kann den Raum nicht mehr sehen – er hat die Parafähigkeit von Marias Parasicht verloren. Aber Maria hat gesehen, dass Sarif Elly in den Arm geschossen hat.
Elly und Sarif wechseln ein paar scharfe Worte. Als Sarif erneut seine Pistole hebt, sieht Maria, dass sich Para-Barry rechts neben Elly materialisiert. Als Paraprojektion kann Para-Barry Elly schützen, denn er kann Schüsse überleben, indem der die Paraprojektion beendet und ein neues Bild seiner selbst projiziert.
Wie erwartet, setzt Chaos und Verwirrung ein. Eine Reihe von grellen Blitzen verstärkt noch das Durcheinander. Während die Blitze zucken, reißt Sarif seine Pistole planlos herum und versucht den turbulenten Aktionen zu folgen. In dem Chaos glaubt Elly, Dave hätte sich vor sie gestellt, um sie vor Sarifs Pistole zu schützen. In Wirklichkeit ist es aber Para-Barry. In einer raschen Bewegung tritt Elly hinter Para-Barry hervor und stürzt sich auf Sarif. Sarif drückt ab und Elly fällt nach hinten. Ein schnelle Folge von grellen Blitzen erhellt zuckend die Szene. Unter Elly breitet sich eine Blutlache aus – sie wurde in den Bauch getroffen.
Elly rollte sich mühsam zur Seite und schreit Sarif einen Fluch entgegen. Dave sieht, wie Sarif und die anderen Männer erstarren, als ihnen die Bedeutung des Fluchs bewusst wird, und Elly wiederholt ihre Verwünschungen gegenüber Sarif.
Marcus nutzt die mangelnde Aufmerksamkeit der Männer, rennt aus dem Tunnel heraus, stößt Sarif zu Boden und tritt seine Pistole in einen dunklen Gang hinunter. In diesem Moment hallt ein weiterer Schuss durch den Tunnel und die Blitze hören auf. Para-Barry wurde von einem von Sarifs Männern getroffen. Blitzschnell beendet Barry seine Paraprojektion, sodass Para-Barry verschwindet. Mit seinen Pseudohänden schlägt Marcus Sarifs Leuten die Pistolen aus den Händen. Er schnappt sich Elly und rennt zurück in den dunklen Gang, wo Maria wartet, die angespannt die ganze schreckliche Szene verfolgt hat.
»Du musst Elly zu einem Arzt bringen«, flüstert sie eindringlich. »Geh! Ich bleibe hier. Los!«
Marcus kann unmöglich seine Frau allein im Tunnel lassen und doch muss Elly dringend ins Spital. Mit seinen Pseudohänden untersucht er Ellys Verletzung. Er kann die arterielle Blutung stoppen, aber die Verletzung ist insgesamt zu schwer.
Elly sieht matt zu Marcus hoch: »Mandi, Eko. Mandi, Eko«, wiederholt sie mehrmals, bis sie das Bewusstsein verliert.
»Geh endlich!«, zischt Maria zu Marcus. Der startet los, schneller als je zuvor. Es ist ihm klar, dass jede Sekunde zählt. Er bricht durch den verborgenen Eingang und schlägt dabei die Rodin-Statue quer durch den Raum. Auf der Straße angekommen, hält er panisch inne – er weiß nicht, wo das nächstgelegene Spital ist. Er läuft schreiend auf die Straße, aber niemand kommt ihm zu Hilfe.
Im Hotel
sprechen die Angestellten ein wenig Englisch, fällt ihm ein. Also
läuft er dorthin. Die Frau an der Rezeption sieht mit Entsetzen
Elly in seinen Armen, rennt in Panik ins Hinterzimmer und schlägt
hinter sich die Tür zu. Marcus geht wieder hinaus auf die Straße
und versucht es in einem anderen Hotel, aber die Reaktion ist die
gleiche.
Beim fünften Hotel spürt Marcus, dass Elly aufgehört hat zu atmen. Er beginnt eine Herzmassage mit seinen Pseudohänden und beobachtet dabei intensiv ihre Reaktionen. Aber es ist zwecklos, das Herz fängt nicht wieder an zu schlagen. Marcus sitzt auf dem Boden des Hotels und weint.
Nach ein paar Minuten steht er auf, die tote Frau in seinen Armen wiegend. Er trägt sie zurück in das Hotelzimmer, das er mit Maria bezogen hat. Dort klappt er seinen e-Helper auf und wählt.
»Evette, hier ist Marcus Waller. Es ist so weit. Wie schnell können Sie einen Protest auf die Beine stellen?« »Ich habe Ihren Anruf erwartet, deshalb habe ich alle schon vorinformiert«, antwortet Evette.
»Gut. Setzen Sie den Protest für heute Abend an, 6 Uhr Greenwicher Zeit. In so vielen Städten wie nur möglich. Sie haben die Flugblätter und Informationen erhalten, die ich Ihnen geschickt habe?«, fragt Marcus. »Ja«, antwortet Evette. »Ist alles in Ordnung?«
»Nein«, sagt Marcus. »Aber bald. Ich rufe später noch einmal an. Im Moment habe ich ein paar Dinge zu erledigen.«
Er legt auf und klopft an Barrys Tür. Nach einem kurzen »Ja?« Barrys tritt Marcus ein und fragt: »Alles in Ordnung bei dir?« Barry nickt. »Und du?«
»Gehen wir«, sagt Marcus.
Barry legt einen frischen Satz Batterien in seinen e-Helper ein und testet den Stroboskop-Blitz. »Perfekt«, sagt er, nickt Marcus zu und projiziert einen neuen Para-Barry in den Tunnel. Marcus startet Richtung Villa.
Aus dem dunklen Tunnel beobachtet Maria die Verwirrung im angrenzenden Raum. Sarif und seine Männer sehen verdutzt um sich. Sie kann sich vorstellen, dass sie in einem Zustand totaler Verwirrung sind. Immerhin haben sie zwei Menschen angeschossen, aber die Opfer scheinen verschwunden zu sein. Und wo ist die dritte Person, der Mann, der Sarif umgestoßen hat?
Inmitten des Chaos ergreift Dave eine der herumliegenden Pistolen und schießt auf das Schloss einer großen Metalltür.
»Da drin muss Mandi sein«, denkt Maria.
Doch bevor das Schloss bricht, schießt einer von Sarifs Männern einen Pfeil aus einem Blasrohr auf Dave, der daraufhin schnell bewusstlos wird. Da erhebt sich wieder die Stimme, die Maria und die anderen »willkommen geheißen« hat, und hallt durch den Raum.
»Sarif, was zum Teufel ist da unten los?«, donnert die Stimme. »Sofort raufkommen!«
Sarif ruft seinen Männern, die sich Dave nähern, Befehle zu. Er selbst stampft durch einen der dunklen Tunnels davon. Maria verfolgt ihn mit ihrer Parasicht. Sobald er in sicherem Abstand verschwunden ist, folgt sie ihm in der Entfernung.
Maria muss an den »Zauberer von Oz« denken, den
Kinofilm aus dem Jahre 1939, in dem ein »großer Zauberer« sich am
Ende als ein kleiner Mann herausstellt, der in einem zentralen
Kontrollraum sitzt und der ohne seine Steuermöglichkeiten
vollkommen machtlos ist. »Zeit, dem Zauberer einen Besuch
abzustatten«, denkt sie.