7. Ein Land der Möglichkeiten …
Der Kopf der Kooperative – Mastermind nennt er sich selbst gerne – nimmt sich immer zu Jahresbeginn mindestens eine Woche Zeit, um sich Ziele für das neue Jahr zu setzen. Heuer hat er diese Aufgabe locker in zwei Tagen erledigt – es wird ein gutes Jahr.
In vier Wochen wird die australische Forschungsanlage fertig sein und seiner Tochter übergeben werden. Er hat bemerkt, dass sie unruhig geworden ist und nach mehr Verantwortung und öffentlicher Anerkennung giert. Mit der Übernahme der Anlage wird sie beides bekommen. Und endlich wird er auf der Familienfront Frieden schließen können. Seine Kontaktleute haben ihn darüber informiert, dass der australische Premierminister vor kurzem mit dem US-Präsidenten gesprochen hat, und er ist sicher, dass der Präsident ihm gegenüber eine positive Bemerkung über die Kooperative gemacht hat. Er kann es sich einfach nicht leisten, schlecht über die Kooperative zu sprechen.
Die US-Einrichtung in Virginia wird demnächst ihr fünfjähriges Bestehen feiern. Sie hat ihre kurzfristigen Ziele in finanzieller und wissenschaftlicher Hinsicht erreicht. Er wird ihre längerfristigen Pläne überarbeiten und wesentlich ehrgeizigere finanzielle Ziele vorgeben.
Schließlich plant das Mastermind, die
»Mutter aller Einrichtungen«– die indonesische Dschungelfabrik –
gebührend zu feiern. Das Schlamassel, in das er bei der Errichtung
dieser Anlage geraten ist, ist ihm wie ein nicht endender Albtraum
erschienen. Aber als es schließlich ausgestanden war, hatte sich
die Geduld gelohnt. Er als Mastermind und Initiator, der das ganze
Risiko zu tragen hatte, macht jetzt gewaltige Gewinne. Seine
ausländischen Konten entwickeln sich prächtig. Und er stellt
sicher, dass die Partner der Kooperative zur Genüge am Profit
mitnaschen können, damit sie bei der Stange bleiben. Er braucht sie
noch wegen ihrer technischen Kenntnisse und ihrer geschäftlichen
Kontakte.
Mit der geplanten
Ausweitung der Geschäfte mit den e-Helpern auf die chinesischen,
tibetischen und russischen Märkte sollten die Gewinne weiterhin
steigen. Und dann könnte sich das Mastermind endlich in den
verdienten Ruhestand zurückziehen.
2. Jänner 2014
Indonesien, Insel Borneo
Bei der Ankunft in Balikpapan ist Mandi fest entschlossen, alles zu tun, was nötig ist, um ihr Consulting-Projekt erfolgreich abzuschließen. Sie ist zuversichtlich, dass es ihr gelingen wird, die Verhandlungen aus der Sackgasse herauszuführen, in der sie sich befinden. Sie hat bereits einen detaillierten Terminplan für die Besprechungen und Verhandlungen ausgearbeitet.
Sobald sie auf dem Werksgelände der Mine angekommen ist, arbeitet Mandi unter Hochdruck am Abschluss des Projektes. Die Zielstrebigkeit und die Konzentration ihres Einsatzes sind erstaunlich – es sind die bekannten Markenzeichen ihrer Tätigkeit. Innerhalb von zwei Wochen ist eine Lösung der gegensätzlichen Standpunkte ausverhandelt. Terry ist verblüfft, mit welcher Geschwindigkeit und Finesse Mandi es geschafft hat, zwischen den Positionen der gegnerischen Parteien zu vermitteln; nach indonesischem Maßstab hat sie ein Wunder vollbracht.
Die Probleme, die auf dem Bergwerksbetrieb lasten, sind nicht ungewöhnlich und auch nichts, was speziell nur diesen Standort betreffen würde. Andere Minen in anderen indonesischen Provinzen leiden unter den gleichen Verhältnisse. Da Indonesien einen Brennpunkt im internationalen Bergwerksgeschäft darstellt, wirken sich alle Probleme in Form von Versorgungsengpässen, verzögerter Lieferung und Kostensteigerung unmittelbar auf die globalen Märkte aus. Das macht jede Verhandlung in dieser Branche zu einer stressreichen Angelegenheit, die von den Medien auf das Genaueste verfolgt wird.
Einigen indonesischen Inseln, darunter Borneo, ist es gelungen, mit kreativen Methoden ausländische Investoren für symbiotische national-internationale Partnerschaften zu gewinnen. Aber die Politik – ob national oder regional – durchzieht alles mit undurchschaubarer Komplexität und den damit verbundenen Kosten. Den internationalen Geldgebern ist klar, dass diese Partnerschaften funktionieren müssen, damit in der asiatisch-pazifischen Region Stabilität herrscht und damit sie wenigstens einen Teil der ansehnlichen Summen zurückbekommen, die sie bereits investiert haben. Instabilität in Indonesien bedeutet Instabilität weltweit.
Die letzten
Quartalsberichte, die den Eigentümervertretern vorgelegt wurden,
waren nicht gut. In der Mine gab es einen dramatischen Rückgang der
Produktion und damit des Gewinnes. Außerdem hat die Anlage ein
Imageproblem. Generell zeigen die Minen hohe Ausfallsraten. Unfälle
mit Schwerlastern passieren jede Woche und auch die Berichte über
Einstürze von Gruben, verursacht durch das Anbrechen der Stützwände
durch illegalen Bergbau, häufen sich. Erst kürzlich sind bei einem
solchen Vorfall vier Grubenarbeiter ums Leben gekommen. Und die
dauernden Auszahlungen an das Militär als Gegenleistung für den
»Schutz«, den es bietet, reißen ebenfalls immer größere Löcher ins
Budget der Betriebe. Die indonesischen Minen – und die
Senaggin-Mine wurde bisher immer als ein Musterbeispiel hingestellt
– laufen Gefahr, ihre Attraktivität für Investoren zu
verlieren.
Um den Parteien eine Lösung schmackhaft zu machen, legt das Verhandlungsteam um Mandi einen mehrjährigen Vielphasenplan vor. In der ersten Phase verpflichtet sich die Mine, den illegalen Bergleuten ihre gesamte Ausrüstung abzukaufen. Weiters wird sie eine bestimmte Anzahl der illegalen Arbeiter offiziell anstellen und ihnen eine angemessene Sicherheitsausbildung zukommen lassen. Das Unternehmen wird allen Kumpeln, die bisher auf das Einkommen aus dem illegalen Bergbau angewiesen waren, ausreichende medizinische Versorgung, Schulunterricht für die Kinder und Trinkwasser zur Verfügung stellen. Die Androhung des Entzuges dieser Unterstützung soll die Leute davon abhalten, den illegalen Bergbau wieder aufzunehmen.
An das Militär, das an beiden Seiten gut verdient – indem es einerseits die Mine »schützt«und andererseits beim illegalen Bergbau die Augen zudrückt –, ergeht das Angebot einer produktiven Beschäftigung. Anstatt Außenstehende dafür zu engagieren, soll das Militär den Auftrag erhalten, die Unterstützung für die Kampungs zu koordinieren.
In Phase 2 soll die Unterstützung der Kampungs noch ausgeweitet werden und auch Ausbildungsmaßnahmen beinhalten. Neue Kenntnisse, zum Beispiel über Feldwechselbewirtschaftung und Permakultur, sollen an die Stelle der derzeitigen »Fertigkeiten«, wie illegaler Bergbau, illegale Holzwirtschaft und das Wildern geschützter Tierarten, treten. Die Ausbildung wird auch in Phase 3 fortgesetzt werden.
Die dritte und letzte Phase ist die, über die sich Mandi am meisten freut, denn es ist geplant, eine Erfassung der Flora und Fauna auf dem Areal des Minenbetriebes durchzuführen. Der Vertrag dafür ist noch nicht unterzeichnet, aber sie ist zuversichtlich, dass er abgeschlossen wird. Terry hat diese Phase absichtlich offen gelassen, um sicherzustellen, dass Mandi ihre Verpflichtung für die Mine erfüllt. Wenn sie danach nicht mehr für die Mine arbeitet, kann sie – wenn sie die entsprechende spezielle Genehmigung dafür erhält – zu »Forschungszwecken«weiter Zugang zu dem Gebiet haben. Das wird es ihr in Phase 3 ermöglichen, die Dschungelanlage zu erkunden.
Die Umweltdaten, die in dieser Phase gesammelt werden, werden die Basis für die Rückführung des Gebietes in seinen natürlichen Zustand sein. Die ursprüngliche Pflanzen- und Tierwelt wird wieder eingeführt und unter aktiven Schutz gestellt werden. Schrittweise wird der Ökotourismus als wirtschaftlicher Schwerpunkt den Bergbau ersetzen und das Geld der Touristen wird die Unterstützung durch das Bergbauunternehmen nach und nach überflüssig machen.
Bei einer Flasche Wein feiern Mandi und Terry in dessen Büro den erfolgreichen Abschluss des Projektes und beschließen bei der Gelegenheit, sich ab jetzt zu duzen.
»Terry – ich dachte der Standort wäre trocken – Alkoholverbot?«, fragt Mandi neugierig.
Terry lächelt nachsichtig: »Mandi, ich dachte, du hättest inzwischen gelernt, dass in Indonesien alles möglich ist. Apropos – da du ja jetzt nicht mehr auf meiner Gehaltsliste stehst: Wann geht es ab in den Dschungel, um noch mehr ‚Forschung‘ zu betreiben? Oder sollte ich besser sagen: Nachforschung?«
Mandi lacht etwas gequält. Sind ihre Absichten wirklich derart durchschaubar? Aber bevor sie etwas sagen kann, fährt Terry fort: »Irgendwann würde ich gerne Näheres erfahren über diese Anlage, die du da entdeckt hast, Mandi – aber nicht heute. Ich fahre morgen Früh mit dem 5-Uhr-Schnellboot und fliege dann nach Jakarta zu einem Eigentümertreffen. Die verschwenden keine Zeit. Sie möchten wissen, wie wir das hier geschafft haben und wie es in anderen indonesischen Bergwerken wiederholt werden kann. Wenn du den Bericht auf den neuesten Stand bringen kannst, bevor ich abreise, nehme ich ihn mit. Und du fährst morgen nach Balikpapan?«
»Möglich«, antwortet Mandi. »Ein paar Kollegen fliegen nach Balikpapan, vielleicht morgen, wenn ihre Visa freigegeben werden. Ich werde auch um Genehmigung bitten, mit ihnen zur Mine zurückzukehren, um Umweltforschungen durchzuführen – du weißt, Phase 3.«
Terry grinst: »Mandi, du bist berechenbar. So viel habe ich mir auch schon gedacht. Deshalb habe ich den ganzen Papierkram hier, ich wusste nur nicht, wie viele Visa und Zugangsberechtigungen du brauchen würdest. Asep kann die Zugangsberechtigungen ausstellen. Dir ist klar, dass du nach Beendigung des Projektes ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken Zugang zum Areal der Senaggin-Mine hast, okay? Deine Aufgabe ist nichts anderes, als Input für Phase 3 zu liefern. Was immer du sonst treibst, liegt in deiner eigenen Verantwortung. Sobald du aus dem Areal draußen bist, verliert die Forschungsberechtigung ihre Gültigkeit und du solltest dann Reisedokumente und Genehmigungen vorweisen können … Ich wollte eigentlich nichts Derartiges sagen, aber ich denke, es ist doch besser. Pass auf dich auf!«
Mandi nickt schweigend.
Terry spricht in gedämpftem Ton weiter: »Die Szene, die wir mit den Typen von der Anlage hatten – als sie unbedingt deinen Rucksack sehen wollten … Sie wollten dich einsperren, Mandi. Es hat mich eine Menge Schmiergeld gekostet, um dich aus diesem Schlamassel rauszuholen. Hinter den Fassaden spielt sich vieles ab, was für uns unsichtbar ist …«
Für einen kurzen Moment ist Mandis Intuition auf der gleichen Wellenlänge wie Terrys Prophezeiung. Sie ahnt, dass Schlimmes auf sie zukommt.
»Danke Terry – für alles«, sagt sie leise.
»Gut«, sagt Terry, steht auf und gibt Mandi die Hand. »Viel Glück für deine Forschung.«
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer schickt Mandi schnell vom e-Helper eine Nachricht an Marcus: »projekt fertig, sehen uns morgen in balikpapan?« »eher nicht, vielleicht in zwei tagen«, kommt die prompte Antwort von Marcus zurück. Und Mandi: »versuch es über singapur, visum bei ankunft.« »im laufen.«
Mandi lächelt. »Hätte ich mir denken können. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich bin sicher, sie kommen irgendwie ins Land. Diese Gruppe scheint wirklich kreativ und einflussreich zu sein!«
Mandi hat noch mindestens einen Tag, bevor Marcus und die anderen kommen, und so beschließt sie, sich auf die Suche nach Elly zu machen. Das Allererste, was sie eigentlich nach der Ankunft bei der Mine unternehmen wollte, war, zu dem Kampung zu gehen und zu sehen, wie es Elly und Eko ging. Aber sie hatte ja Terry ihr Versprechen gegeben und sie wagte es nicht, die Vereinbarung mit ihm zu brechen. Aber morgen wird sie ihr »Forschungsmäntelchen«umhaben und dann kann sie niemand mehr daran hindern.
Noch vor dem ersten Tageslicht ist Mandi bereit. Sie überreicht Terry ihren Bericht und steigt zu Asep in einen Lastwagen. Er hat sich bereit erklärt, sie nach Tanggar zu bringen – zu dem Dorf, in dem sie nach dem Zusammenbruch des Transporters gewesen sind – und sie nach 32 Stunden wieder abzuholen. Bei ihrem ersten Aufenthalt in der Mine war Asep Mandi recht distanziert vorgekommen, aber inzwischen ist er aufgetaut und wesentlich umgänglicher. Er hat freiwillig angeboten, Mandi zu führen. Sie hat ihn gefragt, ob sie einen der örtlichen Fahrer bitten solle, sie mitzunehmen, aber er hat darauf bestanden, sie selbst zu fahren.
Während der Fahrt üben sie indonesische Vokabel. Beim Licht der Fahrerkabine liest Mandi die Wörter aus einem Buch laut vor. Asep hat dabei viel zu lachen, aber er wiederholt die Wörter deutlich, sodass Mandi die korrekte Aussprache hören kann. Sie ist stolz auf den kleinen Wortschatz, den sie sich in nur zwei Wochen angeeignet hat: ein paar Farbwörter, Zahlen, Begrüßungs- und Höflichkeitsformeln und dergleichen. Was kann sie in einem abgelegenen Bergwerkslager auch sonst abends unternehmen, als ein bisschen die Landessprache zu lernen? Sie hat sich eine Anfängerlektion in Bahasa-Indonesisch vom Internet heruntergeladen und sich damit jeden Abend befasst.
Zu Mandis Überraschung hält Asep den Wagen an, noch bevor sie das Kampung erreicht haben. Und zwar genau an der Stelle, wo sie beim ersten Mal die Panne hatten. Mandi sieht Asep fragend an. Er deutet die Straßenböschung hinauf, aber Mandi kann nichts erkennen. Er zeigt noch einmal hin, dieses Mal noch eindringlicher und jetzt sieht Mandi, was er meint: Da ist Elly, die vorsichtig einen Schritt nach vor wagt, bevor sie schnell wieder im Schatten verschwindet.
»Elly!«, ruft Mandi. Sie ergreift Aseps Finger, der immer noch ausgestreckt ist, und drückt ihn fest. »Oh, tut mir Leid!«, beeilt sie sich zu entschuldigen. »Das geht wohl etwas zu weit, nicht? Macht nichts, du verstehst schon, wie ich es meine – danke Asep!«
Sie signalisiert ihm »Daumen-rauf« und ruft auf Indonesisch, dass sie sich in 32 Stunden genau hier wieder treffen sollen. Asep nickt, lächelt und fährt davon.
Mandi versucht ihre Aufregung in den Griff zu bekommen. Elly winkt ihr, sie solle direkt zu ihr über die Straße hinüberkommen. An dieser Stelle der Straßenböschung gibt es einige frei liegende Wurzeln, an denen Mandi emporklettert. Als sie schließlich schnaufend oben ankommt, umarmt sie Elly innig.
»Oh, Gott sei Dank, dir geht es gut, Elly. Ich habe mir solche Sorgen um dich und Eko gemacht«, sagt Mandi. Es ist ihr klar, dass Elly sie nicht verstehen kann, aber das macht nichts, denn auch Elly sprudelt aufgeregt in Indonesisch, ohne dass Mandi sie verstehen könnte.
Mandi hält Elly in Armeslänge von sich weg, um sie zu betrachten. Sie ist schon recht mager gewesen, als sie sich das erste Mal gesehen haben, aber jetzt ist sie noch dünner. Und früher hat ihr schwarzes Haar weit über ihren Rücken hinunter gereicht, jetzt ist es sehr kurz geschnitten. Mandi fragt nach Eko und Elly nickt lächelnd.
Elly zieht Mandi in den Schatten der Bäume und langsam gehen sie durch den Urwald. Seit ihrem ersten Abenteuer mit Elly im Regenwald hat Mandi oft an den Dschungel gedacht – und manchmal träumt sie von ihm. Sie wacht mitten in der Nacht auf und kann die muffige Schwüle des Waldes riechen und seine vielfältigen Geräusche hören. Sie läuft durch den Dschungel, verfängt sich im Blattwerk und stolpert über Wurzeln; immer wieder fällt sie hin. Aber immer rappelt sie sich hoch und läuft weiter. Und der Dschungel hat kein Ende.
Nach einem 15-minütigen Gang durch den Wald erscheint plötzlich Eko neben einem Baum. Mandi erschrickt, aber dann erkennt sie das Kind und lächelt. Ein zarter Arm streckt sich ihr entgegen; er hält Mandi eine kleine purpurne Blume hin. Mandi nimmt sie gerührt an und dankt mit einem Lächeln. Eko zuckt jetzt weniger und seine Stirn ist auch nicht mehr so zerfrucht. Er schafft es sogar, Mandis Blick für ein paar Sekunden zu erwidern, bevor er zur Seite blickt. Schnell läuft er zu Elly.
Elly sagt nichts, worüber Eko offensichtlich empört ist. Er stampft mit den Füßen und schimpft heftig auf sie ein. Daraufhin beginnt Elly geduldig und besänftigend auf ihn einzureden. Vor ihm kauernd blickt sie ihm in die Augen und ihre leisen Worte beruhigen den Buben schließlich. Unerwartet verschwindet er wieder im Dschungel. Die beiden Frauen dringen ohne das Kind weiter in die Tiefe des Dschungels vor. Mandi kann nur vermuten, dass sie in Richtung der Fabrikanlage gehen.
Als sie eine Pause einlegen, kann Mandi erkennen, dass sie am hinteren Ende der Anlage angekommen sind. Der Weg, den sie gegangen sind, war ein weitläufiger Umweg und sie haben einige Haken geschlagen. Bei ihrem Marsch sind sie wieder bei den mächtigen Bäumen vorbeigekommen, die Mandi beim letzten Mal schon aufgefallen sind.
Elly blickt vorsichtig zwischen den Blättern auf die Anlage. Es ist 11 Uhr.
»Bestimmt haben sie die Sicherheitsvorkehrungen inzwischen verstärkt«, denkt Mandi. »Ich glaube nicht, dass wir noch einmal Glück mit einem ‚Mittagsspaziergang‘ haben werden.«
Anstatt die Anlage weiter zu beobachten deutet Elly Mandi, ihr zu folgen. Mandi ist verwirrt, aber sie folgt Elly schweigend. Sie können nicht das Risiko eingehen, erneut erwischt zu werden.
Nach einer Viertelstunde erreichen sie eine weitere Lichtung und Mandi traut ihren Augen nicht: Da ist noch eine Anlage! Diese hier ist viel kleiner als die erste und besteht nur aus drei Gebäuden – zwei größeren und einem kleinen. Auch sie ist bewacht. Zwischen und um die Gebäude herum sind kleine bis mittelgroße Satellitenschüsseln verteilt. Mandi hat Anzeigen für solche Sat-Schüsseln in Australien gesehen; sie werden an abgelegenen Orten eingesetzt, wie zum Beispiel bei Viehherden und von abgeschiedenen Aboriginegemeinden. Diese leistungsfähigen Geräte ermöglichen eine hochqualitative Telekommunikation – und das sollten sie auch, bei ihrem hohen Preis!
22 Diese Röcke, »Sarongs« genannt, sind lange, rechteckige Stoffstücke, die meist an den schmalen Enden zusammengenäht sind, sodass sie ein zylinderförmiges Kleidungsstück ergeben. Um es anzuziehen, stellt man sich in die Mitte, wickelt den Stoff um sich und rollt ihn schließlich in der Taille zusammen, damit er fest sitzt.
Mandi sieht sich weiter um: Im vorderen Bereich ist ein enger Käfig zu sehen, der fast wie ein primitiver, beengter Spielplatz wirkt. Zwei alte Reifen sind aufgehängt und es gibt kleine Plattformen in verschiedenen Höhen, vor denen lange Seile hängen, in die große Knoten geknüpft sind. Die Käfigtür ist geschlossen, obwohl der Käfig leer ist. Neben dem nächstgelegenen Gebäude sind Kabel mit dicker Isolierung pyramidenförmig aufgestapelt. Ein riesiger schwarzer Misthaufen ist abseits der Gebäude zu sehen, am entfernten Ende der Anlage.
Als der Ruf
zum Mittagsgebet ertönt, beobachten Mandi und Elly, wie die Männer
aus den beiden größeren Gebäuden kommen. Sie tragen die
traditionelle Gebetskleidung: Hemden, die lose über lange
»Röcke«22 hängen. Auf dem Kopf haben sie rechteckige
Kappen. Als sie das letzte Mal in Balikpapan war, hat Mandi sich
diese Kopfbedeckungen genauer angesehen. Sie können sehr dekorativ
sein. Am besten gefiel ihr eine aus schwarzem Samt, die reichlich
goldbestickt war – ein Kunstwerk. Mandi sieht, wie sich die Männer
mit ihren eingerollten Gebetsmatten vor dem dritten, kleineren
Gebäude anstellen. Es muss die Musholla sein, der
Gebetsraum.
Mandi möchte unbedingt wieder einen Blick in die Gebäude werfen, aber es ist klar, dass sie dabei wieder von einer Kamera erfasst werden würde. Sie nimmt ihr Minifernglas aus ihrem Rucksack und sieht sich die Gebäude genauer an.
»Wo sind die kleinen Dinger?«, murmelt sie leise zu sich. Sie sucht nach quaderförmigen Überwachungskameras, die ungefähr die Größe einer Zigarettenschachtel haben – etwas größer vielleicht –, ähnlich wie die, die in Geschäften und Museen verwendet werden, aber sie kann keine finden. Sie setzt das Fernglas ab und wendet sich zu Elly.
»Elly, gibt es da Überwachungskameras?«, fragt sie und versucht verschiedene Gesten, um Elly die Begriffe »Kamera«und »Foto«zu verdeutlichen; aber sie war nie gut in Pantomime …
Elly sieht Mandi fragend an und greift nach ihrem Fernglas. Sie setzt es an die Augen und nimmt es wieder ab. Noch einmal versucht sie es und setzt es wieder ab. Schließlich zeigt ihr Mandi, wie man es fokussiert, und Elly sieht minutenlang durch das Glas.
»Elly, sind da Kameras?«, wiederholt Mandi und begleitet ihre Frage wieder mit Gesten.
Elly zeigt auf etwas, umreißt dann in der Luft mit den Fingern die Form einer Raute und gibt das Fernglas Mandi zurück, damit sie selbst sehen kann. Mandi braucht einige Minuten, bis sie ein kleines, schwarzes, rautenförmiges Ding entdeckt, fast unsichtbar in den Dachschindeln versteckt.
»Ah, das sind also die kleinen Spione?«
Elly deutet erneut, dass Mandi ihr folgen soll. Sie gehen zurück in den Dschungel und kommen ein paar Minuten später an einer anderen Stelle der Anlage wieder zum Vorschein. Von dieser Position verdeckt das zweite Gebäude die Sicht auf das dritte, aber sie können in das Innere des zweiten sehen. Elly gestikuliert Mandi, dass sie es sich mit dem Fernglas ansehen soll.
Mandi ist überrascht. Was sich da im Gebäudeinneren befindet, sind anscheinend junge Affen in kleinen Käfigen. Aber sie ist sich nicht ganz sicher, denn die Fenster sind von Netzen oder Vorhängen verdeckt. Aber sie könnte schwören, dass es Affen sind! Sie reibt sich die Augen und sieht noch einmal hin.
»Vielleicht
sind es doch keine Affen«, sagt sie zu sich, »es sieht nicht danach
aus, dass sie sich viel bewegen.«Sie muss das
herausfinden …
Mandi macht Elly klar, dass sie ins Innere der Anlage will. Diesmal ist Elly offensichtlich auf die Frage vorbereitet, denn sie beginnt, einen kleinen Flecken Boden zu säubern, um darauf etwas zu zeichnen.
»Okay«, sagt Mandi, »unser Spielplan. Gut gedacht, Elly.«
Mandi sieht zu, wie Elly etwas in den Staub kratzt: Rechtecke für die Gebäude. Dann nimmt sie ein Blatt und deutet auf sich selbst; dann ein kleines Holzstück und deutet damit auf Mandi.
»Gut, du bist das Blatt und ich bin das Holz«, sagt Mandi.
Das Blatt
kommt in das erste Gebäude und dann zurück. Das Hölzchen geht ins
zweite Haus und kommt danach ebenfalls zurück.
»Das ist gut – du und ich, wie wir unsere Sache erledigen«, sagt Mandi. »Aber was ist mit all den Männern im dritten Haus …?« Sie hebt kurz einen Finger. »Im schlimmsten Fall werden wir geschnappt, hier und jetzt«, sagt sie. »Wir kommen in ein indonesisches Gefängnis. Mir schaudert bei dem Gedanken, aber es könnte passieren. Aber es ist wahrscheinlicher, dass wir – wie beim ersten Mal – gefasst werden, nachdem wir das Gelände verlassen haben. Das bedeutet, wir können gar nicht zum Camp zurück, sondern müssen woanders hin. Ich werde Marcus kontaktieren und die Pläne für unser Treffen ändern. Wir können untertauchen, bis Marcus und seine Kollegen hier sind, und dann sehen wir weiter. Im besten Fall … kommen wir unentdeckt davon … Aber ich glaube nicht, dass das tatsächlich geschehen wird.«
Wenn sie nur besser miteinander kommunizieren könnten, Elly würde Mandi noch viele andere Szenarien darlegen können …
Mandi sieht Elly an, nickt und deutet zur Anlage. Elly nimmt Mandis Hand in die ihre und drückt sie fest. Mandi ist nicht bewusst, was sie von Elly verlangt, und auch nicht, in welche Situation sie sich selbst damit in Wahrheit begibt. Auf der anderen Seite weiß Elly ganz genau, was sie tut. Aufgewachsen in Zentralkalimantan kennt sie die Gesetze des Dschungels. Sie kennt den Wert – und die Bedeutungslosigkeit – des Lebens. Und sie weiß, dass keine Kosten und Mühen gescheut werden, um die Geheimnisse dieser Gebäude verborgen zu halten. Sie sieht Mandi an und blinzelt. Mandi blinzelt zurück – sie sind Komplizen. Elly zeigt auf einen Abschnitt des Zauns, der bereits teilweise ausgegraben ist.
»Ah, du hast also schon Vorarbeit geleistet – du bist wirklich gut vorbereitet, Elly«, sagt Mandi.
Sie kriechen unter dem Zaun durch und stürmen los. Elly läuft zum ersten Gebäude und verschwindet im Inneren, Mandi rennt zum zweiten Haus und wirft einen vorsichtigen Blick durch eines seiner Fenster. Das Gewebe vor dem Fenster stellt sich als ein Moskitonetz heraus. Mandi kann an den Wänden entlang ungefähr ein Dutzend kleiner Käfige erkennen, in denen Orang-Utans sitzen. Sie sind ungefähr halb so groß wie Mandi oder noch kleiner. Die meisten von ihnen haben Kabel an Schläfen, Stirn und Nacken. Die Tiere, die nicht schlapp auf dem Boden liegen, beginnen schrill zu schreien, als sie Mandi am Fenster sehen. Mandi macht einen Sprung weg vom Fenster und schleicht um das Gebäude herum. Sie drückt sich gegen die Wand und späht vorsichtig ins Innere, um nicht von den Affen gesehen zu werden. Nur ein kleines Tier, das der Tür am nächsten ist, beobachtet sie lautlos aus weit aufgerissenen, verängstigten Augen. Dort, wo die Kabel an seinem Kopf stecken, ist sein rötliches Fell spärlich. In einer Ecke hockend schaukelt er langsam vor und zurück und zupft an seiner Augenbraue oder dort, wo seine Augenbraue früher gewesen ist. Mandi möchte ihn mitnehmen, aber der Käfig ist mit einem Vorhängeschloss versperrt.
Diesmal geht Mandi zielgerichtet vor – sie denkt daran, ihren e-Helper zu benutzen. Sie macht zuerst ein paar Fotos und schaltet den e-Helper dann in den Videomodus, um einen Schwenk durch den Raum zu filmen. Später wird man daraus Standfotos machen und Details herausvergrößern können.
»Ihr seid aufgeflogen«, murmelt Mandi. »Orang-Utans sind eine gefährdete Art, Experimente mit ihnen sind verboten. Und diese Zustände! Wenn ich diese Bilder draußen habe, werdet ihr hier eine gewaltige Anzahl von Tierschutzaktivisten haben, die in diese Anlage eindringen!«
In der Mitte des Raums steht ein Tisch mit einem ungeordneten Haufen verschiedener Dinge drauf: Elektrogeräte, Lederhandschuhe, verschiedene Handys, Minifernseher und andere Elektronik. Sauber auf Regalen aufgestapelt und gegen die Wand gelehnt finden sich auf der anderen Seite eine Anzahl großer Fernseher, Mikrowellenherde, Haartrockner, Waschmaschinen, Wäschetrockner, Küchengeräte und andere alltägliche Elektrogeräte. Zwischen den Käfigen befinden sich einige Geräte, aber nur zwei davon sind anscheinend in Betrieb. Obwohl ihre Kontrolllampen blinken, kann Mandi keinerlei Ausgabeeinheiten sehen.
»Entweder werden die Daten direkt in eine Datenbank geschrieben oder sie werden an einen anderen Ort übertragen … vielleicht das andere Gebäude«, denkt Mandi. Sie versucht herauszufinden, welches Gerät mit welchem Orang-Utan verbunden ist, und die Namen der Hersteller auf den Geräten zu entziffern, aber die Verkabelung ist zu unübersichtlich. Mandi blinzelt, aber sie kann trotzdem nicht klar genug sehen. Ihre Sicht ist irgendwie getrübt.
23 Der Kris ist mehr als einfach nur ein Buschmesser: Man sagt, er verfüge über übernatürliche Kräfte. Wenn er vom Vater an den Sohn vererbt wird, werden damit auch die Mächte der Vorfahren weitergegeben, die sich in der geheiligten Waffe angesammelt haben. Bestimmende Eigenschaften des Krises sind die Art der Kurven und Form der Klinge. Griff und Scheide sind oft aufwändig verziert.
»Super, warum sehe ich gerade jetzt so schlecht?«, ärgert sich Mandi, da zuckt sie zusammen. Elly zerrt hektisch an ihrem Arm – offensichtlich ist es Zeit für den Rückzug. Mandi folgt ihr so schnell und leise wie möglich, aber ihre Sehprobleme behindern sie und so stolpert sie immer wieder über Wurzeln und verfängt sich in Zweigen.
Elly führt Mandi eilig durch den Dschungel. Dabei trampelt sie gelegentlich das Unterholz nieder und bricht Zweige ab, um ihre Spur zu verwischen. »Also werden sie uns verfolgen«, sagt Mandi, ohne eine Antwort von Elly zu erwarten.
»Tidak pulang. Tidak pulang«, sagt Mandi und will Elly damit sagen, dass sie nicht in ihren Unterschlupf zurückkehren soll. Sie weiß nicht, dass Elly weder beabsichtigt zur Mine zu gehen noch zu ihrer Behausung. Das würde Eko gefährden und das will sie unter allen Umständen vermeiden.
Die Frauen
dringen weiter in den Urwald von Borneo vor. Wenn das Sonnenlicht
durch das Blätterdach dringt, versuchen sie, am Sonnenstand
Orientierung zu finden. Mandi vermutet, dass sie zum Fluss laufen,
der nach Zentralkalimantan fließt, ins Land der
Dayak.
Nach einer Stunde anstrengender Flucht erreichen sie eine Lichtung, an deren Rand sie sich im Schutz des Waldes niederkauern. Auf der Lichtung steht ein kleines strohgedecktes Holzhaus. Obwohl kein Wasser zu sehen ist, ist es auf Pfählen errichtet. Elly lauscht offenbar angestrengt. Und dann hört es auch Mandi: abwechselnd die Stimmen einer Frau und eines Mannes. Schnell zieht Elly Mandi zurück in den Schutz des Dickichts.
Mandi kann kaum etwas durch die Blätterwand hindurch erkennen, aber da sind zwei Männer, die an den Hauswänden mit Gewehren wachen. Sie tragen die hellbraunen Uniformen der Polizei. Zwei andere Männer in traditioneller, örtlicher Kleidung sind auch da; alle vier starren in Richtung Dschungel. Mandi und Elly bewegen sich nicht. Nach ein paar Sekunden drehen sich die Männer um und gehen zum Eingang des Hauses. Mandi kann jetzt sehen, dass die beiden traditionell gekleideten Männer einen Kris23 auf ihrem Rücken tragen. Die Schwerter werden mit dicken Tüchern an der Taille festgebunden. Mandi hat solche Männer schon auf der Landstraße gesehen. Aus der Sicherheit des Lastwagens waren sie nicht bedrohlich erschienen, hier – allein im Dschungel – möchte Mandi ihnen aber nicht begegnen.
Eine halbe Stunde lang sitzen Mandi und Elly reglos auf einer Baumwurzel im Dschungel, direkt hinter dem Haus. Kein Wort fällt. Dann deutet Elly, dass sie nun gehen wird und Mandi warten soll, bis sie zurückkommt.
Während sie auf Elly wartet, wird Mandi bewusst, in welch prekärer Situation sie sich befindet: Sie spricht die Landessprache nicht. Sie hat keine Ahnung, wo sie eigentlich ist. Niemand weiß, wo sie ist. Und sie sollte auch nicht hier sein!
So wie sich Mandi an die Lage des Bergwerksareals erinnert, befindet sich die Fertigungsanlage am westlichsten Rand des Areals. Wenn Elly und sie in westliche Richtung gegangen sind – was Mandi wegen des nahe gelegenen Flusses annimmt –, dann liegt die Stelle, an der sie sich jetzt befindet, nicht mehr auf dem Boden des Bergwerksbetriebes. Mandi hätte vielleicht auf der Mine Schutz erwarten können, aber auf fremdem Boden sieht das anders aus.
»Das Einzige, das für uns arbeitet«, denkt Mandi, »sind Ellys Dschungelerfahrung, die Einheimischen und Schmiergeld. Diesmal habe ich eine Menge für Bestechung dabei.«
Mandi kommt es vor, als würde sie stundenlang keinen Muskel rühren – sie wagt kaum zu atmen. Schließlich sieht sie eine schemenhafte Bewegung aus den Augenwinkeln, blitzschnell wendet sie ihren Blick hin, springt hoch und sieht genau hin. Aber dort, wo sich etwas bewegt hat, ist nichts mehr zu sehen. Sie hätte schwören können, dass sie eine kleine Gestalt gesehen hat. Könnte Eko ihnen gefolgt sein? Mandi schüttelt den Kopf – sie kann sich nicht vorstellen, dass er es schaffen hätte können, ihnen zu folgen, so schnell wie sie gelaufen sind. Sie sieht schon Hirngespinste!
Mandi schließt die Augen und lauscht auf die Geräusche des Waldes: spitze Schreie, zirpende Zikaden, plötzliches Gekreische. Sie öffnet die Augen und blickt um sich. »Keine Schlangen, Gott sei Dank«, denkt sie. Sie wirft einen Blick über ihre rechte Schulter, dorthin, wo Elly gesessen ist, und sieht ein zweites Mal hin: Zettel? Was sind das für Zettel?
Mandi greift langsam nach dem Papier. »Das sieht ja aus, wie … das kann nicht sein …«
Sie durchblättert den dünnen Stapel Papier. »Daten? Elly hat Daten! Sie muss im Forschungslabor gewesen sein.«Dadurch eröffnen sich neue Perspektiven! Mandi überfliegt gierig die Seiten und saugt so viel Information auf wie möglich. Es sieht ähnlich aus wie … die Art, wie die Daten dargestellt sind – Mandi kennt diesen Stil, kann ihn aber nicht zuordnen … Wo hat sie diese bestimmte Form der Darstellung schon gesehen? Jedenfalls sind es Aufzeichnungen von elektromagnetischer Strahlung, aber welche Produkte wurden getestet? Die, die sie in der Dschungelanlage gesehen hat? Jedes Gerät muss einen bestimmten Code haben …Die Zahlen weisen auf gefährlich hohe Strahlungswerte hin … Verglichen mit ihnen müsste man die Werte der raubkopierten e-Helper fast als »unbedenklich«bezeichnen. »Oh Gott«, stößt Mandi hervor.
Aus den
Augenwinkeln sieht sie wieder Bewegung. Sie hält den Atem an,
während sie sich zur Seite wendet, um zu sehen, was es ist. Elly
nähert sich schnell und geräuschlos und winkt Mandi, dass sie
aufstehen und ihr folgen soll. Sie nimmt Mandi die Blätter aus der
Hand und steckt sie in einen schwarzen Plastikbeutel, den sie aus
ihrer Tasche gezogen hat. Mandi versucht, ihn ihr wieder
wegzunehmen, aber Elly versteckt den Beutel in einer Höhlung eines
Baumes.
Mandi sieht sich nervös um. »Wie in aller Welt soll ich später wissen, in welchem Baum es versteckt ist?«, denkt sie verzweifelt. Elly erkennt die Not Mandis; sie ergreift fest ihre Hand und führt sie in den Dschungel hinein. Mandi fragt sich, ob Elly die Orientierung verloren hat, denn sie scheint ziellos umherzuziehen, bleibt einmal stehen, dreht sich dann wieder um, kommt zurück und so weiter.
»Nein«, sagt sich Mandi schließlich, »es ist nicht ziellos – sie hat sich nicht verirrt. Sie sieht sich die Umgebung sehr genau an – prüft Dinge, die ich gar nicht sehen kann – eine bestimmte Krümmung eines Baumes, eine Pflanzengruppe – Dinge, die sie leiten. Für mich ist der Wald nur ein Wirrwarr von Blättern, Zweigen und Bäumen, die alle gleich aussehen. Aber sie sind nicht gleich und Elly kann das sehen. Die Aborigines haben auch Zeichen aus der Wüste gelesen, wo ich dachte, da sei nichts.«
Eine weitere halbe Stunde später erreichen sie das Ufer eines braunen, trüben Flusses. Da ist ein kleines Boot – ein langes, schmales Boot, einfach aus ein paar langen Brettern gefertigt. An seinem Ende hockt ein alter, magerer Mann. Er schöpft mit dem unteren Teil einer Plastikflasche in monotonem Rhythmus das Wasser aus dem Boot und lässt es in hohem Bogen in den Fluss plätschern. Er sieht Elly an und nickt kaum merklich. Dann blickt er aus seinen sanften Augen auf Mandi und lächelt ruhig. Seine Sanftmütigkeit beruhigt Mandi augenblicklich – dieses Gefühl hat sie oft bei den Leuten hier.
In das Boot zu kommen ist nicht so einfach, wie es aussieht. Mandi steigt in das Gefährt und es schaukelt wild hin und her, einige Male dem Kentern nahe. Elly dagegen schafft den Einstieg rasch und behände, ohne dass auch nur ein Kräuseln auf dem Wasser zu sehen ist.
»Mit welchem Anmut und Gleichgewichtssinn sich diese Leute nur bewegen«, denkt Mandi bewundernd.
Das laute Getöse und Gestotter des Bootsmotors unterbricht das Konzert der Dschungeltiere. Bunte Vögel schrecken hoch und fliegen kreischend den Fluss entlang.
»Na fein!«,
denkt Mandi zynisch. »Wenn das Banditengesindel noch immer nicht
wusste, wo wir zu finden sind … Jetzt wissen sie
es!«
Sie sind schon eine Zeit lang gefahren, als ihnen nach einer Flussbiegung plötzlich zwei große Schnellboote entgegengerast kommen, zu beiden Seiten des Flusses. Der alte Mann versucht, das Letzte aus seinem Motor herauszuholen, aber gegen die starken Maschinen der Schnellboote ist nichts auszurichten. Eines drängt den kleinen Kahn zum Ufer ab, das andere blockiert ihn von vorne. Dem alten Mann bleibt keine andere Wahl als die Geschwindigkeit zu drosseln und das Ufer anzusteuern.
Plötzlich rammt das Schnellboot neben ihnen sie unsanft und der Mann wird ins braune Wasser geschleudert. Voll Entsetzen muss Mandi mit ansehen, wie ein Arm des Mannes in den Strudel der Schiffsschraube gerät. Sie will den Motor aus dem Wasser kippen – aber zu spät: Der Mann wird unter das Boot gezogen. Das braune Wasser färbt sich rot. Mandi sieht hoch ins Gesicht des Mannes, der das Schnellboot steuert – keinerlei Gefühlsregung ist in ihm zu erkennen. Sie sieht zurück in den Fluss – da ist keine Spur mehr von dem alten Mann. Das Wasser bildet braune Wirbel – wie zuvor.
Das Spiel »Bootrammen«geht weiter. Das Schnellboot stößt ein zweites Mal hart gegen das kleine Boot, sodass es beinahe kentert. Da schreit einer der Männer im anderen, quer stehenden Boot etwas. Mandi ist fest entschlossen, eher selbst ins Wasser zu springen als hineingestoßen zu werden und dann möglicherweise so zu enden wie der alte Mann. Sie packt Ellys Hand und zieht sie mit sich, als sie über Bord gehen. Sie springt möglichst weit weg vom Motor und stößt beim Sprung das Boot so kräftig wie nur möglich zum Schnellboot hin. Als sie auftaucht, sieht sie Elly wild mit den Armen fuchteln.
»Scheiße«, stößt sie hervor.
Mit drei kräftigen Zügen erreicht Mandi Elly und packt sie von hinten am Nacken. Sie schwimmt mit ihr zum Ufer, während die Männer auf den Booten eine Kehrtwende machen. Mandi hat die Wahl: Entweder sie flüchtet in den Wald und lässt Elly am Ufer liegen, was ihren Tod bedeuten könnte. Oder sie versucht sie durch Mund-zu-Mund-Beatmung zu retten. Sie will es versuchen. Mandi schleift Elly auf ein ebenes Stück des Ufers.
Während Mandi an der Wiederbelebung Ellys arbeitet, hört sie das Boot näherkommen. Jeden Moment erwartet sie, erschossen zu werden. Der Motor wird abgestellt. Schritte. Dann … nichts. Sie hört nur sich selbst laut zählen im Versuch, Elly ins Leben zurückzuholen. Sie gibt abwechselnd Mund-zu-Mund-Beatmung und macht Herzmassage. Elly zeigt keine Reaktion.
»Verdammt, Elly! Nicht sterben – du darfst nicht sterben!«, ruft Mandi außer Atem, bevor sie rastlos weitermacht.
Da plötzlich: Elly hustet eine kleine Fontäne Wasser aus und beginnt zu atmen. Sie öffnet die Augen und Mandi sinkt erschöpft neben ihr nieder. Als sie aufblickt, sieht sie neben sich die Männer stehen. Sie beobachten sie schon eine Zeit lang.
Wie auf Befehl heben sie ihre Schwerter und Gewehre. Die Aggressivität, mit der sie das Boot angegriffen haben, scheint allerdings gewichen zu sein. Der Mann in Polizeiuniform schreit nicht mehr, sondern er spricht. Elly versucht aufzustehen, fällt aber rückwärts hin – Mandi hilft ihr auf.
Elly und Mandi werden getrennt und an kleine, harte Stühle gefesselt, die in der Mitte der Schnellboote aufgestellt werden. Die Boote rasen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen sind. Als sie sich vom Ufer entfernen, sieht Mandi ihren schwarzen Rucksack im Wasser zwischen dem Schilf tänzeln, dann versinkt er im braunen Strudel.
»Ich frage mich, ob es noch irgendeine Spur von mir geben wird«, denkt Mandi. »Vielleicht wird mein Name auf eine Vermisstenliste gesetzt? Wie lange man wohl auf so einer Liste bleibt, bevor man endgültig abgeschrieben wird?«
Mandi zwingt sich, solche Gedanken nicht zu denken: »Keine weiteren morbiden Überlegungen«, sagt sie sich. »Wir sind nicht tot. Noch nicht.«Sie denkt an die Orang-Utans in den Käfigen und an den alten Mann im Boot. »Diese Bastarde werden nicht siegen. Denk nach! Denk! Es muss einen Weg geben …«
Das Bild von Marcus kommt Mandi in den Sinn. »Wenn ich nur Marcus und seine Gruppe kontaktieren könnte«, denkt sie.
Neben dem Studium der indonesischen Sprache hat sich Mandi an den Abenden im Bergwerkscamp auch mit Nachforschungen über SR Inc. befasst. Obwohl das Unternehmen kaum jemals direkt in Zusammenhang mit Rettungsaktionen gebracht wird, wird der Name doch oft genug in Verbindung mit Hilfestellungen bei Feuer, Explosion und Naturkatastrophen wie zum Beispiel Wirbelstürmen und Erdbeben genannt. »Wie durch ein Wunder«, heißt es immer wieder in den Medien, wenn von diesen Rettungsaktionen die Rede ist.
»Na ja, ein Wunder wäre auch in dieser Situation angebracht«, denkt Mandi. Sie beobachtet die Männer im Boot. Derjenige, der sie bewacht, lehnt an der Bordwand gegenüber von ihr. Sein Schwert hat er wieder mit dem Tuch auf seinen Rücken gebunden. Sein Gesicht hat mehr Ähnlichkeit mit dem von Elly als mit dem der anderen Männer, der Polizisten, die das Boot lenken. Sein und Ellys Gesicht sind ein wenig breiter und gröber geformt. Mandi fragt sich, ob das vielleicht die Merkmale des Volks der Dayak sind im Gegensatz zu den indonesischen Einflüssen. Elly schien nach Zentralkalimantan zu wollen und Mandi weiß, dass das Dayak-Gebiet ist.
Mandi erinnert sich daran, was sie einmal in einem Pub in Singapur gehört hat. Sie und Alan hatten ein paar Australier getroffen, die von Kalimantan hergeflogen waren, um eine Pause einzulegen. Sie saßen beisammen und bald begannen die Australier, Geschichten über die Dayak von Zentralkalimantan zu erzählen. Es ging um Kopfjagdrituale, ihre eigenartige Mischung von Christentum und Animismus und ihren Glauben an die Mächte der Vorfahren. Sie sagten, die Dayak glaubten an Geister, und das wäre der Grund, warum Frauen bei der Dämmerung nicht im Freien sein dürften. Die Geister würden dann draußen umgehen und die Frauen – als das »schwache Geschlecht«– müssten in den Häusern bleiben. Angeblich glauben die Dayak auch verhindern zu können, dass ihre Opfer sie als Geister weiter verfolgen, indem sie ihnen Köpfe und Hände abschneiden. Als die Männer den entsetzten Gesichtsausdruck Mandis sahen, lachten sie und sagten, sie würden nie »die Wahrheit einer guten Geschichte in den Weg stellen«– eine australische Redensart.
Glaubt ihnen Mandi? Egal, wo die Wahrheit liegt, sie weiß eines: Die Indonesier, die Mandi kennen gelernt hat, haben offensichtlich einen gesunden Respekt vor den Dayak.
Mandi sieht zu, wie die gewundene Flusslandschaft vorbeizieht. Nach einiger Zeit beschließen die Polizisten, Mandi und Elly so unterzubringen, dass sie nicht mehr zu sehen sind. Sie legen sie mitsamt den Stühlen, an die sie gebunden sind, seitlich hin, sodass sie hinter der Seitenwand des Bootes verborgen sind. Die Männer werfen leichte Decken über die Frauen.
Mandi spürt die Vibration des Motors unangenehm an Hüfte, Schulter und Kopf. Unter der Decke ist es stickig und heiß und so knapp über dem Holzboden gibt es kaum eine Luftbewegung.
Mandi ruft: »Permissi. Permissi. He, Entschuldigung!«
Der Mann in traditioneller Kleidung hebt die Ecke der Decke etwas hoch und Mandi sagt: »Ja! Ja! Bagus – gut.«Sie nimmt einige tiefe Atemzüge, damit der Mann versteht, dass sie mehr frische Luft braucht.
Der Polizist sagt etwas zu dem Mann, der daraufhin die Decke so richtet, dass Mandis Gesicht zwar bedeckt ist, sie aber trotzdem mehr Luft bekommt.
Mandi hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstreicht, bevor das Boot langsamer wird. Sie zwingt sich, besonders aufmerksam zu sein – vielleicht geben gewisse Umgebungsgeräusche einen Hinweis darauf, wo sie sich befindet. Aber sie hört nichts außer Dschungelgeräuschen und Männerstimmen. Bevor der Polizist Mandi mitsamt dem Stuhl aufrecht stellt, bindet er ihr die Augen zu. Sie hört die Stimmen anderer Männer und spürt, wie das Boot schaukelt, während anscheinend Leute aus- und einsteigen. Die Vorbeigehenden werfen kühle Schatten auf sie. Mandi versucht mitzuzählen, wie viele Schatten es sind und wie oft das Boot schaukelt, aber alles ist zu verworren.
Nach kurzer Zeit hat man offenbar beschlossen, Mandi woanders hinzubringen. Ihre Arme werden unsanft gepackt und das Seil, mit dem sie am Stuhl festgebunden war, fällt zu Boden. Ihre Hände werden ihr schnell auf den Rücken gelegt und sofort wieder zusammengebunden. Jemand greift ihr unter die Arme und zieht sie hoch. Aber die Fesseln an den Beinen haben ihr das Blut abgeschnürt und ihre Beine sind gefühllos und geben nach. Bevor die Männer sie auffangen können, fällt sie kopfüber gegen die Bordwand. Mandi spürt einen stechenden Schmerz über ihrem rechten Auge – und wie das Blut in die Augenbinde sickert. Sie hört aufgeregtes Schreien. Beim Versuch die Beine zu bewegen spürt sie immer noch nichts außer ein starkes Kribbeln. Schließlich wird ihr ein kühles Tuch auf die Stirn gelegt und das Gefühl in den Beinen kehrt langsam zurück. Man hilft ihr wieder auf und diesmal bleibt sie auf den Beinen.
Wüsste Mandi, was ihr bevorsteht, sie würde diese »Ruhepause«im Boot mehr genießen. In dieser Nacht marschieren sie über vier Stunden durch den Dschungel. Zuerst geht es nur langsam voran. Mandi sind immer noch die Augen verbunden, sie stolpert oft und fällt immer wieder hin. Grob wird sie dann hochgezogen und weitergetrieben. Schließlich nimmt man ihr die Augenbinde ab, lässt sie aber weiter geknebelt.
Mandis Erleichterung, als sie Elly sieht, ist groß – ihre Augen füllen sich mit Tränen. Als Elly die Augenbinde abgenommen wird, blickt sie schnell um sich, bis sie Mandi sieht. Ihre Blicke treffen sich und sie sehen einander lange an. Kein Lächeln ist auf ihren Lippen, aber der intensive Blick gibt unglaublich viel Trost.
Sie sind im Dschungel und es sind immer noch dieselben Männer, die sie begleiten. Es geht weiter – noch ein paar anstrengende Stunden, bevor endlich wieder für eine Rast angehalten wird. Einer der Polizisten reicht Elly und Mandi eine Wasserflasche und die Männer rauchen eine Zigarette. Mandi bemerkt, dass die Polizisten eng zusammensitzen und ebenso die Dayak. Aber die beiden Gruppen halten Abstand voneinander. Auch Mandi und Elly werden wieder getrennt.
»Würde mich interessieren, wie loyal die Dayak gegenüber den Polizisten im Ernstfall wirklich sind«, denkt Mandi. »Vielleicht kann man sie gegeneinander ausspielen …«
Nachdem Mandi die Distanz zwischen den Dayak und den Polizisten aufgefallen ist, beobachtet sie mit noch größerer Aufmerksamkeit die gruppendynamischen Vorgänge. Es wird zwar während des Marsches nicht viel gesprochen, aber allein, wie die Dinge getan werden, ist aufschlussreich. Die Dayak sind diejenigen, die vorangehen und den Weg frei schlagen, wenn ein besonders undurchdringliches Stück Wald zu durchqueren ist. Diese Rolle ist möglicherweise eine Folge ihres geschickten Umganges mit den Krisschwertern, aber vielleicht ist es auch die übliche Hierarchie: die Dayak zuständig für die Ausführung manueller Arbeit und die Polizisten die Befehlshaber? Jedes Mal, wenn irgendetwas als »ungewöhnlich«angesehen wird – eine besonders dichte Dschungelstelle, ein außergewöhnlich dicker Stamm, sumpfiger Boden –, wird ein Dayak vorausgeschickt. Sobald der Weg frei und gesichert ist, ruft der größere der Polizisten etwas nach vorne und der Dayak nimmt seinen Platz in der Gruppe wieder ein.
Mandi wünscht sich nichts sehnlicher als stehen zu bleiben. Aber als sie dann tatsächlich stehen bleiben, ist es nicht ganz so toll, wie sie es sich vorgestellt hat. Denn solange sie gehen, bewegen sie sich wenigstens. Es gibt zwar jede Menge Moskitos und andere Insekten, aber indem Mandi ihren Kopf ständig hin und her bewegt, kann sie sie halbwegs abschütteln, solange sie gehen. Aber wenn sie stehen, hat Mandi keine Chance: Die Moskitos greifen aus allen Richtungen an. Sie spürt sie an der Stirn und im Gesicht und in den Ohren hört sie ihr Gesirre. Sie schüttelt wild den Kopf, um die Viecher anzuwehren, aber davon wird ihr schwindlig und sie fällt hin.
Rundherum ist jetzt überall Aktivität. Mandi sieht zu, wie die Männer das Nachtlager errichten. Rund um die eine Öllaterne bauen die Dayak Schlafstellen aus Ranken und Zweigen. Bei der anderen Laterne machen die Polizisten ein kleines Feuer. Sie ziehen einen zusammenlegbaren Topf aus ihrem Gepäck hervor und füllen Wasser und Reis hinein.
Bevor die Männer mit dem Essen beginnen, lässt Mandi einen deutlichen Grunzer durch ihren Knebel hören. Daraufhin nimmt ein Mann ein Stoffstück und wickelt es Mandi um den Kopf. Obwohl es heiß und beengend ist, schützt das Tuch Mandi vor den Moskitos. Mandi bedankt sich beim Dayak mit einer leichten Verneigung.
Mandi isst sonst selten Reis, aber diese kleine Portion von einfachem, weißem Reis, die ihr an diesem Abend zugeteilt wird, schmeckt großartig. Sie bemerkt, dass die Dayak keinen Reis bekommen, sondern kurz nachdem sie und die anderen mit dem Essen begonnen haben, im Dschungel verschwinden.
Mandi schläft so schnell auf ihrem Lager ein, dass sie nicht mehr mitbekommt, wann die Dayak zurückkommen. Kurz bevor ihr die Augen zufallen, wechselt sie wieder einen langen, intensiven Blick mit Elly. Sie liegen sich gegenüber, können aber wegen der Knebelung nicht miteinander sprechen. Mandi fällt in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Tag geht es weiter mit dem Marsch. Die Zeiteinteilung folgt den Gebetszeiten der Muslim-Polizisten: Um 5 Uhr früh gibt es den ersten Ruf zum Gebet, danach bekommen Mandi und Elly eine kleine Portion Reis. Um 6 Uhr gehen sie los. Zur 9-Uhr-Gebetspause bekommen Mandi und Elly Wasser zu trinken. Die indonesischen Polizisten trinken ebenfalls Wasser und rauchen eine Zigarette. Die Pause um 11:30 Uhr ist allerdings eine längere Rast und sie ist dringend nötig. Sie essen wieder etwas Reis und machen ein Nickerchen. Die Tageshitze brütet jetzt voll und Mandi fühlt sich müde, überhitzt und durstig. Derselbe Mann wie gestern kommt zu ihr und umhüllt ihren Kopf mit einem Tuch. Mandi beugt sich vor, um ihm die Sache zu erleichtern, lächelt und dankt ihm. Sie versucht ihm in die Augen zu sehen, aber er sieht zur Seite. Genau dieser Dayak hält dann Wache, während die anderen schlafen. Mandi nimmt an, dass er nach Pythons Ausschau hält – über die Schlangen erzählt man sich ja Horrorgeschichten …
Der Nachmittag ist unterteilt durch Gebete und Pausen um 3 und 6 Uhr. Wieder wird ein Lager errichtet und alle legen sich zum Schlaf nieder. Diesmal schläft Mandi aber nicht so gut. Sie träumt, sie sei allein in dem schmalen Boot des alten Mannes. Sein dürrer Arm streckt sich ihr aus dem dreckigen, braunen Wasser entgegen und Mandi ergreift ihn, um den Mann an Bord zu ziehen. Aber stattdessen zieht er Mandi ins Wasser. Sie hält seine Hand und gemeinsam schwimmen sie davon, lassen das schmutzige Wasser hinter sich und erreichen den tiefblauen Ozean. Mandi sieht sich um und sieht Männer und Frauen, Babys und Kinder, denen große Tumore an den Köpfen gewachsen sind. Im Wasser zucken kleine Blitze. Mandi kann nicht sehen, woher sie kommen, bis sie sich plötzlich in deren Mitte befindet. Um sie herum treiben Millionen von e-Helpern, die alle winzige Energieblitze abgeben. In Mandis Kopf hämmert es wild. Sie sieht einen kleinen Buben, ungefähr in Ekos Alter – er schwimmt auf sie zu. Er sieht aus wie Eko und auch er hat einen Tumor am Kopf. Als er seinen Arm nach ihr ausstreckt, schreckt sie entsetzt zurück. Sie will an die Oberfläche, aber sie weiß nicht, in welche Richtung – alles beginnt sich zu drehen und wird durcheinander gewirbelt …
Mandi setzt
sich so abrupt auf, dass sie Elly fast von ihrem Schlafplatz stößt.
Elly versucht sie zu beruhigen und dazu zu bringen, sich wieder
hinzulegen. Schließlich rollt sie sich zur Seite – das Gefühl von
Ellys Körper an ihrer Seite tröstet sie und bald schläft sie
wieder.
Der nächste Tag im Dschungel beginnt gleich wie der vorige, nur dass Mandi diesmal mit Kopfschmerzen aufwacht – wahrscheinlich vom Flüssigkeitsmangel. Im Lager ist es noch ruhig. Mandi bemerkt kurz eine Bewegung, die hinter einem Baum aufblitzt, aber es ist zu dunkel, um sicher zu sein. Sie fragt sich, ob man von Flüssigkeitsmangel Halluzinationen bekommen kann.
Sie fragt sich auch, wie viele Tage sie das
noch durchhalten wird …