10. Das Wohl der Masse
Die Chinesen glauben, dass die Nacht eine verhexte Zeit ist – die Zeit der Geister. Das hat man Peter Birch auf einer Geschäftsreise nach Peking vor einem Jahr erzählt. Seine Erfahrung in Finanzgeschäften und seine »orientalischen« Interessen haben ihn als die geeignete Person dafür qualifiziert, auf höchster Ebene geschäftliche Gespräche zu führen. Er fand den Markt und die Geldbörsen der Chinesen reif für die Ernte.
Peter ist nicht überrascht über den Geisterglauben, denn er hat ein gutes Gespür für »orientalische« Dinge. In seiner Zeit in China hatte er mehr verstörende Träume gehabt, als man es normalerweise hat. Oft war er in der Geisterzeit aus dem Schlaf hochgeschreckt. Er hatte Visionen von seinem Sohn in epileptischen Anfällen und er erlebte immer wiederkehrende Wellen von Impotenz. In China war es leicht, zumindest die Impotenz zu widerlegen – er brauchte nur die Rezeption anzurufen und sich eine Frau kommen zu lassen. Zuhause ist es schon schwieriger, mit seinen Gefühlen zu Rande zu kommen; er muss an seine schlafende Frau und die zwei kleinen Kinder denken.
Er hat
sich selbst in den Armen vieler Frauen bewiesen und seine Erklärung
für dieses Verhalten sind die üblichen Ausreden: Stress und
Belastung. Immerhin ist er als Vizepräsident für die Finanzen eines
multinationalen Konzerns verantwortlich. Außerdem kann er sich vor
seinen Kollegen, den Partnern in der Kooperative, keine Blöße
geben. Nach der Lehre von Darwin kommen nur die stärksten Tiere
voran und diese Theorie ist nicht auf das Tierreich beschränkt. Er
ist Teil eines darwinschen Konsortiums von Unternehmen und er ist
stolz darauf, das stärkste Mitglied dieses Rudels zu
sein.
17. März 2014
Indonesien
Im Bahtera Hotel angekommen, durchmisst Mandi ihr Zimmer und wirft immer wieder einen Blick aus dem Fenster. Ihre Gedanken rasen und sie kommt nicht zur Ruhe. Beim gedankenlosen Durchblättern der Hotelbroschüre, die auf dem Nachttisch gelegen ist, sieht Mandi, dass das Hotel über eine Badeanlage verfügt. Sie beschließt, sie zu probieren.
Sie ist
erstaunt darüber, was sie vorfindet. Die kleine Anlage ist unisex –
Männer und Frauen benutzen dasselbe Dampfbad und dasselbe
Abkühlbecken. Mandi hat sich daran gewöhnt, dass die Geschlechter
in Indonesien getrennt sind. Außer bei großen religiösen Festen
besuchen die Männer die Moschee, während die Frauen zuhause beten.
Terry hat erzählt, dass es nicht ungewöhnlich ist, Männer abends in
einer Bar oder an einem Teestand anzutreffen. Hingegen ist es sehr
wohl ungewöhnlich, an solchen Orten Frauen zu
sehen.
Da Mandi keinen Badeanzug dabei hat, ist sie erleichtert, dass niemand im Bad ist außer dem Bademeister und einem Mann, der den Boden aufwischt. Sie zieht ihre Laufshort und den schwarzen Sport-BH an, der als Bikinioberteil durchgehen kann, und setzt sich auf eine der hölzernen Bänke im kleinen Dampfbad. Den Duft von Sandelholz inhalierend spürt sie den Schweiß von den Augenwinkeln über ihr Gesicht rinnen und auf ihre Taille tropfen. Sie atmet tief ein und versucht sich zu entspannen.
Aber schon nach kurzer Zeit kommen klaustrophobische Gefühle in Mandi hoch und sie geht aus der Dampfkammer zum kleinen, runden Becken mit dem eiskalten Wasser. Sie weiß, dass sie ganz schnell eintauchen muss, wenn sie nicht den Mut dazu gänzlich verlieren will. Sie steigt die Leiter hinunter ins Wasser, taucht ein und schnellt wieder hoch. Sie schnappt nach Luft – die Kälte raubt ihr buchstäblich den Atem. Dann streift sie das Wasser von ihrem Haar ab und steigt aus dem Becken.
Mandi sieht
nach dem anderen Becken, das wärmeres Wasser enthält und außerdem
ein Whirlpool ist. Gerade ist ein Indonesier hineingestiegen und
Mandi ist nicht sicher, ob sie nicht vielleicht irgendein
ungeschriebenes Gesetz bricht, wenn sie das kleine Becken mit einem
Mann teilt. Aber sie will jetzt diesen Whirlpool benutzen. So wie
das Kaltwasserbecken ist es groß genug, um mindestens fünf Personen
Platz zu bieten. Mandi nähert sich dem Pool, grüßt leise den Mann
und steigt ins Wasser. Der Mann sieht ihr zu, nickt dann und
schließt die Augen. Mandi macht es sich im Wasser bequem und
positioniert sich so, dass zwei Wasserstrahlen ihren Rücken
massieren.
Das warme Wasser ist angenehm, aber irgendetwas irritiert Mandi. Sie fühlt sich beobachtet. Sie öffnet die Augen: Der Mann ihr gegenüber sitzt immer noch reglos mit geschlossenen Augen im Wasser. Der Bademeister sieht zu ihr herüber, aber das hat er die ganze Zeit über getan – das ist es nicht, was sie stört. Der Reinigungsmann ist nirgendwo zu sehen.
»Ich bin paranoid«, denkt Mandi. »Entspanne dich! Alles ist bis jetzt gut gelaufen auf dieser Reise. Hör auf ständig zu denken, irgendetwas sei faul!«
Mandi atmet tief ein und aus. Ein wenig Entspannung macht sich breit, aber sie fühlt immer noch eine gewisse Ruhelosigkeit. Sie beschließt, bald zu gehen.
Nach dem Abendessen bittet Mandi an der Rezeption, um 7 Uhr geweckt zu werden, und begibt sich danach auf ihr Zimmer. Sie wird in der Früh mehr als eine Stunde Zeit haben, um zu duschen und zu frühstücken, bevor sie vom Hotel zum Flughafen aufbricht. Der Flug nach Kota Baru geht um 9:30 Uhr.
Obwohl es noch früh ist, schläft Mandi schon bald beim Fernsehen auf dem Bett ein. Bis kurz nach Mitternacht schläft sie tief – dann erwacht sie durch einen lauten Knall. Mandi taumelt verschlafen zum Fenster und sieht hinunter – nichts Besonderes ist zu sehen. Nur ein grüner Kleinbus, der vor dem Hotel gehalten hat. Leute steigen in gebückter Haltung aus und ein. Autos, Becaks und Motorroller brausen vorbei.
Mandi fühlt sich jetzt noch gereizter als vor dem Schlaf. Sie öffnet das Buch, das sie gerade liest, bei der Seite, wo sie aufgehört hat. Sie liest einen Absatz. Sie liest ihn noch einmal. Zwecklos – sie kann sich nicht konzentrieren. In so einem Fall, sagt sie sich, ist das Beste ein Schlummertrunk an der Hotelbar.
Obwohl es erst kurz vor Mitternacht ist, hat die Bar bereits geschlossen. Mandi geht zur Rezeption und fragt nach einer Bar, die noch offen hat. Der Mann unterdrückt ein hämisches Grinsen: »Da ist die Borneo Bar, Madam. Sehr beliebt. Wünschen Sie Begleitung?«
»Nein, keine Begleitung«, sagt Mandi. »Ich möchte nur ein Glas Wein trinken.« »Natürlich«, antwortet der Rezeptionist mit professioneller Ausdruckslosigkeit.
Mandi nimmt sich vor dem Hotel ein Taxi. Während der Fahrt denkt sie daran, was Marcus, Maria und Barry über die Borneo Bar gesagt haben. Sie scheint ein »interessanter« Ort zu sein, stark besucht von Ausländern.
Um zur Bar zu gelangen, muss Mandi eine Betonwendeltreppe hinuntersteigen. Durch die schmalen Eingangstüren aus Glas kann sie Lichter aufblitzen sehen und verschwommene Umrisse von Köpfen, die sich rhythmisch auf und ab bewegen. Sie zahlt dem chic gekleideten Mann, der links neben dem Eingang sitzt, ein beachtliches Eintrittsgeld und bewegt sich vorwärts in die Dunkelheit.
Hätte Maria
nicht ihren ersten Eindruck der Borneo Bar geschildert, Mandi würde
sofort kehrtmachen und gehen. Maria hatte gesagt, dass sie sich
beim Betreten dieses Lokal nicht wohl gefühlt hatte, und Mandi
empfindet das gleiche. Der unterirdische Raum ist beengt und
dunkel. An den Seitenwänden befinden sich Glasvitrinen, in denen
Flaschen mit harten Getränken stehen. Bei den Flaschen sind kleine
Kärtchen mit Namen, von denen Mandi einige liest: Paul Jacobs, Dave
Swenson, Patrick Carney. Anscheinend haben Stammgäste ihre eigenen
Flaschen und reservierte Plätze in den Vitrinen!
Mandi wendet sich dem Hauptraum zu. Überall Körper an Körper, dicht gedrängt. Von allen Seiten spürt Mandi Männerkörper gegen sich gedrückt. Köpfe drehen sich nach ihr um, als sie sich an den Leuten vorbeizwängt. Sie hält ihre Handtasche fest im Griff und arbeitet sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts.
Endlich hat sie sich einen Platz an der Bar erobert, lehnt sich mit dem Ellbogen daran und sieht sich um. Die Charakterisierung der Borneo Bar durch Marcus als »heiß« ist sicher treffend. Marcus hat besonderen Gefallen an den Live-Aufführungen gefunden und Mandi ist klar, warum! Die zwei Sängerinnen in knallengen Miniröcken, glänzenden schwarzen Tops und hochhackigen, kniehohen, schwarzen Stiefeln wiegen sich aufreizend zur Musik. Ihr gerades, schwarzes Haar reicht bis zur Taille und schimmert samtig im Licht der grellen Scheinwerfer. Die Gesichter der zierlichen jungen Frauen sind sehr stark geschminkt. Sie sehen aus wie Teenager, aber Mandi nimmt an, dass sie wahrscheinlich Anfang zwanzig sind. Mandi sieht eine Weile zu, wie sie mit unglaublicher Energie auf der kleinen Bühne umhertanzen.
Die Besuchermenge ist eine Mischung aus indonesischen und europäischstämmigen Männern. Es sind nur wenige indonesische Frauen unter den Leuten und Mandi wird bewusst, dass sie hier anscheinend die einzige Nichtasiatin ist.
Als Mandi gerade ihr Glas an die Lippen führen will, wird sie von hinten von einem Mann angesprochen: »Entschuldigung, ich glaube, ich kenne Sie …«
Mandi dreht sich zu dem Mann um. Er ist groß gewachsen, mittelkräftig und ungefähr in ihrem Alter. Die Diskobeleuchtung lässt bunte Flecken in seinem Gesicht aufzucken. Mandi findet ihn attraktiv, aber sie kennt ihn nicht. Und was sie sicher ganz und gar nicht schätzt, ist eine derart unoriginelle Anmache. Sie antwortet mit einem knappen »Aber ich kenne Sie nicht« und dreht dem Fremden wieder den Rücken zu.
»Sie sind Mandi, nicht?«, fragt der Mann.
Mandi dreht sich noch einmal um, diesmal zur Gänze: »Es tut mir Leid, aber ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals getroffen zu haben.«
»Das wundert mich nicht«, sagt der Mann. »Sie waren nicht ganz bei sich, als sie aus dem Dschungel weggebracht wurden – in meinem Flugzeug. Ich bin Dave.« In dem Gedränge streckt er Mandi umständlich die Hand entgegen.
»Dave«, wiederholt Mandi, während sie sich die Hand geben, »ja, Marcus hat mir erzählt, wie er sich Ihr Flugzeug ‚ausgeborgt‘ hat. Ich habe sowieso vorgehabt, Sie zu kontaktieren, um Ihnen zu danken. Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«
Dave lächelt: »Ja, vielen Dank. Ich hätte gern ein Sprite.«
Mandi sieht ihn erstaunt an: »Ein Sprite?«
»Ja, ich muss in ein paar Stunden fliegen, also wechsle ich zwischen Kaffee und Sprite«, antwortet er.
Während der
nächsten Stunde sprechen die beiden ein wenig miteinander, so gut
es geht. Die laute Musik erlaubt nur den sporadischen Austausch
einzelner, kurzer Sätze. Mandi sieht sich um – nirgends wird viel
gesprochen. Die Tanzfläche bei der Bühne ist voll gepackt mit
wehenden Armen und wirbelnden Torsi. Pärchen kommunizieren sowohl
dort als auch in den dunklen Ecken, aber Sprechen ist dabei kaum
das Mittel ihrer Wahl! Mandi beobachtet aufmerksam die
Körpersprache und den Blickwechsel zwischen Männern, Frauen und
Transvestiten, die man hier »Ladyboys« nennt.
Mandi hat schon am Eingang einige Ladyboys gesehen und war über ihre Eleganz erstaunt. Ihr sehr feminines Make-up sticht hervor und sie sind in verführerische, teure Kleider gehüllt. Die verräterischen Körpermerkmale, die sie von den schönen indonesischen Frauen unterscheiden – Adamsapfel und ihre großen Hände –, versuchen sie auf kreative Weise zu verbergen.
Mandi erhascht einen Blick auf sich selbst in einem Spiegel der Glasvitrinen, und muss die Nase rümpfen über das konservative Gesicht, das ihr da entgegenblickt. Die Ladyboys sehen ja weiblicher aus als sie!
Mandi hat genug von dem Lärm, dem Rauch und dem Gedränge. Sie wendet sich Dave zu, um sich zu verabschieden, aber der sagt, er wolle auch gerade gehen. So drängen sie sich gemeinsam durch die Menge, die inzwischen noch dichter geworden zu sein scheint.
Die Ruhe und die frische Nachtluft sind wie eine Erlösung. Mandi sieht zum Himmel hinauf, aber sie kann kaum Sterne sehen. Dafür kann sie das Salz in der Luft des nahen Meeres riechen.
»Wie wär’s mit einem Kaffee?«, fragt Dave. »Da ist ein kleines Café vorne am Meer.«
»Ja, das wäre
gut. Ich bin sowieso nicht müde«, antwortet Mandi.
Während sie gehen und plaudern, sieht sich Mandi um – erstaunlich, was um diese Zeit hier los ist! Da sind Straßencafés in Form kleiner Holzhütten, nur schwach erleuchtet von einer einzelnen Glühbirne, mit hölzernen Bänken davor. Darin sitzen Männer in Gruppen, trinken Tee und essen aus kleinen Schüsseln. Junge Männer treiben sich herum, lehnen rauchend an ihren Motorrollern und sprechen an ihren e-Helpern.
»Ich wette, das sind raubkopierte e-Helper«, denkt Mandi. »Sie kochen sich damit Tag für Tag ihre Gehirne weich.« Ihre Wut kommt wieder hoch und sie ist entschlossener als je zuvor, dieser Gefahr und diesem Unrecht ein Ende zu setzen.
»Kann ich hier irgendwo einen e-Helper kaufen?«, fragt Mandi. Sie will sehen, ob das hier einer der Orte ist, wo dieser Müll unter die Leute gebracht wird. »Nein, die Geschäfte haben jetzt geschlossen«, sagt Dave. »Aber Sie können gerne meinen verwenden, wenn Ihrer Probleme macht.« Er zieht den e-Helper aus seiner kleinen Gürteltasche hervor und bietet ihn Mandi an.
»Meiner hat den Geist aufgegeben«, lügt Mandi. Sie nimmt Daves e-Helper und dreht ihn um. Aber es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen, also wartet sie, bis sie zu einer Straßenlaterne kommen. Leider kann sie trotzdem noch nicht erkennen, ob da das Zeichen eines kleinen Halbmondes ist oder nicht. Dankend lächelnd gibt sie Dave das Gerät zurück und sie gehen weiter.
Schließlich erreichen sie das Café. Es besteht aus einer Anzahl von Stühlen, die rund um drei kleine, runde Tische am Rande des Gehsteiges aufgestellt sind. Dave gibt seine Bestellung auf, während Mandi auf das Meer hinaussieht und die Wellen beobachtet. Immer wieder rollt die weiße Gischt heran und verschwindet unter der Strandpromenade.
»Ich kenne jemanden, der Sie gerne treffen würde«, sagt Dave.
Mandi sieht ihn erstaunt an. Wer könnte sie treffen wollen? Sie kennt hier keinen Menschen! »Elly.«
»Elly?«, wiederholt Mandi. Sie lehnt sich nach vor, ihre Augen leuchten plötzlich vor Aufmerksamkeit. »Wie geht es Elly – und Eko? Wie geht es ihnen? Wo sind sie? Und warum kennen Sie sie?«
»Schön langsam«, lacht Dave. »Elly und Eko geht es gut. Eko war eine Zeit lang mit Denguefieber im Spital, aber er erholt sich schon wieder. Er ist zwar schmächtig, aber ein zähes Bürschchen. Und Elly geht es auch gut.« »Sie sind also Ihre Freunde?«, fragt Mandi.
»Sie sind
meine Nachbarn in Palankaraya«, erklärt Dave. »Nachdem ich Sie,
Marcus und die anderen nach Kota Baru gebracht hatte, flog ich
zurück und holte Elly und Eko. Sie leben nebenan, bei einem
Dayak-Freund von mir. Es ist das erste Mal, dass Elly nach Hause
zurückgekommen ist seit dem Tod ihres Sohnes und ihrer
Schwester …«
»Ihr Sohn? Sie hatte neben Eko noch einen anderen Sohn?«, unterbricht ihn Mandi.
»Eko ist nicht Ellys Sohn«, sagt Dave. »Er ist der Sohn ihrer Schwester Harianni. Ellys Sohn Alena starb fast genau vor einem Jahr. Ich weiß den Tag deshalb so genau, weil sie eine Gedenkfeier zu Ehren seines Geistes gefeiert haben, bevor ich zu dieser Reise aufgebrochen bin.«
Mandi schweigt einen Moment, bevor sie fragt: »Wissen Sie, woran Alena starb?«
»Ja und nein. Anscheinend gibt es da eine Krankheit, die die Leute am Ende der Regenzeit bekommen. Offiziell sind daran drei Menschen gestorben, aber unter uns gesagt, ich glaube, die Zahl der Opfer ist höher. Die Einheimischen nennen die Krankheit Trommeltod. Es hat nichts mit Trommeln an sich zu tun, aber meist klagen die Kranken, kurz bevor sie sterben, über hämmernde Kopfschmerzen. Im Sterben verkrampfen sie ihre Hände im Schmerz um ihre Köpfe. Das Hämmern ist so stark, dass sie es als Trommeln im Kopf beschreiben. Die Symptome bis dahin sind so unterschiedlich, dass man nicht zwischen einer Grippe, einer Erkältung und einem drohenden Trommeltod unterscheiden kann.«
»Welche Symptome sind das?«, will Mandi wissen.
»Ich selbst habe keinen solchen Fall miterlebt, aber ich habe Geschichten darüber gehört«, antwortet Dave. »Man hat von Symptomen gesprochen, die von Zuckungen, Hautausschlägen, Gelenksschmerzen und Husten bis zu geweiteten Augen, blauen Zungen und epilepsieartigen Anfällen reichen.«
»Ist es ansteckend?«
»Man glaubt, es sei ansteckend, aber ob es wirklich so ist, kann ich nicht sagen. Persönlich glaube ich eher, dass es nicht ansteckend ist, sonst wäre die Krankheit schon viel stärker verbreitet. Jedenfalls werden Personen, die die Krankheit haben, von der Gemeinschaft ausgestoßen. Es ist die typische Mentalität: Opfern wir einen und damit retten wir alle anderen. Elly und Eko sind ein gutes Beispiel dafür.«
Mandi runzelt
fragend die Stirn und so fährt Dave fort: »Vor ungefähr zwei Jahren
dachte man, Alena und Harianni – Ellys Sohn und Schwester – wären
an Trommeltod erkrankt. Es war Ende der Regenzeit und beide hatten
starke Kopfschmerzen. Elly pflegte beide – ihren Sohn bei sich
zuhause und ihre Schwester in deren Haus. Elly und Harianni haben
sich immer sehr nahe gestanden – ich kannte sie schon als junge
Frauen … Jedenfalls sorgte Elly sich um sie, bis es ihnen sehr
schlecht ging und es danach aussah, dass sie an der Schwelle des
Todes standen. Ihre Männer hatten sie verlassen, sobald der
Verdacht auf Trommeltod aufgekommen war. Und die Einwohner von
Tanggar übten Druck auf sie aus, damit sie die Stadt verlassen,
bevor sie die Krankheit weiter verbreiten würden.«
»Wie konnten
sie nur verlangen, dass sie fortgehen sollten, wenn zwei von ihnen
dem Tod nahe waren …« Dave hält kurz inne und seufzt. »Elly
baute eine einfache Krankenbahre und schleifte ihre kranke
Schwester und ihren kranken Sohn in den Dschungel. Ellys Zähigkeit
und Entschlossenheit sind kaum vorstellbar. Sie ist eine zarte
Person und doch zog sie diese Bahre mit zwei Leuten darauf durch
den Dschungel. Und die Schmerzen, die die Kranken bei jedem Stoß
der Bahre gehabt haben müssen! Eko half, so gut er
konnte.
Harianni starb, kurz nachdem sie in den Dschungel gegangen waren. Aber das Erstaunliche ist, dass sich Alena eine Saison lang erholte. So viel ich weiß, ist das der einzige bekannte Fall einer Besserung … außer, er hat überhaupt keinen Trommeltod gehabt.
Alena erholte sich zwar, aber er hatte immer noch die Symptome«, fährt Dave fort. »Er lebte noch ein Jahr lang. Es gibt Gerüchte, Elly habe ihn gerettet, indem sie den Geist des Todes exorziert hätte. Im Jahr darauf starb er unmittelbar nach dem Ende der Regenzeit. In diesem Jahr und im Jahr darauf lebten Elly und Eko allein im Dschungel. Die Stadt, einschließlich Ellys Mann, will nichts mehr mit ihnen zu tun haben.«
»Hat man jemals eine Autopsie an einem der Opfer dieser Krankheit durchgeführt, um die Todesursache zu bestimmen? Wie stark ist die Krankheit verbreitet? Hat man Untersuchungen begonnen?«, fragt Mandi.
»Nein, nein und nochmals nein«, sagt Dave. »Man hat keine Autopsie durchgeführt, da es in Tanggar keinen Arzt gibt. Dass jemand für eine Autopsie nach Palankaraya oder Kota Baru gebracht wird, das wird hier nicht so schnell passieren. Drei der vier Opfer, die ich kenne, waren Kinder und die Leute wollen nicht, dass man ihre Kinder aufschneidet. So bekommen die Toten einfach ein traditionelles Begräbnis. Wie verbreitet die Krankheit ist? Nicht verbreitet genug, um genug Aufmerksamkeit zu erregen, und die Fälle sind sehr verstreut über das ganze Land. Allerdings scheint in Tanggar ein Zentrum zu sein.«
»Verstreut?«, fragt Mandi sichtlich erstaunt.
»Ich bin kein Arzt«, schwächt Dave ab, »aber ich habe gelegentlich Fälle in Kalimantan gesehen. Durch meine Fliegerei komme ich in viele Städte und abgelegene Gebiete. Wenn Sie mich fragen, gibt es da andere Fälle von ungeklärten Todesfällen und die Opfer sind meist Kinder oder Jugendliche …«
Mandi und Dave reden, bis es am Himmel zu dämmern beginnt. Sie findet ihn intelligent, mit einem feinen Sinn für Humor. Und er ist attraktiv, auch sein schwarzes Kraushaar mit den netten grauen Stellen. Seine sanften, schokoladefarbenen Augen strahlen Ruhe aus und sein wunderbares Lächeln ist einfach herzerfrischend.
31 Kupa-Kupa-Malam ist das indonesische Wort für Prostituierte; wörtlich bedeutet es »Nachtschmetterling«.
Mandi sieht auf die Uhr: »Oh Gott, es ist schon 5 Uhr!« Es ist ihr sichtlich unangenehm.
»Perfektes Timing. Kommen Sie mit mir, Mandi? Sie können auch über Palankaraya zum Bergwerk gelangen.« Mandi nickt. »Ja, ich würde gerne Elly wiedersehen. Ich muss nur noch ein paar Sachen zusammenpacken.«
Später, zur gleichen Zeit, als Mandi in Daves Wasserflugzeug steigt und den Sicherheitsgurt festzurrt, bezieht Sarif draußen vor dem Bahtera Hotel Stellung und seine drei Kollegen verteilen sich auf verschiedene Stellen entlang der Route zum Flughafen. Sarif rechnet damit, dass Mandi das Hotel in etwa eineinhalb Stunden Richtung Flughafen verlassen wird, aber er hat genügend Pufferzeit eingeplant für den Fall, dass sie früher aufbricht. Er kauft sich ein Glas süßen, schwarzen Kaffee und macht es sich bequem.
Es war eine anstrengende Nacht und Sarif ist müde. Nachdem er mit seinen Kollegen einen »Mandi Plan B« entwickelt und beim Bahtera Hotel einige Stunden lang gewartet hatte, um sich zu vergewissern, dass Mandi nicht fortgeht, hatte er sich zu einem örtlichen »Hotspot« begeben. Er brauchte ein bisschen Aktion, ein wenig Ablenkung. Er war schon acht Monate lang nicht mehr in Balikpapan gewesen und er hoffte, dass Patris, seine Lieblings-Kupa-Kupa-Malam31 da sein würde. Er hatte Glück, sie war nicht nur da, sie stand auch zur Verfügung.
Sarif konnte sich glücklich schätzen, eine angenehme Nacht zu verbringen, denn der nächste Tag würde alles andere als angenehm werden. Während er seinen Kaffee schlürft und den Eingang des Bahtera Hotels im Auge behält, fliegt Mandi westwärts nach Zentralkalimantan.
Bei der Ankunft in Palankaraya scheint es Mandi fast, Elly hätte ihre Wiederkehr erwartet. Mandi hat ihr gegenüber kein Datum genannt, aber es ist offensichtlich, dass Elly gewartet hat und jetzt bereit ist. Sie besteht darauf, zur Dschungelanlage zurückzukehren. Verwandte in Palankaraya werden sich solange um Eko kümmern.
Ihr Drängen überzeugt Mandi davon, dass Elly irgendetwas über die Anlage wissen muss. Sie erinnert sich daran, wie Elly sie bei ihrer ersten Begegnung immer tiefer und tiefer in den Urwald hineingeführt hat. So wie Mandi hat auch Elly etwas zu erledigen.
Ob Elly die Todesursache ihres Sohnes kennt? Könnte Elly eine Verbindung zwischen dem Tod und der Anlage hergestellt haben? Vielleicht waren Alena und Harianni Elektrosensitive. Oder vielleicht war ihr Immunsystem durch den e-Smog geschwächt worden, sodass sie anfällig für eine andere Krankheit geworden waren. Wie oft waren sie bei der Anlage gewesen? Elly kannte die Gegend rundum sehr gut, sowohl um die Produktionsstätten als auch um das Forschungslabor. Haben auch die Kinder dort gespielt? Und was ist die Ursache von Ekos Symptomen – von seinem Zucken und seiner Nervosität?
Mandi nennt Dave als Grund ihres Aufenthaltes in Kalimantan das Projekt für die Senaggin-Mine. Den wahren Grund verschweigt sie ihm.
Nach der Rückkehr von seinem Flug bietet Dave an, zwischen Mandi und Elly zu übersetzen. Endlich – nach so langer Zeit – können sie wirklich miteinander kommunizieren! Mandi drückt ihre Bewunderung für Elly aus, deren Leben so schwierig sein muss. Sie haben sich eine Menge zu sagen und Dave macht es möglich.
Als das Gespräch auf ihre Pläne kommt, bald wieder zur Anlage im Dschungel zurückzukehren, ist Mandi zunächst still. Sie ist sich nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, Dave in die Sache einzuweihen. Sie nimmt an, dass er nichts darüber weiß, und sie kann nicht abschätzen, wie loyal er sein wird, falls es gefährlich werden sollte. Die internationalen Konzerne, die sie vorhat anzugreifen, werden jede Menge Geld zahlen, um an Informationen heranzukommen und um sie ruhig zu stellen. Hat Dave einen Preis, für den er sie verraten würde?
Dave bemerkt Mandis Zögern und sagt: »Mandi, du kannst mir vertrauen. Ich kenne diese Anlage, wenn es das ist, worüber du grübelst. Wenn du dich aber nicht wohl dabei fühlst, kann ich gehen. Du und Elly, ihr könnt allein weitermachen. Ich kann allerdings mehr für euch tun, als nur zu übersetzen: Ich kann euch transportieren.«
Um Mandi etwas Zeit zum Nachdenken zu geben, verlässt Dave kurz den Raum, um Wasser zu holen. Mandi sieht Elly fragend an, die zustimmend nickt.
»Gut, einverstanden«, sagt Mandi. »Sagen wir, Dave ist auf unserer Seite. Wir können jede Hilfe brauchen, die wir bekommen können!« Dabei spürt sie, wie sie rot wird.
In der folgenden Diskussion übersetzt Dave wieder. Sie stimmen in allem überein, außer in einer Frage: der Strategie, wie sie sich der Anlage nähern sollen. Elly will unerkannt eindringen, wie sie es schon die ersten beiden Male getan haben. Mandi will diesmal ganz offen hingehen und das sogar noch vorher ankündigen. Sie sagt, je mehr Leute von ihrem Vorhaben wüssten, desto sicherer würde es für sie sein. Nach einer längeren Diskussion ist Elly schließlich damit einverstanden.
Sie beschließen, ihre Kooperation bei einem frühen Abendessen zu feiern. Mandi hofft, dass sie den Abend durchstehen wird, ohne einzuschlafen. Der Tag war lang für sie und Dave – sie haben letzte Nacht ja nicht geschlafen. Sie haben vereinbart, beim Essen nicht über ihre Pläne zu sprechen und dafür bei einem Treffen am folgenden Nachmittag die weiteren Details zu diskutieren. Mandi hat vor, bei dieser Gelegenheit Elly und Dave in ihre elektromagnetische Forschung einzuweihen und in ihre Vermutungen über die Todesfälle von Alena und Harianni.
Am nächsten Morgen will Mandi einige Anrufe machen. Sie wird Asep mitteilen, wann sie bei der Mine ankommen, und sie wird Marcus über ihre Pläne unterrichten.
»Gut, ich brauche nur eine schnelle Dusche und ziehe mich um«, sagt Mandi. »Gibt es hier in der Nähe ein Hotel?«
»Du kannst bei mir übernachten, Mandi«, sagt Dave. »Ich wohne gleich ums Eck und habe ein freies Zimmer.«
»Wenn es keine Umstände macht …?«, sagt Mandi etwas zögernd. »Keineswegs, ich würde mich über die Gesellschaft freuen«, lächelt Dave. »Obwohl ich gestehen muss, dass ich heute Nacht nicht viel Gesellschaft leisten werde. Ich bin hundemüde!«
»Ich ja auch«, lacht Mandi.
Nachdem Mandi und Dave sich für das Abendessen zurechtgemacht haben, gehen sie zur Wohnung nebenan. Mandi ist erstaunt, wie natürlich sich Eko jetzt in ihrer Gegenwart benimmt – er kommt direkt auf sie zu und sieht zu ihr hoch. Sie hockt sich nieder und sieht ihn an. Einige Sekunden lang sehen sie sich in die Augen. Ekos Zustand hat sich gebessert. Er zuckt nur noch gelegentlich und nur schwach. Wo er früher tiefe Furchen im Gesicht hatte, sind jetzt nur noch kleine Falten zu sehen.
32 Wenn man Padang isst, bekommt man einige kleine Schüsseln mit verschiedenen Speisen vorgesetzt. Man bezahlt danach, was man isst. Üblicherweise wird scharfer, weißer Reis dazu serviert.
Elly und Dave sprechen kurz miteinander: Elly wird nicht zum Essen mitkommen. Sie will die Zeit lieber mit Eko verbringen, da sie ja bald wieder für ein paar Tage weg sein wird. Mandi bemerkt einen besonderen Ernst in den Augen von Elly, als sie das sagt. Hat sie dieselben bösen Vorahnungen wie Mandi?
Mandi genießt das Abendessen mit Dave. Sie essen Padang32 in einem Warung, wie man die kleinen Läden hier nennt. Sie sprechen darüber, wie es Dave nach Indonesien verschlagen hat. Er – ein Holländer – war zwar als Kind in Indonesien, aber daran kann er sich nicht mehr erinnern, denn seine Familie ging nach Holland zurück, als er vier war. Allerdings machte die Familie jedes Jahr Urlaub in Indonesien – und sie tut es immer noch. Bei diesen Aufenthalten entdeckte Dave seine Liebe für Indonesien, für das Volk, die Kultur und die Lebensweise.
»In meiner Wohnung hast du wahrscheinlich das Foto einer Frau gesehen. Das war meine Frau«, sagt Dave. »Sie war Indonesierin. Vor zwei Jahren starb sie während einer Geburt.«
»Das tut mir Leid«, sagt Mandi.
»Ich bin dann nach Holland, aber ich hielt es nur ein halbes Jahr dort aus und kam hierher zurück. Ich glaube, ich gehöre hierher.«
Mandi beschließt, offen zu Dave zu sein, und fragt ihn, ob sie das Versprechen brechen darf, nicht über »Geschäftliches« zu sprechen. Sie will nicht bis zum nächsten Nachmittag damit warten – sie will ihm jetzt über ihre Forschungen erzählen und über die Dschungelanlage reden. So erzählt sie über ihre neueste Theorie, nämlich die Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen den Todesfällen von Alena und Harianni und dem e-Smog.
Und sie
sprechen über Mandis Marsch mit Elly durch den Dschungel, der damit
geendet hat, dass Dave sie aus dem Wald ausgeflogen hat. Mandi
will, dass Dave ihre Theorien morgen für Elly übersetzt. Sie
glaubt, dass Elly ganz genau verstehen wird, wovon sie spricht.
Mandi hat die statistischen Werte, aber Elly hat die praktische
Erfahrung und ist persönlich betroffen.
Mandi rügt sich selbst dafür, aber sie kann nicht anders, als Dave mit Alan zu vergleichen. Dave ist so, wie Alan früher einmal war, bevor er als veränderter Mensch aus Neuseeland zurückgekommen ist. Dave hört ihr aufmerksam zu, stellt Fragen und folgt ihren Blicken und Emotionen. Da er so interessiert ist, erzählt sie mehr, als sie eigentlich vorhatte. Auch über ihre Fehlgeburt. Noch bevor sie einen Zusammenhang herstellt, tut er es: Er verbindet die Fehlgeburt mit ihrem Aufenthalt in der Dschungelanlage. Sie erinnert sich daran, wie schweigsam Alan war, als sie diesen Zusammenhang angedeutet hat. Ein Schweigen, das sie nur entweder als Desinteresse oder als Zweifel hatte deuten können.
Zurück in Daves Wohnung, macht sich Mandi bereit, schlafen zu gehen. Sie ist müde, aber zugleich ist sie glücklich. Das erste Mal seit Monaten hat sie sich amüsiert. Sonst verliert sie sich nur in ihrer Arbeit, aber heute Abend ist sie in einer interessanten Konversation völlig aufgegangen. Wie erfrischend das war!
Als Mandi aus dem Bad kommt, steht Dave im dämmrigen Licht des Ganges. Er streckt seine Hand nach ihr aus. Sie sieht ihn einen Moment an, geht dann auf ihn zu und legt sanft ihre Hand in seine. Langsam geht er ins Schlafzimmer, wo er sich ihr wieder zuwendet. Minutenlang sehen sie sich schweigend in die Augen. Er streicht über ihr Gesicht und durch ihr Haar. Mandi schließt die Augen und lehnt sich an ihn. Ihre Lippen berühren sich und sie küssen sich ganz zart.
Daves Hände und Lippen erkunden zärtlich und langsam ihren Hals und dann ihre Arme. Sie spürt, wie die Knopfe ihres Nachthemdes geöffnet werden und wie der seidene Stoff von ihren Schultern gleitet. Sie erschaudert, als sein Mund langsam, aber zielstrebig über ihre Brüste und ihren Bauch abwärts wandert. Seine Hände streicheln zärtlich über ihre Taille.
Mandi öffnet die Augen und zieht Dave hoch zu sich. Langsam zieht sie ihn aus und küsst ihn dabei. Dann führt sie ihn zum Bett. Sie liegen Seite an Seite und sehen sich an, erkunden ihre Körper. Die emotionale Nähe, die sie beim Abendessen schon gespürt haben, fließt nun durch ihre Hände und Lippen.
Mandi genießt es, Daves Körper zu entdecken, aber sie hat dabei das Gefühl eines Déjà-vu. Sie hat nie an »frühere Leben« geglaubt, aber sie hat das starke Gefühl, dass sie und Dave schon einmal zusammen gewesen sind. Zwischen ihnen gibt es absolut keine Unbeholfenheit, kein Ego, keinen Druck. Nur vertraute Gemeinsamkeit. Ihr Liebesspiel ist wunderschön und gefühlvoll.
Nur sechs Stunden später läutet Daves Wecker. Beide schrecken aus dem Schlaf hoch. »Tut mir Leid, Mandi«, flüstert Dave und fährt fort, ohne dabei aufzuhören, sie zu küssen, »ich habe einen Morgenflug … bin am frühen Nachmittag wieder da … ich lasse einen Zweitschlüssel unten auf dem Tisch … fühl dich wie zuhause … bis später … schlaf noch ein bisschen … es ist noch sehr früh …«
Mandi nickt und rollt sich dösend zur Seite. Sie fühlt sich entspannt und zuhause. Als sie Dave die Eingangstür schließen hört, wacht sie erneut auf. Sie liegt auf dem Rücken und sieht sich im Raum um. Die Wände sind von indonesischem Kunsthandwerk bedeckt: bunte Batik und meisterhaft geschnitzte Holzfiguren.
»Er hat auch einen guten Kunstgeschmack«, denkt sie.
Sie beschließt einen Spaziergang zu machen. Dafür ist frühmorgens die beste Zeit in Indonesien. Es ist noch kühler und weniger schwül als später. Auch auf den Märkten ist am frühen Morgen Hochbetrieb, sie bersten vor leuchtend buntem Obst und Gemüse und einheimischen Einkäufern. Mandi zieht sich schnell an und geht aus dem Haus. Mit dem Zweitschlüssel verschließt sie die Tür.
Nebenan, wo Elly und Eko wohnen, ist keine Regung zu bemerken, also geht sie einfach weiter. Sie kommt an eine Abzweigung und beschließt, lieber stadtauswärts zu gehen als in die Richtung zum Markt. Sie mag zwar sonst die rege Betriebsamkeit der Märkte am Morgen durchaus, aber im Moment ist ihr eher nach einem stillen Spaziergang zumute. Sie nimmt eine Staubstraße, die nach draußen führt, zu frischgrünen Reisfeldern und dichten Gruppen von Büschen und Palmen.
Bei einem Bambusdickicht wird sie plötzlich durch einen Knall aufgeschreckt. Sie blickt über ihre Schulter, aber da ist niemand. Sie will schon weitergehen, da erstarrt sie erschreckt und hält den Atem an. Nur einen halben Meter vor ihr windet sich eine Schlange auf der Straße – eine Kobra – bereit zuzustoßen.
Mandi hat
ihren Blick fest auf das Tier geheftet. Der Kopf der Schlange wiegt
sich langsam hin und her, als ob sie Ziel nehmen würde. Noch ein
lauter Knall hinter Mandi! Wieder ist niemand zu sehen. Aber
diesmal spürt Mandi einen stechenden Schmerz in ihrem Oberschenkel.
Als sie sich wieder der Schlange zuwendet, ist diese verschwunden.
Im Niedersinken dreht sich die ganze Welt um
Mandi.
Dave kehrt am Nachmittag in eine leere Wohnung zurück. Mandis Sachen sind immer noch da, aber sie selbst ist spurlos verschwunden. Er geht hinüber zu Elly, aber auch da ist sie nicht. Elly hat sie den ganzen Tag nicht gesehen und angenommen, dass sie bei Dave sei.
Dave, Elly und Eko gehen nach draußen. Sie suchen in der Nachbarschaft nach Mandi und fragen jeden, den sie treffen, nach ihr. Dave und Elly wissen nicht, was sie angezogen hat, aber wenn jemand sie gesehen hätte, dann hätte er sie auf jeden Fall erkannt, denn sie ist in Palankaraya eine der wenigen mit europäischer Abstammung.
Schließlich fährt Dave zum Spital. Er spürt, wie sich sein Magen zusammenkrampft. Vor zwei Jahren ist er vom Spital weggefahren … allein. Er schüttelt den Kopf: Nein, diesmal es ist nicht so. Es wird schon alles in Ordnung sein.
Nach einer Stunde verlässt Dave das Spital … allein. Mandi ist nicht da und niemand hat irgendwelche Informationen über sie.
Zuhause warten Elly und Eko bereits bei der Zufahrt auf ihn. Sie laufen zu ihm und reden beide aufgeregt auf ihn ein. Eko hat herausgefunden, dass ein Mann an der Mulawarmanstraße Mandi in der Früh vorbeigehen gesehen hat. Aber er hat nicht gesehen, dass sie zurückgekommen wäre. Elly und Eko springen in Daves Wagen und sie eilen davon zur Mulawarmanstraße.
Der alte Mann
hat nicht viel zu sagen, außer, dass er gesehen hat, wie Mandi in
einem weißen T-Shirt, blauen kurzen Hosen mit weißen Seitenstreifen
und Tennisschuhen an seinem Haus vorbei in Richtung Reisfelder
gegangen ist. Außerdem trug sie eine
Baseballkappe.
Dave, Elly und
Eko sehen sich in der Umgebung des Hauses des alten Mannes um.
Mandi ist nirgends zu finden, und es ist absolut nichts
Verdächtiges zu sehen. Nach einer Stunde des Suchens beschließt
Dave, nach Hause zu fahren. Vielleicht ist Mandi ja inzwischen
zurückgekehrt. Elly geht mit Dave, aber Eko bleibt und sucht
weiter.
Auf der Rückfahrt schildert Dave Elly, was Mandi ihm am Vorabend erzählt hat. Er fasst ihre Forschungen und die vorläufigen Ergebnisse zusammen. Dabei beobachtet er Elly genau: Sie ist keineswegs überrascht. Sie wendet sich Dave zu und lächelt. Anscheinend hat sie für sich den Zusammenhang zwischen Trommeltod und e-Smog schon längst hergestellt. Sie sind dabei, die Geheimnisse rund um den Trommeltod aufzudecken!
Dave geht nach oben ins Gästezimmer, wo Mandis Sachen sind. Er klappt den e-Helper auf und drückt die Taste für Wiederwahl. Er ist sicher – er hofft –, dass sie als Letztes mit Marcus telefoniert hat.
»Hallo, das ist die Sprachbox von Marcus Waller. Ich bin im Moment nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht und ich rufe Sie zurück.«
»Verdammt«, murmelt Dave, bevor er eine Nachricht spricht.
Währenddessen sitzen Marcus und die anderen im Flugzeug, nur eine Stunde von Balikpapan entfernt. Marcus hat keine Zeit verloren. Sofort nach dem Gespräch mit Alan haben sie den frühesten Flug nach Indonesien gebucht, den sie bekommen konnten. Marcus befürchtet, dass Mandi in Gefahr ist.
Marcus’ Befürchtungen sind berechtigt. Mandi öffnet die Augen und sieht sich um. Sie ist in einem strohgedeckten, kleinen, leeren Raum mit Wänden aus Bambus und Ranken. Durch das offene Fenster kann sie von der Stelle auf dem Erdboden, wo sie liegt, nichts als Himmel und die Wipfel von Dschungelbäumen sehen.
Sie versucht
sich aufzurappeln, aber sie fällt auf den Boden zurück. In ihrem
Kopf pulsiert es und ihr rechter Oberschenkel schmerzt. Sie sieht
sich die Stelle an: Sie ist gerötet und
geschwollen.
»Die Schlange«, sagt sie sich. Sie wälzt sich auf den Bauch, stützt sich hoch und kriecht auf allen Vieren zur Tür.
Als Mandi die Tür aufstößt, treten ihr zwei Männer in den Weg. Das Erste, was sie von ihnen sieht, sind ihre schwarzen Militärstiefel. Hochblickend erkennt sie, dass es Militär ist. Die Männer tragen olivgrüne Uniformen, schwarze Militärmützen und … jeder ein Gewehr. Einer der Männer greift nach der Tür und schließt sie.
Mandi zieht sich an der Bambuswand hoch und sieht aus dem Fenster. Auch vor dem Fenster stehen zwei Männer. Sie erkennt das Gebäude, das sie jetzt durch das Fenster sieht: Sie ist in der Dschungelanlage!
»Na gut! Das ist es ja, wohin ich wollte«, denkt sie, »nur dachte ich, dass ich aus eigener Kraft hierher kommen müsste. Ich bezweifle, dass irgendjemand weiß, wo ich bin.«
Sie setzt sich wieder auf den Boden und versucht, über die Folge von Ereignissen nachzudenken, die sie hierher gebracht haben. Sie erinnert sich an einen Spaziergang. War das heute Früh? Sie will auf ihre Uhr sehen, aber die ist verschwunden … Sie ging spazieren und sie erinnert sich daran, wie sie den Sonnenschein auf den Reisfeldern genossen hat – sie leuchteten wie Smaragde. Dann war da dieser Knall. Was war das für ein Knall? Er klang fast etwas musikalisch, wie eine laute Trommel oder ein Becken. Mandi erinnert sich an die Schlange und sie sieht noch einmal auf ihren Biss.
»Wenn das der Biss einer Schlange ist – einer Kobra –, dann müsste ich tot sein«, denkt sie. »Was ist nur passiert?«
Sie sieht sich die schmerzende Stelle näher an. »Vielleicht ist es gar kein Biss. Es sind keine Spuren von Zähnen zu sehen, nur eine einzelne Stelle. Eine Nadel? Könnte es eine Nadel gewesen sein? Vielleicht ein Pfeil aus einem Blasrohr? … Wahrscheinlich habe ich zu viele Dschungelgeschichten gehört …«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe nicht zu viele Geschichten gehört. Dave hat letzte Nacht gesagt, im Dschungel sei alles möglich, und ich glaube ihm. Ich glaube nicht, dass ich von einer Schlange gebissen worden bin. Ich glaube, das war nur ein Trick – ein Ablenkungsmanöver …«
Mandi lehnt sich an die Wand der Hütte und schließt die Augen. Sie sieht Daves Gesicht über sich. Seine Augen sind geschlossen und er will sie gerade küssen. Mandi denkt an die Nacht zurück, die sie mit ihm verbracht hat. Ihre körperliche Beziehung hat sich schnell entwickelt, aber sie bereut es nicht. Sie vermisst sein herzhaftes Lachen und seinen Wortwitz.
Mit Alan hat sie wilden, leidenschaftlichen Sex gehabt. Das war fein, bis zu einem gewissen Punkt. Gemeinsam haben sie intensive Gefühle durchlebt. Hingegen ist es mit Dave nicht nur leidenschaftlich, sondern auch zärtlich und liebevoll. Bei Dave hat sie das Gefühl, sie kehrt in die Arme ihres Geliebten zurück, mit dem sie immer schon zusammen war. Sie lächelt.
Die süßen Erinnerungen währen nur kurz. Ein scharfer Schmerz durchfährt Mandis rechte Schläfe und sie fasst sich an den Kopf.
Mit dem Schmerz kommt die Erinnerung an Daves Beschreibung des Trommeltodes. Er sagte, die einzige Gemeinsamkeit bei allen Opfern wäre das unglaubliche Hämmern im Kopf, kurz vor dem Tod. Und Mandi erinnert sich daran, was Evette über ihren Bruder Paul erzählt hat. Auch er hatte stechende Schmerzen in den Schläfen. Sie fragt sich, ob sie bereits an der Schwelle des Todes steht. Ist sie vielleicht eine Elektrosensitive? Sie legt sich auf den Boden und schließt die Augen.
Evette hat lange nichts von Mandi gehört und sie beginnt sich Sorgen zu machen. Seit sie das letzte Mal miteinander gesprochen haben, hat sie Informationen ausgeforscht, die Mandi für ihre Forschungen braucht und für ihre Sicherheit.
»Wer war das noch mal …?«, fragt sich Evette. Sie hat bei Mandis Universität angerufen, aber auch dort hat man nichts von ihr gehört und sie hat keine andere Nummer als die ihres e-Helpers, auf dem sie aber auf keine Anrufe reagiert. Evette sieht die Notizen durch, die sie bei ihrem letzten Treffen mit Mandi gemacht hat.
»Hier: Neuseeland. Die Firma, mit der sie kooperiert, ist in Neuseeland … Sie wollte dort anrufen, wenn sie fertig sein würde … Da: SR Inc. … Marcus Irgendwer oder so … ah ja: die Nummer des Labors! Vielleicht wissen die etwas über Mandi … Vielleicht kann sie nicht zurückrufen … Ich mache mir Sorgen.«
Evette nimmt
ihren e-Helper und wählt die Nummer von SR Inc.
»Hallo, hier Klaus Baumgartner.«
»Guten Tag«, sagt Evette. »Mein Name ist Evette und ich bin eine Kollegin von Dr. Amanda Webber. Ich würde gerne mit Marcus sprechen.« »Marcus ist zurzeit nicht hier«, sagt Klaus.
»Vielleicht können Sie mir ja helfen. Ich suche Mandi – ich meine Dr. Webber«, sagt Evette.
»Tut mir Leid, aber wir haben auch nichts von Mandi gehört«, sagt Klaus. »Kann ich Marcus etwas ausrichten?«
Mandi hat Evette von Klaus erzählt, also vertraut sie ihm. Außerdem, was sollte sie sonst tun? Mandi ist vielleicht in Schwierigkeiten, besonders nach dem, was Evette inzwischen herausgefunden hat. Evette erzählt Klaus, dass sie mit Mandi an einigen Forschungsprojekten arbeitet. Klaus hat bereits vage davon gehört. Evette berichtet auch über ihr Treffen unlängst mit Mandi.
Worüber sie mit Klaus nicht spricht, ist der Preis, den sie für ihre Forschungsarbeit bezahlt hat. Sie hat weitergemacht, trotz der Drohung ihrer Mutter, sie zu verstoßen, wenn sie ihre Erforschung der Auswirkungen von e-Smog auf die Gesundheit fortsetzen würde. Sie versteht, dass Pauls Tod ihre Mutter traumatisiert hat, aber sie will, dass am Ende sein Tod nicht ganz nutzlos gewesen ist. Sie will unbedingt verhindern, dass noch mehr Leute dem e-Smog zum Opfer fallen. Dieses Ziel ist ihr starker Antrieb und gibt ihr die Kraft, weiterzumachen.
Zuerst hat Evette gedacht, Pauls Tod habe ihre Mutter zum Schweigen gebracht, aber nach den letzten Gesprächen mit ihr denkt sie jetzt anders. Es war ein anderer »Todesfall«, der sie so verändert und sprachlos gemacht hat.
Evette ist überzeugt, dass der tiefe Einschnitt, der ihre Mutter so verändert hat, der Tod ihres Vaters war. Oder besser gesagt, sein angeblicher Tod. Je tiefer Evette gräbt, desto mehr geben die Geschichten ihrer Mutter preis. Zum Beispiel kann sie keinen Zeitungsartikel über den Tod ihres Vaters finden, nicht einmal eine Todesanzeige. Wenn er tot ist, wo ist der Beweis? Und wenn er lebt, wo ist er dann?
»Es gibt viele Arten des Todes«, sagt ihre Mutter. »Körperlich, geistig, emotional … Die Art spielt keine Rolle, weil er immer dasselbe bewirkt: Du bist allein gelassen. Bitte, hör auf damit zu bohren.«
Die symbolische Vorstellung vom Tod ihres Vaters mag ihrer Mutter gereicht haben, um ihre Erinnerungen an ihn zu Grabe zu tragen. Aber sie reicht nicht für Evette. Wenn er lebt, will sie ihn finden!
Ihre Suche
nach ihm ist einfach und schnell. Sie sucht auf der Webseite des
großen, internationalen Konzerns, für den ihr Vater gearbeitet hat
und – Bingo – da ist er: Vizepräsident für Finanzen, Dr. Peter
Birch. Evette hat sich die Seite immer wieder angesehen und den
Namen ihres Vaters gelesen. Sie kann immer noch nicht glauben, dass
er lebt. Anscheinend lebt er jetzt in Sydney, also fliegt sie
hin.
Sie findet das Bürogebäude und wartet fast eine Stunde in dem großen, klimatisierten Raum bei der Empfangsdame. Ihr Vater ist in einer Besprechung. Ja, sie will warten.
Die
Rezeptionistin ist offensichtlich erstaunt, als sich Evette als
»seine Tochter« vorstellt. Eine Stunde lang sitzt Evette da und
sieht auf die Vase mit den nett arrangierten, frisch geschnittenen
Lilien. Der Empfangsraum vermittelt fast penetrant den Eindruck von
Geld, Vermögen, Macht. Große Gemälde an den Wänden, schwarze
Lederstühle, die neu riechen. Was wird sie zu einem Mann – ihrem
Vater – sagen, den sie seit mehr als fünfzehn Jahren nicht gesehen
hat?
Sie hat einige Einführungsfloskeln eingeübt, aber als sie dann in seinem Büro vor ihm steht, bringt sie nur drei einfache Worte hervor: »Wo warst du?«
»Bitte, setz dich, Evette«, sagt der Fremde, ihr Vater. Unsicher setzen sie sich, beide wissen nicht so recht, was sie sagen sollen. »Paul ist tot«, flüstert sie.
»Ich weiß.«
Ihr Vater sieht aus dem Fenster. Sein Gesicht hebt sich blass vom Dunkelblau seines Armani-Anzugs ab. Seine Hand zittert, als er ein Glas Wasser nimmt und ein paar Schluck trinkt.
»Warum bist du gegangen?«, fragt sie.
Er antwortet mit einer Reihe von Ausreden. Schließlich wiederholt sie ihre Frage: »Warum bist du gegangen?«
Ihr Vater holt
tief Luft und beginnt dann langsam: »Paul war krank. Er war immer
krank. Nach dem Ausschließungsverfahren kam deine Mutter zu dem
Schluss, sie hätte die Ursache auf Computer, Elektrogeräte,
Elektronik usw. eingegrenzt … und ich konnte sie nicht vom
Gegenteil überzeugen. Sie war besessen von der Idee der
elektromagnetischen Strahlung. Wir haben unsere Waschmaschine
weggegeben, den Trockner, Mixer, Toaster, Haarföhn, die Fernseher,
Stereoanlagen, einfach alles, was elektrisch war. Wir übersiedelten
nach Nimbin und änderten unseren Lebensstil komplett. Es war nicht
der Stil, den ich bevorzuge, aber ich war gewillt, es zu
versuchen.«
Nach einer kurzen Pause fährt er fort: »Es begann, endgültig bergab zu gehen, als sie mir verbot, meinen Laptop und meinen e-Helper ins Haus mitzunehmen. Ich arbeitete immer noch im Büro in Gold Coast, die Fahrt zur Arbeit war also recht lang. Ich hatte vor, drei Tage die Woche von zu Hause aus Telearbeit zu machen, aber wie sollte das gehen ohne Computer und ohne Telefon? Also wohnte ich während der Woche in einem Hotel in Gold Coast und kam nur mehr am Wochenende nach Hause. Aber bald sah sie mich an, als wäre ich infiziert – als ob ich den e-Smog mit nach Hause bringen würde. Also blieb ich immer länger weg …«
Seine Stimme erstirbt.
Evette hat das Bedürfnis zu gehen. Sie kann kaum atmen. Sie steht auf und geht zur Tür, aber ihr Vater hält sie zurück. Sie sehen sich schweigend in die Augen, dann gehen sie gemeinsam zur Tür hinaus. Ziellos streifen sie stundenlang durch Sydney und reden.
Beim Abendessen ist Evette so weit, ihn zu fragen, ob er mit ihr nach Hause gehen wird. Es ist ihm sichtlich unangenehm, als er erklärt, dass er glücklich wiederverheiratet ist mit einer wunderbaren Frau und zwei kleine Kinder hat.
Diese Information bringt Evette erneut ins Wanken. In wenigen Stunden hat sie ihren Vater gefunden, von dem sie angenommen hatte, er wäre tot, und nun hat sie ihn wieder verloren. Er lebt ein neues Leben mit einer neuen Familie und sie gehört nicht dazu. Sie kämpft damit, diese neue Realität anzuerkennen. Während der ganzen Zeit, als sie mit ihrem Vater beisammen ist, scheinen die Worte ihrer Mutter sie zu verhöhnen. Vielleicht hätte Evette die Dinge einfach ruhen lassen sollen?
Sie fragt ihn, ob sein Unternehmen jemals Forschung im Bereich der elektromagnetischen Umweltverschmutzung betrieben habe. Er antwortet, sie hätten Untersuchungen gemäß der staatlichen Sicherheitsanforderungen durchgeführt. Alle ihre Produkte beachten die empfohlenen Standards.
Als Evette das Thema e-Smog verstärkt
weiterdiskutieren will, beginnt sich das zarte Band des Verstehens,
das sich zwischen ihnen aufgebaut hat, wieder aufzulösen. Sie
spricht von der Untersuchung des kombinierten Effektes von
elektrischen Geräten, über ihre Forschungsarbeit und die
Interviews, die sie durchgeführt hat. Wenn die Ergebnisse Hinweise
auf gesundheitliche Schädigung durch e-Smog ergeben würden, dann
würden die Produkte seiner Firma vielleicht nicht mehr den
»empfohlenen Standard« erfüllen. Die Auswirkungen auf die
Gesundheit der Bevölkerung wären gewaltig und kostspielig. Das
Gesicht ihres Vaters rötet sich vor Zorn, aber nur kurz. Genauso
schnell setzt er seine öffentliche, geschäftsmäßige Maske auf. Alle
Emotion weicht aus seinem Gesicht.
Sobald sie über e-Smog reden, ist es für Evette klar ersichtlich, dass sie nicht mehr seine Tochter ist. Sie wird zur Bedrohung seines Geschäfts – seines Einkommens, seines Lebensstils. Sie sieht seinen teuren Anzug an, sie sieht sich in dem Restaurant um, in das er sie geführt hat. Die Rechnung wird mehr ausmachen, als sie wöchentlich an Miete zahlen muss. Er lebt in einer Welt von Annehmlichkeiten und Privilegien und er wird sie nicht ohne Kampf aufgeben.
Sobald ihm klar geworden ist, dass sie trotz seiner energischen Missbilligung entschlossen ist, ihre Forschungen weiterzuführen, bemerkt sie eine Änderung in seiner Stimme. Sie wird kalt und distanziert.
Seine Gleichgültigkeit gegenüber der
Angelegenheit kommt klar zum Ausdruck: »Das Wohl der Masse steht
über den Bedürfnissen Einzelner.«