1. Rätselhaftes


16. Juni 2003

Colorado Springs, Colorado, USA

Mandi wirft noch einmal einen Blick auf die Uhr – und ihre Lippen werden schmäler. 15 Minuten schon! Sie klappt ihren e-Helper1 auf, die gängige Kombination aus Handy, Computer und Internetbrowser, und wählt Ramus Nummer, aber wieder erreicht sie nur seine Sprachbox. Ramus Flug ist doch planmäßig gelandet, wo bleibt er nur?

»Mandi! Wir brauchen einen Plan B, und zwar schnell!«

Mandi sieht den Mann an, der sie angesprochen hat, und sie braucht einige Augenblicke, um ihn als ihren Forschungsassistenten wiederzuerkennen. Für die geplante Demonstration bei dieser Kongresseröffnung hat er sich in einen eng anliegenden schwarzen Dress mit einem aufgenähten grellroten Blitz gekleidet. Mandi hat ein ungutes Gefühl, dass sie mehr als nur einen Plan B brauchen werden. Sie nickt ihrem Kollegen matt zu und geht auf die provisorische »Bühne« zu. Ein paar einfache Bretter, nur knapp über dem Erdboden.

Mandi geht zum vorderen Rand und bleibt stehen. Spannung unter den mehr als 150 Wissenschaftern aus aller Welt.


»Es tut mir Leid, dass wir noch nicht beginnen können, aber Dr. Ramu Visra ist noch nicht eingetroffen.« Leises Murmeln und Wispern. »Ich kann ihn im Moment nicht erreichen, aber ich kann Ihnen versichern, dass sein Flugzeug sicher gelandet ist. Er muss in einem Stau stecken … Ich bin sicher, er wird in wenigen Minuten hier sein.« Mandis Stimme versagt. Sie blickt in die Runde und nimmt die besorgten Gesichter der Kollegen wahr, mit denen sie seit Jahren zusammenarbeitet.

»Also«, sagt sie mit gespielter Begeisterung, als ob es nur genügend Elans bedürfe, um Ramu in ihrer Mitte materialisieren zu lassen, »in der Zwischenzeit, bis er hier ist, erzähle ich Ihnen ein wenig über Dr. Ramu Visra. Viele von Ihnen kennen ihn wohl nur unter seinem Spitznamen ‚e-Man‘, der nicht – wie viele glauben – für ‚extremer Mann‘ steht, obwohl er sicher ein extremes Potenzial hat. Nein, ‚e-Man‘ soll heißen: ‚elektromagnetischer Mann‘. Dr. Ramu Visra ist der weltweit führende Forscher im Bereich Elektrosmog oder e-Smog.

1 Siehe XPERTEN: Der Telekinet.

Die breite Öffentlichkeit wurde auf Dr. Visra erst vor einem Monat aufmerksam, als er eine kühne Behauptung aufstellte: Alle elektrischen und elektronischen Geräte verursachen elektromagnetische Verschmutzung. Und sie beeinflusst nicht nur Elektrosensitive, sondern schädigt alle Menschen auf vielfache Weise.

Viele hier sind auf Dr. Visra durch seinen Forschungsbericht im letztmonatigen International Medical Association’s Journal aufmerksam geworden. In diesem Artikel hat Dr. Visra zusammenfassende Fakten veröffentlicht, die ihn zu seiner Behauptung geführt hatten. Genau über diese Daten wird Dr. Visra heute im Detail sprechen.

Diejenigen unter uns, die mit Dr. Visra in persönlichem Kontakt waren, haben sehr schnell Respekt für sein großes Engagement bei seiner Arbeit bekommen. Wir alle beginnen die Einschnitte bei den Forschungsgeldern zu spüren, vor allem bei jenen der großen Konzerne, deren Existenz wir mit unserer Forschung bedrohen. Wo es früher Geld gab, gibt es jetzt keines mehr. Wo es früher Geld für Konferenzen wie diese hier gab, gibt es jetzt keines mehr. Wie Sie an unserem alternativen Tagungsort sehen können, haben diese Finanzierungseinschnitte tatsächlich einige Auswirkungen!«

Der Sarkasmus verursacht frustriertes Gelächter in der Zuhörerschaft. Die Konferenz ist früher dank der Konzerngelder ein Topevent mit erstklassiger Verpflegung gewesen. Aber sie verlor schnell an Marktwert, nachdem auf Dr. Visras öffentliche Aussagen und Beschuldigungen hin das Programmkomitee beschlossen hatte, den inhaltlichen Schwerpunkt zu ändern und auf die kontroversiellen Messwerte von Dr. Visra auszurichten. Die Sponsoren entzogen der Konferenz schnell die Finanzierung.


»Auch wenn wir unsere eigenen Leintücher mitbringen und uns unsere Betten selber machen müssen – diese Freiluftkonferenz ist nicht so schlecht, oder?! Und das Wetter ist großartig!«

Mandi wird erneut unterbrochen, diesmal durch Klatschen. Die Erwartungen der Kongressteilnehmer sind hoch, ungeachtet des verzögerten Starts der Veranstaltung. Was viele seit Jahren vermutet haben, nämlich die potenziell gefährliche – ja, tödliche – Wirkung von e-Smog, hat Dr. Visra offenbar jetzt in umfassenden und intensiven Versuchen nachweisen können. Die Dokumentation der entsprechenden Versuche hat er bisher allerdings streng unter Verschluss gehalten. Keine Details sind bisher an die Öffentlichkeit durchgedrungen.


Mandi deutet ihrem Assistenten, er solle erneut einen Anruf versuchen, dann fährt sie fort: »Wer ist also diese schwer fassbare Persönlichkeit, die die Führung der elektromagnetischen Forschung übernommen hat? Sie haben sicher alle die Version der Medien gehört, die natürlich von denselben Konzernen gesponsert werden, deren Produkte durch Dr. Visras Untersuchungen in Verruf gekommen sind. Diese Konzerne führen im Moment eine Schmutzkampagne gegen Dr. Visras Glaubwürdigkeit und gegen unsere Forschungsdisziplin ganz allgemein. Diese Kampagne ist derartig hinterhältig, dass es an ein Verbrechen grenzt. Wir alle sind darüber zutiefst empört!«

Applaus und Rufe aus dem Publikum.

»Dr. Ramu Visra ist – wie wir alle – ein erfolgreicher Wissenschafter mit Vision. Als die traditionellen Forschungsmethoden keine statistisch relevanten Ergebnisse liefern konnten, war es Dr. Visra aber nicht genug, die Fakten zu dokumentieren und um die nächste Förderung anzusuchen, was – gestehen wir es uns ein – viele von uns, beeinflusst von Firmeninteressen und gierig nach Forschungsgeldern, getan hätten. Er hingegen hat die ausgetretenen Pfade verlassen und ist einen radikal neuen Weg gegangen. Er ließ die sterilen Labors hinter sich und hing hinaus ins Feld, ins Leben! Und an diesem Punkt traf ihn die wütende Kritik der Gegner. Dr. Visra weigerte sich, die nachgewiesenen schädigenden Effekte diversen ‚Störfaktoren‘, wie sie durch die Umweltverschmutzung gegeben sind, zuzuschreiben. Seiner Meinung nach – und die meisten hier stimmen ihr wohl zu – sind es eben genau diese ‚Störfaktoren‘, die das wirkliche Leben ausmachen! Wir werden in allen Lebensbereichen ständig von elektromagnetischen Wellen und anderer Umweltverschmutzung bombardiert!«

Mandi ist jetzt so richtig in Fahrt und unterstützt ihre Worte mit expressiver Gestik. Ihr Assistent versucht schon seit längerem vergeblich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schließlich geht er zu ihr hinüber und reicht ihr einen e-Helper. Wortlos macht er kehrt und setzt sich in die erste Reihe. Er stützt die Ellbogen auf dem Tisch auf und vergräbt sein Gesicht in den Händen.

Mandi hält sich den e-Helper ans Ohr und die Anwesenden verharren in angespannter Stille. Nur eine leichte Brise Wind treibt ein paar Blätter raschelnd über den Boden ihres »Freiluft-Hörsaals«.

Die Leute in den vordersten Reihen bemerken, dass Mandi kurz den Atem anhält, bevor sie sich von der Menge abwendet und zur Seite sieht. Der Anblick der dicht belaubten, starken Bäume gibt ihr gerade genug Kraft, um sich wieder ihren Kollegen zuzuwenden. Mit stockender Stimme beginnt sie: »Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben … vom Flughafen … Ramu ist tot. Seine Freundin, Stephanie McGrath, ist in einem kritischen Zustand. Ich … ich … weiß nicht, was ich sagen soll …«

Sie muss nichts sagen. Die Anwesenden werden unruhig und Stimmen erheben sich überall. Wildfremde Personen sprechen sich an, um ihrem Unglauben Ausdruck zu verleihen. Fragen werden quer durch die Menge gerufen. Gemeinsam trauert man um einen Mann, den die wenigsten persönlich gekannt haben, mit dessen Wissen aber das Leben sehr, sehr vieler Menschen eine positive Wende nehmen hätte können.

Das ganze Ausmaß des Schreckens wird allerdings erst etwas später zutage treten, wenn entdeckt wird, dass ungefähr zur Zeit von Dr. Visras »Unfall« in sein kleines Labor an der malaysischen Universität eingebrochen wurde. Seine Arbeitsstätte wurde geplündert und zerstört, die Dokumente gestohlen, und ein Computervirus fraß sich durch die digitalen Speicher der Laboratorium-PCs und des zentralen Servers. Ein elektrischer Schaden verschmorte auch die Sicherheitskopien der Universität bis zur Unbrauchbarkeit. Das Gebäude steht an diesem Tag leer, denn die gesamte Kollegenschaft besucht auswärts einen Workshop zur beruflichen Weiterentwicklung. Das Geld dafür hat ein anonymer Sponsor bereitgestellt.

Dr. Ramu Visra und seine Daten sind nicht mehr.


16.6.2003

Gold Coast, Queensland, Australien

Das kleine Mädchen stürzt atemlos ins Zimmer ihres Bruders. Seit sie aus dem Schulbus gestiegen ist, ist sie gerannt, so schnell sie konnte, über beide Hügel bis nach Hause.

»Paul! Stimmt es? Ha, stimmt es wirklich?«, ruft sie, während sie sich ihrer Schultasche, die auf ihren schmalen Schultern übergroß wirkt, entledigt und sie auf den Boden fallen lässt. Paul hat einen seiner »schlechten Tage« und ist deshalb den ganzen Tag im Bett geblieben.

»Wirst du Teil des K&D3G2?«, ruft das Mädchen und hechtet mit einem Sprung auf das Bett des Bruders. »Evette, geh runter von mir!«, lacht Paul.

Evette ignoriert seine Aufforderung, greift über ihm nach den Vorhängen und zieht sie zurück. Strahlendes Sonnenlicht flutet in den dämmrigen, beengten Raum. Ein Lichtstrahl fällt auf Pauls mageren Arm.

»Los, gestehe, oder …«, sagt sie mit spielerisch gerunzelter Stirn, um den Ernst der Lage zu unterstreichen, und hebt drohend die Hand, bereit zur Kitzelattacke. Ohne Pauls Antwort abzuwarten, wirft sie sich mit einem Schrei auf ihn. Lärmend wälzen sie sich auf dem Bett und Evette bohrt Paul ihre kleinen Finger in die Seite. Paul wehrt sich eine Zeit lang lachend, bis er schließlich ruft: »Aufhören! Stopp! Ich gebe auf, ich sag ja alles! Hör auf!«

Evette schnellt aus dem Bett und lässt sich auf den Sitzsack neben Pauls Bett fallen. Ihre Füße hält sie auf Pauls Matratze und wippt gegen die Zehen ihres Bruders.


»Weiß es Mama?«, fragt sie. Ihr Ton ist plötzlich ernst geworden. Paul blickt ebenso ernst zurück. »Mama darf es nicht wissen. Sie würde es nicht erlauben. Du darfst es ihr nicht sagen. Bitte!«

Evette sagt nichts. Seit sie heute erfahren hat, dass ihr Bruder dem Computerclub beitreten würde, hat sie gemischte Gefühle. Ja, sie freut sich für ihn. Immer wieder hat er ihr gesagt, wie sehr er sich wünschte, »normal« zu sein. Herumzulaufen, zu spielen und all die kleinen Elektronikspielereien zu besitzen wie die anderen Teenager auch. Aber Evette weiß auch, dass ihr Bruder eben nicht »normal« ist, und sie beginnt sich zu fragen, ob er das je sein würde. Ihre Mutter will ihnen weismachen, dass Paul »besonders« und »anders« ist, aber ihnen beiden ist klar, was es wirklich zu bedeuten hat: dass er krank ist. Sie wissen nicht, was er hat, und ihre Mutter sagt es ihnen nicht, aber sie wissen, dass er sehr krank ist.

»Du wirst krank werden … Wenn du so viel Zeit am Computer verbringst, wirst du krank werden, echt krank, so wie du es jetzt gerade bist«, sagt Evette und blickt ihren Bruder direkt an.

2 K&D3G ist eine Abkürzung für »Kerker und Drachen – 3. Generation«.

»Ich weiß.« Pauls Antwort kommt mit gesenkter Stimme.

Draußen krächzt laut ein Rabe. Ein Ast kratzt am Wellblechdach, es hört sich an wie das Kreischen von Kreide auf einer Schultafel.

»Na los, erzähl mir darüber! Wie ist es?«, fragt Evette. Sie versucht begeistert zu wirken, aber sie weiß, dass sie eigentlich sofort alles ihrer Mutter erzählen sollte. Immerhin geht es um Pauls Gesundheit.

»Es ist total cool«, platzt es jetzt aus Paul heraus. »Scott hat eine Maschine, mit der haben wir mich eingescannt, mitsamt meinem Gesicht. Der Computer macht daraus eine elektronische Version von mir! Ich hab es gestern Abend gesehen. Es sieht aus wie ich in zehn Jahren. Du solltest die Muskeln sehen, die ich habe, und wie schnell ich rennen kann! Den Namen für meine Onlinefigur bekommt ich nächste Woche bei der Aufnahme …« Paul hält inne. »Wirst du es ihr sagen?« Evette antwortet nicht. Sie kann ihrem Bruder nicht in die Augen sehen.

»Evette, es ist die einzige Möglichkeit für mich … na ja … frei zu sein«, redet er mit sanfter Stimme auf sie ein. »Mein Computer – Ich – ich – kann laufen und springen und schwimmen, ohne müde zu werden. Ich kann rausgehen. Ich hab nie Kopfweh oder schlechte Tage oder so. Endlich bin ich normal! Bitte sag es ihr nicht. Wenn du es ihr sagst, wird sie mich wieder aus der Schule nehmen. Alle meine Freunde sind in der Schule.«

Als Evette aufblickt, zupft ihr Bruder an einem losen Faden der Bettdecke. Sie weiß, dass es stimmt, was er sagt. Es ist die einzige Chance für ihn, normal zu sein.

»Ich werde nichts sagen«, murmelt sie. Sie räuspert sich, blickt ihren Bruder an und wiederholt fest: »Ich werde Mama nichts sagen.«

Paul lächelt, atmet tief durch und schließt seine Augen.

Evette geht ins Bad und zieht die Schublade auf. Sie durchwühlt die Pillendöschen und Medikamentenverpackungen, bis sie das Döschen mit dem blauen, kindersicheren Verschluss findet. Sie füllt ein Trinkglas mit Wasser und geht zurück in Pauls Zimmer.

»Da«, sagt sie und reicht ihm das Glas und die Tabletten. Paul lächelt schwach. »Ich glaube, ich hab es übertrieben.«

»‚Unter Druck‘ oder ‚Vollgas‘?«, fragt Evette. Seitdem Paul die Anweisungen seiner Mutter missachtet und sich einen e-Helper angeschafft hat, haben er und seine Schwester sich alle Filme angesehen, die sie nur bekommen konnten. Zwei von Pauls Lieblingsfilmen sind »Unter Druck« und »Vollgas«. In Gegenwart ihrer Mutter verwenden sie eine Art Geheimsprache, um über Pauls Symptome zu sprechen; Kopfschmerzen wie im Schraubstock sind »Unter Druck«, während »Vollgas« eher ein Kopfschmerz ist, der von einer Reihe anderer Beschwerden begleitet wird, von Erschöpfung bis Überaktivität.

Neben ihrem Bruder sitzend bemerkt Evette, dass unter seinem Bett ein Stück einer Zeitschrift hervorlugt. Verstohlen greift sie danach und blättert bis zu einer Seite mit einem Eselsohr. Was sie findet, ist ein Artikel ihrer Mutter! Wenn die Mutter außer Haus ist, durchstöbert Paul den Karton in ihrem Schrank, in dem sie diese Zeitschriften sammelt. Evette liest einen Abschnitt, den die Mutter mit einem Farbstift markiert hat, und versucht ihre Anmerkungen zu entziffern.


Jahre später, wenn Evette die weitreichende Bedeutung dieser Artikel verstehen würde, wird es zu spät sein. Die Fülle von Telefonnummern, Notizen und Artikeln, die ihre Mutter im Schrank versteckt gehalten hatte, werden unauffindbar sein, sowohl gedruckt als auch online; irgendwie zerstört.


25.11.2012

Kalimantan, Indonesien

Auf ihren Fersen hockend gräbt Elly ihre Zehen in den weichen, dunklen Grund am Flussufer. Sie beschattet ihr Gesicht mit der Hand und blinzelt mit ihren schokoladebraunen Augen flussaufwärts. Sanft legt sie ihre Hand auf die Schulter von Eko, dem kleinen Buben neben ihr.

Eko bemerkt die Berührung nicht. Er ist in sein Projekt versunken: einen Blutegel dazu zu bringen, auf den Grashalm zu klettern, den Eko vor sich hält. Er hat den Egel bereits eine halbe Stunde dabei beobachtet, wie er eine schöne Zickzacklinie im Schlamm hinterlassen hat. Das Kind hockt bewegungslos da und wartet geduldig, während sich das Tier dem Halm nähert.

Die Konzentration des Buben ist erstaunlich – er scheint seine Umgebung kaum wahrzunehmen. Erst vor ein paar Minuten ist ein großer geierähnlicher Vogel herabgestoßen und hat schlammiges Wasser auf die Sandbänke am Ufer verspritzt. Rote Schmetterlinge flattern umher; einer ist sogar auf Ekos Kopf gelandet und erst weggeflogen, als Elly ihre Hand auf seine Schulter gelegt hat. All dies scheint Eko nicht wahrzunehmen; er sieht nichts außer dem Blutegel und dem Halm.

Elly hat gemischte Gefühle wegen Ekos Konzentration. Seit sie ihr Zuhause vor einem Monat verlassen haben, werden die Anzeichen dieser eigenartigen Abwesenheit jeden Tag stärker. Er kann sich jetzt fast eine Stunde lang »fokussieren«. Aber ist eine derartig intensive und lange Konzentration auch gut? Wenn er »fokussiert« ist, sieht, hört und riecht er absolut nichts, ausgenommen das, worauf er gerade seine Aufmerksamkeit gelenkt hat. Sonne und Mond könnten herabstürzen, er würde es nicht bemerken. Solch eine einseitige Konzentration macht ihn zu einer leichten Beute in einem Land der Überraschungen.

Elly beugt sich vor, um in Ekos Gesicht zu sehen. Die »Sorgenfalten« sind jetzt fast verschwunden, aber sie kann immer noch ihre Spuren erkennen. Noch vor drei Wochen war seine Stirn von tiefen Furchen durchzogen, die eher zu einem alten Mann gepasst hätten. Jetzt sind sie geglättet.

Ekos Gesicht ist reglos, aber mit größter Wachsamkeit beobachtet er das Weiterkommen des Blutegels auf dem Boden. Sein nervöser, stechender Blick von früher ist ebenso verschwunden wie seine ängstlichen Zuckungen.

Elly blickt nach rechts und lauscht angestrengt. Das Geräusch eines Motors in der Ferne – und es kommt näher! Sie gibt Eko einen sanften Stups und steht auf. Für einen Moment steht sie reglos, dann stößt sie ihn noch einmal an, schon etwas energischer.

Eko steht langsam auf und blickt Elly in die Augen. Sie fühlt ein Stechen in ihrem Bauch und möchte ihn am liebsten an sich drücken. Aber sie drückt nur behutsam seine Schultern, nickt zweimal und dreht dann seinen kleinen Körper in Richtung der grünen Waldwand. Er läuft in den Dschungel und windet sich durch die Pflanzenranken davon. Er wird an einem schattigen, kühlen Platz auf Elly warten.

Elly blickt um sich. Sie will sicher sein, dass sie keine verräterischen Hinweise auf ihre Anwesenheit hinterlassen, wenn sie im Dschungel verschwunden sind. Auch andere kommen hier ans Flussufer und niemand soll wissen, dass sie und Eko hier sind. Ekos Anwesenheit hat kaum Spuren am Flussufer hinterlassen. Er hat keine langen Schilfhalme geknickt und nur eine kleine Stelle flach getreten, dort, wo er sich hingehockt hat. Elly beugt sich nieder und richtet die paar Grashalme wieder auf. Da setzt das Motorgeräusch plötzlich aus und Elly richtet sich mit einem Ruck auf.

Aus dem Augenwinkel erkennt sie eine Bewegung. Ekos braunes Gesicht lugt hinter einer großen purpurfarbenen Blüte hervor. Elly braucht nur einmal zu nicken und das Gesicht ist verschwunden. Sie kann sich nicht helfen: Sie muss lächeln. Nach all der Zeit, die sie miteinander verbracht haben, können sie sich ohne Worte verständigen.

Elly richtet ihren Blick stromaufwärts in die Stille. Vor zwei Jahren ist ihre Schwester gestorben und manchmal hört sie im Kopf noch ihre Schreie, in den Stunden der Dämmerung, wenn die Geister umgehen. Und da war noch ein anderer Tod, erst vor einem Jahr, der ihr fast jede Nacht in ihren Träumen in Erinnerung gerufen wird. In den Träumen trägt sie ein gesundes, fröhliches Baby in einem Sarong auf den Rücken gebunden.


Die Regenzeit im Dschungel ist die Zeit, wenn die Krankheit den Geist derjenigen raubt, die um sie sind. Mit jeder Regenzeit erfasst Elly eine große Angst. Sie hat sehen müssen, wie die Krankheit kleine Kinder genommen hat und eine Frau. Die Krankheit beginnt mit Erbrechen und Schmerzen. Manchmal musste sich ihre Schwester derart schlimm übergeben, dass sie fürchtete, ihr Geist würde mit ausgestoßen werden. Auf das Erbrechen folgen die lauten Trommeln, die in den Köpfen der Kranken dröhnen. Die Trommeln sind das Zeichen des Todes.

Viel ist geschehen seit den Todesfällen. Elly und Eko leben jetzt außerhalb des Dorfes. Sie lebt nicht mehr in einem Haus mit Fliesenboden, der Boden ist jetzt Erdboden. Ihre Wohnung ist nicht mehr aus feinem Tropenholz, sondern sie webt sich ihre Behausung aus den Blätterranken des Dschungels. Sie schläft nicht mehr an der Seite ihres Mannes. Er beschuldigt sie vieler Dinge, einschließlich der Todesfälle, aber sie hört nicht mehr auf ihn. Sie weiß, dass die Luft rund um die Dschungelhütten, dort, wo ihr Mann arbeitet, die Ursache für die Todesfälle ist.

Am Arbeitsplatz von Ellys Mann gibt es massenhaft Computer und eine Menge Orang-Utans. Als sie das erste Mal nach langer Bootsfahrt von ihrer Heimatstadt in die Dschungelsiedlung gekommen waren, hatte er sie in die Hütten geführt und ihr vieles gezeigt. Sie kann nicht vergessen, was sie damals gesehen hat.

Obwohl sie weiß, dass sie es nicht tun sollte, geht sie öfter zu der Anlage im Dschungel, um ein bisschen herumzuschnüffeln. Dann blickt sie sich um. Sie erinnert sich, dass damals, als ihr Mann sie das erste Mal herumführte, weniger Hütten da waren, mit weniger Computern. Jetzt gibt es viele neue Gebäude und sie sind voll geräumt mit neuen Computern, verschiedenen Geräten und neuen Orang-Utans. Oft fahren Lastwagen von den Hütten zum Fluss; sie sind beladen mit Kartons. Eko liebt es den LKWs zuzusehen. Es ist sinnlos ihn von den Lastwagen und den Hütten fernhalten zu wollen, denn er wird von ihnen angezogen wie Motten vom Licht.

Rund um die Hütten fühlt sich die Luft schwer und dick an. Ihr Mann konnte das nie nachempfinden, aber sie und die anderen, die gestorben sind, spüren das Besondere dieser Luft. Es ist etwas an ihr, etwas wie Feuer. Manchmal dehnt es sich in den Dschungel aus und erreicht ihre grüne Unterkunft. Wenn dann die Luft in ihrer geflochtenen Hütte allzu dick wird, geht sie mit Eko für mindestens einen Mondzyklus weg.


Nach ihrer Ankunft in der Dschungelsiedlung hatte Ellys Mann aufgehört auf sie zu hören. Sein neuer Job erfüllte ihn ganz mit Selbstvertrauen und ließ keinen Platz in seinem Herzen für das Wissen der eingeborenen Dayak3, das sie in sich trägt. Er lachte über sie, wenn sie über die Elektrizität in der Luft rund um die Hütten sprach, und er beschimpfte sie heftig, wenn sie dieser Luft die Schuld an den Toten zusprach. Also hörte sie auf darüber zu sprechen. Er sagte, sie solle ihr gemeinsames Leben nicht mit einem Fluch belegen. Er bezeichnete zwar das, was sie sagte, als Dayak-Unsinn, aber er konnte nicht ganz vor ihr verbergen, wie sehr er sich doch vor ihren Flüchen fürchtete.

Elly geht erst in die Siedlung, wenn alle schlafen. Manchmal muss sie Eko suchen gehen. Er beobachtet gerne die Leute im Dorf, aber sie fürchten sich vor ihm. Sie denken, dass er die Krankheit mit sich bringt. Und sie nehmen an, sie trage die Kraft der Ahnen in sich, weil sie es geschafft hat, den Tod eines Kindes hinauszuzögern.

3 Dayak ist die Sammelbezeichnung für eine Gruppe indigener Völker Indonesiens. Die besondere Gruppe, von der hier die Rede ist, bewohnt das Gebiet Zentralkalimantan.

Elly ist sich nicht sicher, ob sie wirklich die Kraft der Ahnen hat, aber ihr kommt jedenfalls vor, die Geister der vielen Orang-Utans, die in der Dschungelanlage ihr Leben ließen, würden in ihr sein. Auch nachdem ihr Mann ihr verboten hatte, zu den Hütten mit den Affen zu gehen, schlich sie sich immer noch unbemerkt hin. Hinter großen Blättern versteckt wartete sie ängstlich, bis die Männer mit den Gewehren, die vor den Hütten saßen, zu ihrem Freitagsgebet gingen. Elly besuchte dann die hilflosen Orang-Utan-Babys in ihren engen Käfigen.

Wenn die Affen krank wurden, nahm man sie aus ihren kleinen Käfigen und steckte sie in einen großen Käfig, der etwas von den Hütten entfernt war. Manchmal schlich sich Elly zu diesem Käfig und saß neben den kranken Orang-Utans. Immer wieder kamen die kleinen Tiere zu ihr, um in ihren Armen zu sterben.

Bei den Gedanken daran verschlimmern sich Ellys Schmerzen und sie schüttelt den Kopf, um sich von ihnen frei zu machen. Sie blickt erneut flussaufwärts und lauscht nach dem Maschinengeräusch. Obwohl es nicht mehr zu hören ist, beschließt sie, dass sie ihren Weg fortsetzen werden. Sie weiß, dass nicht weit von hier Riesenbäume wachsen, und da gibt es immer eine Menge Orang-Utans und Früchte. Riesenfrüchte von Riesenbäumen.

Als Elly und Eko sich den Riesenbäumen nähern, hören sie die markerschütternden Schreie eines Muttertieres und ihres Babys. Nach einem kurzen Schock fassen sie sich schnell und rennen in die Richtung der Schreie, Elly gefolgt von Eko. Bei den Riesenbäumen angekommen, versuchen sie hektisch herauszufinden, was passiert ist.

Nicht weit von den hohen Bäumen entfernt tritt ein Mann einem Orang-Utan-Weibchen brutal in die Rippen, sodass es sich zur Seite hin überschlägt. Das Gift des Pfeils entfaltet seine Wirkung und die Affenmutter kann ihr Baby nicht mehr länger schützen. Der Mann schleudert das Affenjunge in einen kleinen Käfig, der auf Bambusstangen aufgehängt ist. Zwei Männer schultern die Stangen mit dem baumelnden Käfig daran und ziehen weiter. Es ist der zweite Affe, den sie heute gefangen haben. Sie marschieren zu einer kleinen Gruppe von Hütten am Rande des Bergwerksgeländes. Die Männer blicken auf die jungen, gesunden Orang-Utans und sind zufrieden. Es war ein guter Tag.